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enschliche Erblehre und
Rassenhygiene
(Eugenik
Bandl
on
*win Baur f ? Eugen
und Fritz Lenz
Bandl:
Menschliche Erblehre
Band II:
Menschliche Auslese und
Rassenhygiene
(Eugenik)
J. F. LEHMANNS VERLAG / MÜNCHEN 1936
Vo
n
ur. ur. ur. urwin rsaur
Prof. Dr. Eugen Fischer
Prof. Dr. Fritz Lenz
Vierte, neubearbeitete Auflage
Mit 1 Bildnis Erwin Baurs,
209 Textabbildungen und 13 Tafeln
mit 78 Bassenbildern
J. F. LEHMANNS VERLAG / MÜNCHEN 1936
Aiie Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen,
behalten sich Urheber und Verleger vor.
Copyright 1936 J. F. Lehmanns Verlag, München.
Druck
Kastner & Callv
l'rinted in Germ
ey, München.
LÜJ.
Vorwort zur vierten Auflage.
Die „Menschliche Erblehre" war einige Jahre vergriffen. Be-
rufs- und Amtsgeschäfte haben es den beiden unterzeich-
neten Verfassern unmöglich gemacht, die Neubearbeitung frü-
her zu vollenden, obwohl sie gerade in der heutigen Zeit drin-
gend erwünscht war. Jetzt, wo wir sie vorlegen, gedenken wir
zuerst unseres unvergeßlichen Freundes und Mitarbeiters
Erwin Baur, den ein früher, jäher Tod die Freude am end-
lich vollendeten Werk nicht mehr erleben ließ. Die Bearbei-
tung seines Teiles hat er noch selber durchgeführt, auch die
Druckbogen einer ersten Durchsicht unterzogen.
Diese Neuauflage ist eine völlige Neubearbeitung. Es sind
fast zehn Jahre vergangen, seit die vorige Auflage geschrieben
wurde. Die allgemeine Erblehre hat auch in diesem Jahrzehnt
große Fortschritte gemacht, und auch die menschliche Erblehre
ist zu einer eigenen großen Wissenschaft geworden. Während
die Grundzüge der allgemeinen Genetik, die in dem von Baur
bearbeiteten ersten Abschnitt dargestellt sind, im wesentlichen
feststehen, ist die menschliche Erblehre noch stark in Fluß.
Deshalb waren gerade diese Abschnitte völlig neu darzustellen.
Hier sind die Ergebnisse der Zwillingsforschung auf fast allen
Gebieten ausgiebig verwendet worden. Die frühere Beschrei-
bung der einzelnen Rassen wurde weggelassen; man darf heute
die Kenntnis der äußerlichen Rassenmerkmale der europäi-
schen und der wichtigsten außereuropäischen Rassen als be-
kannt voraussetzen. Dagegen wurden die Fragen der Rassen-
entstehung und Rassenkreuzung ausführlich behandelt.
Im dritten Abschnitt waren zahlreiche neue Erkenntnisse
über Erbkrankheiten zu berücksichtigen. Im vierten ist eine
besondere Darstellung der Zwillingsmethode hinzugekommen.
Im fünften war einiges zu den Problemen der Rassenpsycho-
logie neu zu sagen.
So hegt ein als neu zu bezeichnendes Buch vor. Grundsätz-
liches brauchte nicht geändert zu werden. Wir hoffen, wie
bisher, die wissenschaftlich oder praktisch wichtigen For-
schungsergebnisse der Erblehre des Menschen, brauchbar für
Forscher und Ärzte, darzubieten und damit zugleich dem wis-
senschaftlichen Ausbau dieser Lehre zu dienen. Die früheren
VI VORWORT ZUR VIERTEN AUFLÄGE.
Auflagen unseres Buches haben weit über den Kreis der Fach-
leute hinaus eine günstige Aufnahme gefunden ; und wir haben
uns bemüht, auch in dieser Auflage für Gebildete aller Berufe
verständlich zu schreiben. Schließlich hoffen wir, daß unsere
Arbeit eine Unterlage sei für eine rassenhygienische, der un-
geheuren Verantwortung und Tragweite sich bewußte Bevölke-
rungs politik, wie sie endlich der nationalsozialistische Staat als
entscheidende Aufgabe für den Bestand und die Rassentüch-
tigkeit unseres Volkes erkannt hat.
Berlin-Dahlem, im März 1936
Kaiser- Wilhelm- Institut für Anthropologie,
menschliche Erblehre und Eugenik
EUGEN FISCHER,
FRITZ LENZ.
Inhaltsverzeichnis.
Seile
Vorwort zur vierten Auflage . . . V
Erster Abschnitt: Abriß der allgemeinen Variations- und
Erblehre. Von Prof. Dr. ph.il. et med. Dr. agr. h. c. Dr. phil. h. c.
Erwin Baur f 1
1. Einige Grundbegriffe 3
2. Die Variationserscheinungen 5
a) Die Modifikation (Paravariation) 6
b) Die Kombination (Mixo Variation) 22
c) Die Mutation (Idio Variation) 75
3. Der Einfluß der Variationserscheinungen auf die Zusammen-
setzung eines Volkes, die Wirkung von Auslesevorgängen 81
4. Die Wirkung von Inzucht 91
Zweiter Abschnitt: Die gesunden körperlichen Erbanlagen
des Menschen. Von Prof. Dr. Eugen Fischer. . . 95
1. Einleitung 97
2. Die einzelnen Erbanlagen 108
a) Die allgemeinen Erbanlagen 109
b) Erbanlagen der Färbung 116
c) Erbanlagen für Tastleisten und Handfurchen . . . 135
d) Erbanlagen für die Form des Haares und der Behaarung 156
e) Erbanlagen am Skelett 162
f) Erbanlagen für das Gesicht und seine Teile .... 192
g) Erbanlagen für Körpergröße und Körperform .... 208
h) Erbanlagen für Muskulatur, sogenannte innere Organe,
Nervensystem, Sinnesorgane 225
i) Erbanlagen für physiologische Vorgänge 228
3. Die Erbanlagen der Rassen
a) Der Rassenbegriff 246
b) Rassenentstehung 251
c) Verteilung der rassenmäßigen Erbanlagen 269
d) Allgemeine Lebenserscheinungen der Rassen (Rassen-
biologie) 286
aa) Umfang und Verbreitung der Rassenkreuzung . . 287
bb) Biologie der Bastardbevölkerung 291
cc) Biologisches Endergebnis von Rassenkreuzung . . 309
VIII INHALTSVERZEICHNIS.
Seite
Dritter Abschnitt: Die krankhaften Erbanlagen. Von Prof.
Dr. Fritz Lenz 321
1. Über die Begriffe Krankheit, Gesundheit und Norm . . . 323
2. Die Bedeutung krankhafter Erbanlagen für die einzelnen
Krankheiten und Anomalien 326
a) Allgemeine Gesichtspunkte 326
b) Erbliche Augenleiden , . 328
c) Erbliche Ohrenleiden 365
d) Erbliche Fiautleiden 373
e) Anomalien der Körperform 387
f) Erbliche Diathesen (Anfälligkeiten) 428
g) Die Anfälligkeit gegen Infektionskrankheiten .... 476
h) Krebs und andere bösartige Geschwülste 489
i) Untüchtigkeit zur Fortpflanzung 499
k) Erbliche Nervenleiden ß03
1) Erbliche Geisteskrankheiten und Psychopathien . . . 525
3. Die Neuentstehung krankhafter Erbanlagen 562
Vierter Abschnitt: Die Methoden menschlicher Erbfor-
schung, Von Prof. Dr. Fr it z Lenz 587
1. Analogieschlüsse aus experimentellen Befunden .... 589
2. Genealogisch-statistische Methoden 593
3. Die Korrclationsrechnung 627
4. Die Zwillingsmethode 641
Fünfter Abschnitt: Die Erblichkeit der geistigen Eigen-
schaften. Von Prof. Dr. Fritz Lenz 659
1. Die erbliche Grundlage der geistigen Persönlichkeit . . . 661
2. Die geistigen Rassenunterschiede 711
Schrifttum 775
Namenverzeichnis 77g
Schlagwörterverzeichnis 785
Nachträgliche Verbesserungen 796
Erster Abschnitt
> .*
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* V itfr *. 4^*.J^C-I. fr
- ■ "iij
Abriß der alleemeinen Variations-
i fr>
und Erblehre
■a-rt.t
'J^yty
Von
Prof. Dr. phil. et. med. Dr. agr. li. c. Dr. phil. h. c. Erwin Baur f
1S75— 1933
I. Einige Grundbegriffe.
it Vererbung im biologischen Sinne des Wortes
..VJ. bezeichnen wir gemeinhin die Tatsache, daß die Nachkom-
men eines Elters oder bei geschlechtlicher Fortpflanzung eines
Elternpaarcs dem bzw. den Ehern gleichen.
Nachkommenschaft kann bei vielzelligen Lebewesen ent-
stehen :
i . durch Lostrennung und selbständige Weiterentwicklung
einer einzelnen Zelle oder bei Lebewesen mit vielkernigen
Zellen sogar eines Teiles einer Zelle :
2. durch Lostrennung und selbständige Weiterentwicklung
von ganzen Zeilgruppen und Organen ;
3. durch Lostrennung zweier Zellen von einem Individuum
oder von zwei Individuen und weiterhin Vereinigung je
zweier solcher Zellen („Eizelle" und „Samenzelle" (Sper-
matozoid) zu einer Zelle, aus der dann ein neues Indivi-
duum hervorgeht.
Die ersten beiden Fälle bezeichnet man als ungeschlecht-
liche (vegetative), den dritten Fall als geschlechtliche
(sexuelle) Fortpflanzung.
Bei sehr vielen, besonders bei vielen pflanzlichen Lebe-
wesen kann man jede beliebige Zelle oder doch Zellgruppe aus
ihrem bisherigen Verband lostrennen. Sie fängt dann selbstän-
dig zu wachsen an und läßt so ein neues Individuum 1 ) aus sich
hervorgehen. Bei vielen anderen Organismen sind nur wenige
Zellen in dieser Weise „allseitig regenerationsfähig". Bei noch
anderen Organismen, so besonders bei den höheren Tieren sind
im allgemeinen nur ganz bestimmte Zellen — die Geschlechts-
zellen — zur Erzeugung neuer Individuen befähigt 2 ).
Bei den Organismen der ersten beiden Gruppen muß also
in jeder von diesen allseitig regenerationsfähigen Körperzel-
*) Daß der Begriff Individuum bei diesen Lebewesen genau besehen
gar nicht durchführbar ist, braucht wohl nicht weiter ausgeführt zu werden.
2 ) Etwas der ungeschlechtlichen Fortpflanzung der niederen Tiere Ent-
sprechendes finden wir bei höheren Tieren im allgemeinen nur darin, daß.
Embryonen in den ersten Entwicklungsstufen sich teilen können, so daß
zwei oder mehr Individuen aus einem befruchteten Ei entstehen. Das führt
dann zu eineiigen Zwillingen, Drillingen usw. Dieser Vorgang, der beim
Menschen nur ausnahmsweise vorkommt, ist bei manchen Tieren — Gürtel-
tieren — die Regel.
4
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEIIRE.
Jen, bei den Organismen der letzten Gruppe muß mindestens
in jeder Geschlechtszelle alles darin stecken, was für
die betreffende Art wesentlich ist. Im feineren Bau der Eizellen
eines Orang-Utans und eines Menschen muß in irgend einer
Weise der ganze Unterschied zwischen einem Orang-Utan und
einem Menschen begründet sein. Man. darf sich das freilich
nicht in der kindlichen Weise der Präformations-Theorie so
vorstellen, daß in der Eizelle alle im späteren Organismus auf-
tretenden Unterschiede schon vorhanden wären. Jeder fertige
Organismus ist erst das Endergebnis einer langen indivi-
duellen Entwicklung, winzige Unterschiede im Anfangs-
stadium können tiefgehende Unterschiede auf den späteren
Stadien bedingen — kleine Ursachen, große Wirkungen. —
Es ist ganz leicht vorstellbar, daß kleine Unterschiede im
Gefüge zweier äußerlich überhaupt nicht unterscheidbarer Ei-
zellen, z. B. kleine chemische Verschiedenheiten, bedingen, daß
aus der einen ein Europäer, aus der anderen ein Hottentotte
wird. Es ist auch gar nicht gesagt, daß zwischen der Größe
der Unterschiede zweier Keimzellen und der Größe der Unter-
schiede der fertigen Organismen eine bestimmte Beziehung
besteht.
Im allgemeinen stellt sich der Laie den Bau einer einzelnen
Zelle, etwa einer menschlichen Eizelle, viel zu einfach vor. Eine
Zelle ist selbst schon aus Tausenden von Einzelorganen zusam-
mengesetzt, deren jedes eine ganz bestimmte Sonderaufgabe so-
wohl für die Zehphysiologie wie für die Vererbung zu erfüllen
hat. Einer Zellteilung geht eine Teilung aller dieser Einzelor-
gane voraus. Diese Einzelbestandteile einer Zelle sind ebenso
sehr „autonome" Gebilde wie eine Zelle selbst und entstehen
nur durch Teilung aus ihresgleichen. Es ist also völlig irrefüh-
rend, wenn man die Zelle als den Elementarb au stein eines Or-
ganismus bezeichnet.
Wir wollen nun weiterhin, ohne damit zunächst irgend-
welche zytologische Vorstellungen zu verbinden, den Teil einer
Zelle, in dem in uns vorläufig noch unbekannter Weise ihre
Arteigenheit begründet ist, mit einem von Naegeli einge-
führten Ausdruck als Idioplasma bezeichnen. Es beruhen
nach dieser Begriffsbestimmung alle erblichen
Unterschiede zwischen zwei fertigen Individuen
entwicklungsmechanisch in letzter Linie auf U n -
terschiedenimBauoderChemismusdesIdioplas-
mas. Diese Idioplasrna-Unterschiede sind das Primäre, die
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
5
äußer lieh an den ausge wachs enen Organismen erkenn-
baren Unterschiede sind etwas ganz Sekundäres. Irgend
ein kleiner Unterschied zwischen den Idioplasmen zweier Ei-
zellen ist meistens die entwicklungsmechanische Ursache einer
ganzen Reihe von Unterschieden in den verschiedensten
Teilen des fertigen Organismus.
Vcrerbungvon einemElterbzw. einemEItern-
p aarauf dieNac h k o m m enberuhtda r a. u f , daß die
Nachkommen ganz oder teilweise das gleiche
Idioplasma haben wie der Elter oder bei ge-
schlechtlicher Fortpflanzung wie die Eltern.
2. Die Variationserscheinungen.
Die Vererbung ist fast nie eine vollkommene, d. h. die
Nachkommen sind fast nie dem Elter bzw. den Eltern völlig
gleich, und ebenso sind fast immer die Geschwister untereinan-
der verschieden. Man sagt, die Nachkommen „variieren".
Es ist die wichtigste Aufgabe der Vererbungs-
Wissenschaft, die Gesetzmäßigkeiten klarzule-
gen, nach denen dies Verschiedensein, diese Va-
riation vor sich geht.
Ursache des Verschiedenseins der Kinder von den Eltern
und der Kinder voneinander, d. h. Ursachen des Variierens
kennen wir im wesentlichen dreierlei, und so lassen sich auch
drei Gruppen von Variationen unterscheiden :
i. Die eine von diesen drei Hauptursachen besteht darin, daß
auch der erblichen Anlage nach, d. h. idioplasmatisch völlig
gleiche Individuen je nach den äußeren Verhält-
nissen, unter denen sie aufgewachsen sind,
je nach ihrer „Umwelt", sehr verschieden sein können.
Wir bezeichnen diese Art der Variation als Modifikation
oder Paravariation.
2. Eine zweite Ursache des Variierens besteht darin, daß bei
der geschlechtlichen Fortpflanzung ein neues Individuum
fast immer dadurch entsteht, daß zwei Zellen sich vereini-
gen, die ihrer erblichen Anlage nach, d.h. im
Idioplasma verschieden sind, und daß so eine
Vermischung, eine Kombination zweier Verer-
bung s r i c h t u n g e n erfolgt. Man spricht dann von Kom-
binationen oder Mixovariationen.
6 ERWIN BAÜR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
3. Eine dritte Ursache des Variierens besteht darin, daß aus
irgendwelchen Gründen und zu irgendwelchem Zeitpunkt
eine Änderung im G e f ü g e des, im allgeraei 11 e 11
freilich ziemlich stabilen, Idioplasmas erfolgt
und daß so Zellen und daraus Individuen mit verändertem
Idioplasma hervorgehen, die entsprechend auch in ihren
sekundären äußeren Eigenschaften verändert sind. Varia-
tionen, die auf einer solchen Änderung des Idioplasmas be-
ruhen, bezeichnet man als Mutationen oder als Idiovarla-
tionen,
a) Die Modifikation (Paravariation).
Um die Gesetze der Modifikationen zu untersuchen, muß
man ausgehen von Fällen, wo nicht gleichzeitig die verschiede-
nen Ursachen des Variierens mitspielen, wo vor allem die Wir-
kungen der geschlechtlichen Vermischung zweier Vererbungs-
tendenzen ausgeschaltet sind. Wir wählen deshalb zur Ablei-
tung der wichtigsten Gesetzmäßigkeiten am besten einen Orga-
nismus, der dauernd oder doch zeitweilig Fortpflanzung ohne
geschlechtliche Vereinigung verschiedener Idioplasmen. aufweist.
Eine Gruppe von Organismen, die alle durch vegetative
Vermehrung aus einem Ausgangsindividuum entstanden sind,
heißt man einen ,,Kton u und wir wollen hier als Schulbeispiel
etwa einen „Klon" von Paramaecium caudatum, einem
in allen Pfützen und Tümpeln häufigen kleinen einzelligen In-
fusor nehmen, das sich in kleinen Glasgefäßen eine lange Reihe
von Generationen hindurch rein vegetativ einfach durch Zwei-
teilung fortpflanzt. Man bekommt so, wenn man mit einem
Ausgangstier ein Aquarium beschickt, rasch einen großen
Schwärm von Tieren, die alle ihrer erblichen Anlage nach
d. h. idio plastisch gleich sind. Äußerlich sind aber die
einzelnen Tiere eines solchen Klons trotzdem stark verschie-
den, weil sie im einzelnen immer unter etwas anderen Bedin-
gungen sich entwickelt haben. Das eine hat z. B. immer genug
Nahrung bekommen, das andere hat zeitweilig gehungert, das
eine hat sich verletzt, das andere nicht, das eine befand sich
an einer besonders stark belichteten oder an einer besonders
warmen Stelle des Kulturgefäßes usw.
Für dieses Verschiedensein erblich gleicher Organismen,
das bedingt ist durch die ungleichen Außeneinflüsse, die auf
die Tiere einwirken, gelten ganz bestimmte Gesetzmäßigkeiten :
Untersucht man irgendeine beliebige Eigenschaft aller Tiere
2. DIE VARIATIONSERSCNEINUNGEN.
7
eines solchen Schwarmes statistisch, so findet man meist, daß
weit nach der einen Seite abweichende Individuen selten sind,
ebenso auch weit nach der anderen Seite abweichende. Je mehr
sich aber die Eigenschafts-Ausbildung dem Mittel nähert, desto
häufiger sind die betreffenden Individuen. Das zeigt sehr
schön die Tabelle I, in der von einem Klon von Paramae-
cium die Körperlänge statistisch aufgenommen ist. Figur 1
zeigt das gleiche Zahlenmaterial in Form einer Variationskurve.
Tabelle I
Länge in jt
136 140 144 H8 152 156 160 I64 16« 172 176 180 184 188 192 196
200
Zalil der Tiere
mit
dieser Länge
2 5 5 14 26 27 40 52 39 32 26 14 12 3 2 i
136 W M ffl m 15b
196 200
Fis:. 1.
Weshalb die Variationskurven so häufig gerade diese Form
haben, d. h. mehr oder weniger der B i n mialku r ve glei-
chen, ist leicht einzusehen: Die Größe der Paramaecien wird,
um bei diesem Beispiel zu bleiben, durch alle möglichen ver-
8
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
schieclenen Faktoren beeinflußt. Ganz besonders groß wird z.B.
ein Tier nur dann, wenn es dauernd sehr gut genährt wurde,
nie verletzt wurde, immer im genügend sauerstoffreichen Wasser
war, nie durch zu grelles Licht, oder zu hohe Temperatur, oder
zu niedere Temperatur geschädigt wurde usw. Nur ein Tier,
das in allen diesen Dingen Glück hat, wird beson-
ders groß, und ebenso wird nur ein Tier, das in allen die-
sen Dingen Unglück hat, besonders klein. Meist
wird es sich aber treffen, daß ein Tier teils
Glück, teils Unglück hat, d. h. e s w i r d meist eine
mittlere Größe haben.
Immerhin ist diese ganze Frage doch so wichtig, daß es sich lohnt, ab-
zuleiten, weshalb gerade diese bestimmte Form der Kurve zustande kommt.
Faktoren, die alle die Größe eines Paramaeciums in einem Aquarium be-
einflussen, gibt es zahllose. Wir wollen einmal nur die fünf vorhin genannten
herausgreifen und wollen auch die Annahme machen, es gäbe für diese 5
Faktoren immer nur je zwei Alternativen, eine die Größe fördernde und eine
die Größe hemmende. Wir wollen ferner die fördernden Alternativen mit
einem großen, die hemmenden mit dem entsprechenden kleinen Buchstaben
bezeichnen. Das gäbe folgendes:
Fördernde Alternativen
A Ernährung gut
B genügend Sauerstoff
C günstige Belichtung
D keine Schädigung durch Kälte
E keine Schädigung durch Flitze
Hemmende Alternativen
a Ernährung schlecht
b nicht genügend Sauerstoff
c zu grelles Licht
(/zeitweilige Schädigung durch Kälte
e zeitweilige Schädigung durch Hitze.
Auch wenn wir nur diese fünf voneinander unabhängigen Faktoren in
Rechnung stellen, können die einzelnen Tiere einer Kultur schon sich unter
32 verschiedenen Bedingungen entwickeln. Ein Tier, das unter der ausschließ-
lich günstigen Bedingung ABCDE aufwächst, wird besonders groß, ein Tier,
das unter der nur teilweise günstigen Bedingung AbcDe aufwächst, das also
zwar gut genährt ist, auch nicht unter Kälte leidet, das aber durch Sauerstoff-
mangel, zu grelles Licht und Hitze geschädigt wird, wird wesentlich kleiner
sein. Nehmen wir der Einfachheit halber an, daß jeweils ein fördernder Faktor
ein Tier um eine Längeneinheit größer werden lasse, so haben wir folgendes :
Maß
der
Ver-
Maß der Ver-
Mögliche Kom-
große rang
, die
Mögliche Kom-
größerung, die
bination der fünf
ein unter
lieser
bination der fünf
ein unter dieser
voneinander un-
Kon;
teilatioii
voneinander un-
Konstellation
abhängigen .Fak-
auf gewachsenes
abhängigen Fak-
aufgewachsenes
toren
Tier
erf
ihrt
toren
Tier erfährt
A B C D E .
5
AbCDE .
... 4
A BCDe .
4
AbCDe
■ ■ ■ 3
ABCclE .
4
AbCdE .
■ - ■ 3
ABCde .
3
AfaCde
... 2
ABcDE .
4
AbcDE .
■ ■ ■ 3
ABcDc
3
Abc De
2
ABcdE
3
AbcdE
2
ABede
2
A b c d e
. . . i
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
Mögliehe Kom-
bination der fünf
voneinander un-
abhängigen Fak-
toren
aBCDE
aBCDe
aBCdE
aBCde
aBcDE
aBcDe
aBcdE
aBede
Maß der Ver-
größerung, die
ein unter dieser
Konstellation
aufgewachsenes
Tier erfährt
- ■ 4
■ ■ 3
■ ■ 3
Mögliche Kom-
bination der fünf
voneinander un-
abhängigen Fak-
toren
abCDE
abCDc
abCdE
a b C d e
abcDE
abcDe
abcdE
a b c d c
Maß der Ver-
größerung, die
ein unter dieser
Konstellation
aufgewachsenes
Tier erfährt
3
2
Alle diese 32 überhaupt möglichen Konstellationen haben die gleiche
Wahrscheinlichkeit, m a 11 k a 11 11 also erwarten, daß von eine r
g r o ß e n Anzahl v o n T i e r e 11 eines Aquariums sich je j.j u n -
t e r einer von diesen Konstellationen entwickelt. Nun
geben aber, wie ein Blick auf die Tabelle zeigt:
1 Konstellation eine Vergrößerung um 5
5 Konstellationen ., ,, ,, 4
10 „ ',. ,, „ 3
10 „ ,, ,. „ 2
5 „ „ ., ., 1
/ Konstellation ,, „ ,, o.
Mit andern Worten: wir werden erwarten müssen, daß von einer gro-
ßen Zahl von Tieren
■$.;- eine Vergrößerung um -!- 5
[ h „ „ „ -f 4
tt , „ „ -!- 3
1 11 \ n
Tri jj >.- >, ~r A
zeigen werden, in Form einer Kurve ergibt sich das in Fig. 2 dargestellte Bild
Großenzunahme
Häufigkeit
Fig. 2.
10
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
Hätten wir in dem Beispiel statt 5 Faktoren eine größere Zahl, etwa 6
gewählt, so hätten wir die Zahlenreihe E 6- 15-20- 15-6-1 erhalten und jede be-
liebige größere Zahl von Faktoren würde ebenfalls Zahlenreihen ergeben, die wie
1
1 2 1
13 3 1
14641
1 5 10 10 5 1
usw. übereinstimmen mit den Koeffizientenwerten von (a -|- b) n > d. h. der
G a u ß 5 c li e 11 W a h r s c h c i n 1 i c h k e i t s k u r v c entsprechen.
Die bezeichnende Form der M o d i f i k a t i o n s k u r v e
rührt also nur daher, daß sehr viele Faktoren ganz un-
abhängig voneinander die Modifikation beeinflussen.
Die Variationskurven, die man findet, wenn man statistisch
irgendeine Eigenschaft untersucht, zeigen zwar sehr häufig ein
mehr oder weniger getreues Spiegelbild der Zufallskurve, aber
durchaus nicht immer. Es gibt auch einschenkelige, mehrgipfe-
lige u. a. Kurven. Das hängt damit zusammen, daß eben
nicht notwendigerweise die Änderung einer Eigenschaft genau
l ? ig- 3-
Zwei Wurfgeschwister einer sonst einheitlichen Schweinerasse (Berkshire).
Das Tier links nur gerade eben notdürftig, das Tier rechts reichlich ernährt.
Nicht erbliche Modifikation (nach S. v. Nathusius).
parallel den sich ändernden Bedingungen gehen muß. Es
würde aber zu weit führen, näher auf diese Fragen einzugehen.
Wie auffällig große Verschiedenheiten zwischen erblich ge-
nau gleichen Individuen zustande kommen, wie ungemein groß
das Ausmaß einer Modifikation sein kann, ist zwar für Pflan-
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
11
zen an sehr vielen Versuchen festgestellt, für Tiere aber und
vor allem für höhere Tiere .ist hierüber wenig zuverlässiges
Material bekannt. Erblich ganz einheitliches Material ist hier
sehr schwer heranzuziehen, weil wegen der Geschlechtstrennung
Nachkommenschaft nur von zwei Individuen erhalten werden
kann. Ein sehr lehrreicher Versuch dieser Art mit höheren Tie-
ren ist in Figur 3 dargestellt.
Genau so wie die einzelnen Individuen eines Klons von Pa-
ramaecium — abgesehen von Mutationen — erblich unter-
einander gleich sind, stimmen auch eineiige, d. h. aus einem
befruchteten Ei entstandene Zwillinge in ihrer erblichen Ver-
anlagung völlig überein. Dieser Umstand ist für die Erforschung
der Vererbungsgesetze beim
Menschen sehr wichtig. Der-
artige Zwillinge sind vom
Standpunkt der Genetik be-
trachtet ein Klo n. Unter-
schiede zwischen eineiigen
Zwillingen sind also im allge-
meinen als Modifikatio-
nen zu deuten.
Wenn die beiden Zwil-
linge unter verschieden-
artigen Umweltsbedingun-
gen heranwachsen und trotz-
dem beide klar und deutlich
eine bestimmte Eigenschaft zei-
gen, etwa eine Lungentuberku-
lose oder eine bestimmte ver-
brecherische Neigung, so kann
man daraus sichere Schlußfol-
gerungen für die Bedeutung
der erblichen Anlage für diese
Eigenschaften ziehen.
Wenn ein Organis-
mus durch den Einfluß
der Umwelt, durch seine c , + . , ., f !, g ' 4 ' . , , „
. i Schematische Darstellung eines Auslese- Ver-
„PcriS t 3 SC" eine TVl O d i - suches innerhalb eines Klons von Paramae-
£•■>,• r ■■ t . cium. Das größte sowohl wie das kleinste
tlKatlOn erfahrt, SO Wird Tier der Ausgangskullur geben die gleiche Hach-
1 :t 1 ■ t 1 ' 1 konimenscliafi. Die gleich großen Tiere sind
U et (1 111 C I] Seill 1 CllOplaS- innerhalb jeder Kultur übereinander gezeichnet
m a S P i n p nrlilirliP V r> v zur Darstellung der Häufigkeit der einzelnen
in cl , seilte LlüllCne V C 1 - Grüßenklassen.
12
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
a 11 1 a g u n g i m allgemeinen nicht b e r ü h r t. Wir grei-
fen wohl, um das zu zeigen, am besten wieder auf unser Pa-
r a m a e c i u m beispiei zurück :
Ziehen wir von Paramaecium in einem Aquarium einen Klon
heran, so sind die Einzeltiere sehr verschieden groß, aber die
kleinsten sowohl wie die größten Tiere sind erb-
lich, „idioplasraatisch" trotzdem völlig gleich,
sie haben beide die gleiche Nachkommenschaft, die wiederum
aus großen und aus kleinen Tieren besteht (Figur 4).
Auch wenn man eine solche Auslese nach „groß oder
klein" viele Generationen lang durchführt, bleibt das Ergebnis
das gleiche, die besondere Beschaffenheit des Ein-
zelneres wird nicht vererbt, sondern jedes Tier dieser Sippe
vererbt immer nur die ganz bestimmte, charakteristische Mo-
difizierbarkeit seiner Sippe.
Man kann auch — in einer etwas anderen Versuchsanord-
nung — von einem Klon ein Tier in ein nährstoffreiches, ein
anderes Tier in ein nährstoffarmes Aquarium bringen. Es wer-
den dann in den beiden Aquarien Schwärme entstehen, die
sehr verschieden sind. Der gutgenährte Schwärm wird im
Durchschnitt größere Tiere aufweisen als der schlecht ge-
nährte. Die beiden Schwärme werden sehr verschieden sein, ob-
wohl sie erblich gleich sind. Man kann diese Zuchten in den
beiden verschiedenen Aquarien eine lange Reihe von Generatio-
nen fortsetzen, und wenn man dann aus der „fetten" und aus
der „mageren" Zucht je ein Tier herausgreift, und diese beiden
Tiere in ganz gleich bescli äffe 11 e Aquarien bringt, gehen
aus beiden Schwärme hervor, die ganz gleich beschaffen sind.
Das Idiopiasma des Klons ist also durch diese sehr verschieden-
artigen Kulturbedingungen nicht verändert worden, so sehr ver-
schieden auch die beiden Zuchten während vieler Generationen
waren;
Von P a r a m aecium c a u d a t u in lassen sich aus jedem
Tümpel leicht eine ganze Menge verschiedener Sippen her-
ausfischen, jede davon hat ihre eigene bestimmte Modifizierbar-
keit, die sie ganz getreu vererbt, stellt einen ganz be-
stimmten Idiotypus dar.
Genau die gleiche Gesetzmäßigkeit finden wir auch bei ge-
schlechtlicher Fortpflanzung. Klar erkennbar wird sie hier aber
nur, wenn wir mit Organismen arbeiten, die sich „autogam"
fortpflanzen; das ist bei vielen Pflanzen, z. B. im allgemeinen
2. DIE V AR! AT IONSERSCH EI NU NGEN .
13
bei den Bohnen (Phaseolus vulgaris), bei Hafer (Avcna
sativa) u. a. der Fall. Hier sind die Blüten z w i 1 1 e r i g und >es
gelangt meist nur Blütenstaub der eigenen Blüte auf die
Narbe und vollzieht die Befruchtung. Ein Bestand von Pflan-
zen der durch Selbstbefruchtung eines Individuums bei einer
normalerweise autogamen Pflanze entstanden ist, heißt eine
„reine Linie".
Innerhalb einer reinen Linie haben wir die gleiche Verer-
bungsweise wie innerhalb eines Klons (S. 6). Auch hier er-
weisen sich die Modifikationen als nicht erblich, wie beson-
ders leicht an Versuchen mit höheren Pflanzen gezeigt werden
kann : Von der gewöhnlichen chinesischen Primel — der allbe-
kannten Zierpflanze — gibt es viele Farbenrassen, unter an-
dern! eine rote und eine weiße, die wir als Primulasincn-
sis rubra und als P r i m u 1 a sinensis alba bezeichnen wol-
len. Wie alle Eigenschaften unterliegt auch die Blütenfarbe
einer sehr starken Modifikation durch allerhand Außeneinflüsse
z. B. durch die Temperatur. Zieht man Pflanzen einer ein-
heitlichen „roten" Sippe in einem warmen etwas schattigen Ge-
wächshaus von rund 35 ° C, so blühen sie weiß, während die
bei etwa 10 bis 15 G herangezogenen Geschwister rot sind.
Nachkommen solcher im Warmhaus weißblütig gewordener und
von einer Primula sinensis alba ununterscheidbaren Pflan-
zen sind, wenn man sie unter den normalen Verhältnissen, d. h.
bei 10 bis 1.5 C großzieht, rot blutig. Der erbliche, idioplas-
matische Unterschied zwischen den beiden Rassen ist also nicht
der, daß die eine „weiße", die andere ,,rotc" Blüten hat, son-
dern, daß die beiden Sippen in verschiedener
Weise auf die Temperatur reagieren.
P a r a f f i 11 u m d u r u m und Paraffin u rali q u i d u rn
unterscheiden sich für den Laien dadurch, daß das eine bei
gewöhnlicher Temperatur eine feste weiße Masse, das andere
eine ölartige Flüssigkeit ist. Führt man aber die beiden Paraf-
fine bei einer Temperatur von 6o° C vor, dann kann man sie
ebensowenig äußerlich unterscheiden, wie die beiden Pri-
melrassen im Warmhaus. Trotzdem sind natürlich die beiden er-
wärmten und äußerlich ununterscheidbaren Paraffine ebenso
verschieden, wie die beiden Primelrasscn im Warmhaus. Der
Unterschied zwischen den beiden Paraffinen ist eben der, daß
sie verschiedene Schmelzpunkte haben, d. h. auf
Temperatureinflüsse verschieden reagieren. So wenig wie
ein „P ar af f in um durum", das man auf 60 ° e rwarmt,
14
ERWIN BÄUR, ALLGEMEINE ERBLEURE.
nun dadurch einen niedrigeren Schmelzpunkt be-
kommt, d.h. zu „Paraffinum liquidum" wird, eben-
sowenig" wird eine im Warmhaus weiß blühende
Primiila sinensis
rubra zu einer
Primula sinensis
alba.
Erblicher,
eine Sippe be-
zeichnende r
Unterschied
ist, um es noch
einmal zu betonen,
nicht eine be-
stimmte Aus-
bildung eines
Merkmals, son-
dern immer nur
i&
Fig. 5-
Russenkaninchen.
eine bestimmte „Reaktionsweise". Wie ein Organis-
mus aussieht, hängt also immer ab von zwei Dingen: er-
stens von seiner ererbten Reaktionsweise oder man kann auch
sagen von seiner
idioplasmatischcn
Beschaffenheit
und zweitens
ft'tfSO
von seiner Um-
welt, d. h. von den
Außeneinflüssen,
denen e r gerade
während seiner
Entwicklung un-
terworfen war.
Es ist ganz
merkwürdig, wie-
viele unklare Vor-
stellungen hier-
über verbreitet
sind.
Völlig analoge Versuche lassen sich übrigens auch mit höhe-
ren Tieren anstellen. So kennen wir von den Kaninchen unter
anderen eine rein weiße rotäugige Rasse und eine andere, welche
weiß und rotäugig ist, bei der aber Ohren, Pfoten, Schwanz
Fig. 6.
Russenkaninchen, bei dem ein Stück Rückenhaut
durch Rasieren gekühlt war und wo alle hier neu
zugewachsenen Haare dunkel gefärbt sind.
2. DIE VARfATlONSERSCtiEINUNGEN.
15
und Nase dunkel gefärbt sind (Fig. 5). Die Färbung dieser zwei-
ten Rasse ist sehr stark durch die Temperatur modifizier-
bar, kühlt man einzelne Hautstcllcn stark ab, was man schon
einfach durch Abrasieren der Haare erreichen kann, so sind
alle hier neu zuwachsenden Haare dunkel gefärbt. Fig. 6 zeigt
einen solchen mit dunkeln Haaren bedeckten Rasurfleck. Die
später unter dem Schutze der Behaarung nachwachsenden
Haare sind dann wieder weiß, d. h. diese Rasurfleckc verschwin-
den später wieder. Man kann leicht auf diese Weise auch ein-
heitlich ganz dunkel gefärbte Tiere machen, und umgekehrt
ist es möglich, Tiere rein weiß (also auch an Ohren, Pfoten
usw.) zu machen, wenn man sie bei genügend hoher Tempe-
ratur hält.
Die Auffassung, als ob die V e r ä n d e r u n g , die M o d i -
f i k a t i o 11 e i n e r A u ß e n e i g e 11 s c h a f t, etwa der Farbe der
Primel, auch die erbliche R e ak t i o ns w eis c der Sippe
ohne weiteres ändere, spukt auf Grund falsch gedeuteter Be-
obachtungen unter dem Schlagwort von der ,,V ererbung er-
worbener Eigenschaften" noch immer in vielen Köpfen.
Hier hilft nur eine völlig klare Begriffsbestimmung. Ver-
erbbare Eigenschaft ist immer nur „vererbbare bestimmte Reak-
tionsweise" auf Außeneinflüsse. Das Entstehen einer neuen
Eigenschaft beruht also darauf, daß diese frühere Reak-
tion s w e i s e v e r ä 11 d e r t w i r d. Wenn man ein Paraff inum
durum nicht bloß auf 60 ° erwärmt, d. h. nicht bloß schmilzt,
sondern es etwa unter Druck sehr hohen Temperaturen aussetzt,
dann ändert sich seine chemische Konstitution, es kann
dann aus ihm unter Umständen ein Paraffin mit niedrigerem
Schmelzpunkte entstehen. Ganz entsprechend kann auch durch
irgendwelche außergewöhnliche Einwirkung etwa Radiumbe-
strahlung, Dauerkultur bei eben noch ertragener hoher Tempe-
ratur u. a. aus einer Primula sinensis rubra eine Nach-
kommenschaft entstehen, die anders als die Ausgangs-
rasse mit ihrer Blütenfarbe auf die Temperatur reagiert.
Ebenso wie aber eine durch Veränderung der chemischen
Konstitution und Schmelzpunktcrniedrigung bewirkte
Verflüssigung eines Paraffinum durum etwas ganz anderes ist,
als ein bloßes Schmelzen, ebenso ist auch die Entstehung
einer solchen neuen Primelrasse grundsätzlich ganz etwas
anderes, als die durch Kultur im Warmhaus erzielte einfache
Modifikation der Farbe.
16
F.RWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLE11RE.
Man bezeichnet, wie wir schon vorhin gehört haben, eine
Veränderung" dieser letzteren Art als Mutation.
D er Ausdruck „Erwerbung einer neuen E i g e n -
schaff wird nun aber leider noch immer von vielen Biologen
x für diese zweierlei
ganz verschiedene n
Dinge ange wende t.
Wenn wir also zu der
heiklen Frage nach der
Vererbung erworbener
Eigenschaften Stellung
nehmen wollen, werden
wir sagen müssen :
Neu entstandene Ei-
genschaften, auch infol-
ge irgendwelcher Außen-
einflüsse erzeugte Eigen-
schaften, die wirk-
lich neue Eigenschaf-
ten in dem eben ge-
nannten Sinn sind,
sind erblich, oder kön-
nen doch erblich sein,
dagegen entsteht dadurch,
daß irgendein Organis-
Fig. 7-
S verschiedene Klone von Paramaecium. Die I.inie X — X . ,.,,,
bezeichnet düs Mittel der Größe aller S Klone. Durch 1T1US eine IVi OU.lIlKatl.OIl <tV-
-f ist für jeden einzelnen Klon die mittlere Größe be- . . , , , ,_■ -]_,,.
^ zeichnet (nach Je.mings). leidet, durchaus nicht
ohne weiteres auch eine
Mutation. Daß die Vorstellung so fest in vielen Köpfen sitzt,
eine Modifikation löse immer oder doch meist eine mehr
oder weniger gleich sinnigeMutation aus, rührt von feh-
lerhaft angestellten Versuchen und von Fehlschlüssen her.
Die größte Fehlerquelle liegt in erblich unein-
heitlichem Versuchsmaterial. Der Fehler liegt so
nahe, und wird so oft gemacht, daß er wohl auch hier an einem
Beispiel besprochen werden muß : Wie schon früher gesagt,
gibt es von Paramaecium caudatum eine Menge von ver-
schiedenen Sippen, deren jede erblich konstant ist. Eine An-
zahl solcher Paramaccium-Sippen ist in Fig. y abgebildet. Für
jede von diesen acht Sippen gilt die in Fig. 4 abgebildete Ge-
setzmäßigkeit: Jedes einzelne Individuum vererbt nicht seine
eigene Größe, sondern seinen Sippencharakter. Wie ein
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNOEN.
1.7
Blick auf die Figur 7 zeigt, greifen die Modifikations-Kurven
der verschiedenen Sippen übereinander. Wenn man also diese
verschiedenen Paramaecium- Sippen durcheinander im glei-
chen Aquarium hat, dann findet man von ganz großen bis zu
ganz kleinen Tieren eine völlig fließende Reihe, man be-
ul e r k t nichts davon, daß in dem Aqua r i um acht
erblich verschiedene Sippen (Klone) sin d. Auch
wenn man das wüßte, könnte man einem beliebigen Einzelner
von mittlerer Größe gar nicht ansehen, zu welchem
Klone es gehört. Tiere von dieser Größe kommen in allen
acht Klonen vor. Daß zwei Tiere äußerlich, „p a r a t y p i s c h",
gleich sind, sagt nicht, daß sie auch nach ihrer erblichen Anlage,
,,icliotypisch", gleich seien. Macht man mit einem solchen Ge-
misch einen Auslcscvcrsuch, wie den in Figur 4 abgebildeten,
greift man hier das kleinste und anderseits das größte Tier
heraus, dann w i r d man allerdings finden, daß das
größte Tier e i 11 e i m D u r c h s c h 11 i 1 1 größere Nach-
kommenschaft hat, als das kleinste Tier. D äs
größte Tier ist eben, wie ein Blick auf Figur 7 zeigt, sicher ein
Tier der zu oberst abgebildeten Sippe und vererbt zwar nicht
seine individuelle G röße, wohl aber seinen S i p p e n c h a -
rakter, d. h. es wird eine Nachzucht geben, die durchschnitt-
lich größer ist, als das Ausgangs g e m i s c h. Ganz entsprechend
wird das kleinste Tier ein Tier der zu unterst abgebildeten
Sippe sein und deren durchschnittliche Kleinheit weiter ver-
erben. Wenn also hier die Auswahl von weit vom Durchschnitt
abweichenden Tieren eine Verschiebung der Durch-
schnitt s g r ö ß e in der Richtung der ausgeübten
Auslese ergibt, so ist das kein Beweis dafür, daß die Modifi-
kation irgendwie erblich sei, sondern nur die Folge davon, daß
uneinheitliches Ausgangsmatcrial vorlag. Die
stark abweichenden Tiere vererben auch hier nicht eine erwor-
bene Modifikation, sondern nur ihren a 1 1 e r e r b t e n Sippen-
charakter. Diese Fehlerquelle spielt in der Literatur über
Vererbung erworbener Eigenschaften eine sehr verhängnisvolle
Rolle.
Eine zweite Fehlerquelle in dieser Diskussion ist die,
daß sehr häufig Außeneinflüsse, die auf ein Individuum einge-
wirkt haben, auch noch mehr oder w e n i g e r unmittel-
bar dessen Nachkommen beeinflussen.
Solche Nachwirkungen kann man sehr oft beobachten.
Zieht man von einer reinen Linie von Bohnen eine große Zahl
B a u r - 1* i s c li e r - 1. c 11 t, I. 2
18
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICH KEIT SLEH RE.
von Pflanzen heran, so sind die einzelnen Pflanzen je nach den
Ernähnmgs Verhältnissen usw. ungleich groß und kräftig. Ver-
erbt wird aber auch hier immer nur der Sippencharakter, d. h.
Auswahl von großen oder kleinen Pflanzen innerhalb einer
solchen reinen Linie hat keine Veränderung der durchschnitt-
lichen Größe zur Folge.
Was für die in Figur 4 abgebildeten Paramaecien gilt, gilt
auch für diesen Bohnenversuch. Man kann nun aber eine Boh-
nenpflanze halb verhungern und vertrocknen lassen, so daß sie
gerade eben noch einige runzelige und kleine Samen entwickelt.
Die Samen werden dann Keimpflanzen geben, die in der ersten
Zeit ihrer Entwicklung, wo sie nur von den von der Mut-
ter mitbekom m enen Vorräten leben, sehr schlecht er-
nährt sind. Sie entwickein sich infolgedessen zu deutlich schwä-
cheren Bohnenpflanzen als die unter sonst gleichen Verhält-
nissen großgezogenen Nachkommen einer nicht mißhandelten
Pflanze der gleichen Linie. Daß also hier keine „Vererbung
der individuellen Modifikation" der Mutterpflanze vorliegt, ist
klar, es haben nur die gleichen ungünstigen Ernäh-
rungsverhältnisse, welche die Mutter schon be-
einflußt haben, auch noch auf deren Kinder in
ihrem ersten Entwicklungsstadium eingewirkt.
Eine Generation später ist bei den Bohnen die Nachwirkung
ausgeglichen.
Sehr viel auffälliger sind ähnliche Nachwirkungen von
Außeneinflüssen bei den höheren Tieren. Das ist verständlich,
wenn man daran denkt, daß zunächst bei allen lebend gebären-
den Tieren die Embryonen den wesentlichstenTeilihrer
Entwicklung im Mutterleibe durchlaufen. Ferner
sind aber auch bei vielen Tieren schon die Eier selbst quasi
„vorgreifend" sehr weit entwickelt, viele Entwicklungsvorgänge
sind schon eingeleitet, es sind bestimmte „Organ bildende Sub-
stanzen", „Organ bildende Bezirke" im Eiplasma ausgebildet.
Es geht also auch hier ein großer Teil der Entwicklung im
Mutterleibe und damit auch unter dem Einfluß von Außen-
bedingungen vor sich, die auf die Mutter einwirken.
Gerade diese Fehlerquelle hat eine große Rolle in den
früher viel genannten Versuchen von Kammerer gespielt,
von denen auch nicht ein einziger .einigermaßen einwand-
frei ist.
Alle Versuche über die Vererbbarkeit von Modifikationen,
in denen diese und alle anderen Fehlerquellen vermieden sind,
2. DIE VARIATIONSER5CI1E1NUNGEN.
1.9
haben eindeutig das Ergebnis, daß eine solche Vererbung nicht
stattfindet.
Es ist natürlich möglich, daß es einmal der Zufall fügt, daß
eine und dieselbe Ursache eine bestimmte Modifikation und
auch eine gleichsinnige Mutation auslöst, es wäre also z. B.
möglich, daß die Kultur einer Primula sinensis rubra
in einem sehr warmen Gewächshaus sowohl eine Modifika-
tion der Blüte hervorruft, wie auch eine Veränderung des Idio-
plasmas bewirkt. Es ist auch möglich, daß zufällig einmal
das Ergebnis dieser Mutation eine Rasse ist, die auch bei niede-
rer Temperatur weiße Blüten bildet. Bekannt ist aber noch 1 kein
einziger Fall eines derartigen Zusammentreffens, und daß die
Wahrscheinlichkeit sehr klein ist, daß einmal dieser Fall ge-
funden wird, ist wohl ohne weiteres klar. Jedenfalls ist gar keine
Rede davon, daß dieser Zusammenhang zwischen Modifikation
und Mutation häufig vorkäme oder gar die Regel seil
Wie völlig unbeeinflußbar durch den Körper das Idioplasma
der Fortpflanzungszellen ist, zeigen besonders schön Pfropf-
versuche: Blüten einer Pflanzenart, die man auf eine andere
Art oder Rasse .aufgepfropft hat, etwa eine Levkojenblüte auf
einem Rosenkohlstock oder eine weiße Rose 1 ) auf einem roten
Rosenstock, geben nur Nachkommen ihrer eigenen Rasse.
Das gilt auch für Tiere. Man kann aus einer jungen Raupe des
Schwammspinners (Ocneria dispar) die Ovarien herausnehmen
und in eine Raupe einer andern Schwammspinner-Rasse über-
tragen. Sie heilen dort ein und geben später im geschlechts-
reifen Schmetterling nur Eier ganz rein von der Rasse des
Tieres, von dem sie herstammen. Der Körper der andern Rasse,
in dem sie monatelang eingeheilt waren und in dem sie sich
überhaupt erst fertig, entwickelt haben, übt keinerlei Einfluß
auf sie und die aus ihnen entstehenden Tiere aus.
Die vorstehenden Gesetzmäßigkeiten gelten für alle
daraufhin untersuchten Organismen, auch für alle h Ö h e -
renTicre. Wir müssen erwarten, daß auch der Mensch keine
Ausnahme macht. Auch nur einigermaßen sicheres Beobach-
tungsmaterial hierüber gibt es aber für den Menschen nicht.
Daß auch die körperlichen und geistigen Eigenschaften
eines fertig entwickelten Menschen das Ergebnis zweier Dinge
x ) Man kann leicht einzelne Blutenknospen, ja sogar Teile einer Blüte
auf Individuen einer anderen Rasse oder einer anderen Art aufpfropfen und
zum Anwachsen bringen.
20
ERWIN BÄUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
sind : erstens seiner ererbten Veranlagung, d. h. seiner ererbten
idioplasmatischen Beschaffenheit und zweitens derjenigen
Außeneinflüsse, wie Ernährung, Erziehung usw., unter denen
er sich gerade entwickelt hat, zeigen aber alle Beobachtungen
des täglichen Lebens. Daß klimatische Einflüsse im weitesten
Sinne des Wortes auch bei Menschen Modifikationen auslösen,
ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Daß die Men-
schen eines Volkes, das zwar ein sehr buntes Rassengemisch
darstellt, das aber in einem bestimmten Gebiet zusammen
wohnt, häufig so manche schwer beschreibbare gemeinsame
körperliche und geistige Eigenschaften aufweisen, hängt wohl
zum Teil hiermit zusammen.
Auch bei allen Untersuchungen über Vererbung bei Men-
schen müssen wir uns immer darüber klar sein, daß ein Indivi-
duum nicht seine persönliche Eigenschaftsausbildung vererbt,
sondern seineselbst schon ererbte Veranlagung.
Vererbt wird also z. B. nicht ein Leistenbruch, sondern „eine
gewisse Veranlagung, einen Leistenbruch zu bekommen". Ob
ein Mensch mit dieser Veranlagung den Leistenbruch auch
wirklich bekommt, hängt noch von anderen Dingen
ab . Für die weitere Vererbung ist es a b e r ganz un-
wesentlich, ob ein solcher erblich belasteter
Mensch den Leistenbruch — etwa infolge einer
starken Anstrengung oder d g 1. bekommt oder
n i c h t. Auch ein äußerlich gesund gebliebener Mensch
vererbt die Anlage weiter. Bei erblicher Veranlagung zu
einer Krankheit, wo das Auftreten des Krankheitsbildes nur
durch ein nicht allzu häufiges Zusammentreffen von Außen-
bedingungen bewirkt wird, ist es dem eben Gesagten entspre-
chend sehr schwierig, den Erbgang genau zu verfolgen. Ist
z. B. in einer Familie eine mäßige Veranlagung zum Leisten-
bruch erblich, so werden nur die wenigen von den mit diesem
Erbübel behafteten Individuen auch wirklich einen Leisten-
bruch bekommen, die irgendwelchen besonderen Anstren-
gungen oder clergl. sich aussetzen. Man wird bei der Betrach-
tung eines Stammbaumes einer solchen Familie sehr oft den Ein-
druck einer ganz unregelmäßigen, .launischen" Vererbung bekom-
men, auch wenn es sich in Wirklichkeit um eine sehr regelmäßige
Vererbung handelt — aber eben nicht um eine Vererbung
der persönlich en Beschaffenheit, sondern der „Anlage" !
Es muß ferner im Auge behalten werden, daß auch jeder
Mensch einen sehr großen Teil seiner Entwicklung im Mutter-
2. DIE V ARI ATION SERSCI1 EINÜ NGEN .
21
leibe durchmacht, und daß daher Umwelts-Einflüsse, die auf
die Mutter wirken, auch noch für die nächste Generation folgen-
schwer sein können. Man wird also mit „Nachwirkungen", vgl.
Seite 18, immer zu rechnen haben.
Das Kind einer erblich nicht mit Tuberkulose-Veranlagung 1 )
belasteten Frau, die aber eine schwere Tuberkulose etwa infolge
ihres Berufes erworben hat und die durch ihre Tuberkulose in
denkbar schlechtestem Ernährungszustand ist, wird sehr häufig
schon von Geburt an schwächlich und weniger widerstandsfähig
sein und deshalb nun besonders leicht auch Tuberkulose be-
kommen. So kann also eine Vererbung vorgetäuscht
werden, wo es sich nur um eine reine Nachwirkung handelt.
In einem äußerlich durchaus ähnlichen Fall, wo eine Frau mit
erblicher Veranlagung für Tuberkulose — bedingt durch eine
bestimmte Thoraxform, eine gewisse Mangelhaftigkeit der
Lymphdrüsen oder irgend etwas anders — tuberkulös wird und
dann auch tuberkulöse Kinder bekommt, liegt neben der Nach-
wirkung auch noch eine Vererbung vor. In einem solchen
Fall zu unterscheiden, was vorliegt, ist sehr schwierig und sehr
oft völlig unmöglich. Jedenfalls ist größte Vorsicht in allen
Schlußfolgerungen und schärfste kritische Betrachtung des
Materials in allen solchen Untersuchungen unerläßlich.
Ebensowenig wie bei allen anderen Organismen Modifika-
tionen erblich sind, ebensowenig sind sie es auch bei Menschen.
Man findet freilich auch hier die absonderlichsten Vorstellun-
gen weit verbreitet. Man kann zwar ein nicht musikalisch ver-
anlagtes Kind durch sorgfältige Erziehung zu einem gewissen
Musikverständnis und zu einer gewissen Ausübung von Musik
bringen, aber die in populären Schriften verbreitete Ansicht,
daß Nachkommen von solchen musikalisch ausgebildeten
Menschen nun schon von vorneherein eine bessere musika-
lische Veranlagung mit auf die Welt brächten, als die Eltern,
daß es also möglich sei, einfachauf demWege der Er-
ziehung die erbliche Veranlagung zu steigern,
ist völlig unbegründet. Durch die Erziehung wird
zwar das Einzel-Individuum stark beeinflußt, aber nicht
die erbliche Veranlagung der Nachkommen. Ein nach
seiner erblichen Veranlagung minderwertiges
Volk oder eine Volksschicht — etwa die Neger
in den Vereinigten Staaten von N o r d - A m e r i k a.
— w i r d durch dicErziehung u n d d c n Ei n f 1 u.ß d e r
1 ) D. h. geringer Widerstandsfähigkeit, gegen die Infektion.
22
ERWIN BÄUR, ALLGEMEINE EE<BLICH REIT SLEI IRE.
Kultur zwar in seinen E i n z e 1 - 1 n d i v i d u e n geho-
ben, aber damit wird die Rasse als solche nicht
verändert.
Die Erkenntnis> daß wir mit einer gegebenen erblichen
Veranlagung eines Individuums als etwas fast unveränder-
lichem rechnen müssen, und daß zwischen den einzelnen Indi-
viduen und Rassen beim Menschen genau ebenso wie bei Pflan-
zen und Tieren sehr beträchtliche erbliche Unterschiede be-
stehen, die wir durch Aufzucht und Erziehung nicht ändern,
nicht ausgleichen können, steht mit weit verbreiteten vorgefaß-
ten Meinungen im Widerspruch. Der Biologe und Arzt
darf sich aber den Blick durch derartige poli-
tische oder religiöse Vorurteile nicht trüben
lassen!
Die Menschen sind nun eben einmal untereinander nicht
gleich. Vom Standpunkt der Genetik betrachtet sind die einzel-
nen Menschen und die verschiedenen Rassen sehr verschieden
wertvoll.
Ganz selbstverständlich wird man die zeitliche Beschaffen-
heit eines Volkes auf beiden Wegen zu verbessern suchen;
Durch möglichst gute Aufzucht, Erziehung und hygienische
Lebensweise, d. h. durch „Individualhygiene" einerseits
und durch Verbesserung der Rasse andererseits, d. h. durch
die in den späteren Abschnitten dieses Buches zu schildernden
Methoden der „R a s s e n h y g i e n e". Genau ebenso sucht auch
der Landwirt Höchstleistungen der Kulturpflanzen auf beiden
Wegen zu erzielen, einmal durch beste Düngung und beste
Pflege und andererseits durch zielbewußte Steigerung der Lei-
stungsfähigkeit, d. h. durch Züchtung.
b) Die Kombination (Mixovariation)
Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung wird meistens
die erbliche Beschaffenheit der beiden Eltern mehr oder weniger
verschieden sein. Der Fah, daß die beiden zur Vereinigung ge-
langenden Geschlechtszellen erblich völlig gleich sind, dürfte
fast ausschließlich bei den Selbstbefruchtern vorkommen, d. h.
denjenigen zwitterigen Pflanzen und Tieren, wo sich immer die
beiderlei Geschlechtszellen desselben Individuums vereini-
gen. Sind aber die beiden sich vereinigenden Geschlechtszellen
erblich nicht gleich, so ergibt das eine sehr große Verwickelung
des Vererbungsverlaufes und ist die Quelle derjenigen Varia-
tionserscheinungen, die wir als Kombinationen bezeichnen.
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
23
Um die hier geltenden Gesetzmäßigkeiten kennen zu ler-
nen, gehen wir ebenfalls wieder aus von einem einfachen Fall.
Wir kreuzen etwa zwei Pflanzen von Antirrhinum majus
(dem Gartenlöwenmaul), und zwar ein elfenbeinfarbiges (Fig. 8a)
aus einer reinen elfenbeinfarbigen Rasse und ein rotes (Fig. 8b)
aus einer reinen roten Rasse. Für diese beiden Pflanzen führen
wir eine bestimmte Bezeichnung mit Buchstaben ein : Jede
,3
Fig.
Kreuzung einer clfenbciufarbigcu (a) mit. einer roten (b) Rasse des Gartenlöwcnmauls (Antirrhimtii:
Majus). Der Bastard (c] ist blaßrot, die Nachkommenschaft des Bastardes, gewonnen durch Selbstbe-
fruchtung oder gegenseitige Befruchtung zweier solcher Bastarde besteht aus rein roten (d), blaß-
roten (e) und elfenbeinfarbigen Pflanzen (f) in der Häufigkeit von l rot : 2 blaßrot : 1 dfenbein.
24
ERWIN BAVR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
Pflanze entsteht aus der Vereinigung zweier Geschlechtszellen.
Eine Geschlechtszelle einer reinen roten Rasse wollen wir mit
Ine und die durch die Vereinigung zweier solcher Zellen ent-
standene rote Pflanze mit Ine Ine bezeichnen. Ganz entsprechend
sollen die Geschlechtszellen der elfcnbeinfarbigen Pflanze ine
und sie selbst ine ine heißen. Wenn wir einen Bastard zwischen
einer roten Pflanze Ine Ine und einer elfcnbeinfarbigen ine ine
erzeugen, indem wir etwa eine weibliche Geschlechtszelle Ine
sich vereinigen lassen mit einer männlichen ine, oder was ganz
einerlei ist, eine weibliche Geschlechtszelle ine mit einer männ-
lichen Ine, so erhalten wir eine Pflanze mit der Bezeichnung
Ine ine, oder ine Ine, d. h. einen Bastard, oder wie der Facl>
ausdruck heißt, ein heterozy gotisch es, „ungleicherbiges"
(durch Vereinigung ungleichartiger Geschlechtszellen entstande-
nes) Individuum. Im Gegensatz dazu heißt man ein Lebewesen,
das durch die Vereinigung zweier gleichartiger Geschlechtszellen
entstanden ist, homozygotisch, „gleicherbig"". Ein solcher
An t i r rh i n u m - Bastard wird, nun weder elf enbeinf arbig" wie
der eine Eher, noch rot wie der andere, sondern b 1 a ß r o t blü-
hen (Fig. 8c). Er hat nur von dem einen. — dem roten — Elter
die „Fähigkeit zur Bildung roter Blütenfarbe" geerbt, und das
äußert sich darin, daß er eine wesentlich blassere Farbe auf-
weist. Soweit ist an dem nichts Unerwartetes, um so auffälliger
ist aber das Verhalten der Nachkommenschaft eines solchen Ba-
stards : Wenn wir eine Anzahl Bastarde sich untereinander be-
fruchten lassen, oder wenn wir, was ohne Schaden, ausführbar
ist, einen davon mit seinem eigenen Blütenstaub befruchten,
dann erhalten wir eine Nachkommenschaft, die aus dreierlei
verschiedenen Pflanzen besteht. Ein Teil dieser Bastardkinder
hat rote Blüten, genau wie die eine Ausgangsrasse, ein zweiter
Teil hat elfcnbeinfarbige Blüten wie die andere Ausgangs-
rasse und ein dritter Teil hat b 1 a ß r o t e Blüten wie der ur-
sprüngliche Bastard. Wenn man viele solche Enkel der ursprüng-
lichen gekreuzten Pflanzen großzieht, dann kann man leicht fest-
stellen, daß die drei G ruppen, die roten, blaßroten und el fenbein-
farbigen Pflanzen untereinander im Verhältnis von 1:2:1
stehen, d. h. von 100 Pflanzen werden etwa 25 rot, 50 blaßrot
und 25 elfenbeinfarbig sein. Die wirklich gefundenen Zahlen
aus einem Versuch von 97 Pflanzen sind z. B. 22 rot, 52 blaß-
rot und 23 elfenbcinfarbig. Die auf diese Weise gewonnenen
r o t e n Pflanzen geben ausschließlich eine rote Nachkommen-
schaft, die e 1 f e n b e i n f a r b i g e n haben nur elfenbeinfarbige
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
25
Nachkommen, aber die blaßroten Individuen verhalten sich
genau wie der erste ursprüngliche Bastard Ine ine,
d. h. spalten wieder auf in Vi rote > V± blaßrote und 1 / i elfenbein-
farbige Nachkommen. In Form eines Stammbaumes ist der Ver-
such folgendermaßen darstellbar :
rot
eli'cnbem
?1
blaßrol
(Vi) rol
(Vj) blaßrot
(Vj) blaßrot
(Vi) elfenb.F,
alle ' (V 4 ) (V.) ( ] A) (7<>
rot rot, blaßrot, blaßrot, elfcnb.
(Vi) (7<> (V*) (7.)
rot, blaßrot, blaßrot, cli'cnb.
alle,
eile nb ein
/%
Man bezeichnet mit den hier ebenso wie in Fig. 8 an der
rechten Seite beigedruckten Buchstaben P 1 , F x , F 2 , F 3 folgen-
des : P 1 ist die erste P aren t algener a t io n, d. h. die ur-
sprünglich zur Kreuzung verwendeten Individuen, F t ist die
erste F i lia 1 g en er a t io n, d. h. die primären Bastarde, F 2 ,
F 3 usw. sind die späteren Bastardgenerationen. Ganz entspre-
chend ist P 2 die Elterngeneration von Pj usw.
Ein Verständnis dieser ganz eigentümlichen Spaltungser-
scheinungen, dieser „alternativen Vererbung", gibt die von
Mendel aufgestellte, heute allgemein angenommene Theorie,
daß jeder derartige Bastard zweierlei Arten von
Geschlechtszellen bildet, nämlich 50 0/0 „väterliche"
und 500/0 ^mütterliche". Nach dieser Theorie bildet also unser
Antirrhinum-Bastard Ine ine zweierlei Arten von Eizellen und
Pollenkörnern, und zwar ist die eine Hälfte davon ganz genau
von der Art Ine, verhält sich ganz ebenso wie die Geschlechtszel-
len einer homozygotischen //zc-Z/zc- Pflanze, und die andere Hälfte
ist genau gleich den Geschlechtszellen Ine der -elf enb einfarbigen
Rasse ine ine. Wenn wir den Bastard mit seinem eigenen Blüten-
staub befruchten, oder wenn wir mehrere solcher Bastarde ein-
ander gegenseitig befruchten lassen, dann können die beiden
26
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICH KEITSLEH RE.
verschiedenen Arten — Ine und ine — von Geschlechtszellen sich
in vier verschiedenen Weisen vereinigen:
Eine Eizelle Ine kann treffen ein Pollenkorn Ine und gibt
eine Pflanze Ine Ine, die rot blüht;
eine Eizelle Ine kann treffen ein Pollenkorn ine und gibt
eine Pflanze Ine ine, die blaßrot blüht;
eine Eizelle ine kann treffen ein Pollenkorn Ine und gibt
eine Pflanze ine Ine, die blaßrot blüht;
eine Eizelle ine kann treffen ein Pollenkoni ine und gibt
eine Pflanze ine ine, die elfenbeinfarbig blüht.
Alle vier möglichen Vereinigungen haben die gleiche
Wahrscheinlichkeit, wir werden darum erwarten dürfen, daß in
der Nachkommenschaft eines solchen Bastardes alle vier gleich
häufig verwirklicht werden, und daß dementsprechend diese
vier Arten von Pflanzen, Ine Ine, Ine ine, ine Ine, ine ine in an-
nähernd gleichen Verhältnissen vorkommen werden. Theoretisch
ist daher zu erwarten, daß die 'Nachkommenschaft eines solchen
Bastards zusammengesetzt sein wird aus :
Vi Pflanzen, entstanden als IitcXlnc d. h. homozygotisch rot
,. ., ,, ., fncXinc ,. ,, heterozygoHsch blaßrot
-- ,, ■, ine X Ine ,, ,, ,, .,
,, ,. .. ine X ine ,, .. homozygotisch elfenbein.
Es ist möglich gewesen, auf Grund der Theorie auch das
Ergebnis von weiteren Versuchen vorherzusagen und so die
Theorie zu prüfen. Das gilt besonders für die Rückkreu-
zung eines Bastardes: Wir befruchten etwa unseren Bastard
Ine ine mit Blütenstaub der elfenbeinfarbigen Elternpflanze
ine ine oder einer anderen clfcnbeinfarbigen Pflanze der glei-
chen Sippe. Nach der Hypothese bildet der Bastard zweierlei
Eizellen, die eine Hälfte der Eizellen überträgt nur das Merkmal
rote Blütenfarbc, die andere Hälfte überträgt nur das Merkmal
elfenbein Blütenfarbe. Wenn wir einen solchen Bastard befruch-
teten mit einer mc-Z/zc- Pflanze, deren Pollcnkörncr sämtlich
nur das Merkmal elfenbcinfarbigc Blüte übertragen, dann müs-
sen 50 o/o der so entstehenden Nachkommen gebildet werden
durch Vereinigung einer //zc-Eizelle mit einem /«c-Pollcnkorn.
Es müssen demnach bei einer solchen Rückkreuzung entstehen :
50 0/0 Pflanzen von der Formel Ineine, d. h. blaßrote Heterozy-
goten und 50 0/0 Pflanzen von der 'Formel ine ine, d. h. elfcnbcin-
farbige weiterhin rein weitervererbende Pflanzen. Das auf Grund
der Theorie vorherzusagende Ergebnis trifft auch tatsächlich
2, DIE V ARI AT IONSERSCH EI NU NGEN ,
ZI
ein, man erhält in entsprechenden Versuchen zu fast gleichen
Teilen einerseits elf enbeinf arbige weiterhin konstante, und an-
dererseits blaßrote weiterhin aufmendelnde Pflanzen.
In dem gebrauchten Beispiele sind die Bastarde leicht an
ihrer blaßroten Farbe zu erkennen. Die Bastarde nehmen
also gewissermaßen eine Art Mittelstellung zwischen den Eltern
ein, sind „intermediäre" Bastarde. So ist die Sachlage zwar
sehr häufig, aber durchaus nicht immer! Das Aussehen der
Heterozygoten kann auch ein ganz anderes sein.
Ein Fall, der ganz besonders häufig vorkommt, ist der, daß
die Heterozygoten ganz dem einen Elter gleichen, „goneoklin"
sind, z. B. wenn wir eine schwarze Maus kreuzen mit einer
weißen, so erhalten wir Bastarde, die schwarz aussehen und
äußerlich nicht von den homozy gotischen schwarzen Tieren zu
unterscheiden sind. F 2 einer solchen Kreuzung besteht demnach,
äußerlich betrachtet, zu 3 / 4 aus schwarzen und zu 1 / i aus weißen
Tieren. Eine Prüfung der Nachkommenschaft der schwarzen
Tiere zeigt .aber, daß auch hier ein Teil von ihnen homozygo-
tisch schwarz, zwei andere Teile von ihnen aber heterozygo tisch
schwarz sind. Man führt diese Prüfung der schwarzen F 2 -Tiere
dadurch aus, daß man jedes einzelne Tier mit einem weißen
Tier rückkreuzt. Zwei Drittel der schwarzen F 2 -Mäuse
geben dabei schwarze und weiße Nachkommen im Verhältnis
1 :i, ein Drittel gibt nur schwarze Nachkommen. Auch hier
sind also in Wirklichkeit die Verhältnisse die gleichen wie bei
den vorhin besprochenen Bastarden zwischen den roten und
den elfenb einfarbigen Löwenmäulchen.
Die Erscheinung, daß viele Bastarde äußerlich von dein
einen Elter nicht zu unterscheiden sind, bezeichnet man mit
dem Wort Dominanz. Man sagt, das eine Merkmal, hier
etwa die „Fähigkeit zur Bildung schwarzer Haarfarbe" domi-
niere über das andere Merkmal, über das Fehlen dieser Fähig-
keit und dieses letztere Merkmal sei rezessiv gegen das erstere.
Man hat dieser Dominanzerscheinung, die durchaus keine all-
gemeine Regel ist, vielfach übertrieben große Bedeutung zuge-
schrieben, von einer Dominanzregel gesprochen. Das ist ganz
verkehrt, eine irgendwie allgemeingültige Dominanzregel gibt
es nicht, und sehr häufig kann man bei ganz genauem Zusehen
auch bei scheinbar völliger Dominanz die Homozygoten
doch noch von den Heterozygoten unterscheiden.
28 ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEMRE.
Es kommt auch vor, daß die Dominanz einer Eigenschaft
je nach dem Alter der Bastarde verschieden ausgesprochen ist.
Genau die gleichen Gesetze gelten entsprechend, auch wenn
wir Rassen kreuzen, die sich in mehr als einem Merkmal unter-
scheiden, wenn wir also nicht bloß „Monohybriden" sondern
„Di-, Tri- und Polyhybriden" erzeugen. Betrachten wir auch
hier wieder einen ganz einfachen Fall. Wir kreuzen eine rote
radiäre Löwenmaulrasse (Fig. 9 a) mit einer normalblütigen
elfenbeinfarbigen (Fig. 9 b), der Bastard ist blaßrot und hat
völlig normale Blutenform, nur die Oberlippe ist etwas kleiner
als bei den homozy gotisch normalen Pflanzen. Wir haben also
hier einen Fall fast völliger Dominanz der normalen Blüten-
form über; die radiäre, während in der Farbe der Bastard
ungefähr eine Mittelstellung einnimmt 1 ). Die durch Selbstbe-
fruchtung eines solchen Bastards gewonnene F 2 -Generation
(Fig. 9d bis g) besteht aus sechs äußerlich verschiedenen Grup-
pen von Pflanzen, nämlich aus :
roten normalen
blaßroten normalen
roten radiären
(3)
(6)
(0
blaßroten radiären .... (2)
elfenbeinfarbigen normalen (3)
„ radiären ( 1)
Die Zahlenverhältnisse, in denen diese verschiedenen Kate-
gorien, auftreten, sind in ( ) beigefügt. Wie auf Grund der
Spaltungsgesetze diese Kategorien und diese Verhältniszahlen
zustande kommen, leiten wir in ähnlicher Weise ab, wie in dem
zuerst besprochenen Beispiel: Eine Geschlechtszelle oder, wie
man in der Vererbungsliteratur meistens sagt, einen Game-
ten der normalen ehenbeinfarbigen Rasse bezeichnen wir mit
ine Rad, eine Geschlechtszelle der roten radiären Rasse mit
Incrad. Dabei bedeutet:
Ine Fähigkeil zur Bildung
roter Blüten färbe
Rad. Fähigkeit zur Bildung-
normaler Blüten
ine Fehlen dieser Fähigkeit, d. h. der so bezeich-
nete Garnel überträgt elfcnbcin Blütenfarbe
rad Fehlen dieser Fähigkeit, d.h. dieser Gamet
überträgt radiäre Blutenform.
Die aus der Vereinigung zweier Geschlechtszellen Incrad
(rote Blütenfarbc, radiäre Blüten) entstandene eine P^-Pflanze
bekommt also die Erbformel Ine Ine rad rad.
*) In dei" Figur 9 sind die blaßroten und roten Individuen nicht ver-
schieden gezeichnet.
2. DIE VARIATIONSERSCUEINUNOEN.
29
Die aus der Vereinigung zweier Geschlechtszellen ine Rad
(elfenbeinfarbige normale Blüte) entstandene andere P 1 -Pflanze
hat dann die Formel ine ine Rad Rad.
Fig. 9.
Kretmnig einer roten radiären (a) mit einer e Keilbein farbigen normalen Rasse (b) von AntirrMiutm
majus. Der Bastard, (c) wird blaßrot normal. Die F,- Generation bestellt aus roten und blauroten
normalen (d), roten und blaßroten radiären (e) elfenb einfarbigen normalen (f) und elfenbc infarbigen
radiären (g) Pflanzen im Verhältnis von:
9 rot normal 3 elfenbein normal
3 ,, radiär 1 ,. radiär
Rein rot" und blaßrot sind in dieser Figur nicht unterschiede».
30
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE.
DerBastardhat dementsprechend die Formel Ine ine Radrad.
Wenn dieser Bastard geschlechtsreif wird, bildet er nach der
Mcndelschen Theorie viererlei verschiedene Geschlechtszel-
len aus. nämlich
Inc. Rad, die rote Farbe und normale Form übertragen
Incrad, ,, ,, ,, ,, radiäre
ine Rad, ,, elfenbein ,, ,, normale ,,
incrad, ,, ,, ., ,, radiäre
Diese viererlei verschiedenen Geschlechtszellen werden in
gleicher Zahl gebildet.
Wenn wir einen solchen Bastard Ine ine Rad rad mit sich
selbst oder wenn wir mehrere solcher Bastarde untereinander
befruchten, dann können sich die vier Arten von Eizellen mit
den vier Arten von Pollenkörncrn in 16 verschiedenen Kombi-
nationen vereinen, nämlich :
j. eine Eizelle Ine Rad. kann treffen ein Pollenkorn Ine Rad. und gibt eine
rote normale Pflanze Ine Ine Rad Rad.
2. eine Eizelle Ine Rad kann treffen ein Pollenkorn Incrad und gibt eine
rote normale Pflanze Ine Ine Rad rad.
3. eine Eizelle Ine Rad kann treffen ein Pollcnkorn ine Rad und gibt eine
blaßrote normale Pflanze ine ine Rad Rad.
4. eine Eizelle Ine Rad. kann treffen ein Pollenkoni incrad und gibt eine
blaßrote normale Pflanze Ine ine Rad rad.
5. eine Eizelle Incrad. kann treffen ein Pollcnkorn Ine Rad und gibt eine
rote normale Pflanze Ine Ine Rad rad.
6. eine Eizelle Incrad kann treffen ein Pollenkorn Incrad und gibt eine
rote radiäre Pflanze Ine Inc. rad rad.
7. eine Eizelle Incrad kann treffen ein Pollenkorn ine Rad und gibt eine
blaßrote normale Pflanze I nc ine Rad rad.
8. eine Eizelle Incrad kann treffen ein Pollenkorn incrad und gibt eine
blaßrote radiäre Pflanze Ine ine rad rad.
9. eine Eizelle ine Rad kann treffen ein Pollenkorn Ine Rad und gibt eine
blaßrole normale Pflanze Ine ine Rad Rad.
10. eine Eizelle ine Rad. kann treffen ein Pollcnkorn Incrad und gibt eine
blaßrote normale Pflanze Ine ine Rad rad.
ii. eine Eizelle ine Rad kann treffen ein Pollenkorn ine Rad. und gibt eine
clfenbeinfarbigc normale Pflanze ine ine Rad Rad.
12. eine Eizelle ine Rad. kann treffen ein Pollenkoni incrad und gibt eine
elfcnbcinfarbige normale Pflanze ine ine Rad rad.
13. eine Eizelle incrad kann treffen ein Pollcnkorn Ine Rad und gibt eine
blaßrote normale Pflanze Ine ine Rad rad.
14. eine Eizelle incrad kann treffen ein Pollcnkorn Incrad und gibt eine
blaßrote radiäre Pflanze Ine ine rad rad.
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
31
15. eine Eizelle incrad kann treffen ein Pollenkorn ine Rad und gibt eine
elfenbeinfarbige normale Pflanze ine ine Rad rad.
i6. eine Eizelle incrad kann treffen ein Pollenkorn incrad und gibt eine
elfenbeinfarbige radiäre Pflanze ine ine rad rad.
Ein Blick auf die Übersicht zeigt, daß von den 16 mög-
lichen Vereinigungen drei (i, 2, 5) Pflanzen mit roten nor-
malen Blüten, sechs (3, 4, 7, 9, io, 13) Pflanzen mit blaß-
roten normalen Blüten, eine (6) Pflanze mit roten radiären
Blüten, zwei (8, 14) Pflanzen mit blaßroten radiären Blüten,
drei (11, 12, 15) Pflanzen mit elfenbeinfarbigen normalen
Blüten, eine (16) Pflanze mit elfenbeinfarbigen radiären Blü-
ten ergeben müssen.
Wir werden demnach in F 2 dieser Kreuzung die 6 verschie-
denen Pflanzen: „rot normal", „blaßrot normal", „rot radiär",
„.blaßrot radiär", „elfenbein normal" und „elfenbein radiär" im
Verhältnis 3:6:1:2:3:1 auffinden müssen. Zählt man rot und
blaßrot zusammen 1 ), so ergibt sich das .Verhältnis 9:3:3:1. Die
in Versuchen gefundenen Zahlen stehen damit gut in Einklang,
eine solche Kreuzung hat z. B. die folgende F r Generation er-
geben :
Rot normal 39, blaßrot normal 94, rot radiär 15, blaßrot
radiär 25, elfenbein normal 45, elfenbein radiär 13.
Auf Grund der Theorie ist ferner zu erwarten, daß je ein
Drittel der normal blühenden Kategorien eine ausschließlich
normal blühende Nachkommenschaft haben wird, nämlich alle
Pflanzen, die Rad Rad enthalten (Nr. 1, 3, 9, 1 1), ferner werden
wir erwarten müssen, daß je zwei Drittel davon, nämlich alle,
welche Radrad enthalten (Nr. 2, 4,5, 7, 10, 12, 13, 15), weiterhin
aufspalten müssen in normale und radiäre Nachkommen, ebenso
ist zu erwarten, daß alle roten //zo/«t>Pflanzcn nur rote Nach-
kommen haben werden, daß dagegen alle blaßroten Inc-inc-
Pflanzen in der nächsten Generation eine Spaltung in rote, blaß-
rote und elfenbeinfarbige Pflanzen zeigen müssen. Auch diese
theoretische Forderung zeigt sich in allen Versuchen erfüllt.
In Form eines Stammbaumes ist dieser Versuch auf S.32 dar-
gestellt.
Wir sehen also, daß die verschiedenen Merkmale, durch
welche die beiden ursprünglich gekreuzten Rassen sich unter-
scheiden, g a n z u n a b h ä n g i g v o n e i n a n d e r a u f d i e G e -
schlechtszellen des Bastardes verteilt werden.
Wie das in Fig. 9 geschehen ist.
32
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERßLLHRE.
rot radiär X clfenbein normal
blaßrot normal
rot normal
7l«
^
h .;
_Q ti
%
Iilaßrol normal
116
Ö P<
K O ,Ü
5 ■* ö
nl tu
£
H
a^
rot radiär
7l6
blaßrot radiär
7,6
£
H
elüenb. normal
7)6
Ö .-
(1
"-<
rC
OJ
£
11)
rzJ
n
H
Ol
d
z; c
H
clfenb. radiär f %
7ro
£
Dieses Gesetz der unabhängigen Vererbungsweise
der einzelnen Merkmale, durch welche sich die ursprünglich ge-
kreuzten Rassen unterscheiden, ist von der größten Wichtigkeit
gerade auch für die Vererbungsvorgänge beim Menschen.
Eine Kreuzung, die der eben besprochenen in jeder Hinsicht
entspricht, bei der nur in beiden Merkmalen äußerlich völ-
lige Dominanz vorliegt, ist in Figur io dargestellt. Die
Kreuzung einer glatthaarigen schwarzen Meerschweinchenrasse
mit einer andern, rauhhaarigen weißen Rasse gibt in F 1 rauh-
haarige schwarze Tiere und in F 2 treten die vier zu erwartenden
Kombinationen auf, d. h. viererlei verschiedene Tiere: schwarze
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
33
rauhhaarige, weiße rauhhaarige, schwarze glatthaarige und
weiße glatthaarige im Verhältnis 9:3:3:1.
Man kann nun auch Rassen kreuzen, die in noch mehr Merk-
malen verschieden sind. Wir können etwa kreuzen ein elfenbein-
farbiges normales hochwüchsiges Löwenmaul mit einem roten
radiären niedrigwüchsigen. F ± ist dann rot normal und hoch.
G
**|i*^
V*
Fig. 10.
Kreuzung einer schwarzen glatthaarigen Meerschweinchenrasse mit einer
weißen struppigen. Die F r Tiere sind schwarz, struppig und in der F 3 Gcne-
ration treten schwarze struppige, schwarze glatte, weiße struppige und weiße
glatte Tiere im Verhältnis 9:33: 1 auf.
Es dominiert hoher Wuchs ziemlich weitgehend über niedrigen
Wuchs.
Mit Hilfe eines Schemas, das dem Schema auf S. 29/30
entspricht, aber nun für den Unterschied zwischen hoch und
niedrig noch die Bezeichnung Alpi (hoch) und alpi (niedrig) ent-
hält, läßt sich der Erbgang leicht berechnen. Eine Rasse elfen-
Banr-Fisc her -Lenz I. 3
34
ERWIN BAÖR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
beinfarbig normal hochwüchsig hat die „Formel" ine ine Rad
Rad Alpi Alpi, eine Rasse rot radiär niedrig ha.t die Formel Ine
Ine rad rad alpi alpi. Der Bastard Ine ine Rad rad Alpi alpi bildet
achterlei verschiedene Geschlechtszellen, zwischen denen 64
verschiedene Kombinationen möglich und gleich wahrscheinlich
sind. Kreuzen wir Rassen, die sich in noch mehr Merkmalen un-
terscheiden, dann gelten dieselben Gesetzmäßigkeiten weiter.
Was für Zahlenvcrhältnisse dabei auftreten, und welche allge-
meine Formel für «-Merkmale aufgestellt werden kann, zeigt
die untenstehende Tabelle.
Zahl der
Unter-
schiede
der Pi-
Indi-
viduen
Zahl der
ver-
schiede-
nen
Arten von
Geschlechts-
zellen,
weiche in
Fi gebildet
werden
Zahl der
möglichen
Kombi-
nationen
der
Geschlechts-
zellen
Höchst zahl
d. äußerlich
verschie-
denen Kate-
gorien von
Fi -Indivi-
duen, wenn
überall
völlige
Dominanz
vorliegt
Die äußerlich verschiedenen Sorten von
Fs-Individnen sind, wenn überall völlige Domi-
nanz vorliegt, vertreten durch Individiieilzahlen,
welche zueinander in den folgenden Verhältnissen
stehen. {Hängt eine äußerlich sichtbare Eigen-
schaft von mehreren heterozygolisch vor-
kommenden Faktoren ab, dann treten hier ab-
weichende, allerdings aus den nachstehend ge-
nannten ableitbare Zahlenreihen auf.)
1
21
= 2
(2^
= 4
2i
= 2
3 : 1
"TT
2
2 a
= 4
(2*)'
^=16
= 4
9 : 3 : 3 : 1
1 T 1
3
2 a
= 8
(2»)»
^=64
2 3
= a
27 : 9 : 9 9:3:3 3:1
T 3 3 1
4
2*
= 16
(2*) 2
= 256
2*
= 16
81:27:27:27:27:9:9:9:9:9:9:3:3:3.3:1
14 6 4
n
2«
(3") a
2*i
3n : 311-1 :3ti-l : 3a-l... : 3.1-2 ; 311-2 : 3»-2...usw.
1 . . usw. = Koeffizienten d. Binoms (a\a) n . . 2
Mit der zunehmenden Zahl von selbständig sich vererbenden
Unterschieden zwischen zwei gekreuzten Rassen wird demnach
die Zusammensetzung der F 2 -Generation rasch ganz ungemein
kompliziert. Zeigen z. B. zwei Rassen zehn selbständige Unter-
schiede, so treten in F 2 schon 2 10 = 1024 äußerlich verschie-
dene Sorten von Individuen auf.
Auch zahlreiche Kreuzungsergcbnissc, die zunächst sich
durchaus nicht den Spaltungsgesetzcn zu fügen schienen, sind
bei näherer Untersuchung doch als völlig mit ihnen in Ein-
klang stehend erkannt worden. Freilich sind dabei sehr viele
2. DIE V ARI AT ION SERSCl i EI NU NGEN .
35
Verwickelungen der Spaltungserscheinungen bekannt gewor-
den, welche das Verständnis einer Kreuzung oft sehr erschweren
können. Die wichtigste ist die, daß eine scheinbar einheitliche
Eigenschaft meist abhängt von mehreren selbständig mendehi-
den „Faktoren". Es kann z. B. die braune Farbe in den Federn
eines Vogels dadurch zustande kommen, daß ein farbloses
Chromogen durch die Einwirkung eines Enzyms erst die braune
Farbe erhält. „Fähigkeit zur Bildung des Enzyms" und „Fähig-
keit zur Bildung des Chromogens" können aber selbständig
sich vererbende und j ede f ür sich unabhängig mendclnde
Eigenschaften sein. Es kann z. B. einer weißen Hühnerrasse
die Fähigkeit zur Enzymbildung fehlen, während die Fähigkeit
zur Chromogenbildung vorhanden ist. Einer anderen weißen
Rasse kann die Fähigkeit zur Chromogenbildung fehlen bei
Vorhandensein der Fähigkeit zur Enzymbildung. Kreuzt man
zwei derartige, aus verschiedenen Ursachen weiße
Rassen, so werden Bastarde entstehen, die von dem einen Eher
her die Fähigkeit zur Enzymbildung, vom anderen die Fähig-
keit zur Chromogenbildung ererbt haben, und die demnach
durch „Bastardatavismus" gefärbtes Gefieder haben. Fleißen
wir z. B. den Erbfaktor, der die Chromogenbildung ermöglicht, A
und den, der die Enzymbildung ermöglicht, B, so ist die eine
weiße Rasse (welche nur das Chromogen bilden kann)
AAbb und die andere weiße Rasse (welche nur das Enzym
bilden kann) aaBB. Die Bastarde der beiden Rassen sind dann
AaBb, können sowohl Chromogen wie Enzym bilden und sind
deshalb gefärbt. Diese Bastarde AaBb bilden die folgenden
viererlei Gameten AB, Ab, aB, ab, und zwischen diesen Gameten
sind 16 Kombinationen möglich : Neun davon geben, wie die
nachstellende Kombinationstabelle zeigt, Tiere mit gefärbten
Federn und sieben geben Tiere mit weißen Federn.
ABXAB = AABB gefärbt
ABxAb =: AABb
ABXaB = AaBB
ABXab = AaBb
AbX AB - AABb gefärbt
AbxAb = AAbb weiß
AbXaß = AaBb gefärbt
AbX ab = Aabb weiß
aBXAB
-= AaBB
gefärbt
aBxAb
= AaBb
„
a B X a B
= aaBB
weiß
a ÜXab
= anlib
»
a b X A B
= AaBb
gefärbt
ab X Ab
= Aabb
weiß
abXaB
- aaBb
it
ab X ab
— aabb
„
Wenn man eine Pflanze oder ein Tier in großen Versuchs-
reihen genetisch bearbeitet, dann stößt man stets auf Fälle, wo
36
ERWIN DAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
in ganz entsprechender Weise wie in diesem. Hühnerbeispiel
ganz ähnliche Mißbildungen genetisch ganz ver-
schieden bedingt sein können. Diese Fälle sind gerade auch
für die menschliche Pathologie so wichtig, daß noch einige wei-
tere Beispiele genannt werden sollen. Fig. 1 1 a stellt die Blüte
einer als fimbriata, Fig. iib die Blüte einer als choripetala
bezeichneten rezessiv vererbten Defektrasse von Antirrhinum dar.
Beide Rassen sind in sich als rezessive Rassen völlig konstant
und jede mendelt bei Kreuzung mit der Nonnairasse monofak-
toriell. Die Kreuzung der beiden Rassen untereinander gibt aber
wie zu erwarten eine völlig normale F 1 -Generation (Fig. 1 1 c)
(FimfimCho cho). In F 2 erfolgt die zu erwartende Spaltung,
4 J
^
Fig. ir.
aj eine Blüte der Rasse fimbriata (Erbformel fim fim)
b) eine Blüte der Rasse choripetala (Erbformel cho cho)
c) eine Blüte des Bastardes zwischen a und b (Erbformel Fim fim Cho cho)
Die Ähnlichkeit zweier genetisch verschiedener Defekt-
rassen kann noch weiter gehen. Bei Antirrhinum gibt es z. B.
über ro äußerlich überhaupt nicht unterscheid-
bare elfenbeinfarbige Rassen, deren jede mit jeder
andern gekreuzt eine ganz normal rot blühende F 2 -Generation
gibt.
Auch beim Menschen werden wir auf solche Fälle stoßen.
Wenn es z. B. zwei genetisch verschiedene, aber klinisch
nicht unterscheidbare rezessive Typen von Taubstumm-
heit gibt, so wird sich das so äußern, daß .gelegentlich aus der
Ehe von zwei Taubstummen wider alles Erwarten völlig nor-
male Nachkommen hervorgehen.
Von Wichtigkeit ist es auch., in diesem Zusammenhang ein-
mal zu besprechen, wie der Erbgang ist, wenn Individuen ge-
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
37
paart werden, deren jedes äußerlich, normal, aber heterozygo-
tisch in einem rezessiven Defektfaktor ist. Eine Antirrhinum-
pflanzc von der Formel Ine tnc Cho Cho (völlig normal, rotblü-
hend, aber heterozygotisch in einem elfcnbein-Faktor) gibt bei
der Kreuzung mit einer Pflanze von der Formel Ine Ine Cho cho
(ebenfalls völlig normal und rot gefärbt aber heterozygotisch
im choripctala-Factor) eine äußerlich völlig normale, einheit-
lich rotblühende Nachkommenschaft. Aber von diesen äußerlich
völlig normalen F 1 -Nachkommen ist :
1 / i Ine Ine Cho Cho, also homozygotisch dominant in bei-
den Faktoren und weiterhin konstant völlig normal.
Vi ine ine Cho C/zo, also heterozygotisch imelfenbein-Faktor.
1 / i Ine Ine Cho cho, also heterozygotisch im choripetala -
Faktor.
1 / J . Ine ine Cho cho, also heterozygotisch in b e i cl c n Defekt-
faktoren.
Nach diesem Schema verläuft der E r b gang
bei zahlreichen Ehen innerhalb eines Kultur-
volkes. Viele Menschen sind in irgendeinem mehr oder
weniger unangenehmen rezessiven Defektfaktor heterozygo-
tisch und nur weil im allgemeinen jeder Ehepartner in einem
oder einigen andern Defektfaktoren heterozygotisch ist, ent-
stehen äußerlich völlig normale Kinder. Bei Verwand-
ten-Ehen besteht, wie später auf S. 90 noch besprochen wer-
den soll, eine gewisse größere Wahrscheinlichkeit dafür, daß
beide Ehepartner im g 1 e i c h e n Defektfaktor heterozygotisch
sind und daß dann auch Kinder geboren werden, die in diesem
Faktor homozygotisch rezessiv sind und ihn deshalb auch äußer-
lich zeigen.
Wenn wir mit irgendeiner Pflanze oder irgendeinem Tier
zahlreiche Kreuzungsversuche durchführen, dann kommen wir
rasch dazu, eine gewisse Anzahl solcher Erbfaktoren festzustel-
len, und dabei zeigt sich immer wieder, daß der scheinbar
unübersehbaren großen Zahl von S orten- und Ras -
senunterschieden innerhalb e i n e r „A r t" immer nur
wieder andere Korn binationen einer verhältnismäßig
kleinen Zahl von mendelndcn Unterschieden
oder, wie man meist sagt, von „Erbfaktoren" zugrunde lie-
gen.
38
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERDLEHRE.
Einige Pflanzen- und Tierarten sind in zahllosen Kreuzungs-
versuchen*) schon sehr weit analysiert, und wir kennen von die-
sen Arten heute schon Hunderte von einzelnen Erbfaktoren.
Für die Bezeichnung dieser ^Faktoren", oder wie man in
der englisch-amerikanischen Literatur sagt, dieser „Gene" bil-
det sich allmählich folgende Gepflogenheit: Wird eine neue
Fig. 12.
b. Blutenstand einer durch Mutation entstandenen als tonsa bezeichneten
Sippe von Antirrhlnum majas rechts neben einem Blütenstand der normalen.
Ausgangssippe a.
*) Von A n t i r r h i nu m wurden z. B. in den letzten Jahren allein
im Münchebcrger Institut für Züchtungsforschung p r o J a h r 700 000
bis 1000 000 Individuen in solchen Versuchen verarbeitet, von denen im all-
gemeinen bis zu durchschnittlich 20 Generationen rückwärts alle Vorfah-
ren in den Kartotheken registriert sind. Noch größer ist die Zahl der in
der ganzen Welt pro Jahr „genetisch" verarbeiteten Taufliegen.
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
39
mendelncle Eigenschaft, ein Gen, ein Faktor erkannt, findet man
z. B. in Löwenmaulvcrsuchen eine neue rezessive Faktormu-
tante mit der inF.ig. 12b, S. 38 abgebildeten Blütenform, so er-
hält sie einen lateinischen Namen. In diesem Falle wurde der
Name tonsa gewählt, weil die Blüten, infolge Verkümmerung
der Oberlippen „geschoren" aussehen. Die ersten drei oder vier
Buchstaben dieses lateinischen Namens dienen als ,, Erbformel".
Eine in diesem Fall homozygotisch dominante, also völlig nor-
male Rasse hat die Formel Ton Ton, die neue rezessive Mutante
Fig- 13.
a) eine als jimbriata bezeichnete rezessive Defektrasse von Atitirrhinum
b) die entsprechende Normalform.
hat die Formel ton ton. Entsprechend heißt die in Fig. 1 3 a, S, 39
abgebildete rezessive „ausgefranste" Rasse fimbriata und die
Formelabkürzung ist Fun bzw. fim. Die in Fig. 14 b abgebildete
Sippe, die sich durch einen rezessiven monofaktoriell mendeln-
den Faktor für Frühreife von der in Fig. 14 a abgebildeten, im
übrigen mit ihr gleichformcligen Sippe, unterscheidet, führt nach
dieser Regel den Namen matura. Die Pflanze in Fig. 14 a ist
Med Mai. Die Pflanze in Fig. 14 b ist matmat.
Neue, der normalen Wildform gegenüber dominante
Rassen erhalten einen gewissermaßen negativen Namen, z. B.
40
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
eine dominante Zwergrasse heißt Apygmaea, die homozygoten
Zwerge haben die Formel Apy Apy, die normalen, nicht zwer-
gigen Pflanzen haben die Formel apy apy.
Die verschiedenen Kombinationen dieser vielen einzelnen
Erbfaktoren oder Gene sind das, was wir jeweils eine „Rasse"
heißen. Mit den rund 300 bisher bekannten Erbfaktoren von
Jttr*. _• 1-
Fig. 14.
Zwei im übrigen völtig gleiche und genau gleich alte und völlig gleich
behandelte Pflanzen, von denen die eine (b) mat mat, die andere (a) Mat
Mat ist. Der rezessive Factor matura bedingt einen um etwa 1 3 — 4 Wochen
früheren Blühbcginn.
Antirrhinum majus kann man sich also 2 3Ü0 (d. h. eine Zahl
mit 91 Nullen) Rassen jederzeit willkürlich erzeugen.
Hergestellt und als Zuchtrassen gezogen sind davon nur
verhältnismäßig wenige, es ist sehr leicht, sich irgendeine
heute im Handel nicht aufzutreibende, vielleicht überhaupt
noch nie vorhanden gewesene bestimmte Kombination herzu-
stellen und als „Rasse" rein herauszuzüchten. M an k ann also
mit einer erst einmal genügend analysierten
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
41
Spezies ganz ähnlich wie ei n C h e m i k e r s y 11 1 h e -
t i s c h und ganz z i c 1 b e w u ß t b c s t i m m t e, gewünschte
Eigenschaftskombinationen d.h. bestimmte neue
Rassen her st eilen.
Was wir an einem fertigen Organismus als eine einheitliche
Eigenschaft sehen, etwa eine bestimmte Färbung der Haare,
wird, wie wir bisher schon an einer ganzen Reihe von Beispielen
kennen gelernt haben, stets bedingt durch (eine große Anzahl von
Erbfaktoren. Es kommt ferner auch häufig vor, daß ganz ver-
schiedene und unabhängig voneinander sich ver-
erbende Faktoren in ganz gleicher Weise sich
äußern. Ein schematisches Beispiel macht es wohl am rasche-
sten klar: Daß eine Weizenrasse ziemlich widerstandsfähig ge-
gen einen parasitischen Pilz ist, kann dadurch bedingt sein,
daß sie durch den Bau ihrer Zellwände besonders gut
gegen das Eindringen der Pilze geschützt ist. Eine andere
Weizenrasse kann genau denselben Grad der Widerstandsfähig-
keit zeigen, aber hier beruht die Widerstandsfähigkeit etwa auf
dem Vorhandensein von bestimmten Schutzstoffe 11 im
Zellsaft. Kreuzt man die beiden gleich stark widerstands-
fähigen und vielleicht auch sonst äußerlich nicht verschiedenen
Rassen, so wird man einen Bastard bekommen, der jetzt die
beiden Ursachen der Resistenz ererbt hat, aber jede nur
heterozygotisch enthält und deshalb — wenn nur teilweise
Dominanz vorliegt — ebenfalls nur ungefähr ebensogut resi-
stent ist, wie jede der beiden Ausgangsrassen. In der F 2 -Gcne-
ration dieser Bastarde müssen nun aber auch Pflanzen auftre-
ten, die h o m o zygotisch, beide Ursachen der Resistenz er-
erbt haben, also doppelt so stark widerstandsfähig
gegen die Ansteckung sind, als die Äusgangsrassen es
waren, es müssen ferner — ■ als die ganz rezessiven Kombinatio-
nen — Pflanzen auftreten, die keine von den beiden Ursachen
ererbt haben, infolgedessen überhaupt nicht resistent
sind, und endlich muß eine Reihe von Zwischentypen entstehen,
deren Resistenz ungefähr derjenigen der Ausgangsrassen ent-
spricht. Ein sehr lehrreicher Fall dieser Art sei nach N i 1 s s o n -
Ehle, dem wir die Aufklärung dieser zunächst unverständli-
chen Vererbungserscheinungen verdanken, genauer besprochen.
Es ist wahrscheinlich, daß ähnliche Verhältnisse sich bei Men-
schen sehr häufig finden. Beim Weizen wird rote Kornfarbe
42
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLL11RE.
bedingt durch mindestens drei unabhängig voneinander men-
delnde Faktoren, R, S und T. Eine Pflanze, die nur einen von
diesen Faktoren heterozygotisch enthält, etwa Rrsstt oder rr
S s tt usw., ist ganz b 1 a ß r o t , eine Pflanze, die einen von die-
sen Faktoren h o m o zyg~otisch enthält, also etwa RR ss tt oder
/'/' 55 tt usw. ist, hat ein etwas dunkleres Rot, und endlich, am
anderen. Ende der Reihe, Pflanzen, die alle drei Faktoren homo-
zygotisch enthalten — RR SS TT — sind am dunkelsten rot.
Kreuzt man eine weiße Rasse, die keine von diesen Faktoren
enthält (rr ss tt) an.it einer homozy gotisch dunkelroten (RR
$S TT), so bekommt man einen Bastard Rr Ss Tt, der in der
Farbe eine Mittelstellung einnimmt, b 1 a ß r o t gefärbt ist.
Dieser Bastard bildet die acht Geschlechtszellen: RST, RSt,
RsT, Rst, rST, rSt, rsT, rst, und diese achterlei Geschlechts-
zellen können sich in den (S. 43) in Tabellenform dargestellten
Kombinationen vereinigen.
In der zweiten Spalte ist angegeben, welche Kornfarbe die
einzelnen Kategorien haben, dabei ist das durch die drei homo-
zygotisch vorhandenen Faktoren bedingte dunkelste Rot als
rot VI, Weiß als rot o und das nur durch einen heterozygot
tischen Faktor bedingte hellste Rot als rot I bezeichnet, und
entsprechend ist die Bezeichnung der übrigen Abstufung der
Farbe.
Die Tabelle zeigt, daß in der F 2 -Generation der Kreuzung
neben ganz seltenen Pflanzen, welche genau die Färbung der
Elternrassen zeigen, eine lange Reihe von verschieden gefärbten
Zwischenstufen auftreten müssen, nämlich mehr oder
weniger dunkelrot gefärbte Pflanzen mit den Färbungsabstu-
fungen rot I bis rot V.
Wenn wir die Tabelle daraufhin ansehen, wie häufig die ein-
zelnen Färbungen in F 2 vertreten, sein müssen, so ergibt eine
Auszählung folgendes :
Von den 64 möglichen Kombinationen ergeben :
/ Kombination Pflanzen mit der Farbe rot VI (wie die eine P 1 -Pflanze)
6 Kombinationen ,, ,, ,, ,, ,, V
15 „ „ „ „ „ „ IV
20 „ „ „ „ „ „ III
15 „ „ „ „ „ „ II
6 „ „ „ „ ., „ I
/ Kombination ,, ,, ,, ,, ,, o (weiß, wiedieandereP^Pflanze).
Es ist danach zu erwarten, daß F 2 einer solchen Kreuzung
besteht aus sehr zahlreichen Pflanzen, welche eine m i 1 1 -
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
43
Mögliche
K om bi na l i o neu
der
Geschlechts-
zellen
Mögliche
Kombinationen
der
Geschlechts-
zellen
Fa
') RST X RST
'*) RST X RSt
"} RST X RsT
*) RST X KHt
5 ) RST x'rST
(i ) RST X rSt
; ) RST X rsT
*j RST X rst
rot VI
„ v
, V
., IV
» v
,, iv
,. IV
") RSt
X
RST
,, V
i«) RSt
X
RSl
„ IV
")RSt
X
RsT
„ iv
>' ! ) RSt
X
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,, III
>"') RSt
X
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„ iv
'■') RSt
X
rSt
„ III
'■"■) RSt
X
rsT
„ ITI
ifi ) RSt
X.
rst
„ II
,; 1 KsT
X RST
.. v
'«) RsT
X
RSt
„ iv
>•-') RsT
X
RsT
.. iv
'") RsT
X
Rst
„ III
- E ) RsT
X
rST
„ iv
2i ) RsT
X
rSt
„ III
= ') RsT
X
rsT
„ III
al ) RsT
X
rst
„ I[
? "') Rst
X
RST
,, iv
-*") Rst
X
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„ III
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X
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,, III
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X
Est
„ II
'"•) Rst
X
rST
„ III
?l >) Rst
X
rSt
,. II
: ") RSt
X
rsT
>, II
3! ) RSt
X
rst
I
III [Spaltend in 63 rot : t weiß
rot
spaltend in 63 rot : 1 weiß
„ 15 „ :1 „
rot
spaltend in 63 rot : 3 weiO
rot
spaltend in Li rot : 1. weiß
rot
spaltend in 63 rot : I weiß
„ 15 „ : 1 „
„ 15 ., : 1 ,.
„ 3 „ ; 1 .,
M) rST X RST
'■') rST X RSt
K) rST x RsT
3li ) rST x Rst
s ') rST X rST
3S ) rST X rSt
W) rST x rsT
™) rST x rst
4l ) rSt x RST"
45 i rSt X RSt
4i ) rSt X RsT
44 ) rSt X Rst
45 ) rSt x rST
4G ) rSt X rSt
«) rSt X isT
4a ) rSt X rst
49 ) rsT X RST
■«) rsT X RSt
5I ) rsT X RsT
W) rsT X Rst
ss) ra x x rST
*>) rsT X rSt
■'>■"•) rsT x rsT
°") rsT X rst
spaltend in 63 rot : 1 weiß
rot
") rst
<*) rst
«■) rst
m ) rst
"i) rst
™) rst
<■•■■') rst
<") rst
X RST
x RSt
X KsT
X Rst
X rST
X rSt
X rsT
X rst
rot V rot
IV
IV
III
IV
III
HI ]
II I spaltend in 15 rot : I weiß
1
IV j rot
III
III spaltend in 63 rot : 1. weiß
II „ „ 15 „ :1 „
III rot
II ,,
II spaltend in 15 rot : 1 weiß
I , „ 3 „ :1 „
IV rot
III spaltend in 63 rot : 1 weiö
III rot
II spaltend in 15 rot : 1 weit'.
III rot
II spaltend in 15 rot : 1 weiß
II rot
I spaltend in 3 rot : 1 weiß
III spaltend in 63 rot : 1 wei B
II „ „ IS „ : t „
II „ „ 15 „ :1 „
I „ „ 3 „ :1 „
II „ „ 15 „ :1 „
I „ „ 3 „ ;1 „
I „ „ 3 „ :1 „
weiß
lere Stärke der roten Färbung zeigen, und aus sehr weni-
gen, welche sehr dunkel und ebenso ganz wenigen, welche
sehr hell sind. Ferner zeigt ein Blick auf die Zahlenreihe
i, 6, 15, 20, 15, 6, 1, welche die Häufigkeit der einzelnen Inten-
sitäten angibt, daß diese Zahlenreihe der ZufaUskurve
entspricht.
Also wenn, so wie in unserem Beispiel, die Kornfarbe von
einer Anzahl Faktoren beeinflußt wird, die unabhängig men-
deln, und auch unabhängig voneinander sich äußern, die sich
*) „Rot" heißt hier, daß keine weißen Pflanzen herausspalten, das
Rot ist aber zum Teil ungleich, spaltet je nach Formel der betreffenden
Kategorie in heller und dunkler Rot.
44
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
$
aber in ihrer Wirkung summieren, dann wird eine in mehre-
ren von diesen Faktoren heterozygotische Pflanze Nachkom-
men geben, die eine ganze Reihe von Färbungsabstufungen
aufweisen; dabei werden Pflanzen mit einer mittleren Stärke
der Färbung sehr häufig sein, ganz helle und ganz dunkle Pflan-
zen dagegen seltener, und zwar der Zufalls kurve ent-
sprechend immer seltener, je heller und je dunkler sie sind.
Auf diese Weise sind
wahrscheinlich die meisten
Kreuzungsfälle zu verstehen,
für welche in der Literatur an-
gegeben wird, daß diel3a5tarde
eine Mittelstellung zwischen
ihren Eltern zeigen und dann
nicht spalten, sondern diese
Mittelstellung konstant verer-
ben. Es wird z. B. für die Ver-
erbung der Hautfarbe bei der
Kreuzung Neger X Europäer
behauptet, daß die so entste-
henden Mulatten eine in der
Hautfarbe weiterhin konstante
Nachkommenschaft hätten.
Das ist aber nach sorgfältigen
neueren Untersuchungen nicht
der Fall. Aus der Ehe von zwei
F 1 -Mulattcn gehen — aller-
dings ganz selten nur — auch
rein weißhäutige und ebenso
auch rein negerfarbige Kinder
hervor, aber die übergroße
Mehrzahl der Kinder aus sol-
chen Ehen hat ungefähr die
Hautfarbe wie P^-Mulatten.
Nimmt man an, daß der Un-
terschied in der Flautfarbe zwi-
schen Neger und Europäer — ganz ähnlich wie die Kornfarbe in
dem oben besprochenen Weizen-Beispiel — durch mehrere selb-
ständig mendelndc gleichsinnige Faktoren bedingt sei, so ist
der Befund : „ganz vereinzelte Kinder, wie die Ausgangsrassen,
übergroße Mehrzahl der Kinder ungefähr so wie die F^Mu-
latten", ohne weiteres verständlich.
Fig. 15.
Älirenform von Weizen.
a) Compactum-Weizen.
b) Squarehead -Weizen.
c) Lockerähriger Landweizen.
2. DIE VARIATIONSERSCIiEINUNGEN.
45
Besonders häufig findet man gleichsinnig wirkende Fakto-
ren, wenn man Vererbung von Größenmaßen u. dgl. unter-
sucht. Was für eigenartige Vererbungserscheinungen sich hier
ergeben können, sei kurz ebenfalls an einem Vererbungsversuch
mit Weizen gezeigt. Die Ährenlänge des Weizens wird von einer
ganzen Anzahl von Erbfaktoren beeinflußt. Zunächst kennen
wir mindestens zwei gleichsinnig wirkende Faktoren, welche die
Ähren lang und locker machen, heißen wir diese beiden Fakto-
ren L und M. Eine Pflanze von der Formel LLMM ist sehr
lang und lockerährig (Fig. 15 c), alle Pflanzen mit je einem von
diesen Faktoren, ///M/W oder LLmm sind mittellangährigc Wei-
zen und endlich eine //mm-Pflanze ist eine „Squarehead"
(Fig. 1 5 b). Ein weiterer wesentlicher Faktor C macht die Ähren
ganz kurz und gedrungen (Fig. 15 a). C ist dominant über L
und A4, es sind also Pflanzen von der Formel CC LL MM,
CCU A4 A4, CCU mm, Cc LLMM usw. alle äußerlich nicht unter-
scheidbarc „Compactum"-Weizcn. Auf Grund dieser Erkennt-
nis sind sehr viele eigentümliche Kreuzungsergebnisse glatt ver-
ständlich. So z. B. gibt unter Umständen die Kreuzung zweier
mittellangähriger Sorten einen ebenfalls mittellangen Bastard,
aber in der F 2 -Generation mendeln nun neben vielen mittel-
langen Pflanzen auch sehr lang- und lockerährige und ferner
ganz kurzährige (Squarehead-) Weizen heraus. Die Kreuzung
war dann verlaufen nach dem Schema:
c c LL mm. X c c 11 A4 M P t
mittellang mittel lang
c c LI M m F i
mittellang
Daraus müssen in F 2 u. a. auch cc LLMM ----- (lang locker-
ährig) und cell mm — (Squarehead-) Pflanzen herausmendcln.
Ferner die Kreuzung CC LLMM (compactum)Xcc//mm
(Squarehead) muß in Fj_ lauter Compactum-Pflanzen (Cc LI Mm)
geben und in F 2 erfolgt dann eine Spaltung in compactum, ganz
lang, mittellang und Squarehead.
Wenn man über die Vererbungsgesetze von Rassenunter-
schieden bei Menschen, etwa über die Vererbungs weise der
Schädelform u. dgl., Untersuchungen anstellt, muß man immer
wieder sich an diese klaren und durchsichtigen Beispiele aus
dem Pflanzenreich erinnern. Der Fall, daß bei der Kreuzung
zweier Rassen F t mehr oder weniger deutlich eine Dominanz
des einen Elters zeigt, und daß in F g eine reinliche ganz ein-
46
ERWIN DÄUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
fache Spaltung erfolgt, d. h. Spaltung nach dem Ein-Faktor-
Schema, wir d s elt eng ef undtn. Einzelne auffällige Miß-
bildungen, z. B. radiäre Blüten beim Löwenmäulchen (An-
tirrhinum), Figur 9. Kurzfingerigkeit (Brachydactylie) beim
Menschen, völlige Pigmentlosigkeit (Albinismus) beim Men-
schen und vielen Tieren, Dackelbeinigkeit bei vielen Säugetieren
usw. werden im allgemeinen nach dem Ein-Faktor-Schema ver-
erbt, d. h. sind „unifaktoriell bedingt", aber die Unterschiede
zwischen den natürlichen Rassen, bei Pflanzen und Tieren
beruhen meist auf mehreren, oft auf erstaunlich vielen
Erbfaktoren. Für den Menschen gilt die gleiche Regel. Weit-
aus die meisten erblichen auffälligen Mißbildungen
beruhen auf je einem Erbfaktor und sind dementsprechend
in ihrem Erbgang auch einigermaßen leicht verfolgbar. Da-
gegen beruhen die Unterschiede z. B, in Schädelform, Flirn-
bau, Nasenform, Zahnbau, Augenfarbe, Flautfarbe usw., usw.,
kurz alle die zahllosen morphologischen und physiologischen
Unterschiede der einzelnen Menschenrassen durchweg auf sehr
vielen einzelnen Erbfaktoren, und über ihren Erbgang weiß
man noch immer sehr wenig.
Letalfaktoren.
Eine Komplikation, die gerade auch für die menschliche
Genetik von großem Interesse ist, ergibt sich daraus, daß ein-
zelne Faktoren die Lebensfähigkeit stark beeinträchtigen. Man
heißt diese Faktoren Letalfaktoren.
Bei den Mäusen z. B. kennen wir einen Faktor, der eine do-
minante gelbliche Fellfarbe bedingt. Homo zygotisch gelbe
Mäuse dieser Art sind nicht lebensfähig, kommen nicht
über die ersten Embryonalstadien hinweg. Die Paarung zweier
gelber Mäuse gibt deshalb eine Nachkommenschaft von der
Zusammensetzung 2 gelb: / nicht gelb (wildfarbig, schwarz
oder dergl. je nach der übrigen Erbformel der betreffenden
Tiere) .
Ein weiterer analoger Fall ist z. B. bei Kanarienvögeln be-
kannt. Hier sind die ,, Haubenvögel" stets heterozygotisch, die
Paarung zweier Haubenvögel gibt ,,FIaubenvögei" und „Glatt-
köpfe" im Verhältnis 2 : t. Die theoretisch zu erwartenden hö-
rn zygotischen Flaubenvögel sterben teils schon im Ei, teils
kurz nach dem Ausschlüpfen. Die Paarung von Flaubenvögeln
mit Glattköpfen gibt, wie zu erwarten, eine Nachkommenschaft
2. DIE V AR1 ATIONSERSCH El NU NOEN .
47
von 500/0 heterozygotischen Haubenvögeln und 500/0 Glatt-
köpfen.
Ein weiterer interessanter Fall ist der des Dcxtcr-Rin-
d e s , einer auffällig kurzbeinigen „Rasse" des englischen Kerry-
Rindes. Alle kurzbeinigen Tiere sind heterozygotisch in einem
Letalfaktor, der homozygotisch vorhanden eine schwere Miß-
Fig. 16.
Mißgeburt des Hausrindes homozygoüsch im Dextcr-Faktor (nach Cre\
bildung (Fig. 16) hervorruft. Diese Mißgeburten werden, regel-
mäßig tot geboren,
Rezessive Letalfaktoren äußern sich sehr häufig auch so,
daß das Absterben der Homozygoten schon in den ersten Em-
bryonalstadien erfolgt, während die Fleterozygoten als solche
nicht erkennbar und voll lebensfähig sind. Derartige Letal-
faktoren machen sich also, wenn überhaupt, nur durch eine ve r-
minderte Fruchtbarkeit bemerkbar. Genauer unter-
sucht können sie nur mit Hilfe von Koppclungsanalysen (s.u.)
werden.
48
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEIfRL.
Bei den genetisch gut bekannten Organismen, Droso-
phila, A n t i r r h i n u m und Mais z. B. kennt man heute schon
Hunderte von Letalfaktoren. Auch beim Menschen spielen sie
eine verhängnisvolle Rolle.
Faktoren-Koppelung.
Führt man Kreuzungsversuche in größerem Umfange mit
irgendeinem Organismus durch, so stößt man immer früher
oder später auf eine Erscheinung, die man als Faktoren-,
Koppelung bezeichnet.
Gehen wir auch hier wieder von einem ''einfachen Beispiel
aus: Die kleine Obstfliege Drosophila melanogaster
ist heute wohl das weitaus am besten auf seine Erbfaktoren
hin durchforschte Tier. Man hat mehrere hundert Erbfak-
toren bereits klar herausgearbeitet. Wir wollen aber nur mit
zweien davon zunächst rechnen, nämlich mit den beiden Fak-
toren B und V.
Eine Rasse, welche diese beiden Faktoren und ebenso alle
andern Faktoren für normalen Körperbau enthält, sieht aus
wie eine gewöhnliche wilde Drosophila. Eine Rasse, mit im
übrigen der gleichen Formel, aber bb ist rein s c h wa r z
(Fig. iy, oben links), eine Rasse mit vv hat Stummclflügel
(Fig. 17, oben rechts). Die Kreuzung der beiden Rassen
ergibt in F i Tiere von der Formel Bb Vv, die wildfarbig und
normalflüglig sind (Fig. 17, F x ).
Derartige Bastarde Bb Vv sollten nach dem, was wir bisher
gehört hatten, viererlei Geschlechtszellen bilden, BV , Bv,
bV , bv, und zwar alle in gleiche r Häufigkeit.
Man sollte also nach dem, was wir S. 26 gelernt haben, er-
warten, daß, wenn man z. B. ein solches Bastardwcibchen.
Bb Vv rückkreuzt mit einem doppelt rezessiven Männchen
bb vv (schwarz stummelflügclig), dann die viererlei Tiere:
1. wildfarbig normalflügelig, 2. schwarz normal flu gel ig, 3. wild-
farbig stumm elf lügelig und 4. schwarz stummelflügelig in der
Häufigkeit 1 : 1 : 1 : 1 auftreten, wie aus dem nachstehenden
Schema ersichtlich ist:
Eizelle BV trifft Spermaloz. bv ergibt BbVv == wildfarb. normalfl.
Bv ,, ,, bv ,, Bbvv = ,, stummel fl.
bV ,, ,, bv ,. bbVv = schwarz normalfl.
bv „ ,, bv ,, bbvv = ,, stummelfl.
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
49
Diese vier Typen von Tieren (Fig. 17, F 2 ) treten auch
im Versuch auf, aber nicht in der erwarteten gleichen Häu-
figkeit. Man findet stets statt dessen ungefähr folgendes Ver-
hältnis :
Wildfarbig normal 1
,, stummelflügelig 5
schwarz normal 5
„ stummelflügelig 1
F.
cf
c?
Fig. 17.
Daraus muß geschlossen werden, daß die F ± -Weibchen
ihre vier Kategorien von Eizellen BV, Bv bV bv in diesem
Verhältnis 1:5:5:1 ausbilden. Mit anderen Worten : Diese
1 H \ -Weibchen bilden die Gametentypen, aus deren Vereinigung
sie selbst entstanden sind (in unserem Falle Bv und bV ), häu-
figer, als die beiden Gametentypen, in welchen die Erbfäh-
ig a u r - 1'" i s c h e i- - 1, e n t. I.
50
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
toren in den neuen Kombinationen enthalten sind (in imserm
Beispiel BV und bv).
Diese Regel gilt auch, wenn wir einen Bastard Bb Vv auf
dem andern möglichen Wege (Fig. 18) herstellen. Unser erster
Bastard war entstanden aus der Kreuzung schwarz-normalflüge-
lig mit wildfarbig-stummelflügelig. Wir können einen ebensol-
chen Bastard aber auch bekommen aus der Kreuzung bb vv und
d
i' r i
BBVV (Fig. 18). F t ist dann ebenfalls wildfarbig normalflüge-
lig, und wenn wir auch hier einF r Weibchen mit einem doppelt
rezessiven Männchen bb vv rückkreuzen, bekommen wir eine
Nachkommenschaft, in der die erwarteten vier Typen auf-
treten, aber jetzt im Verhältnis :
wildfarbig normalflügelig 5
stummelf iügeli
schwarz normalflügelig
„ stummelf lügelig
2* 1
5
Es müssen also auch diesmal von den Bastardweibchen
die Eizellen mit der Ausgangszusammenstellung der Faktoren
(hier BV und bv) fünfmal so häufig gebildet worden sein,
als die Eizellen mit den neuen Zusammenstellungen (hier Bv
und bV).
Solche Fälle von Faktorenkoppelung sind sehr häufig gefun-
den worden, bei Pflanzen und Tieren. Und diese Sache hat
auch für die menschliche Vererbung ein großes Interesse und
ist von der allergrößten theoretischenWichtig-
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN,
51
k e i t für unsere ganze Vorstellungsweise von der
zytologischen Grundlage der Mendel Spaltung
und der Rassenunterschiede überhaupt.
Den Schlüsse] zum Verständnis der ganzen Zusammenhänge
hat die Beobachtung geliefert, daß bei allen genau untersuchten
Organismen man Gruppen von j e w e ils untereinander
gekoppelten Faktoren erkennen kann und daß die Zahl
dieser Kop p elungs grup p en identisch ist mit der Zahl
der Chromosomen der betreffenden Spezies.
Wir müssen deshalb hier ganz kurz auf diese
zytologischen Fragen der Genetik eingehen.
Wir können heute mit aller Sicherheit schon
sagen, daß zum größten Teil das Idioplasma —
vorläufig ein rein theoretischer, aus der Ver-
erbungslehre gewonnener Begriff — lokalisiert
sein muß im Zellkern, und die Arbeiten der
letzten Jahre lassen keinen Zweifel mehr daran,
daß je ein mendelnder Unterschied
zurückzuführen ist auf einen Unter-
schied zwischen zwei homologen
Chromosomen. Es darf wohl hier als be-
kannt vorausgesetzt werden, daß bei allen sich
geschlechtlich fortpflanzenden Organismen jede
Geschlechtszelle einen einfachen „haploiden"
bestimmten „Satz" von Chromosomen hat (bei
Antirrhinum 8, bei Drosophila 4, beim
Frosch, Rana fusca 12, beim Meerschwein-
chen 8, beim Kaninchen 22, beim Menschen 24)
und die aus der Vereinigung zweier Geschlechts-
zellen entstandene befruchtete Eizelle hat einen
doppelten „diploiden" Chromosomen-Satz,
bei Antirrhinum also 16, bei Drosophila 8, beim Frosch 24,
beim Meerschweinchen 16, beim Kaninchen 44, beim Menschen
48 Chromosomen. Die einzelnen Chromosomen haben häufig
verschiedene Formen, so daß man in den diploiden Zellen die
einzelnen zusammengehörenden Chromosomenpaare ganz gut
erkennen kann (vgl. Fig. 19).
Zu irgendeinem Zeitpunkt entstehen aus den diploiden Zellen
durch eine „Reduktionsteilung" Zellen mit nur wieder je
einem haploiden Chromosomensatz, wobei die väterlichen
und die mütterlichen Chromosomen durcheinander verteilt wer-
den. Diese so entstandenen Zellen können — so bei allen
Fig.
Chromosom eil diploklcr
Zellen des Weibchens
einer Wanze Anasa oben
in natürlicher An Ord-
nung, unten paarweise
nebeneinander. {Nach
Wilson.)
52
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
höheren Tieren — unmittelbar als Geschlechtszellen dienen oder
aber — so vor allem bei den meisten Pflanzen — - nach mehr
oder weniger weiteren, den Chromosomen-Bestand aber nicht
ändernden, Teilungen erst später die Geschlechtszellen aus sich
hervorgehen lassen.
Aus der Zusammenarbeit von Zytologie und genetischem
Experiment sind wir rasch zu ganz konkreten Vorstellungen über
den Mechanismus gekommen, der dem M endein zu Grunde liegt.
Diese Vorstellungen, mit denen heute die Genetik arbeitet, sind
folgende :
i. Die Chromosomen bestehen aus kettenartig zusammen-
hängenden Elementarorganen. Die einzelnen. Glieder der Kette
wollen wir weiterhin als Genomcre n 1 ) bezeichnen. Diese Ge-
Fig. zo.
Schematische Darstellung des Genomerena tistauschcs zwischen zwei homologen Chromosomen a, ai, hj
Entstehung gemischter Chromosomen (a?) durch eine einmalige Zerreißung der Genomerenkctte
(siugle crossing over der amerikanischen Autoren)- b, bi Entstehung gemischter Chromosomen durch
einen doppelten Austausch (double crossing over der amerikanischen Autoren).
nomeren sitzen im Chromosom in einer ganz bestimmten Rei-
henfolge angeordnet. Vor der Reduktionsteilung legen sich
jeweils die beiden einander homologen Chromosomen der beiden
Chromosomensätze dicht aneinander und es findet dabei ein Aus-
tausch von größeren und kleineren Stücken der Chromosomen-
r ) In der amerikanisch-englischen Literatur wird für diese Elemcntar-
bestandteilc eines Chromosoms der Ausdruck ,,gen&" benutzt. Vielfach ge-
braucht man dort auch den Terminus „locus" für diese Gebilde.
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
53
kette statt (crossing over der amerikanischen Autoren), so wie
es schematisch in Fig. 20 dargestellt ist. Es entstehen auf diese
Weise Chromosomen, die aus Stücken der beiden Ausgangs-
chromosomen zusammengesetzt sind.
2. Die anatomische Grundlage (entwicklungsmcchanische
Ursache) eines mendelnden Erbfaktors ist eine chemische oder
physikalische Verschiedenheit im Bau zweier einander entspre-
chender Genomeren. Um ein ganz einfaches, früher schon ein-
mal gebrauchtes schematisches Beispiel zu geben, beruhe etwa
der Unterschied zwischen einer radiären (radrad) und einer
zygomorphen (Rad Rad) Löwenmaulsippe darauf, daß das Ge-
nomer Nr. 127 des Chromosoms Nr. III der Rad-Sippe etwas
anders gebaut ist als das Genomer Nr. 127 des Chromosoms
Nr. III der rad-Sippe.
3. Das „Mendeln", d. h. die Verteilung der einzelnen Unter-
schiede in den überhaupt möglichen Kombinationen auf die Se-
xualzellen, beruht auf zweierlei Dingen: 1. darauf, daß vor
der Reduktionsteilung zwischen zwei homologen Chromosomen
der in Fig. 20 abgebildete Genomerenaustausch stattfindet und
2. darauf, daß die beiden verschiedenen Chromosomensätze bei
der Reduktionsteilung auf die Tochterzellen verteilt werden.
4. Aus 3. folgt, wenn man sich daran erinnert, daß immer
größere oder kleinere Stück« der Genomerenkctte und nicht
etwa jedes einzelne Genomer frei für sich vertauscht wer-
den, daß zwei Faktoren, die in zwei verschiedenen Chromo-
somen lokalisiert sind, frei voneinander mendeln müssen, daß
dagegen zwei Faktoren, die im gleichen Chromosom liegen, zwar
auch ,, mendeln", aber Koppelung zeigen müssen. Es folgt
daraus ferner, daß wir bei jeder Pflanzen- und Tierart soviele
Gruppen von untereinander gekoppelten Erbfaktoren müssen
erkennen können, wie diese Spezies haploid Chromo-
so m e n h a t.
5. Der Genomerenaustausch erfolgt im allgemeinen so, wie
es in Fig. 20 schematisch dargestellt ist, d. h. ein Chromosom
zerreißt nur in wenige Stücke. Daraus folgt, daß je weiter
zwei Faktoren in den Chromosomen ausein an der liegen,
desto größer die Wahrscheinlichkeit ist, daß
zwischen ihnen der Riß durchgeht. Sie werden also
häufiger auseinander kommen — d. h, eine schwächere Koppe-
lung zeigen — als Faktoren, die in zwei nahe beisammen liegen-
den Genomeren lokalisiert sind. Umgekehrt muß der G r a d der
Koppelung, den zwei Faktoren zeigen, gewissermaßen einen
54
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
Maßstab abgeben für den Abstand der beiden Genomeren, in
denen die beiden Faktoren lokalisiert sind.
Betrachten wir nun einmal im Lichte dieser Vorstellungs-
weise eine Anzahl Kreuzungsversuche mit Drosophila.
Wie gesagt, kennen wir für diese Fliege rund 300 Erbfak-
toren. Fünf von diesen Faktoren, Y, W, V, M, R, die alle un-
tereinander eine Koppelung zeigen, d. h. also nach der Theorie
im gleichen Chromosom liegen müssen, sind in der nachstehen-
den Tabelle mit ihren Wirkungsweisen zusammengestellt. Die
wilden Drosophila sind, das sei nebenbei bemerkt, alle YYWW
V VMM RR.
Y
W
M
R
fünf
W i r k u n e- s w e i s e
Y ist Voraussetzung für die Ausbildung dunkler Körperfarbe, alle
j'j;-Ticre haben gelbe Körperfarbe.
W ist Voraussetzung für dunkle Augenfarbe, alle wte-Tiere haben
weiße Augen.
V ist ebenfalls Voraussetzung für die dunkle Augenfarbc, alle vv-
Tiere haben die von Morgan als ,,Vermilion" (ein scharlach-
ähnliches Rot) bezeiehnete Färbung.
M ist Voraussetzung für richtig ausgebildete Flügel, alle /«/«-Tiere
haben kurze ,,Mimatur"-Flügel.
R ist ebenfalls Voraussetzung für richtig ausgebildete Flügel, alle
/•/--Tiere haben verkümmerte ,, rudimentäre" Flügel.
Die nächste Tabelle gibt an, welche Koppelungen diese
Faktoren untereinander zeigen.
1
2
3
zeigt für 1 : n
dieser Wert,
Faktoren paar
in den Versuchen
als Dezimalbruch
den empirischen
ausgedrückt, ist
Wert
YW
354/3221 8
0,01 1
YV
2117/6221
0,340
YM
1054/3063
0,344
YR
605/1420
0,426
WV
4336/13395
0,324
WM
7591/22910
0,331
WR
894/21 36
0,419
VM
50/1640
0,030
V R
183/850
0,215
MR
1562/9295
0,168
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
55
AufGvund de r v orliin g e h ö r t e n theo-
Ooit
Ö,m
Vy
w
Der Grad der Koppelung ist dabei folgendermaßen ausge-
drückt: Wenn ein aus der Kreuzung Yw x yW entstandener Ba-
stard FvlVw keinen Gcnomerenaus tausch hätte, dann würde
er — weil Y und w im gleichen Chromosom liegen
— nur die zweierlei Gameten Yw und yW bilden.
Findet aber ein Genomcrenaustausch statt, dann bil-
det er die viererlei Gameten YW, Yw, yW, yu> im
Verhältnis 1 : n. : n : 1 aus. Dieses Verhältnis 1 : n, d. h.
die relative Häufigkeit des Geno m eren-
austausche 5 (crossing over) gibt unmittelbar
einen Gradmesser für die Stärke der Koppelung.
In der Tabelle ist in Spalte 2 jeweils der durch
Rückkreuzungen gefundene empirische Wert
für 1 : n und in Spalte 3, der besseren Vergleichbar-
keit halber, der Wert d i e s e s B r u c h e 5 als D e z i -
malbruch angegeben. Eingesetzt sind hier noch
die Werte, wie sie auf Grund der Versuche bis zum
Jahre 1920 sich ergaben. Inzwischen sind durch
noch viel eingehendere Arbeiten die Zahlen etwas
geändert.
Es zeigt also der Faktor Y eine sehr schwa-
che Koppelung mit dem Faktor R, d. h, es findet
Genomereriaus tausch fast in der Hälfte der Fälle
statt. Schon stärker ist die Koppelung YM, noch
stärker YV und am stärksten die Koppelung YW.
Hier findet ein Genomercnaustausch nur in 1,1 °/o
aller Fälle statt.
-/?
Fig. 21.
Räumliche
Verteilung
einer Anzahl
v Erbfaktoren
auf einem
Chromosom
von
U rosoplii 1 a
r e t i s c h e 11 Vorstcllungswcisc der Mor-
ganschen Schule müssen w i r d e m nach
annehmen, daß in dem Chromoso m die
Faktoren in der Reihenfolge YWVMR
liegen.
Zeichnen wir diese fünf Faktoren auf einer
Streckc, die das Chromosom darstellen soll, ein,
und zwar gleich mit Abständen, die den Koppelungs-
werten entsprechen, die wir zwischen je zwei von diesen Fakto-
ren finden, so bekommen wir folgendes Bild (Fig. 21) von der
Verteilung der Faktoren auf dem Chromosom.
Aus der ganzen theoretischen Vorstellung folgt selbstver-
ständlich, daß, wenn z. B. zwischen Y und W die Koppelungs-
zahl, d. h. in der Theorie die Entfernung, x und zwischen IV und V
56
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
die Koppelungszahl, d. h. die Entfernung, y gefunden wird,
daß dann die Koppelungszahl YV =- x + y seinmuß!
Würde diese Gesetzmäßigkeit nicht ganz allgemein in den
Versuchen bestätigt gefunden, d. h. ergäbe die Berechnung der
Lage eines Faktors aus seinen verschiedenen Koppelungen
mit anderen Faktoren nicht immer den gleichen Punkt auf
dem als Strecke gedachten Chromosom, dann könnte die ganze
Theorie nicht stimmen. Aber gerade dieser Forderung
genügen sämtliche V e r s u c h s e r g e b n i s s c , und das
gibt der ganzen Theorie ihre heutige feste Be-
grün düng.
Ein Blick auf die Tabelle S. 54 zeigt, daß tatsächlich die
für die Faktoren Y und V gefundene Koppelungszahl 0,340 un-
gefähr gleich der Summe der Koppelungszahlen YW (0,011)
und WV (0,324) ist, auch sonst ist diese Forderung in der Ta-
belle mit großer Annäherung erfüllt, mit einer Ausnahme, die
aber gerade die Regel bestätigt. Diese Ausnahme besteht
darin, daß die für zwei Faktoren unmittelbar empirisch gefunde-
nen Koppelungswerte (z. B. der für Y R gefundene Wert 0,426)
immer kleiner sind, als die für die gleichen Faktoren aus ihrer
Koppelung mit dazwischenliegenden Faktoren errech-
nete Zahl (für YR die Zahl 0,011+0,324 + 0,030 + 0,168=--
0,533). Daß die unmittelbar gefundene Koppelungszahl kleiner
sein muß als die auf dem angegebenen Wege errechnete, folgt
auch aus der Theorie. Aus ihr folgt sogar noch weiterhin,
daß diese Differenz zwischen der gefundenen und durch Sum-
mierung errechneten Zahl um so größer sein muß, je größer
absolut genommen die Koppelungszahl ist, d. h. je weiter die
beiden Faktoren im Chromosom auseinanderliegen. Diese Dif-
ferenz ist die Folge davon, daß, wenn in einem Chromosom,
ein doppelter Austausch von Teilstücken erfolgt — nach
dem Schema von Fig. 20b — , daß dann die ganz weit aus-
einanderliegenden Faktoren wieder wie ursprünglich ins glei-
che Chromosom zu liegen kommen. Dieser doppelte Austausch
von Teilstücken („double crossing over") bedingt also, daß sehr
weit auseinanderbiegende Faktoren kleinere Koppelungszahlen
aufweisen, als man zunächst erwarten würde.
Mit Hilfe einer sorgfältigen Durcharbeitung der Koppe-
lungserscheinungen ist es der M o rganschen Schule gelungen,
für die Chromosomen von Drosophila genaue topographi-
sche Karten anzufertigen. In Fig. 22 ist für alle Chromosomen
die Lage der wichtigsten und besonders genau bearbeiteten Erb-
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
57
faktoren dargestellt. Entsprechende Chromosomcnkarten haben
wir auch für Antirrhinum, für Mais, für Erbsen und eine Reihe
anderer Objekte,
0,0 y gelb IK)
0,t Hm haariger Flügel IF)
. 0,+ sc Schild (B)
0,3 i-7 letahl
\l0,6br breit (F)
4J/jßpn pflaumenarlig IA)
. >!,5 w weiß (A)
■ ]j3,0 fa Facetten (A)
-\i£H Kerbe (A)
%I,SA anomal (K)
\5,5ec stachelig (Al
^6,3bigespalfen(F)
. -\j,5rbrubin farbig iA)
\J3,7a> queraderlos (F)
■xt&i cl Klumpflügel (F)
\\m dx deliaartig (F)
WO et abgeschnitten (F)
"i\Z1ßsn gesengt (B)
\27,S ( gelbbraun (Kl
- ->,7 lz Pille IA)
33,0 v zinnoberrot (A)
= \~3ff,7nt miniatur flügelig'*'
'\36,2 dg düster ff) (F)
\&,±fm gefurcht (A)
" ~>13ßszobelfarben(H)
11,'lg granaf Farben (A)
5%2sl kleinflügetig IF)
J5%5r rudimentär (F) ■
. J/SS,5f gegabelt (B)
_ J,5i,0 B bandförmig (A)
-_-58,5sy kleinäugig (A)
'^53,0 fn verschmolzen (F)
'-.53,6 bx perlenartig (F)
\B2,0M~n Minuta-nfB)
65,0cf Spalt (Fj
- -70,0 bb kurzborstig (B)
-0,0 tg Telegraph (F)
-2,0 S Stern (A)
'"-<!,+ al arlsialos (K)
~6,+ ex ausgebreitet (F)
1 12 + G Möwe (Fj
1/,13,0 T abgestutzt IF)
p-l%£ ds dackelarlig (K)
-16,0 5k streifig (K)
~0ß ru rauhig (A)
dl gebogen (F)
sv rasiert (K)
ey augenlos IA)
rot rotiert (K)
MMMinufa-Wlb
-f-— 20,0 du divergierend (F)
26,1se sep/'a färben IA)
^f 26,5 h haarig (K)
" 35,0r Hosenfarbe (A)
J3Bß cr-M Kreme-J/FfA)
'190,1 M-hMinuie-h(B)
'J10,1 il Zelt IF)
l<40,1 D gespreizt IB)
'»2,2 th Faden (K)
f'fiifßst scharlaclirof (A)
r V6,± mp verzogen (F)
.16,5 sl-M Ski-M (Fl *-
\~ 11,5 Df deformiert ' (A)
-\}vB,0p rosa(A)
-51,6 pr purpiir/A) V\19,7 ma. kastanienbraun (A)
-57,5cn helfrot (A) \& 50 * dw Zmr 3 M
SOJ sfsafranin färben fAlYyOßca gerollt (F)
~~\V.Sl,8Hnj-sup Unterdrücker Y.haangen
-SU p/v Auge-Flügel '(AF) X%S8,Z-Sb stoppelig (B) [ftügein(F)
\r-6%0 vg sfummeiflügelig \ F \%$3,5 sz borsfenios SB)
\-~31,0d dackelbeinig(K)
j-35,0 Si-lSki-Ä (Fl
-1-11,0 J gedrängt (F)
~ W/ M-e rlinu/a-e (B)
-18,Sb schwarzfK! ^
"18,7 j aufgebogen (F)
i-S
-6B,ttoTeleskop(F)
-72,0t, Lappen(A)
-71,+ gp Lücke (F)
-75,5c gekrümmt IF)
*<n\
\-~83,5fr gefranst (F)
1 90,0 hg bucklig (K)
I j 33,5a- Bogen (Fl
\ bO0,5 px neizig (F)
M02,± L-Jla Lefal-Ia.
\\\f05,0bw braun (A)
Jjbo5,t bs blasig (F)
TJ f06,t pdpurpurartig(A)
~\Vh07± mr Maulbeere (A)
■ H\W 1,0 sp Fleck IK)
^-107,5 ba. Ballon (F)
158,7 bx bithorakal (K)
,%5,5&r-i biihorakal-b (K)
' m.osr Streifen IK)
163,1 gl glasig (A)
t&5,lA Delta (F)
69,5 H haarlos (B)
[70,7 e Ebenholz (K)
#2,0 bn bandartig (K)
J5,7 cd hochrot '(A)
76,2 wo weiße Ocellen (A)
,91,9 ro rauh (A)
' ,33,0 cm zerknittert (F)
\93,Bbä,perliq(F)
91,1P:o zugespitzt (F)
.700,7 ca, rötlich (A)
-101,0 M Minuta (B)
-106,2 M-g Minula-g(B)
Flg. 22.
C li rora oso me n karte von Drosophila nach Stern.
58
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
:0
Temperatur
9°
13
17: 5 (
29 c
3' (
32 C
rO
Eine besondere Schwierigkeit für die genaue Feststellung
der Austauschprozeß' ergibt sich daraus, daß dieser Wert be-
einflußt wird durch Außeneinflüsse. Eine große Rolle spielt
besonders die Temperatur, bei der man die Fliegen hält. Das
sei an einem Versuch gezeigt: Für zwei Erbfaktoren „black"
und „purple", die bei einer normalen Zimmertemperatur von
etwa 17 C den Austauschwert 8,3 haben, ergaben sich in Flie-
genkulturcn, die bei anderen Temperaturen erhalten wurden,
die folgenden Werte :
Austauschweise:
13. 5
8-3
6
S,8
14
15,7
Die Temperatur muß also offenbar den ganzen Mechanis-
mus des Genomerenaustausches stark beeinflussen. Daraus folgt,
daß es sehr wesentlich ist, bei der Ausarbeitung einer Chromo-
somentopographie nur Zuchten zu benutzen, die unter glei-
chen Kulturbedingungcn gehalten werden.
Vielleicht hängt es mit diesem Temperatureinfluß auf die
Häufigkeit des Faktorenaustausches zusammen, daß bei Pflan-
zen die Austauschwerte stärker variabel sind als bei Droso-
p h i 1 a. Exakte Versuche über den Temperatureinfluß bei Pflan-
zen liegen aber noch nicht vor.
Einen gewissen Einfluß auf den Grad der Koppelung
scheint auch das individuelle Alter der Elterntiere zu
haben. Ferner scheint zwischen den Chromosomen zweier zwar
noch miteinander „mendelnden" aber doch immerhin schon stark
verschiedenen Arten in den betreffenden Artbastarden der Aus-
tausch stark erschwert (vgl. hierüber auch S. 72).
Die bisher besprochenen Fälle von Faktorenkoppelung
waren durchweg partielle Koppelungen. Durch Faktoren-
austausch können hier, je nach dem 'Grade der Koppelung, mehr
oder weniger häufig auch die beiden 'Neukombinationen der ge-
koppelten Faktoren entstehen.
Unilokale Serien (multipler Allelomorphisrnus).
Es gibt noch eine andere, gewissermaßen „absolute" Kop-
pelung, die man meist als „multiplen Allelomorphis-
rnus" bezeichnet. Dieses etwas mühsame Wort hat folgende
Entstehungsgeschichte : Man sagt, besonders in der englischen
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
59
Literatur, zwei miteinander einfach mcndelnde Eigenschaften
seien „allelomorph" zueinander. Als man nun weiterhin
fand, daß in gewissen Fällen nicht so wie sonst zwei, sondern
m ehrerc Eigenschaften jede mit jeder mono faktoriell
mendelten, hieß man das einen „multiplen" Allelomorphisrnus.
Wir deuten heute diese Fälle durch die Annahme, daß es
von einem Genomer (locus in der D r o s o p h i 1 a - Termino-
logie) nicht bloß zwei, sondern viele „Varianten" geben kann.
Das sei gleich an einem konkreten Falle demonstriert : Bei A 11 -
t i r r h i n u m m a j u s kenne ich eine Anzahl von Farbenrassen,
die eine Reihe von elfenbeinfarbig bis dunkelrot bilden. In
Fig. 23 sind diese verschiedenen Farbenrassen abgebildet. Die
Intensität und Verteilung der schwarzen Tönung in den Figuren
entspricht der Intensität und der Verteilung des Anthocyans in
den Blüten.
Bei der Kreuzung von jeder dieser Sippen mit jeder an-
dern dieser Reihe „dominiert" die dunklere und in F 2 erfolgt
eine einfache m 0110 faktorielle Spaltung.
Alle diese Farbensippen zeigen ferner die gleiche Kop-
pelung mit den andern in demselben Chromosom lokalisierten
Faktoren, so mit den Faktoren Uni und Ros. Das heißt aber
nach unsern theoretischen Vorstellungen, daß sie alle im
selben „locus" liegen, oder mit andern Worten, daß sie
durch acht „Varianten" des gleichen Genomers bedingt sind.
Man bezeichnet heute ziemlich allgemein derartige Serien
von im gleichen Genomer liegenden Faktoren durch ein „S y m-
b 1 mit Suffixen". Diese Färbungsreihe bei A n t i r r h i n u m
heißt Pallida-Serie, und die einzelnen Abstufungen heißen:
Pal Faktor für das normale ,,rot".
paltub blaßrot (rubescens).
palcar fleischfarbig (carnea).
palrhod blaßfleischfarbig' (rlwdos).
palnial ..apfelblütcnfarbig" (malacea). Diese Pflanzen haben eine zarte
rötliche Tönung auf der Innenseite der Lippe.
palmac gefleckt (maculosa). Die Fleckchen sind im Unterschied von ge-
streift (striata) nicht scharf begrenzt, sondern , .verwaschen".
paltub ,,rot an Röhre" ((tibocoloratd). Diese Pflanzen haben nur am
Grunde der Röhre eine zarte rötliche Färbung.
paltiu ,,elfenbein mit Tönung" (t'uicta). Diese Pflanzen sind meist rein
elfenbeinfarbig, nur wenn sie gleichzeitig homozygotisch gehörnt
(cornuta) (cor cor) sind, zeigt sich in der Basis des durch den
Faktor cor bedingten „Hörnchen" eine leichte Tönung. Ob eine
elfenbeinfarbige Pflanze ine ine oder paltin paltiu ist, kann man
äußerlich nur an cornata-Vi\s.nzca. erkennen.
palrec roigestreift (recurrens).
60
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
Es ist z. B. eine Pflanze von der Formel:
paJmb palrub blaßrot konstant.
palmb palmal blaßrot, spaltend nach 3 blaßrot : 1 malacea.
palmb palmac blaßrot, spaltend nach 3 blaßrot : 1 maculosa.
Ferner ist z. B.:
palriiod palmac blaßfleischfarbig- und da ruber maculosa. Eine .solche
Pflanze spaltet in 1 blaßfleischfarbig : 2 blaßfleischfarbig-
-\- maculosa : 1 maculosa.
Fie. 2
Falben rassc 11 von Anlirrhiuum, die alle eine uuilokale Serie bilden, d. h. jeweils durch eine andere
Variante ein und desselben Genomers verursacht werden. 1. rot (Pal) 2. blaßrot, rubescens (pal/rnb),
3. fleischfarbig, tarnen (pal/car), 4. bla QU ei seh farbig, rhodos (pal/rhod) 5. leichte Tönung der
Lippen, malacea (pal/mal) G. gefleckt, maculosa (pal/mac) 7. „rot an Röhre" iubocolorala (pal/tub)
S. gehörnt tineta (pal/tin), 9. rot gestreift recurrens (pai/rec.
Auswirkung von gekoppelten Letalfaktoren.
Durch Zusammentreffen zweier Letalfaktoren kann ein
sehr eigenartiger Erbgang zustande kommen, den man lange
Zeit nicht hat deuten können. Es können sich zwei Letalfaktoren
gewissermaßen „ausbalancieren". Den ersten Fall dieser
Art hat H. J. Muller aufgeklärt: Bei Drosophila ist der
Faktor beaded dominant und homozygotisch letal. Die Bdbd-
Tiere haben stark mißbildete (geperlte) Flügel. Alle bcaded-
Tiere sind (wie die aurea-Antirrhinum) hetcrozygotisch
und spalten bei Paarung untereinander auf in 2 beaded : 1 nicht
beaded (d. h. normalflügelig), weil die homozygotische Kombi-
nation BdBd ausfällt. Nun gibt es aber im gleichen Chro-
mosom (Nr. III) auch einen rez es siv en Letalfaktor L. Tiere,
bei denen das eine Chromosom III die Formel BdL und das an-
dere die Formel bdl hat, müssen bei Paarung untereinander fol-
gendes ergeben:
61
Pl
Bd E
bd 1
$
X
Bd L
bd" i"
Eizellen
;/.
BdL
Samenzellen
/
BdL
/
Bd I
(Spcrmato
zoiden} 1 )
/
bd 1
/
bd L
n
bd 1
Kombina-
tionen in Fj
n
BdL
Bd L
letal
/
bd L
Bd L
ii.
Bd L
bd 1
beaded
/
bd L
bd 1
I
Bd 1
Bd L
letal
n
bd I
Bd L
I
Bd 1
bTT
letal
ii
bd 1
bdT
c?
beaded
normalflügelig
beaded
letal
Wir bekommen also eine Nachkommenschaft von n -|- 1 -\- n
beaded und nur eine nicht beaded (normalflügelig).
Wenn die beiden Letalfaktoren nahe zusammenliegen, so
daß wenig Austauschtiere entstehen, ergibt sich, daß fast nur
die in beide n Faktoren heterozygotischen Tiere gefun-
den werden. Man hat also einen zwar in einem dominanten Merk-
mal heterozygotischen ( Bd bd )-Sta.mm, der aber rein züchtet
und nur ganz ausnahmsweise einmal ein n i c h t beadcd-Tier ab-
spaltet. Solche Fälle von balancierten Letalfaktoren können des-
halb leicht mit Mutationsvorgängen verwechselt werden.
Komplex- Vererbung.
Eine gewisse Störung der Mendelspaltung kann auch da-
durch bewirkt werden, daß mehrere, oft sogar alle Chromoso-
men eines Genoms (Chromosomensatzes) untereinander ketten-
förmig zusammenhängen. Es bleiben dementsprechend im. Erb-
gang immer ganze Eigenschaf tskomplexc beisammen.
Ob beim Menschen etwas Ähnliches vorkommt, ist nicht bekannt.
Es kann deswegen auch eine eingehende Besprechung dieser
Fälle hier unterbleiben.
Die Vererbung des Geschlechts.
Schon durch die grundlegenden Versuche von Correns
war sichergestellt worden, daß bei den zweigeschlechtlichcn Or-
ganismen der Gcschlechtsunterschied selbst, auch nach den
Spaltungsgesetzen vererbt wird. Das eine Geschlecht verhält
l ) Im M ä n n c h c n Endet bei Drosophila kein Faktorenaustausch
stall, deshalb bekommen wir nur zweierlei Samenzellen (Spermatozoiden).
62
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
sich dabei stets wie ein Homozygot, ist „homo gametisch",
das andere verhält sich wie ein Heterozygot, ist „heteroga-
m et is ch".
Z.B. bei der Obstfliege D rosophila ist der Geschlechts-
unterschied bedingt durch einen „Erbfaktor", den wir einmal X
heißen wollen. Alle Weibchen sind XX, alle Männchen sind
Xx. Jede Paarung ist also eine Rückkreuzung nach dem fol-
genden Schema :
XX X Xx
50 o/ XX, 50 0/0 Xx
P
F 1
i>
Diese einfache Annahme erklärt ohne weiteres die Tat-
sache, daß bei jeder Fortpflanzung ungefähr zu gleichen Teilen
Männchen und Weibchen entstehen.
Wenn wir hier den Geschlechtsunterschied auch in der üb-
lichen Mendel-Formulierung dargestellt haben, so soll das aber
nicht heißen, daß ihm ein„Erbfaktor" zu Grunde läge, etwa so wie
der Erbfaktor Rad, der den Unterschied zwischen einer normal-
blütigen und einer radiären Antirrhinumrasse bedingt. Man hat
vielmehr feststellen können, daß ein bestimmtes ganzes Chro-
m o s m für den Geschlechtsunterschied maßgebend ist. D roso-
phila hat normalerweise in den Körperzellen, wie vorhin schon
gesagt worden ist, vier Chromosomenpaare. Von diesen
vier Chromosomenpaaren bestehen drei sowohl in den Männ-
chen wie auch in den Weibchen aus je zwei gleichen Part-
nern, das vierte Chromosomcnpaar besteht nur in den Weib-
chen aus zwei gleichen Partnern, bei den Männchen aber
sind die beiden Partner verschieden, wie das F i -
gur 24 deutlich zeigt, Man sagt, das Weibchen hat zwei
X-Chromosomen, das Männchen dagegen hat ein X- und ein
V-Chromosom.
Bei der Eircifung (Fig. 24 untere Reihe links) entsteht in
den Weibchen nur eine Sorte Eizellen, die alle je einen Chro-
mosomensatz einmal, alle also auch einmal das X-Chromosom
enthalten.
Bei der Spermatogenese (Fig. 24 untere Reihe rechts) ent-
stehen dagegen zweierlei Samenzellen, solche, welche den
einfachen Chromosomensatz mit X und solche, welche den ein-
fachen Chromosomensatz mit Y führen. Daraus folgt, daß bei
der Befruchtung der Eizelle durch die zweierlei Sorten von
Samenzellen sich auch zweierlei Sorten von Tieren erge-
ben müssen, erstens solche, welche zwei X-Chromosomen
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
63
haben, d. h. Weibchen ! und zweitens solche, welche einX-
und ein F-Chromosom haben, d. h. M ännchen!
Auch bei sehr vielen anderen Organismen — Tieren und
Pflanzen — ist in entsprechender Weise nachgewiesen, daß ein
bestimmtes Chromosom für das Geschlecht maßgeblich ist.
Merkwürdig ist dabei, daß bald das eine, bald das andere Ge-
schlecht homogametisch ist. Bei Drosophilaund ebenso bei allen
bisher untersuchten Pflanzen, bei allen Säugetieren und auch
beim Menschen sind die Männchen XY, die Weibchen XX. Da-
gegen bei allen bisher untersuchten Schmetterlingen und Vögeln
Körperteilen der Weibchen
Körperzellen der Männchen
x x-
Eizellen
1 00 0/0
x y
Spermatozoiden
50 0/0 5o<>'o
X
y
x
Fig. 24. Chromosomensätze bei Männchen und Weibchen von Drosophila.
sind die Weibchen XY und die Männchen XX. Bei den Schmet-
l e r 1 i n g e n und Vögeln werden also einerlei S p e r -
matozoiden (alle X), aber zweierlei Eizellen (500/0
X und 50 0/0 Y) gebildet.
Bei Drosophila und ebenso bei vielen anderen Organismen
sind die X- und V-Chromosomen deutlich in der Form ver-
schieden, die V-Chromosomen sind hakenförmig gebogen, die
X-Chromosomen gerade. Bei anderen Organismen sind die Y-
64
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
Chromosomen deutlich kleiner, bei wieder anderen fehlen
sie völlig. Hier hat also das homogametische Geschlecht «-Chro-
mosomen, das hetcrogametische n — i. Das ist z. B. der Fall bei
der Wanze Anasa tristis. Hier haben die Männchen 2 1, die Weib-
chen 22 (Fig. 19) Chromosomen in den Körperzellen. Von den
Spermatozoiden hat die eine Hälfte /ö, die andere //Chromo-
somen, alle Eier haben n Chromosomen. Die Vereinigung
eines Eies (1 1 -chromosomig) mit einem 10-chromosomigenSper-
matozoid gibt ein Tier mit 21 Chromosomen d. h. ein Männ-
chen, die Vereinigung eines Eies (//-Chromosomen) mit einem
/ /-chromosomigen Spermatozoid gibt ein 22 -chromosomiges
Tier, d. h. ein Weibchen.
Die Geschlechtschromosomen sind aber nicht bei allen
Organismen als solche leicht erkennbar, d. h. X- und K-Chro-
mosomen können offenbar auch morphologisch sehr ähn-
lich oder gleich sein, das ist wahrscheinlich auch gerade
beim Menschen der Fall. Nach den ganz eindeutigen Befunden
bei denjenigen Pflanzen und Tieren, wo die Geschlechtschromo-
somen unterscheidbar sind, ist aber kein Zweifel mehr berech-
tigt, daß ganz allgemein der Unterschied zwischen Männchen
und Weibchen durch ein bestimmtes Chromosomenpaar, eben
die G e s c h 1 e c h t s c h r o m o s o m e 11 bedingt ist.
Die Geschlechtschromosomen haben nun eine sehr wichtige
Eigentümlichkeit: Bei den meisten Organismen sind die Y-
Chromosomen völlig wirkungslos, d. h. in ihnen liegende
„Erbfaktoren" äußern sich nicht.
Das hat sehr wichtige Konsequenzen für den Erbgang
von Eigenschaften, che von Erbfaktoren beeinflußt werden,
welche im Geschlechtschromosom liegen. Wir finden dann die
zunächst schwer verständliche Erscheinung der „Geschlechts-
gebundenen Vererbung", die auch gerade beim Men-
schen eine große Rolle spielt. Wir lernen die Gesetzmäßigkeit
der geschlechtsgebundenen Vererbung am besten an einem über-
sichtlichen Beispiel von Drosophila kennen. Hier liegt z. B. der
Faktor W, der die dunkle Augenfarbe ermöglicht — alle ww-
Tiere sind w e i ß äugig — im Geschlechtschromosom.
Kreuzt man ein normales rotäugiges Weibchen mit einem
weißäugigen Männchen, so bestellt die F r Gcneration aus rot-
äugigen Männchen und aus rotäugigen Weibchen. Die F ä -Gene-
ration, erhalten durch gegenseitige Paarung der F 1 Tierc, besteht
aus rotäugigen Weibchen und aus rotäugigen und aus weiß-
äugigen Männchen.
2. DIE VARfAT/ONSERSC/iEINUNGEN.
65
Ziemlich genau die Hälfte der Männchen ist rotäugig, die
andere weißäugig. Der weißäugige Großvater hat also seine
Augenfarbe vererbt auf die Hälfte seiner Enkel, aber
auf keine Enkelin. Diese Vererbungsweise wird mit Hilfe des
nachstehenden schematischen Stammbaumes (Fig. 25) wohl
ohne weiteres verständlich.
dunkeläugiges Weibchen X weißäligigcs Männchei
P t -Tiere
alle Eizellen
Spermatozoiden lCÜS ö 1 deren
8 teils § /Gameten
Bei. der Befruchtung sind folgende Kombinationen möglich;
Eizelle | trifft Jj ergibt dunkeläugiges Weibchen I fj |
| .. ß 1 » „ „ Männchen | ß> f F i-Tiere
Bei der Befruchtung der F r Ticre untereinander sind folgende
Kombinationen möglich ;
Fi -Weibchen
X
Fi-Männchen
5o n /'ti Eizellen g
5°°/o ,. [}
Eizelle I trifft
500/0 Spermatozoiden
50%
ergibt dunkeläug. Weibchen §
,, ,, Männchen I
Weibchen |
weißäugig. Männchen fj
Gameten
d. F r Tiere
F 2 -
' Kombina-
tionen
Fig. 25. Sclicma einlacher geschlechtsgebundener Vererbung. 1 be-
deutet X-Chromosom mit dem Faktor W, [} bedeutet A'- Chromosom mit w,
^ bedeutet K- Chromosom mit W, ^ bedeutet V-Chromosom mit w. Man
erinnere sich daran, daß W im K- Chromosom unwirksam ist.
Die eigentümliche Vererbungsweise der Augenfarbe ist also
auf Grund der Koppelung ohne weiteres zu verstehen.
In F 2 dieser Kreuzung treten keine weißäugigen Weibchen
auf, aber es ist möglich, weißäugige Weibchen auf einem
anderen Wege zu erhalten. Kreuzt man nämlich eine Anzahl
der inF 2 der eben besprochenen Kreuzung erhaltenen dunkel-
äugigen Weibchen mit w e i ß ä u g i g e n M ä n n c h e n, so
werden in der FI ä 1 f t e dieser Paarungen dunkeläugige
und weißäugige Weibchen und dunkeläugige un d weißäugige
Mannchen zu gleichen Teilen entstehen. Das hängt folgender-
Biiur-Fiselicr- I, enz I. 5
66
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
67
maßen zusammen. Die Hälfte der F 2 -Weibcben. des erstbe-
sprochenen Versuches hat den Chromosomensatz § [] , und
diese Tiere, gepaart mit Q ff -Männchen, werden folgende
Kombinationen ergeben :
| trifft ß ergibt dunkeläugige Weibchen,
| „ § „ „ Männchen
Q „ (] „ weißäugige Weibchen,
Ö „ § „ „ Männchen.
Es müssen also auf Grund dieser theoretischen Vorstellun-
gen hier beiderlei Männchen und beiderlei Weibchen zu
gleichen Teilen gebildet werden, ganz so, wie es im Versuch
auch gefunden wird.
Die reziproke Kreuzung zu unserem ersten Versuch (Fig. 25 ),
d.h. weißäugiges Weibchen X dunkeläugiges Männchen ergibt
in F 1 nur dunkeläugige Weibchen und weißäugige Männchen.
In F g treten beiderlei Weibchen und beiderlei Männ-
chen in gleicher Häufigkeit auf. Das sei ebenfalls an einem
Schema abgeleitet (Fig. 26) :
weißäugiges Weibchen
X
dunkeläugiges Männchen
P r Tiere
alle Eizellen
Spermatozoiden
teils
teils
deren
(Gameten
Bei der Befruchtung sind folgende Kombinationen möglich:
Eizelle fl trifft g ergibt dunkeläug. Weibchen f]
II „ |> „ weißäugig. Männchen*) fl
Bei der Befruchtung dieser F,-Tiere untereinander sind folgende
Kombinationen möglich:
Fj-Weibchen X Fj-Männchen
F t -Tiere
500/ü Spermatozoiden fj I Gameten
50% ,. fl jdF 1 -Tierc
Eizelle fl trifft Spermatozoid fl ergibt weißäugig, Weibch. fj fl
II .. * .. .. Mannen, fl
50% Eizellen fl
50°/« „ 3
fl „ dunkeläug. Weibch. | fj
S* ,, ,, Männch. I §?
F2- Kombi-
nationen
Fig. 26. Geschlechtsgebundene Vererbung. Ausgangskreuzung rezi-
prok zu der in Fig. 25 dargestellten. Zeichen wie in Fig. 25.
*) W in K- Chromosom ist unwirksam!
Genau nach diesem Schema verläuft auch beim Menschen
der Erbgang zahlreicher geschlechtsgebundener Eigenschaften.
Das sei in der gleichen schematischen Weise z.B. für die Rot -
Gr üii -B 1 indhe i t gezeigt. Diese Störung des Farbensehens
beruht auf einem rezessiven, im Geschlechtschromosom liegen-
den Faktor R. Alle /r-Menschen sind rotgrünblind.
Die möglichen Kreuzungen sind in der nachstehenden
Figur 27 dargestellt:
X
Pi
Gameten
Fi
norrmüsichtige Frau rotgrünblinder Mann
alle Eizellen g 50 0/0 Spermatozoiden fj j deren
50°/" » (f
Das muß in F x ergeben:
50% | [j 500/0 | g>
nonnalsichtige Töchter normalsichtige Söhne
Heiratet" nun eine von diesen normal sichtigen, aber he terozy go-
tischen Töchtern einen normalsichtigen Mann, so haben wir folgendes:
nonnalsichtige Frau normalsichtiger Mann
50 0/0 der Eizellen | 500/0 der Spermatozoiden | 1 deren
50% ,. „ [) 50% „ „ fl I Gameten
Diese viererlei Gameten können sich in dezi folgenden vier Kom-
binationen vereinigen:
Eizelle g trifft Spermatozoid I ergibt (homozygot.) normal sich t.To cht. g |
j] ,, | ,. heterozygot. ,, Tocht. g [1
(1 „ $ „ rotgrünblinden 1 ) Sohn (1 &
Fig. 27. Erklärung im Text.
Bringen wir das Ganze in Stammbaumform, so haben wir
normalsichlige Frau X rotgrünblinder Mann
Söhne und Töchter alle normalsichtig
4-
Tochter ans dieser Ehe X normalsichtiger Mann
alle Töchter normalsichtig, aber die
Hälfte der Söhne rotgrünblind
Hier wird also die krankhafte Veranlagung des Mannes
bei seiner Ehe mit einer homozygotisch-gesunden Frau an den
1 ) Weil R im F-Chromosom wirkungslos istl
5"*
68
ERWIN DAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
69
Kindern sich n i c h t äußern, aber alle äußerlich ganz gesunden
Töchter aus dieser Ehe übertragen die Krankheit auf die Hälfte
ihrer Söhne aus Ehen mit gesunden Männern. Man kann das
auch so formulieren: Äußerlich gesunde Töchter eines ge-
schlechtsgebunden erblich kranken Mannes bekommen auch
von völlig gesunden Ehemännern stets 50 o/o Söhne, welche die
Krankheit ihres Großvaters zeigen. Von ihren Töchtern (den
Enkelinnen des kranken Großvaters) übertragen 50 0/0 die
Krankheit wieder auf die Hälfte ihrer Söhne usw.
Man hat diesen Erbgang beim Menschen in vielen Fällen
durch mehrere Generationen verfolgen können.
Heiratet eine — äußerlich normalsichtige — Tochter eines
rotgrünblinden Vaters einen rotgrünblinden Mann, dann
treten auch rotgrünblinde weibliche Nachkommen auf, wie
Fig. 28 ergibt:
normal sichtige helerozygotische Frau
rotgrünblinder Mann
Eizellen 50 0/0 | Sperma tozoiden 50 /o j]
50 0/0 j „ 5°% (J
Eizelle I trifft Spcrrnatozoicl fl ergibt normal sichtige Tochter |
1 ri R> „ normalsichtigcn Sohn I
fl "0 " rotgrünblinde Tochter jj
\\ it ,, {$ ,, rotgrünblinden Sohn fl
Fig. 28.
Heiratet eine von diesen rotgrünblinden Töchtern einen
normalsichtigen Mann, so haben wir folgendes (Fig. 29) :
rotgrünblinde Frau
Eizellen
X
normalsichtigcr Mann
Spermatozoiden
50%
50 °/o
Eizelle fj trifft Spermatozoid g ergibt normal sichtige Tochter
n ,, f 1 i> rotgrünblinden Sohn
Fig. 29. \
Hier vererbt also die Mutter die Mißbildung auf alle ihre }
Söhne, während alle Töchter (freilich alle nur heterozygo- ~
tisch!) normalsichtig sind. !
Auch solche Fälle des Erbganges kennen wir beim Men-
schen (vgl. Abschnitt Lenz). Überhaupt waren Falle geschlechts-
gebundener Vererbung beim Menschen gut bekannt, lange
ehe der eigenartige Erbgang durch die Tier-Experimente ver-
ständlich gemacht wurde.
Der Geschlcchtsuntcrschied hat auch einen starken Einfluß
auf den Faktorenaustausch (Crossing over) (S. 53). Bei
vielen Organismen, z. B. bei Drosophila findet ein Faktorenaus-
tausch nur im weiblichen Geschlecht, d. h. bei der Bildung
der Eizellen statt, im männlichen Geschlecht, d. h. bei der Bil-
dung der Spermatozoiden, unterbleibt er völlig, hier zeigen alle
im gleichen Chromosom lokalisierten Faktoren untereinander
eine absolute Koppelung. Das zeigt sich in dem auf S. 48
besprochenen Falle z.B. sehr deutlich. Wir hatten dort eine Kreu-
zung vorgenommen zwischen einer Rasse bbVV schwarz normal-
flügelig und einer anderen BBvv wildfarbig stummelflügclig. Die
beiden Faktoren B und V liegen im gleichen Chromosom und
zeigen dementsprechend Koppelung. Wenn wir ein Bastard-
weibchen aus dieser Kreuzung mit einem doppeltrezessiven
Männchen bbvv rückkreuzen, dann ergibt sich aus der Zusam-
mensetzung der Nachkommenschaft, daß diese Weibchen vie-
rerlei Eizellen BV , Bv, bV , bv . im Verhältnis 1 : 5 : 5 : 1 bil-
den. Ganz anders liegen die Dinge bei elenMänncheiv- Kreuzen
wir ein Fj -Männchen mit einem doppeltrezessiven Weibchen,
dann bekommen wir nur zweierlei Typen in der Nachkom-
menschaft, nur wildfarbige stummelflügelige und schwarze nor-
malflügelige. Daraus folgt, daß die F 1 -Männchen nicht die
viererlei Gameten BV, Bv, bV, bv bilden, sondern nur die
beiden Gametensorten Bv und bV. Diejenigen Gameten -
typen, die nur durch Faktorenaustausch entstehen können
(BV und bv), fehlen hier völlig, d. h. es findet im männlichen
Geschlecht kein Faktorenaustausch statt.
Das gilt aber nicht für alle Organismen. Zunächst haben
wir bei dem Seidenspinner einen Faktorentausch nur im Männ-
chen, aber nicht im Weibchen. Das ist insofern nicht unerwartet,
als beim Seidenspinner das Männchen homogametisch, das
Weibchen heterogametisch ist. Ferner wissen wir, daß bei den
Ratten in beiden Geschlechtern ein Faktorenaustausch statt-
findet, aber im Männchen weniger häufig als im Weibchen.
Wie sich in dieser Hinsicht der Mensch verhält, ist noch nicht
bekannt.
70
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERDLEHRE.
Außer durch Koppelung mancher Erbfaktoren mit dem Ge-
schlcchtsfaktor kann auch sonst noch die Geschlechtsvererbung
Verwicklungen mit sich bringen. So kann z. B. die Dominanz
einer Eigenschaft in den beiden Geschlechtern verschieden sein,
oder es kann irgendein Erbfaktor sich nur in dem einen Ge-
schlecht äußern, im anderen aber wirkungslos bleiben, das hat
dann zur Folge, daß z. B. zweierlei Rassen von Weibchen unter-
scheidbar sind, daß aber die zugehörigen beiden Männchen
äußerlich nicht verschieden sind, trotzdem aber die Rassen-
merkmale der Weibchen ihrer Rasse vererben. Es würde aber
zu weit fähren, diese Fälle hier alle zu besprechen, es muß
hierfür auf die besondere Fachliteratur verwiesen werden.
Daraus, daß das Geschlecht nach den Spaltungsgesetzen
vererbt wird, geht auch hervor, daß es für jedes einzelne
Individuum im Augenblick der Befruchtung b e -
s t i m m twircl. Alle Eizellen sind beim Menschen geschlecht-
lich gleich veranlagt, von den Spcrmatozoiden überträgt die
eine Hälfte die Veranlagung für männlich, die
a n d e r e d i e V e r a n 1 a g u n g f ü r w e i b 1 i c h. Danach müßte
regelmäßig das Geschlechtsverhältnis i : i erwartet werden. Es
ist aber bekannt, daß das Verhältnis von Mädchengeburten zu
Knabengeburten durchaus nicht i : i, sondern z. B. in Deutsch-
land loo : 105,2 ist. Nimmt man nicht bloß das Verhältnis der
lebendgeborenen Kinder, sondern berücksichtigt man alle
Totgeburte n und alle Aborte, bei denen das Geschlecht
schon bestimmbar ist, so bekommt man sogar schon das Ver-
hältnis iooMädchengeburten : fast 150 Knabengeburten. Woher
diese Verschiebung des Gescblcchtsverhältnisses rührt, wissen
wir nicht. Sic kann z. 13. dadurch bedingt sein, daß von den
beiderlei Spermatozoiden, die jeder Mann erzeugt, die männlich
bestimmten besser geeignet sind,- den. langen Weg von der
Scheide zum Ovidukt zurückzulegen, d. h. daß hier eine Art
Auslese stattfindet. Eine gründliche experimentelle Untersu-
chung dieser Frage wäre auch praktisch von der größten Wich-
tigkeit, weil nach allem, was wir heute über che Gcschlechtsver-
erbung wissen, beim Menschen nur hier sich Möglichkeiten
finden lassen, das Geschlechtsverhältnis willkürlich zu ver-
ändern, d. h. mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Ge-
schlecht eines zu zeugenden Kindes zu beeinflussen.
Wir wissen jedenfalls aus denUntersuchungen vonA.Bluhm,
daß bei Mäusen aus Paarung chronisch alkoholisierter Mann-
'2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
71
eben mit nicht alkoholisierten Weibchen wesentlich mehr Männ-
chen hervorgehen, als wenn die Väter nicht alkoholisiert waren.
Wahrscheinlich sind also die beiderlei. Sorten von Spermato-
zoiden ungleich alkoholempfindlich.
Daß es gelingt, nach der Befruchtung noch das Geschlecht
eines Embryos beim Menschen umzuändern, ist wenig wahr--
scheinlich. Es ist zwar sehr wahrscheinlich, daß wenn man bei
ganz jungen Embryonen mit noch nicht erkennbarer Ge-
schlechtsdifferenzierung Hormone der ausgebildeten Geschlechts-
drüsen in die Blutbahn bringt, eine gewisse teilweise Umstim-
mung möglich ist, aber es dürften doch wohl nur mehr oder
weniger ausgesprochene Hennaphroditen auf diese Weise ent-
stehen, ähnlich wie die Zwicken beim Rind. Es würde jedoch
zu weit von unserem Thema abführen, wenn wir diese Fragen
hier ausführlich besprechen würden, ich muß deshalb auch
hier auf die engere Fachliteratur verweisen.
Wieder eine andere Frage ist es, wie weit man bei höheren
Säugetieren und beim Menschen die „sekundären" Geschlechts-
merkmale und die Geschlechtsinstinkte nachträglich verändern
kann. Allgemein bekannt ist zunächst der Einfluß der Ka-
stration. Ebenso wie durch frühzeitige Entfernung der Ge-
schlechtsdrüsen bei den Wirbeltieren ganz allgemein eine starke
Veränderung des Körperbaues und des Charakters bewirkt wird
--Bulle: Ochs, Hengst: Wallach, Eber : Pork, Hahn: Kapaun,
Huhn : Poularde — so bewirkt auch beim Menschen die Ka-
stration des Mannes den Eunuchentyp und -Charakter. Durch
Entfernung der Geschlechtsdrüsen und Einheilung der Drüsen
des anderen Geschlechts, also z. B.- Kastration eines männli-
chen Meerschweinchens und Implantation eines Ovars in die
Bauchhöhle kommen die andersartigen Geschlechtshormone in
die Blutbahn und das Tier wird in seinem Körperbau und seinen
Geschlcchtsinstinkten deutlich umgestimmt. Derartige „ver-
weiblichte" Meerschweinchenmännchcn entwickeln Milchdrü-
sen, beginnen zu säugen und zeigen auch sonst deutlich weib-
liche Eigenschaften.
Nur d i e j e n i g e 11 R a s s e n u n t e r s c fi i e d e vererben
sich nach den S p a 1 1 u n g s g e s c t z e n, deren entwick-
1 u n g smechanische U rsac h e kleine Unterschiede
im Bau homologer Genomeren sind. Eine Mendel-
Spaltung erfolgt auch nur da, wo der ganze verwickelte Appa-
rat des Genomerenaustausches, der Chromosomenverteilung
72
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
usw., d. h. der ganzeMcchanismus der R c cl u k t i o n s -
t eilung ungestört arbeitet. Sobald aber Rassen gekreuzt
werden, die so große Unterschiede im Kernbau, in der Chro-
mosomenzahl usw. aufweisen, daß dieser Mechanis-
mus irgendwie gestört ist, wird auch die Mendelspal-
tung gestört. Wir finden deshalb, daß stark verschiedene
Spezies sich zwar häufig noch kreuzen lassen, auch noch frucht-
bare Bastarde geben, aber die weitere Vererbung erfolgt nach
völlig anderen, je nach dem Einzelfall immer
wieder verschiedenen G e s e t z m ä ß i g k e i t e n.
Dementsprechend finden wir bei Kreuzung nahe verwandter
Arten, welche in der Chromosomenzahl übereinstimmen und wo
die Artunterschiede nur im Chromosomenbau bedingt
sind, in F 2 -Spaltungen, die ganz denen bei komplizierten Rassen-
kreuzungen gleichen. Im allgemeinen ist aber die Aufspaltung
so ungeheuer bunt, daß unter Tausenden von F L ,-Typen keine
zwei völlig gleiche gefunden werden. Eine Faktorenanalyse
im einzelnen ist nicht möglich.
Es ist daher die Feststellung von Interesse, daß auch
bei Kreuzung von Arten, deren jede einen in sich ausgegli-
chenen anatomisch und physiologisch völlig normalen, gut
lebensfähigen Typ darstellt, in F ä sehr viele Kombinations -
typen auftreten, die völlig unlia r moni.se h sind. Eine in den
spanischen Gebirgen in Felsritzen wachsende Löwenmaulart hat
z. B. eine ganz schwach entwickelte Hauptachse, und die sehr
langen Seitenäste wachsen vom Licht weg und pressen sich
deshalb in höchst zweckmäßiger Weise dicht an die Felswand
an. Eine andere Art wächst in Erde, an Böschungen u. clgl., sie
hat eine deutliche, kräftige, etwa i m hohe aufrechte Haupt-
achse und relativ kurze Scitenäste, die ebenfalls aufwärts
wachsen. Aus der Kreuzung dieser beiden Arten treten nun in
F 2 alle erdenklichen sonderbaren Kombinationstypen auf. Z. J3.
ein Typ mit einer langen aufrechten Hauptachse, und dazu
langen, vom Licht weg, d. h. abwärts wachsenden, sich
dicht an die Hauptachse anlegenden Scitenästen. Diese Pflan-
zen stehen, wie einmal im Scherz gesagt wurde, da wie ein vicl-
armiger Buddha, der mit den Händen an der Hosennaht stramm
steht, Die Äste und Blätter ersticken sich gegenseitig, diese
Pflanzen sind also denkbar unzweckmäßig gebaut.
Weiter ist für die menschliche Erblehre wichtig, daß es oft
gelingt, aus der Kreuzung einer geographischen Rasse x mit
einer andern geographischen Rasse y in F 2 Typen zu bekom-
'2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
73
men, welche mit einer dritten geographischen Rasse z fast völ-
lig übereinstimmen.
Entsprechend ist zu erwarten, daß aus der Kreuzung ge-
wisser Menschenrassen Kombinationstypen entstehen können, die
in einigen Eigenschaften völlig einer dritten Rasse gleichen.
Wenn man z. B. eine Menschenrasse, die etwa dem Idealbild
der „westischen" Rasse entspricht, mit einer anderen vom
Typus der „fälischen" Rasse kreuzt, dann wären in F 2
Kombinationstypen zu erwarten, welche in ganz bestimmten
Merkmalen mit dem Idealbild der nordischen Rasse überein-
stimmen. Damit soll aber nicht etwa gesagt sein, daß der als
nordische Rasse bezeichnete Bestandteil unseres Volkes aus
einer solchen Kreuzung entstanden sei.
Kreuzungen zweier stark verschiedener Menschenrassen,
etwa Europäer und Hottentotten, oder Mongolen und Neger,
verlaufen, soweit man nach dem recht spärlichen bisherigen Be-
obachtungsmaterial urteilen kann, ungefähr so, wie Kreuzungen
zwischen zwei miteinander völlig fruchtbaren, nahe verwandten
Spezies.
Beobachtungen an entsprechenden Kreuzungen, z. B. zwi-
schen zwei nahe verwandten Arten der Gattung Antirrhinum, zei-
gen nun, daß hier Störungsmomente in Betracht kommen, die
wir von Rassenkreuzungen innerhalb einer ,, Spezies" nicht ken-
nen. Zunächst scheint zwischen artfremden Chromosomen der
Faktorenaustausch (das crossing-over) erschwert, d. h. die Kop-
pelungen sind enger. Noch wichtiger ist aber die Beobachtung,
daß das Nebeneinanderlicgen zweier artfremder Chromosomen
anscheinend mutationsauslösend wirken kann (vgl. S. 8i).
In der Nachkommenschaft von solchen Bastarden treten nicht-
bloß Neukombinationen der ursprünglichen P r Eigenschaftcn
auf, sondern es finden sich sehr viele neue rezessive Faktoren,
in denen beide P r Arten homozygotisch dominant sind. D i e
meisten dieser neuen Faktoren bedingen homo-
zygotisch je eine neuartige Mißbildung.
Alles dies gilt, wie vorhin schon gesagt, nur für Kreuzung
zweier einander sehr nahe stehender Arten. Die M ehr-
zahl der Artbastarde verhält sich aber anders.
Die Besprechung der ganzen Frage der Art-Bastarde dieser
zweiten Gruppe kann aber an dieser Stelle schon aus dem
Grunde unterbleiben, weil bei der Kreuzung der verschiedenen
Menschenrassen, nach allem was wir wissen, Im wesentli-
chen eine Vererbung nach den Spaltungsgesetzen er-
74
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
folgt. Über Kreuzungen von Menschen mit ferne rs teilenden
Arten, etwa den nächstverwandten Menschenaffen ist nichts be-
kannt. Dahinziclcnde Experimente wären mit Hilfe künstlicher
Befruchtung wohl möglich, es ist aber sehr wenig wahrschein-
lich, daß eine solche Kreuzung ein lebensfähiges Erzeugnis er-
geben würde, trotzdem wäre die Durchführung entsprechender
Versuche erwünscht, ehe die Menschenaffen völlig ausgerottet
sind.
Eine Vererbung nach anderen Gesetzen als den Mendcl-
schen ist auf Grund der hier vorgeführten, theoretischen Vor-
stellungen über die zytologische Ursache der Mendelspaltung
auch hei Rassenkreuzungen innerhalb einer ,,Art" zu erwar-
ten für alle Rassenunterschiede, die nicht in den Chromosomen,
sondern irgendwo anders im Idioplasma ihre Grund-
lage haben. Verschiedenheiten im Bau des Faclengerüstcs des
Zellkerns, im Bau der Zentrosomen usw. müssen ja auch irgend-
welche Verschiedenheiten an den fertigen Organismen mit sich
bringen. Nun kennen wir allerdings bei vielen Pflanzen ein-
zelne Rassenverschiedenheiten, die ganz bestimmt nicht men-
cleln, auch wenn alle anderen Unterschiede der betreffenden
Rassen den Spaltungsgcsctzcn unterliegen. Wir haben auch ge-
wisse Anhaltspunkte dafür, daß z. B. einige solche nicht men-
delnde Verschiedenheiten durch den Bau der Chromatophoren
(Farbstoffträger) bedingt sein müssen. Sehr viele Beobachtun-
gen an Pflanzen weisen darauf hin, daß erbliche Unterschiede
in der Vitalität nach derartigen anderen Gesetzmäßig-
keiten vererbt werden, d. h daß hier die entwicklungsmechani-
sche letzte Ursache der betreffenden Verschiedenheiten irgend-
wo außerhalb des Zellkerns zu suchen ist. Im großen und
ganzen weiß man hierüber heute noch so wenig Sicheres,
daß hier die eingehende Besprechung auch dieser Frage wohl
unterbleiben kann. Das ist um so eher möglich, als man beim
Menschen über sicher nicht mendelnde Rassenunterschiede
überhaupt nichts weiß. Es genügt wohl, wenn man sich immer
daran erinnert, daß die Mendels chen Spaltungsge-
setze nicht ausnahmslos gelten, und daß man
früher oder später auch beim Menschen auf V e r -
erbungserscheinungenstoßenwird, d i e s i c h d i e -
se n Gesetze n nie htfü gen.
Fassen wir das über die Kombinationen Besprochene noch
einmal kurz zusammen: Eine zweite Hauptursache dafür, daß
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
15
die Kinder eines Elternpaarcs verschieden sind von den Eltern
und auch unter sich, besteht darin, daß bei der geschlechtlichen
Fortpflanzung meistens zwei verschiedene Idioplasmen, Ver-
erbungscinrichtungen oder, wie man das sonst heißen will, sich
vereinigen, und daß bei der Geschlechtszcllbildung der Bastarde
diese verschiedenen Vererbungseinrichtungen sich nach sehr ver-
wickelten Gesetzen und Regeln auf die einzelnen Zellen ver-
teilen. Es entstehen in der Nachkommenschaft zweier gekreuz-
ter Individuen alle möglichen Neukombination e n der
ursp dinglichen Unterschiede.
Die Neukombination verläuft für die große Mehrzahl aller
Rassenunterschiede nach den von G r e g o r M e n. d e 1 entdeck-
ten Regeln, die freilich im Laufe der letzten Jahre eine sehr
starke Ausgestaltung erfahren haben. Einzelne Rassenunter-
schiede und sehr viele Artunterschiede vererben und kombi-
nieren sich aber nach anderen zum Teil sehr wenig bekannten
Gesetzen.
Das ständige kaleidoskopartige Entstehen
und Vergehen von Neukombinationeri einer g e -
w i s s e n Z ah 1 von ursprünglichen Rassenunter-
schieden ist die Hauptursache für d a s erbliche
Variieren bei den sich geschlechtlich f o r t p f 1 a u-
z e n d e n O r g a n i s m c n. D a s g i 1 1 a u c h g crade f ü r d c n
M ensche n.
c) Die Mutation (Idiovariation).
Durch die immer wieder andere Kombinierung einer ge-
wissen Zahl von Erbfaktoren ist, wie wir im vorhergehenden
Kapitel gehört haben, eine ungeheure Variationsmöglichkeit ge-
geben, und es ist von mehreren Biologen allen Ernstes die An-
sicht vertreten worden, daß überhaupt alle erblichen Variatio-
nen im Grunde genommen Kombinationen seien. Das ist aber
gewiß nicht der Fall. Es gibt große Klassen von Orga-
nismen, so die Bakterien, die blaugrünen Algen (Cyanophy-
ceen), viele Algen und sehr viele Fadenpilze, die sich überhaupt
nur ungeschlechtlich fortpflanzen, und trotzdem findet eine
Entstehung erblich verschiedener neuer Rassen auch hier statt.
Ganz abgesehen davon kann aber heute gar kein Zweifel daran
bestehen, daß auch bei den sich geschlechtlich fortpflanzenden
Organismen fortwährend unter unseren Augen neue erbliche
Unterschiede entstehen.
76
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
2. DIE VARIATIONSERSCHEINUNGEN.
77
Ob irgendein erblich von seinen Eltern und von seinen Ge-
schwistern verschiedenes Individuum nicht bloß eine neue viel-
leicht infolge von Koppelung oder aus anderen Ursachen nur
selten vorkommende Kombination von schon vorher existieren-
den Erbfaktoren ist, ob vielleicht eine unregelmäßige Spaltung
vorliegt, oder ob ein neuer bisher nicht vorhandener Erbfaktor
aufgetreten ist, kann nur entschieden werden in Stammbaumkul-
turen von Organismen, die durch jahrzehntelange Erbanalyse
sehr genau bekannt sind. Daß über Mutationen so viele falsche
Vorstellungen verbreitet sind, hängt eben damit zusammen, daß
nur sehr wenige Organismen bisher genügend genau unter-
sucht sind.
Sichten wir das heute bekannte Tatsachenmaterial streng
kritisch, so ergibt sich etwa folgendes Bild: Bei jeder bisher
genügend daraufhin beobachteten Organismenart treten aus
meist ganz unbekannten Ursachen und in sehr ungleicher Häu-
figkeit einzelne Mutationen auf. Die große Mehrzahl davon
beruht darauf, daß ein neuer m e n cl c 1 n d c r E r b f a k t o r ,
ein neues „Gen" entsteht. Meistens zeigt bei Kreuzung
der neuen Sippe mit der Stammrasse die Eigenschaftsausbil-
dung der Stammrasse mehr oder weniger ausgesprochene
D ominanz über die neu aufgetretene Eigenschaftsausbildung,
d. h. die meisten neu durch Mutation entstehenden Erbfaktoren
sind rezessiv. Aber man kennt auch eine große Zahl von ein-
wandfreien Mutationen, wo bei der Kreuzung mit der Stamm-
rasse die neue Eigenschaft dominiert. Sehr viel seltener sind
bisher Mutationen gefunden worden, deren Unterschiede gegen-
über der Stammrasse nicht ,,mendeln", sondern in anderer
Weise vererbt werden. Dieser Befund steht gut im Einklang
damit, daß, wie wir ja gehört haben, die große Mehrzahl
aller Rassenunterschiede mendelt, und daß Vererbung von
Klassenunterschieden nach anderen Gesetzen nur selten ge-
funden wird.
Bestimmte Angaben über die Häufigkeit des Mutierens
können heute nur für ganz wenige Organismen gemacht werden.
Wenn nicht eine ganz besondere Versuchsanordnung getroffen
wird, kann stets nur ein kleiner Teil der überhaupt vorkommen-
den Fälle wirklich auch gefunden und erkannt werden, vor allem
schon deshalb, weil sicher ein großer Teil aller Mutationen nichts
anderes als eine Neuentstehung von rezessiven Letalfak-
tor cn (S.47) darstellt. Man kann nur sagen, daß bei den Or-
ganismen, die bisher daraufhin einigermaßen durchgearbeitet
worden sind — das ist nur D rosophila und Antirrhinu m
— wohl 111 indestens unter je 1 00 Nachkommen eines Eltern-
paares einige Individuen mutiert sind. Mutationen sind also viel
häufiger, als man lange Zeit 'geglaubt hat.
Man bezeichnet heute diese Kategorie von Mutationen als
„Faktormutationen" und nimmt an, daß der ursächliche Vor-
gang in einer Veränderung an einem Genom er be-
steht. Diese Veränderung kann sowohl in diploiclcn wie haploiden
Zellen erfolgen. Erfolgt eine Faktormutation in einer cliplo-
iden Zelle, so sind die beiden Chromosomensätze unabhängig
voneinander, d. h. wenn in einem eine Mutation erfolgt, so
bleibt im allgemeinen das entsprechende Chromosom im andern
Satze davon unberührt. Jenach dem Zeitpunkt, in dem eine Fak-
torenmutation erfolgt, unterscheidet man gametisch und soma-
tische Mutationen. Auf somatischen Mutationen beruhen wahr-
scheinlich beim Menschen z. B. einzelne Fälle von gescheckter
Iris. Somatische Mutationen können bei Pflanzen oft außer-
ordentlich zahlreich erfolgen. Z. B. beruhen die vielen roten
Flecken der inFig. 23— 9 abgcbildetenLöwcnmaulblüteauf lauter
einzelnen somatischen Mutationen, und zwar Rückmutationen
zum dominanten Typ. Auch für diesen theoretisch sehr inter-
essanten Fragenkomplex muß aber auf die Fachliteratur verwie-
sen werden. Faktormutationen sind offenbar auch beim Men-
schen sehr häufig. Wohl der größte Teil all der vielen erblichen
Mißbildungen rührt ursprünglich von solchen Faktormutatio-
nen her.
Eine zweite Kategorie von Mutationen beruht auf
Veränderungen im Chromosomeilbestand. Eine Rasse, die
irgend ein bestimmtes Chromosomenpaar doppelt enthält, ist
nach dem, was wir bei Pflanzen sicher wissen, deutlich in irgend
einer Richtung von der Normalrasse verschieden. Dadurch, daß
ein Chromosomenpaar, oder zwei Paare oder viele oder alle
Paare zweimal vorhanden sind, erklären sich z.B. beim Stech-
apfel (Datura) sehr viele neue Rassetypen, die in den Ver-
suchskulturen entstanden sind.
Eine dritte Kategorie von Mutationstypen stellt ge-
wissermaßen eine Art Mittelglied zwischen Mutation und Kom-
bination dar: Aus Spezieskreuzungen können z.B. in der Gattung
Oenothera, weitgehend „konstante" Arten entstehen, die aber
in einem besonders hohen Grade, wahrscheinlich mittels
Vorgängen, die an Faktorenaustausch erinnern, neue Arten aus
sich hervorgehen lassen.
78
ERWIN BAÜR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
Mehr oder weniger klar umrissen können wir auch noch
weitere Mutations typen heute erkennen, aber wir wissen so
wenig Sicheres, daß eine ausgiebige Besprechung hier unter-
bleiben kann. Beim Menschen wird nur ganz ausnahmsweise ein-
mal eine Mutation als solche auch sicher erkannt werden kön-
nen. Sehr vieles spricht aber dafür, wie oben schon gesagt
wurde, daß die Mehrzahl der Mutationen beim Menschen „Fak-
tormutationen" (Kategorie i) sind.
Die große Mehrzahl der Faktormutationen ergibt mehr oder
weniger pathologische Typen, sehr viele sind nur beschränkt le-
bensfähig, viele können überhaupt nur hetcro zygotisch existie-
ren (,, Letalfaktoren"). Das ist wohl fast selbstverständlich. Irgend-
eine „blind" in einem komplizierten Mechanismus, etwa, einer
Spieluhr, vorgenommene Änderung wird im allgemeinen ja auch
nur zu einer Störung des Getriebes und nur äußerst selten ein-
mal zu einer neuen Harmonie führen.
Über die Ursachen des Mutierens haben die letzten
Jahre uns eine Fülle von neuem Material gebracht. Vor allem an
D r o s o p h i 1 a und A n t i r r h i n u m , also an zwei einander
systematisch sehr fern stehenden Organismen sind im wesentli-
chen übereinstimmende Erfahrungen gemacht worden.
Danach haben zunächst die verschiedenartigsten starken
Reize, Röntgenstrahlen, Temperaturschwankungen, Gifte usw.
eine Erhöhung dcrHäufigkeit dcrFaktorniutationcn zur Folge.
Wenn z. B. eine Anzahl junge Löwenmaulpflanzen im ersten
Keimungsstadium so stark mit Röntgenstrahlen behandelt oder
so lange in Giftlösungen eingetaucht werden, daß schon ein
großer Teil der Pflanzen stirbt, dann erholen sich zwar die
Überlebenden mehr oder weniger rasch und wachsen selber zu
völlig normalen P flanzen heran, aber in der Nachkom-
menschaft dieser Pflanzen, in ihrer F-j, F 3 und dann
weiterhin wieder abklingend finden sich Faktormutanten in sehr
viel größerer Häufigkeit als in der Nachkommenschaft entspre-
chender ungereizter Kontrollpflanzen. Auf diese Weise entste-
hen im wesentlichen die gleichen Mutationstypen, wie sie auch,
aber seltener „spontan" entstehen. Einige solcher Mutations-
typen sind in Fig. 30 und 31 abgebildet.
Es ist im Rahmen dieser kurzen Darstellung nicht möglich,
auf alle die vielen, heute schon bekannten Einzelheiten, z. B. bei
Röntgenstrahlen Beziehungen zwischen Strahlenart und Bestrah-
lungsclaucr zur Steigerung der Mutationsrate oder auf andere
derartige Sonderfragen einzugehen.
die v ariat ionserscheinungen.
79
Betont sei hier nur, daß ganz offenbar das Idio-
plasma eben doch für derartige Reize viel emp-
findlicher ist, als man bisher a 11 g e n o m m e n hatte.
Für den Menschen folgt daraus, daß die ganze Keimbahn, vor
allem aber die Sexualdrüsen mit der größten Vorsicht zu behan-
deln sind.
Fig, 30. Rechts und links zwei Löwenmaul pflanzen einer infolge von Röntgen-
bestrahlung entstandenen rezessiven Zwcrgrasse. In der Mitte zum Vergleich
eine gleich alte normale Pflanze der Ausgangsrassc.
Eingriffe wie etwa temporäre Sterilisierung von Frauen
durch Röntgenbestrahlung der Ovarien sind rnö gli chs t zu
vermeiden. Nach allen Erfahrungen an Pflanzen und Tieren
ist damit zu rechnen, daß ein großer Teil der Nachkommen
von so behandelten Frauen heterozygotisch in einem neuen
80
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLEHRE.
Mißbildungsfaktor oder in einem neuen Letalfaktor ist. Daß
die Kinder solcher Frauen äußerlich im allgemeinen ge-
sund und normal sind, beweist gar nichts, weil eben die mei-
sten Mutanten rezessiv sind und erst in spateren Genera-
tionen manifest werden, wenn zwei im gleichen neuen Fak-
tor heterozygotische Menschen sich heiraten.
Fig. 31.
a) Blutenstand einer durch Röntgenbestrahlung entstandenen rezessiven
Defektrasse (scissa).
b) eine normale Kontrollpflanze.
Ebenso wie die Häufigkeit von Faktormutationen durch
starke äußere Reize erhöht wird, hat sich auch für die auf Än-
derungen der Chromosomenzahl beruhenden Mutationen nach-
weisen lassen, daß sie durch starke Außenreize begünstigt wer-
den. Da aber beim Menschen irgend welche Fälle von Hctero-
ploidie, cl. h. abnormen Chromosomenzahlen nicht bekannt sind,
darf wohl auch hierfür auf die Spezialliteratur verwiesen werden.
3. DER EINFLUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 81
In letzter Linie müssen die Mutationen die Grundlage
jeder Stammesentwicklung bilden, ohne sie wäre eine
Herausbildung neuer Sippen und Rassen und weiterhin Arten
nicht möglich. Hier handelt es sich aber meist um Mutationen,
die sehr wenig auffällig sind, um „Kleinmutationen".
Die Neigung, bestimmte Mutationen häufig entstehen zu
lassen, wird als Sippencharakter nach den Spaltungsgesetzen
vererbt. Das könnte man sich so vorstellen, daß gewisse Geno-
mere einen besonders labilen Bau haben und deshalb besonders
leicht Mutationen entstehen lassen. Wir kennen z. JB. zwei
äußerlich nicht unter sc heidbarc unilokale radiäre
Sippen von Antirrhinum, von denen die eine bisher nie zur
Normalform zurückmutiert hat, während die andere sehr häu-
fig diese Rückmutation zeigt. Diese beiden Sippen mendeln
bei Kreuzung untereinander ganz typisch monofaktoriell.
Stark mutationsauslösend — und zwar gilt das für Faktor-
mutationen wie auch für andere Mutationstypen — wirken fer-
ner, wie früher (S.73) schon gesagt, Kreuzungen zwischen zwei
sehr stark verschiedenen Rassen.
Bei Organismen, die sich, wie der Mensch, geschlechtlich
und durch freie Paarung ,,panmiktisch" fortpflanzen, spielen
sich dauernd die geschilderten drei Kategorien von Variations-
erscheinungen nebeneinander und durcheinander ab.
Die Beurteilung, ob ein Unterschied zwischen zwei Menschen auf
Modifikation, auf Kombination oder auf Mutation beruht, ist
meist sehr schwierig, viel schwieriger, als der Laie zunächst
wohl glaubt. Was vorliegt, kann — wenn überhaupt — meist
erst durch ein sehrgründliches Studium entschie-
den werden. Es erscheint notwendig, das am Schlüsse dieses
Kapitels noch ganz besonders zu betonen.
3. Der Einfluß der Variationserscheinungen auf die
Zusammensetzung eines Volkes, die Wirkung von
Auslesevorgängen.
Es kann nicht scharf genug betont werden, daß das,
was einem Volke, etwa den Deutschen oder den Engländern
oder den Franzosen usw., gemeinsam ist und sie als Volk eint,
nicht die „Rasse", sondern in erster Linie die gemeinsame
Spracheund Kultur ist. Rassenunterschiede, etwa die Un-
Baur-Fiscliet-I,enz I. 6
82
ERWIN DAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE.
terscliiede zwischen den genannten Völkern, sind immer nur
r e la t i v e Unterschiede insofern, als die Mengenverhält-
nisse des Gemisches bei den verschiedenen Völ-
kern etwas verschieden sind, in dem einen Volke sind
diese, in dem anderen jene Rassenbestandteile zahlreicher.
Aber auch anthropologische Volksgrenzen in diesem
Sinne fallen durchaus nicht mit den Sprachgrenzen zu-
sammen.
Wenn wir finden, daß in einem großen nach vielen Milli-
onen zählenden Volke so gut wie nie auch nur zwei Individuen
einander gleich sind, daß vielmehr in allen Eigenschaften eine
große „Variabilität" besteht, so beruht das zu einem Teile
darauf, daß die Einzelindividuen ungleich modifiziert sind (S. 5),
zum Teil auch darauf, daß ab und zu einzelne neue Mutationen
erfolgen, in der Hauptsache aber beruht dieses Verschieden-
sein der Einzelmenschen darauf, daß in einem solchen Misch-
volke bei jeder Fortpflanzung immer wieder andere Kombi-
nationen von mendelnden und nicht mendelnden Rassenunter-
schieden entstehen.
Da Modifikationen nicht erblich sind, wird durch sie die
erbliche Zusammensetzung eines Volkes nicht verändert, so
groß auch der Einfluß der Ernährungsweise, der ganzen
Lebenshaltung usw. auf den Einzelmenschen sein mag.
Sehr wesentlich wird dagegen durch Mutationen und
unter gewissen Voraussetzungen (Auslesevorgänge I) auch durch
Kombinationen ein Volle in seiner erblichen Beschaffen-
heit verändert.
Wenn bestimmte Mutationen, die schwere körperliche oder
geistige Defekte bewirken, auch nur ab und zu auftreten —
etwa auf 10 000 Geburten einmal als heterozygotisches Indi-
viduum — und es würden die Mutanten nicht durch einen
scharfen Auslese Vorgang ausgemerzt, d. h. vermehrten sie sich
ebenso stark wie der Volksdurchschnitt, dann würde der
Prozentsatz der mutierten Individuen dauernd zunehmen,
es müßte früher oder später eine Zeit kommen, zu der das
ganze Volk fast nur noch aus Erbkranken besteht.
Schon die Verhinderung einer natürlichen Ausmerzung, d. h
der zu weit gehende hygienische und soziale Schutz geistig
oder körperlich minderwertiger Mutanten, kann zur Entartung
eines Volkes führen, wenn nicht in irgendeiner Weise dafür ge-
sorgt wird, daß die Fortpflanzung der Minderwertigen unter-
bleibt, oder doch schwächer ist, als beim Volks durchschnitt.
3. DER EINELUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 83
In der Hauptsache beruht die erbliche Variation innerhalb
eines Menschenvolkes aber nicht auf Mutation, sondern auf
Kombination, d. h. auf dem wechselvollen Entstellen und Ver-
gehen von immer wieder anderen Faktorkombinationen. Zum
größten Teil handelt es sich wohl dabei um Kombinationen
nach den Mendelschen Regeln.
Es ist nun die Frage, was wird aus einer Bastard-
population im Laufe der Zeit, wie ist sie nach einer längeren
Reihe von Generationen zusammengesetzt ? Wir wollen diese
Frage an einem einfachen Beispiel besprechen und einmal an-
nehmen, wir hätten eine Anzahl F-^Bastarde zwischen einer
schwarzen (AA) und einer weißen (aa) Kaninchenrasse. Ein
Pärchen von diesen Bastarden (A a) stecken wir in einen großen
Käfig und lassen sie sich unter möglichst günstigen Bedingun-
gen vermehren. Das soll bei ganz unbeschränkter Paa-
rung eine Reihe von Generationen so weiter gehen, wir wollen
also auf diese Weise ein großes Volk von Kaninchen heran-
ziehen, und die Frage ist, wie wird ein solches Kaninchenvolk
zusammengesetzt sein. Die Antwort lautet: Es werden immer
ziemlich genau 1 j 4c aller Tiere weiß und 3 / 4 schwarz sein. Wir
hatten ein weibliches und ein männliches F^Tier in den großen
Käfig gesteckt. Deren Nachkommenschaft, d. h. die Fo-Gene-
ration, müßte aus 3 / 4 schwarzen und 1 / i weißen Tieren zusam-
mengesetzt sein. Nehmen wir etwa an, diese Generation bestehe
aus im ganzen acht Tieren, und zwar aus :
einem homozygotischen schwarzen Männchen AA, weiterhin als
Männchen I,
zwei he terozy gotischen schwarzen Männchen Aa, weiterhin als
Männchen II und III,
einem homozygotischen weißen Männchen aa, weiterhin als
Männchen IV,
einem homozygotischen schwarzen Weibchen AA, weiterhin als
Weibchen a,
zwei heterozygotischen schwarzen Weibchen Aa, weiterhin als
Weibchen ß und r,
einem homozygotischen weißen Weibchen aa, weiterhin als
Weibchen b
bezeichnet.
Zwischen den Tieren sind 16 verschiedene Paarungen
möglich und gleich wahrscheinlich, können daher als gleich
oft vorkommend in Rechnung gestellt werden, nämlich :
84 ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICH KEITSLEH RE.
a X
II
a X
III
a X
IV
ß X
I
ß X
n
ß X
III
ß X
IV
T X
I
T X
II
T X
III
T X
IV
b X
I
h X
II
5 X
III
& X
IV
Weibchen a x Männchen I wird ergeben 4 / 4 n AA-Tictc
2 /i n AA-, 2 / i rt Aa-Tierc
„ t/inAA-y'UnAa-Tiere
„ i / i n Aa-Tiexe
,, 3 /i n AA-, z / i n /la-Tiere
„ 1 / i n AA-, 2 / 4 n Aa, l j i rt aa-Ticre
„ Vi n AA-, 2 /i n Aa, 1 / i n aa-Tiere
„ 2 /i rt Aa-, 2 / i n aa-Tiere
„ 2 /d n AA-, 2 / 4 n Xa-Tiere
„ 1 / 4 n AA-, 2 / 4 n Aa, 1 / i rt aa-Tiere
„ 1 / i ß /l/l-, 3 / 4 ß >la, Vi « aa-Tiere
„ Vi « i4ö-, 2 / i ß aa-Tiere
Vi" /Sa-Tiere
„ 3 /i ß -4a-, 2 /<t n aa-Tiere
„ Vi /z Aa-, 2 /d ß aa-Tiere
„ 4 / 4 ß aa-Tiere
Sa. "/ 4 n AA-, 32 /i /z /la-, ie /i « aa-Tiere
d. h. 4 ß A4-' 8 ß Aa-: 4 ß aa-Tiere
Die Ergebnisse aller dieser 16 einzelnen möglichen, in
gleicher Häufigkeit zu erwartenden Paarungen sind in dieser
Tabelle gleich mit angegeben. Es ist ferner in der Tabelle aus-
gerechnet, was alle 16 möglichen Paarungen zusammen er-
geben müssen, und das Ergebnis ist, daß die Nachkommen-
schaft einer solchen durch freie Paarung sich vermehrenden
F 2 -Generation von 1 Teil AA-, 2 Teilen Aa-, und 1 Teil aa-Ka-
ninchen wieder ebenfalls aus 1 Teil AA- : 2 Teilen Aa-
: 1 Teil aa-K a ninchen bestehenwird, d. h. eine auf diese
Weise entstandene F 3 -Generation wird genau die gleiche Zu-
sammensetzung zeigen, wie die F 2 -Generation. Das gleiche gilt
auch für die nächsten Generationen, und gilt auch, wenn sich
nicht bloß die Tiere einer Generation untereinander paaren, son-
dern auch, wenn die Individuen der verschiedenen Gene-
rationen sich paaren, was ja tatsächlich in einem solchen Ver-
suche der Fall sein wird. Die gleiche Berechnung läßt sich
auch anstellen, wenn die F 1 -Bastarde sich in m e h r e r e n Merk-
malen unterscheiden und verwickelter, etwa nach 9:3:3:1 oder
27:9:9:9:3:3:3:1 aufspalten ; auch dann werden die folgen-
den Generationen nahezu die gleiche Zusammensetzung behal-
ten, wie die Fg-Generation 1 ). Wenn also eine in freier
Paarung sich vermehrende Bevölkerung aus einer
i) Ganz konstant bleibt auch bei völliger Ausschaltung jeder Auslese
eine solche Population nicht, es würde aber zu weit führen, hier die Berech-
nung abzuleiten.
3. DER EINFLUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 85
F 2 -G eneration nach einer Kreuzung hervorgeht,
dann wird diese Population immer ungefähr die
Zusammensetzung zeigen, welche die ursprüng-
liche F 2 -G eneration schon aufwies, vorausge-
setzt, daß keinerlei Auslese vor sich geht.
Der Fall, daß ganze Populationen — etwa die sämtlichen
Kaninchen einer Insel — nur von einer einzigen, einheitlichen
F 2 -Generation abstammen, wird nun freilich in der Natur selten
vorkommen, aber dieses Gesetz gilt auch noch viel weiter.
Wir können z. B. den eben beschriebenen Versuch etwas
ändern, und wir wollen einmal in den großen Vermehrungs-
käfig als Stammtiere für das neue Kaninchenvolk folgende Tiere
nehmen: zwei homozygotisch schwarze ,4.4-Männchen (I und II
genannt), zwei homozygotisch schwarze AA- Weibchen (a und
ß genannt), ein heterozygotisches schwarzes Ai-Männchen (III
genannt) und ein heterozygotisches schwarzes .4a -Weibchen (y
genannt). Wenn wir diese sechs Tiere sich beliebig oft ganz
regellos paaren lassen, dann bekommen wir eine nächste Gene-
ration, die aus homozygotisch schwarzen, heterozygo tisch
schwarzen und weißen Tieren besteht im Verhältnis 25 : 10 : 1.
Die Berechnung gibt die folgende Tabelle :
Das Weibchen a kann sich paaren mit dem Männchen I und wird geben:
Vi n schwarze 44-Tiere.
Das Weibchen et kann sich paaren mit dem Männchen II und wird geben:
i / i n schwarze A4-Tiere.
Das Weibchen a kann sich paaren mit dem Männchen III und wird geben:
2 / 4 n schwarze AA-, 2 / i ll schwarze 4e-Tiere.
Das Weibchen ß kann sich paaren mit dem Männchen I und wird geben:
V4 ll schwarze 44-Tiere.
Das Weibchen ß kann sich paaren mit dem Männchen II und wird geben:
Vi n schwarze 4A-Tiere.
Das Weibchen ß kann sich paaren mit dem Männchen III und wird geben:
Vi n schwarze AA-, Vi >i schwarze 4a-Tiere.
Das Weibchen y kann sich paaren mit dem Männchen I und wird geben:
z / i n schwarze AA-, 3 /a 11 schwarze Aa-Tiere.
Das Weibchen y kann sich paaren mit dem Männchen II und wird geben:
Vi n schwarze AA-, s /i 11 schwarze /Sa-Tiere.
Das Weibchen y kann sich paaren mit dem Männchen III und wird geben:
Vi n schwarze AA-, ä / i rt schwarze Aa, Vi weiße aa-Tiere.
Das Ergebnis aller möglichen Paarungen: £6 /i schwarze AA, I0 /4 n
schwarze Aa, Vi " weiße aa-Tiere.
86
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE.
Da alle Paarungen die gleiche Wahrscheinlichkeit haben,
wird sich als Ergebnis einer sehr großen Anzahl derartiger
Paarungen eine Population ergeben müssen, in der die Kate-
gorien AA, Aa und aa im Verhältnis von 25 : 10: 1 stehen, d.h.
in dem gleichen Verhältnis, das schon in dei*F 2 -Generation vorlag.
Überlassen wir eine solche Population noch weiter einer
freien regellosen Vermehrung, so werden auch alle folgen-
den Generationen nahezu das gleiche Zahlenver-
hältnis zwischen den weißen und den beiden Sor-
ten von schwarzen Tieren aufweisen. Man kann so
leicht für jede beliebige Ausgangsgeneration errechnen, welche
Zusammensetzung eine daraus hervorgehende Population auf-
weisen wird.
■ .Voraussetzung ist dabei, daß keine „Zufuhr von
fremdem Blut" stattfindet, und daß die verschie-
denen Kategorien gleich lebens- und fortpflan-
zungsfähig sind, so daß also kein Aaslesevorgang
eingreift.
Wie wird die Sachlage nun aber, wenn dauernd einzelne
bestimmte Kombinationen ausgemerzt werden oder sich unter-
durchschnittlich vermehren ? Wählen wir auch hier wieder ein
einfaches schematisches Beispiel: Wir bringen auf eine Insel
zwei weibliche blaue Angorakaninchen von der Formel AA XX
BB CC dd gg vv 1 ) und zwei männliche kurzhaarige wildfarbige
i ) Erbfaktor Aa. Alle Aß-Tiere können überhaupt keine Haar- und
Augenfärbung ausbilden, ganz einerlei, was sie im übrigen für eine Erb-
formcl haben, sie sind weiß mit rötend, h. farblosen Augen, „typische Albinos".
AA und Aa-T\ere, denen aber der zweite wichtige Pigmentfaktor X
fehlt (die also xx in der Erbformel haben), sind weiß mit blauen Augen
(z. B. die „weißen Wiener Kaninchen").
Erbfaktor X x. X ist der zweite wichtige Faktor für Farbstoffbiklung,
zusammen mit A ermöglicht er die Bildung einer gelben Haarfarbe.
Erbfaktor B b. B ermöglicht die Umwandlung der durch A und X zu-
wegegebrachten gelben Haarfarbe in ein helles Braun.
Erbfaktor C c. C verändert die durch A, X und B erzielte braune
Farbe in B 1 a u.
Erbfaktor Dd. D macht die durch die übrigen Faktoren bewirkte
Haarfarbe dunkler.
AX B c d ist hellbraun.
A X B c D ist schokoladebraun (die als ,,h a v a n n a f a r b i g" bezeich-
neten Kaninchen haben diese Farbe).
AXBCd ist blau (wie die „blauen Wiener").
AX BC D ist satt schwarz.
Erbfaktor Gg. G bedingt, daß die Haare nicht in ihrer ganzen Länge
gleichmäßig gefärbt sind, sondern bandartig helle und dunkle
3. DER EINFLUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 87
27
9
9
3
9
3
von der Formel AA XX BB CC DD GQ VV. Die F r Genera-
tion besteht dann aus — 2 ) 'Dd Gg W -Tieren, die alle kurz-
haarig und wildfarbig sind, und die F 2 -Generation besteht aus
den nachstehenden Kategorien in den beigefügten Häufigkeits-
verhältnissen :
— DGV wildfarbig kurzhaarig
— DGv „ Angora . . .
■ — DgV schwarz kurzhaarig
— Dgv ,, Angora . . .
— dGV blau-wildfarbig kurzhaarig
— dGv ,, ,, Angora .
— dgV blau kurzhaarig 3
— - dgv ,, Angora 1
Ohne Auslese wird sich, wie gesagt, das so entstandene
Kaninchenvolk in dieser bunten Zusammensetzung dauernd er-
halten. Nehmen wir nun einmal an, es würden bestimmte Kate-
gorien, etwa alle blau-wildfarbigen An gora-Tiere,
d. h. alle Tiere von den Formeln — dd GG vv und — dd Gg
vv vor der Fortpflanzung ausgemerzt. Auch wenn
diese Vernichtung der blau-wildfarbigen Angora-Tiere ganz
streng durchgeführt wird, wenn nie ein Tier dieser Art zur
Fortpflanzung kommt, so würden dennoch immer wieder
Tiere dieserArt in unserem Kaninchenvolke ge-
boren werden, weil Tiere dieser Erbformel und dieser Körper-
beschaffenheit in einer solchen Zucht auch von ganz anders
aussehenden Eltern erzeugt werden 1 Aber es wird die
Zahl der blau-wildf arbigen Angora-Tiere in der nächsten Ge-
neration schon geringer sein. Die nachstehende Tabelle gibt
die Wirkung einer solchen Ausmerzung der blau-wildfarbigen
Angora-Tiere wieder.
Zonen zeigen. Ein Tier von der Formel AX BC D g ist schwarz,
eines von der Formel AX BC DG ist wildfarbig, wie die wilden Ka-
ninchen. Entsprechend ist ein Tier von der Formel AX BC d g einheitlich
blau, eines von der Formel AX BC d G dagegen „blauwildfarbi g",
d. h. blau im Grundton, aber mit der gebänderten Haarzeichnung der wil-
den Kaninchen. Ebenso gibt es zu den gelben Tieren entsprechende „gelb-
wildfarbige" usw.
Außer in der Haarzeichnung äußert sich G auch darin, daß alle G-
Tiere einen weißen, oder doch sehr hellen Bauch und eine weiße Unterseite
des Schwänzchens haben, während alle g g -Tiere Bauch- und Schwanzunter-
seite ebenso gefärbt haben wie den übrigen Körper.
V v. Alle vy-Tiere haben Angorahaar.
2 ) Der — soll (zur Abkürzung der Formel) die für unsere Überlegung
hier gleichgültigen homozygotischen Faktoren AA XX BB CC andeuten.
88
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE.
ii 11 e Auslese müßte die
Fa- Genera tiou die nachfolgenden
Kategorien aufweisen
im
Verhält-
nis
in "/o
ausgedrückt
die Ansmerzung
aller blau wild -
f arbige u Angora-
Tiere gibt das
Verhältnis
(auch in "l<< aus-
gedrückt)
d. Ii. Zunahme
oder Abnahme
in °/o
wildfarbig kurzhaarig . .
27
42,18
44,44
+ 2,26
,, Angora . . .
9
14,06
13,82
— 0,24
schwarz kurzhaarig . . .
9
14,06
14,67
+ 0,61
„ Angora ....
3
4,69
4,46
— 0,23
blau-wildfarbig kurzhaarig
9
14,06
13,82
— 0,24
„ Angora
3
4,69
3,19
— 1,50
blau kurzhaarig ....
3
4,69
4,46
— 0,23
1
1,56
1,12
„ 0,44
Wie ein Blick auf die Tabelle zeigt, ergibt die — etwas
umständliche und deshalb nicht ausführlich wiedergegebene —
Berechnung der Zusammensetzung der F 3 -Generation nach
einer solchen Auslese, daß nicht bloß die Häufigkeit der blau-
wildfarbigen Angora-Tiere abgenommen hat, sondern daß sich
auch im Verhältnis der übrigen Kategorien untereinander be-
trächtliche Verschiebungen ergeben haben.
Wird eine solche Auslese eine lange Reihe von Generatio-
nen hindurch vorgenommen, so wird die ausgemerzte Sorte im-
mer seltener werden und es wird auch sonst die Zusammen-
setzung des Kaninchenvolkes sehr stark verändert.
Im einzelnen ist diese Wirkung sehr verschieden, je nach-
dem, ob dominante oder rezessive Typen ausgemerzt werden,
ob nur eine Kombination oder ob gleichzeitig viele Kombinati-
onen ausgemerzt werden usw. Es würde zu weit führen, hier
auf alle Einzelheiten einzugehen. Uns interessiert, daß es zwar
zu einem völligen Verschwinden bestimmter Kombinationen bei
einem solchen Auslesevorgang zunächst nicht kommt, daß aber
die ausgemerzten Typen seltener werden und daß auch sonst
die Zusammensetzung des Volkes sich verändert.
Auslesevorgänge sind von der allergrößten Wichtigkeit für
die Erhaltung und für die Weiterentwicklung der „Art". Bei
allen Lebewesen treten, wie wir früher schon gehört haben,
zahlreiche Mutationen auf, die in der übergroßen Mehrzahl
Mißbildungen darstellen. Bei wild lebenden Pflanzen und
Tieren werden alle nicht vollwertigen Individuen im Kampf ums
Dasein ausgemerzt, gelangen nicht zur Fortpflanzung. Wir fin-
3. DER EINFLUSS DER VARIATIONSERSCHEINUNGEN usw. 89
den in der Natur einen sehr einheitlichen Bestand von
normalen und gesunden Tieren. Wir sehen dagegen, daß jede
Pflanzen- oder Tierart, die wir „domestizieren", alsbald eine
Fülle von mehr oder weniger absonderlichen Rassen aus sich ent-
stehen läßt. Aus dem Wildkohl (Brassica oleracea) entstanden
so Kohlrabi, Kopfkohl, Blumenkohl, Rosenkohl usw., aus dem
Wildkaninchen entstanden die zahllosen, allbekannten Kultur-
rassen. Sie entstanden aber in Wirklichkeit nicht als
Folge der Kultur, sondern sie verdanken der Kultur
nur ihre Erhaltung. Mutationen entstehen immer und überall,
aber die natürliche Zuchtwahl merzt alles nicht Geeignete aus
und erhält so den Typ einheitlich. Die Wirkung der Domesti-
kation besteht vor allem in der Ausschaltung der natür-
lichen Auslese. Ähnlich wie bei den Plaustieren liegen die
Verhältnisse offenbar auch bei den Kulturmenschen. Bereits
seit Mitte der Diluvialperiode sind unsere Vorfahren mit der
langsam steigenden Kultur der natürlichen Selektion mehr und
mehr entzogen, und dementsprechend zeigt die heutige Mensch-
heit die gleichen Entartungserscheinungen wie jedes andere,
der natürlichen Zuchtwahl entzogene Lebewesen.
Im einzelnen ist die Schärfe der Zuchtwahl sehr verschie-
den, je nachdem ob es sich um kleine Horden handelt, deren
Angehörige sich untereinander in einer relativ engen Inzucht
fortpflanzen oder ob wir im andern Extrem eine fluktuierende
Großstadtbevölkerung mit stärkster Allvermischung (Pan-
mixie) vor uns haben.
Da weitaus die meisten erblichen Mißbildungen rezessiv
vererbt werden, ist bei Inzucht die Wahrscheinlichkeit groß, daß
rezessive Homozygoten entstehen und, soweit sie lebensuntüchtig
sind, ausgemerzt werden. Paare und auch Einzelindividuen,
die homozygotisch von diesen Mißbildungsfaktoren, Letalfak-
toren usw. frei sind, werden eine normale Vermehrungsrate
haben, bei allen andern wird die Vermehrung schwächer sein,
diese letzteren werden also an Zahl relativ abnehmen.
Auch daraus folgt, daß bei im Urzustand lebenden kleinen
Horden von Menschen die natürliche Zuchtwahl v i e 1 schär-
fer wirkt als in den heutigen Kulturvölkern.
Eine Verhinderung der natürlichen Auslese wirkt nicht bloß
dadurch schädlich, daß die ständig entstehenden minderwertigen
Mutanten nicht ausgemerzt werden, es kommt noch hinzu, daß
nach jeder Rassenkreuzung ein sehr buntes Mischvolk entsteht
(vgl. S. 73), in welchem die einzelnen Rassenunterschiede in
90
ERWIN BÄUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEMRE.
allen erdenklichen Kombinationen sich zusammenfinden. Dar-
unter sind naturgemäß auch Kombinationen, d. h. Individuen,
welche gerade die schlechten oder die schlecht zusammenpassen-
den, wenn auch an sich guten Eigenschaften beider Rassen auf-
weisen, wieder andere Individuen verkörpern besonders erfreu-
liche Kombinationen. Auch aus einem solchen bunten Misch-
masch würde die natürliche Zuchtwahl schließlich wieder einen
einheitlichen — eben den bestangepaßten — Typus hervorgehen
lassen. Fehlt aber die richtige Auslese, dann wird
wahllos alles, auch das Minderwertige, erhalten
bleiben.
Damit hängt es auch zusammen, daß wir heute in der Pflan-
zen- und Tierzüchtung in ganz großem Maßstabe mit Rassen
und mit Art-Kreuzungen arbeiten können, beim Menschen
aber nach Möglichkeit derartige Kreuzungen verhüten müssen.
In der Pflanzenzüchtung stellen wir uns bewußt ein Material
von Millionen von F 2 - oder F 3 -Individuen her, wählen daraus
e i n oder zwei Individuen aus und werfen alles übrige
weg. Könnten wir beim Menschen nach Rassenkreuzung auch
so scharf auslesen, dann aber auch nur dann wären hetero-
gene Kreuzungen zu befürworten.
Die heutigen Kulturvölker und wohl auch die meisten
heutigen ,, primitiven" Völker zeigen auf das deutlichste alle
Folgen der verhinderten naturgemäßen Auslese. Individuen mit
so weitgehender körperlicher und geistiger Gesundheit, wie sie
bei jedem wilden Tier die Regel bilden, stellen beim Menschen
Ausnahmen dar.
Bei den Kulturvölkern kommt zu der Verminderung der
natürlichen Auslese, wie später noch ausführlich dargelegt wer-
den wird, eine verkehrt gerichtete Auslese hinzu, indem
gerade die bestveranlagten Menschen sich weniger stark fort-
pflanzen als der Volksdurchschnitt.
Bei den Haustieren tritt an Stelle der natürlichen Zucht-
wahl fast stets eine künstliche Zuchtwahl, die bestimmte
Rassetypen herausgezüchtet hat, teils zu praktischen Leistun-
gen, teils auch nur als Spielerei (Möpse z. B.).
Beim Menschen ist dagegen von einer künstlichen Zuchtwahl
nicht die Rede. Die Kulturmenschheit zeigt dementsprechend
nicht wie etwa die Hunde, Schweine, Rinder usw. scharf ge-
schiedene Zuchtrassentypen, sondern stellt ein „rasseloses" Ge-
misch dar, das uns in den internationalen Verkehrs Zentren in
4. DIE WIRKUNG VON INZUCHT.
91
besonders abschreckender Form vor Augen tritt. Man könnte
aber sehr leicht, wenn überhaupt willkürliche Paarung nach
einheitlichem Plane möglich wäre, aus einem Menschenvolke
„Kulturrassen", entsprechend den Jagdhunden, Windhunden,
Dackeln, Pudeln usw. herauszüchten.
Wenn bei einem Organismus, der sich gewöhnlich durch
Fremdbefruchtung fortpflanzt, Inzucht getrieben wird, so
bringt das gewisse Nachteile mit sich. Diese Erkenntnis von
der Schädlichkeit der Inzucht ist uralt, ein großer Teil der
Ehegesetzgebung schon der ältesten Kulturvölker geht mehr
oder weniger darauf zurück.
Die Schädigung durch Inzucht beruht auf zwei ganz ver-
schiedenen Dingen. Zunächst befördert jede Inzucht und jede
Verwandtschaftszucht das Herausmendeln rezessiver Mißbildun-
gen. Das zeigt wohl am besten der in Figur 32 abgebildete
Stammbaum. Albinismus vererbt sich beim Menschen als ein-
fach rezessives Merkmal. Heterozy gotisch albinotische Men-
schen sind äußerlich vollständig normal. Heiraten die Ange-
hörigen einer solchen mit Albinismus erblich belasteten Familie
immer wieder in andere nicht damit belastete Familien, so
wird zwar immer ein Teil der Nachkommen die Anlage hetero-
zygotisch, also latent enthalten, aber Albinos werden nicht ge-
boren. Homozygotische Albinos kommen hier nur zustande,
wenn zwei solche heterozygotische Individuen sich heiraten. Die
Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Fall eintritt, ist nun aber
bei einer Verwandtenehe innerhalb einer solchen Familie sehr
groß, es wird also das Auftreten von Albinismus in dieser
Familie durch Verwandtenehe begünstigt. Eine erbliche Bela-
stung mit rezessiven Erbübeln hat fast jeder Mensch. In der
einen Familie steckt dieses, in der anderen jenes Übel. Heiraten
außerhalb der Familie lassen die erbliche krankhafte An-
lage nicht homozygotisch heraustreten, Heiraten in der Familie
begünstigen das Auftreten. Hierin liegt eine Ursache der In-
zuchtschädigungen, aber nicht die einzige.
Daß auch diese Inzuchtsfolge für die betreffende Familie
günstig, also für die Gesunderhaltung eines Volkes in gewissem
Sinne nützlich ist, wurde vorhin S. 89 schon gesagt.
92
ERWIN BAUR, ALLGEMEINE ERBLICHKEITSLEHRE.
4. DIE WIRKUNG VON INZUCHT.
93
Eine zweite Art von Inzuchtschädigung, die wiederholt
bei Pflanzen beobachtet wurde, beruht darauf, daß aus unbe-
kannten Gründen jede Inzucht — je enger die Inzucht, desto
rascher — eine Schwächung der Nachkommen und eine Ver-
ringerung der Fortpflanzungsfähigkeit bewirkt. Diese Schwä-
chung geht wohl stets bis zu einem früher oder später erreich-
ten Mindestmaß, d. h. bei Inzucht während mehrerer Gene-
rationen nimmt zunächst die Lebenstüchtigkeit der Nachkom-
men sehr stark, in den späteren Generationen langsamer ab,
und schließlich wird eine Art Dauerzustand erreicht, wo wei-
tere Inzucht nicht mehr schädigt. Es gibt also wohl eine Art
von Mindestmaß in der Lebenstüchtigkeit, das durch engste
Alles gesund Alks gesund
Schema tisch er Stamm bäum einer Familie mit einer als rezessives Merkma mendeluden erblicken
Mißbildung (etwa Albinisimisj — ■ liomozygo tisch gesunde Personen weiß, lieterozygotische (äußer-
lich ebenfalls gesunde) weiß mit seh war Kern Punkte, homozy gotisch, kranke Personen
schwarz dargestellt. Der eine dargestellte Fall von Verwaudteiichc (durch gestrichelte I^iuic ein-
gerahmt) ermöglicht die Entstehung von hoinozy gotisch kranken Kindern.
Inzucht früher oder später erreicht wird. Dieses Mindestmaß
liegt bei den verschiedenen Organismen sehr ungleich hoch.
Für den Menschen ist über diese Wirkung dauernder
engster Inzucht nichts Zuverlässiges bekannt. Auch für die
höheren Tiere weiß man hierüber nur wenig.
Ob die gelegentlich gemachte Beobachtung, daß Kinder
aus Inzestzucht (Kinder von Bruder und Schwester, von Vater
und Tochter usw.) häufig geistig und körperlich minderwertig
sind, auf „Inzuchtwirkung" beruht, ist sehr zweifelhaft. Inzest
wird heute eben im allgemeinen doch wohl nur bei selbst
schon stark minderwertigen Menschen vorkommen, und wir
kennen aus der Geschichte zahlreiche Fälle von Inzest in hoch-
wertigen Familien, wo die Kinder keinerlei Degenerations-
erscheinungen zeigten.
Bewußte Reinzucht bestimmter Rassen.
Die heutigen Kulturvölker sind, genetisch betrachtet, sehr
bunte Kreuzungspopulationen, hervorgegangen aus der Durch-
einanderkreuzung verschiedener Ausgangsrassen. Schon die
einzelnen Ausgangsrasseil waren zweifellos, mit den Augen des
wissenschaftlichen Züchters, d. h. in diesem Falle des Rassen-
hygienikers, gesehen, sehr verschieden wertvoll. Die Kombi-
nationsprodukte sind selbstverständlich noch viel mehr un-
gleich wertig.
Ein Pflanzenzüchter würde selbstverständlich aus einem
entsprechenden bunten Gemisch sich einen ganz bestimmten
Typ, eine ganz bestimmte Zuchtrasse herauszüchten, eine Rasse,
in welcher die Idealkombination der guten Eigenschaften der
ursprünglich gekreuzten Rassen verkörpert ist.
Jede derartige Züchtung setzt aber voraus, daß der Züch-
ter ein scharf umrissenes Zuchtziel vor Augen hat, und daß
ein Wille die Zucht leitet. Damit ist die Schwierigkeit oder
Fraglichkeit einer bewußten Züchtung beim Menschen gekenn-
zeichnet. Wie soll der Idealtyp, das Zuchtziel aussehen? Wenn
jemand ganz laienhaft und ohne erbbiologische Kenntnis glau-
ben würde, aus dem heutigen Gemisch etwa einer europäischen
Großstadt die eine oder die andere Ausgangsrasse rein oder
ungefähr rein herauszüchten zu können, übersähe er eine wich-
tige Grundtatsache : die Einzelunterschiede der Rassen men-
deln unabhängig. So ist z. B. zwischen Augenfarbe oder Haar-
farbe oder manchen anderen körperlichen Eigenschaften und
psychischen, etwa Charakterfestigkeit, Willenskraft, Klugheit
usw. genetisch kein Zusammenhang.
Wir könnten vielleicht durch bewußte Zuchtwahl Familien
und Volksstämmc herauszüchten, die je einige der wichtigsten
körperlichen Eigenschaften etwa der nordischen oder dinari-
schen Rasse aufweisen. Damit ist aber nicht gesagt, daß dann
diese Zuchtrassen auch in ihren geistigen Eigenschaften, ja
auch nur in ihren übrigen körperlichen Eigenschaften so be-
schaffen wären, wie man es heute von den genannten hypothe-
tischen Ausgangsrassen annimmt.
94
ERWIN DAUR, ALLGEMEINE ERBLICH KEITSLEHRE.
Ein derartiger Reinzüchtungs versuch wäre genau so laien-
haft, wie wenn man aus einer durch Kreuzung von Milchlei-
stungsrindern der schwarzbunten Niederungsrasse mit Shor-
thorn-Fleisch rindern entstandenen Bastardpopulation nur auf
schwarzbunte Farbe, auf gewisse Hörn- und Schwanzformen
usw., d. h. nur auf einige wenige körperliche Merkmale hin
züchten wollte. Dieser laienhafte Züchter würde zwar sehr
rasch zu einem Rinderbastard kommen, der äußerlich ganz
ähnlich wie die eine Ausgangsrasse (schwarzbuntes Niede-
rungsrind) beschaffen wäre, aber eine Milchleistungsrasse wäre
■es deshalb noch lange nicht 1
Die Vermehrung einiger weniger körperlicher Eigenschaf-
ten, die von der „nordischen" Rasse hergeleitet werden, würde
auf diese Weise nur eine gewisse äußerliche „Aufnordung"
bedeuten, aber das Produkt dieser Züchtung wäre keineswegs
identisch mit dem Bilde, das wir uns von der ursprünglichen
nordischen Rasse machen.
Wenn aus allen Erfahrungen bei Züchtungen mit Pflanzen
und Tieren und aus unseren Kenntnissen der menschlichen
Verhältnisse ein Schluß gezogen werden soll, ist es der, daß
wir verhältnismäßig leicht die Fortpflanzung der ausgespro-
chen Minderwertigen verhindern können und daher mit allen
Mitteln verhindern müssen und daß wir die Fortpflanzung der
Erbgesunden fördern können und also müssen, daß aber eine
bewußte Züchtung auf einen ganz bestimmten Rassentyp un-
endlich viel schwerer ist als dies 1 ).
*) Anmerkung bei der Durchsieht: Wir verweisen auf die betreffenden
Ausführungen in Abschnitt 2 und Abschnitt 5. E. Fischer, F. Lenz.
Zweiter Abschnitt
Die gesunden körperlichen Erbanlagen
des Menschen.
Von
Professor Dr. Eugen Fischer.
1. Einleitung.
Selbstverständlich ist die wichtigste Anwendung der allge-
meinen Erblehre, wie sie in Abschnitt I kurz umrissen wurde,
die auf den Menschen selbst, wie man häufig kurzweg sagt,
die menschliche Erblehre.
Die folgenden Abschnitte wollen eine geschlossene lc.hr-
buchmäßige Darstellung sein und den Stand unserer heutigen
Kenntnisse bringen. Es ist daher ganz unmöglich, die zahl-
reichen Einzelheiten, einzelne kleine Beiträge oder strittige
Meinungen zu bringen. Ein vollständiges Schrifttunisverzeich-
nis würde allein einen kleinen Band füllen. So erwähne ich
meist nur den Namen der Forscher, denen, wir die betreffen-
den Ergebnisse zu danken haben und führe (in Anm.) nur die
jüngsten Schriften oder grundlegenden oder zusammenfassen-
den Arbeiten an, in denen der Leser die früheren genannt fin-
det. Arbeiten mit besonders ausführlicher Aufzählung des
Schrifttums sind mit (L.) bezeichnet Eine Übersicht über Lehr-
bücher, Sammelwerke und dergleichen findet sich am Schluß
des Bandes.
Grundsätzlich gilt alles, was die tausendfältigen Versuche
an Pflanze und Tier von Erbgesetzen und Erbrcgcln ergeben
haben, auch für den Menschen. Es lohnt beinahe nicht, das
besonders zu betonen. Der ab und zu noch gehörte Einwand,
man dürfe nicht von der Fliege Drosophila oder dem Löwen-
mäulchen auf die Verhältnisse beim Menschen schließen, ist
einfach lächerlich. Das gewaltige Tatsachenmaterial der letz-
ten 30 Jahre Mendelforschung hat die grundsätzliche Gleich-
heit aller, auch der verwickeltsten Erscheinungen auf dem Ge-
biet der Vererbung in einem Ausmaß erwiesen, das die kühn-
sten ursprünglichen Erwartungen übertraf. Nicht nur die sog.
Spaltungsgesetze, auch die Tatsachen etwa der Koppelung, ge-
schlechtsgebundenen Vererbung, multiplen Allelie usw. erwie-
sen sich grundsätzlich gleich bei zahllosen Pflanzen der ver-
schiedensten Familien, bei Tieren der allerverschicdensten
Gruppen, seien es Schnecken oder Insekten, Vögel oder Säuge-
tiere zahlreicher Familien. Hier den Menschen ausnehmen zu
wollen, bedeutete denselben Standpunkt, der etwa sagen würde,
die Befruchtung des menschlichen Eies durch einen Samen-
faden ist noch nie beobachtet worden, oder die ersten Zell-
Baiir-Fisclter-Leuz I. 7
98 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
teihmgs Stadien menschlicher Eier hat noch niemand gesellen,
es ist also nicht bewiesen, daß beim Menschen Befruchtung
und Eientwicklung grundsätzlich ebenso ablaufen, wie es etwa
Sobotta für die Maus geschildert hat. Andererseits haben wir
wirklich fast unzählige Beobachtungen derselben Vererbungs-
vorgänge am Menschen, wie wir sie am Tierexperiment ablesen.
Die Erforschung der menschlichen Erblehre ist allerdings
schwieriger als die der Pflanzen und Tiere. Wir entbehren
beim Menschen die Möglichkeit, so zahlreiche Nachkommen
eines Paares zu untersuchen, wie sie dort in günstigen Fällen
gegeben ist. Wir können nicht aus eigener Erfahrung über
längere Reihen von Generationen berichten. Wir haben nicht
die Möglichkeit des Experimentes. Zoologie und Botanik wer-
den daher immer im allgemeinen die Leitung in der Hand be-
halten. Die menschliche Erblehre aber hat den Vorteil, daß
ihr Objekt Mensch nach Anatomie und ganz besonders nach
Physiologie und Pathologie weitaus besser bekannt ist als
irgendeine lebende Form. Manche Vererbungserscheinungen,
besonders auf dem Gebiet des Krankhaften und auf dem Ge-
biet der Erforschung der entwickhmgsgcschichtlichen Entfal-
tung und Wirkung der Erbanlagen (Phänogenetik, Haecker),
werden am Menschen gewisse, besonders günstige Lösungs-
möglichkeiten haben. — Statt der Experimente muß am Men-
schen reichliche Beobachtung einsetzen, häufig genug macht
uns der Mensch „Experimente" an sich selbst vor. So werden
wir auch hier, wie nach experimentellen Tierkreuzungen, gene-
rationsweise untersuchen. Nur angedeutet sei, daß die Verfol-
gung erblicher Eigenschaften über die einzelnen Generationen
um so leichter ist, je auffälliger und einfacher das Merkmal ist.
So ist es zu verstehen, daß der erste Nachweis mendelistischen
Erbganges für eine auffällige Mißbildung erfolgte, dieBrachy-
daktylie (Faradey 1905). Aus demselben Grund ist der Nach-
weis der mcndelschcn Vererbung von Rasseneigenschaften am
leichtesten da zu führen, wo die beiden sich kreuzenden Eltern
sehr stark auseinandergehende Rassenmerkmale haben. So er-
folgte hier der erste Nachweis bei Bastarden zwischen Euro-
päern und Hottentotten (Eugen Fischer 1908).
Es ist, wie gesagt, fast selbstverständlich — und auch
schon ein flüchtiger Augenschein bestätigt es ■— , daß beim
Menschen dasselbe Gesetz herrscht wie bei allen Pflanzen und
EINLEITUNG: ERBLE/iRE UND ANTHROPOB1OL0GIE. 99
Tieren : alle Einzelindividuen sind untereinander verschieden.
Völlig gleiche gibt es nicht. Auch Geschwister, selbst Zwillinge
sind niemals völlig gleich, ebenso wenig Eltern und Kinder.
Diese „Variationserscheinungen" sind im ersten Abschnitt S. 5
ausführlich besprochen worden. Die dort erörterten Tatsachen
gelten also auch für den Menschen. Wir müssen also auch
beim Menschen eingehend und im einzelnen untersuchen, wel-
che von den unterscheidbaren Merkmalen „Paravariationen",
„Mixo Variationen" oder „Idiovariationen" sind. Besser und
vollständiger könnte man auch sagen, was oder wieviel an der
einzelnen erkennbaren Erscheinung Ausdruck des Erbes und
was und wieviel Einfluß der Umwelt (Peristase) ist. Die
menschliche Erbforschung versucht also an den individuellen
und gruppenweisen Unterschieden das Vorhandensein bestimm-
ter und bestimmt wirkender Erbfaktoren zu erweisen und an-
dererseits die verschiedenen umweltlichen (peristatischen) Wir-
kungen davon zu trennen. So wurde die alte beschreibende
Anthropologie zu einer „Anthropo-Biologie".
Die systematische „Anthropologie" hat bisher last immer nur anato-
misch die Unterschiede als solche erfaßt und beschreibend und messend
festgelegt. Selbstverständlich ist diese Seite der Forschung unentbehrlich
auch für die Zwecke der Rassenhygiene. Aber gerade die Rassenhygiene muß
wissen, was an diesen äußerlich erkennbaren Merkmalen erblich ist. Die
Betrachtung der Form und Größe genügt also nicht, die Merkmale müssen
nach ihrer Entstehung, nach ihrer Bedeutung für Individuum und Gruppe
gewürdigt, also ,, biologisch" betrachtet werden. Die Rassenhygiene braucht
zu ihrer Unterlage gleichzeitig anatomische und biologische Erkenntnisse.
Erst durch die Einführung der Erblehre in die Anthro-
pologie ist diese auch in der Lage, aus einer rein theoretischen
„Wissenschaft vom Menschen" zu einem ungeheuer wichtigen
praktischen Wissen um den Menschen zu werden. Als mensch-
liche Erblehre schafft sie eine neue Unterlage für das gesamte
ärztliche Wissen. So hat sie in der Medizin siegreich und auf
allen Gebieten ihren Einzug gehalten. Ein neuer „Arzt-Typus",
der „Erbarzt" (v. Verschuer) ist in Bildung begriffen,
Erbkliniken werden eröffnet und eigene Zeitschriften dienen
der Mehrung und Verbreitung des neuen Wissens 1 ).
Aber von noch viel größerer Bedeutung ist die Anthropo-
Biologie als die eigentliche Unterlage der Rassenhygiene und
damit der einzigen vernünftigen Bevölkerungspolitik, der bio-
logischen (s. Lenz, Bd. 2 dieses Werkes).
r ) Der Erbarzt, Beilage zum „Deutschen Ärzteblatt" 1. Jahrg. 1934
(Schriftleitung: Dr. Freiherr v. Verschuer, Frankfurt a. M.).
7*
100 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Die Einzcluntcrsuchungen auf dem schwierigen Gebiet
menschlicher Erblehre müssen sich besonderer, für die mensch-
lichen Verhältnisse eigens angepaßter Metboden bedienen, die
im 4. Abschnitt dargestellt sind (F. Lenz). Die Methoden
sind leichter zu verstehen, wenn man eine Vorstellung yom Ziel
und Ergebnis schon hat. Aus diesem Grund haben wir ihre
Darstellung an den Schluß gerückt. Aber eine ganz besondere
Erscheinung beim Menschen gab der Forschung ein Mittel an
die Hand, wie es in diesem Umfang bei Pflanze und Tier nicht
besteht, die Zwillingsbildung beim Menschen. Seine außer-
ordentliche Wichtigkeit erheischt hier eine kurze Darstellung
der Erscheinung der Zwillingsbildung selbst, weil in folgen-
dem immer wieder von Zwillingen die Rede sein wird 1 ). Das
rein Methodische der Zwillingsforschung wird dagegen unten
mit den anderen Methoden erörtert werden.
Menschliche Zwillingsbildung.
Bekanntlich gibt es beim Menschen neben der als Regel
aufgefaßten Einzelgcburt ab und zu Zwillinge, sehr viel selte-
ner Drillinge und in steigendem Maß als Aufsehen erregende
Ausnahmen Vierlinge und höhere Zahlen von Meinungen.
Bei den Säugetieren ist die Zahl der gleichzeitig getragenen
Früchte nach den verschiedenen Arten sehr wechselnd. Die
großen Wurfzahlen mancher Tiere, wie Schweine, Kanin-
chen, Hunde usw. sind bekannt, ebenso daß z. B. Elefanten,
Pferde und andere entweder ausnahmslos oder nur mit ver-
schwindenden Ausnahmen nur jeweils ein Junges werfen. Un-
ter den Primaten haben die Halbaffen gewöhnlich nur ein
Junges. Gelegentlich sind Zwillinge und Drillinge beobachtet
worden (nach Abel) 2 ). Von den Neuwcltaffen haben die klei-
1 ) D a h 1 b e r g. Twin birth and twins from a hereditary point of view.
Stockholm 1926.
Diehl und v. V c r s c h u e r. Zwillingsluberkulose. Jena 1933.
N c w m a n. The biology of twins. Chicago 1924.
Ders. Menlal and physical traits of identical twins reared apart. Joimi.
Hered. 25. 1934.
S leine 11 s. Die Zwillingspathologie, Berlin 1924.
v. V c r s c h u c r, .Ergebnisse der Zwillmgsforschung. Verh. Ges. phys.
Anthr. 6. 1 93 1 .
Ders. Die biolog. Grundlagen der menschl. Mehrlingsforschung. Z.
induet. Abst. 61. 1932.
Ders. Erbpathologic. Dresden-Lpz. 1934.
2 ) Abel, W. Zwillinge bei Mantelpavianen und die Zwillingsanlage
innerhalb der Primaten. Z. Morph. Anthr. 31. 1933.
MENSCHLICHE ZWILLINGSBILDUNG.
101
nen Krallcnaffen zwei bis drei Junge, die anderen in der Regel
eines. Bei Altwcltaffen sind Zwillinge offenbar außerordent-
lich viel seltener als beim Menschen. (Abel berichtet über
solche beim Mantel-Pavian, bei Anthropoiden sind Zwillinge
noch nie beobachtet worden.) Daß beim Menschen neben den
Einzelgeburten Zwillings- und Mehrlingsgeburten vorkommen,
ist eine ähnliche Erscheinung, wie wir sie bei vielen Tieren
finden, wo ebenfalls Einzelgeburt die Regel ist. Wir haben alle
Übergänge zu dem Zustand, wo die Einzelgeburt Ausnahme
und die Mehrlingsgeburt Regel wird. Über wilde Tiere haben
wir da wenig Erfahrung. Aber folgende Beispiele an Haus-
tieren erweisen es. Bei der Ziege sind etwas mehr als ein Vier-
tel aller Würfe Einzelgeburten, beim Schaf je nach Zuchten
10 0/0 bis zu 90 0/0 Einzelgeburten, beim Rind kommen umge-
kehrt auf 50 Einzelgeburten, eine Zwillingsgeburt, beim Pferd
auf 90 eine. Beim Menschen kommt im Durchschnitt eine
Zwillingsgeburt auf 85,2 Einzelgeburten. Eine Drillingsgeburt
dagegen kommt einmal auf 7628 Geburten und eine Vierlings-
geburt auf 670734 Einzelgeburten. Damit wäre rund jeder
40. Mensch (jede 80. Geburt mit zwei Individuen) ein Zwil-
ling. Da aber bei Zwillingsschwangerschaften Frühgeburten
und Totgeburten des einen oder beider Zwillinge gegenüber
Einlingsschwangerschaften sehr viel häufiger sind, ist durch-
schnittlich etwa jeder 60. Mensch Zwilling.
Die Häufigkeit von Zwillingen ist deutlich nach Ländern
verschieden. Sie beträgt im Durchschnitt in Nordeuropa mehr
als in südlichen Ländern. So rechnet man in Skandinavien 1,4
bis 1,6 o/o, in Deutschland 1,250/0, in Frankreich und Italien
1,13%, in Griechenland, Argentinien, Brasilien und einigen
anderen südlichen Staaten 0,8—0,40/0, in Japan 0,570/0. Außer-
ordentlich selten sollen Zwillingsgeburten in Cochinchina sein,
nur 0,01 0/0.
Diese eigenartige Erscheinung hat wohl recht verschiedene
Gründe. Teilweise sind es Umweltwirkungen. Das Klima wirkt
nach Davenport so, daß kühleres Klima Zwillingsgeburten
vermehrt. Patcllani hat entsprechende Unterschiede zwi-
schen Nord-, Mittel- und Süditalien festgestellt. Auch das Le-
bensalter der Mutter scheint von Einfluß. Junge Mütter haben
weniger häufig Zwillinge (nach Dahiberg). In der Stadt
gibt es unter Berücksichtigung des Alters der Mutter weniger
Zwillinge als auf dem Lande (nach Dahiberg und Wein-
berg). Dann scheinen aber auch erbliche Faktoren Unter-
102 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
schiede zu bedingen. Komai und Fukuoka 1 ) konnten zei-
gen, daß eineiige Zwillinge in Japan genau gleich häufig sind
wie in Europa, während zweieiige nur ein Viertel bis ein Drittel
so häufig erscheinen. Die Erbanlage zur Zwillingsbildung
(s. unten) dürfte also verschieden häufig sein bei den einzelnen
menschlichen Gruppen.
Endlich spielt für die Zwillingshäufigkeit die Sterblichkeit
vor der Geburt eine Rolle (s. unten S. iro). Von vielen Zwil-
lingsschwangerschaften stirbt eine der beiden Früchte teils
wegen der schwierigen Einbettung des Eies, teils auf Grund
von Letalfaktoren.
Endlich sei noch erwähnt, daß man von den Zwillingsge-
burten, rund ein Viertel als solche eineiiger Zwillinge (s. unten)
rechnen kann.
Die Entstehung der Mehrlingsschwangerschaft.
Bei normalerweise mehrfrüchtigen Tieren reifen gleich-
zeitig mehrere Eier, werden einzeln befruchtet und betten sich
einzeln an der Wand der Gebärmutter ein, wobei meistens für
jede sich entwickelnde Frucht eine besondere Kammer in ihr
gebildet wird. Selbstverständlich hat jede Frucht ihre eigenen
Hüllen und eigenen Mutterkuchen, infolge dieser Entstehung
hat selbstverständlich jede Frucht ihr eigenes, von den Wurf-
geschwistern abweichendes Erbe, da die Erbanlagen in den
verschiedenen Eiern und den verschiedenen Samenfäden je
verschieden sind. Erbmäßig sind solche Wurfgeschwister in
nichts unterschieden von Geschwistern, die nacheinander im
Laufe von Jahren vom selben Elternpaar erzeugt sind. Zu die-
ser Art Mehrlingcn gehören eine große Anzahl von Zwillingen
und auch Mchrlingen des Menschen. Man nennt diese Zwillinge
„zweieiig" oder „nicht identisch". Im folgenden Text werden
sie, wie jetzt vielfach bräuchlich, abgekürzt als ZZ bezeichnet.
Alle sog. Pärchenzwillinge (Bruder-Schwester) gehören hier-
her (PZ), aber auch viele gleichgeschlechtliche. Die zwei-
eiigen Zwillinge ähneln sich äußerlich nicht mehr als gewöhn-
liche Geschwister.
Es gibt nun aber noch eine andere Art von Mehrlingsbil-
dung. Es wurde festgestellt, daß bei gewissen Insekten und
Würmern aus jedem einzelnen befruchteten Ei mehrere Em-
!) Komai und Fukuok a. Die Häufigkeit von Mchrlingsgeburten in
Japan. Z. Morph. Anf.hr. 31. 1933.
ENTSTEHUNG DER MEHRLINGSSCHWANGERSCH ART. 103
bryonen entstehen, indem das Ei auf einem gewissen Stadium
in einzelne Zellen zerfällt und jede Zelle sich zu einem Embryo
entwickelt. Unter den Säugetieren ist nur ein solcher Fall be-
kannt und genau untersucht. Bei den Gürteltieren entwickelt
sich das befruchtete Ei bis zur Ausbildung des Embryonal-
Schildes wie gewöhnlich. Dann aber stellt sich eine radiäre
Teilung ein, bei einer Art (Dasypus 110 verneine tus) zu vier Ab-
schnitten, bei einer anderen (Dasypus hybridus) zu sieben bis
neun. Ein gemeinsames Chorion umschließt diese eineiigen
Meli dinge.
Diese Entstehung von mehr als einem Keimling aus einer
einzigen befruchteten Eizelle kommt nun auch beim Menschen
vor. Es ist die zweite Art von Zwillingsbildung, grundsätzlich
von der ersten verschieden. Bei der Befruchtung verschmelzen
bekanntlich väterliche und mütterliche Erbanlagen zu einem
jetzt untrennbaren neuen Erbgut. Die ersten Entwicklungsvor-
gänge (Furchung) setzen normal ein, die Frucht ist also ein-
heitlich. Jetzt erst teilt sie sich in zwei Hälften, aus' jeder Hälfte
wird ein ganzer Keimling. Die ihnen vorher gemeinsame Erb-
masse ist dabei mit geteilt. Infolgedessen sind diese beiden
Früchte „erbgleich". Man nennt sie eineiig oder identisch
(EZ). Die Spaltung einer solchen Fruchtanlage kann ver-
schieden früh erfolgen. Tritt sie bald nach den ersten Zellfur-
chungen ein, noch vor der eigentlichen Differenzierung in sog.
Embryoblast und Trophoblast, muß jedes der beiden jetzt ge-
trennten Eier seine eigene Eihaut (Chorion) und Schaf haut
(Amnion) bilden. Die Teilung kann aber auch erst erfolgen,
wenn schon ein sog. Embryonalknoten und Embryoblast ge-
bildet sind. Dann ist schon eine gemeinsame Fruchthülle ent-
standen, dagegen bildet sich die Schafhaut doppelt. Man
spricht dann von „monochorisclien" Zwillingen. Endlich kann
die Teilung noch etwas später erfolgen, wenn der Embryonal-
schild und der Primitivst reifen schon gebildet sind. Dann hat
sich auch das Amnion schon entwickelt und die Zwillinge haben
gemeinschaftliches Chorion und Amnion. Die monochorisclien
Eineier sind erheblich häufiger als die dichorischen. Die Pla-
zenta ist bei monochorisclien immer einfach, bei dichorischen
doppelt, gelegentlich aber durch Verschmelzung auch einheit-
lich. Der sog. Eihautbefund gibt also keine Sicherheit über die
Entstehung und Art der Zwillinge. Dies um so weniger, als
gelegentlich sogar sicher zweieiige Zwillinge ausnahmsweise in
einer gemeinschaftlichen Hülle sein können, wahrscheinlich
104 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN.
durch Einreißen oder Schwund der vorher vorhandenen Scheide-
wand (Steine r) 1 ).
Es wurde vermutet (v. Vcrschuer, Curtius), daß es
noch eine Art der Entstehung von Zwillingen gibt, die der
ersten, zweieiigen nahe steht. Es könnten sich etwa durch Än-
derung der zweiten Reifeteilung eines Eies statt Ei und ent-
wicklungsunfähigem Richtungskörperchen zwei befruchtungs-
fahige Eikerne bilden, oder anders ausgedrückt, ein Richtungs-
körperchen befruchtungsfähig sein. Beide würden dann je von
besonderem Samenfaden befruchtet. Der Unterschied von der
ersten Art ist die Gemeinsamkeit des Stadiums des Ureies und
der ersten Reifeteilung. Auch diese Zwillinge wären natürlich
zweieiige und erbverschieden. Aber eine Unterlage dafür, daß
solche Fälle vorkommen, besteht nicht.
Unvollkommene Trennung eines sich entwickelnden Eies
führt zu Doppelbildungen, also Verdoppelung der vorderen
oder der hinteren Hälfte des Körpers, wie man sie in den ver-
schiedensten Graden bei Tier und Mensch kennt.
Wahrscheinlich kann aber auch Verschmelzung vorher getrennter Keime
zu solchen Doppelmißtaildungen führen.
Drillinge, Vierlinge usw. können ganz verschieden zusam-
mengesetzt sein, etwa nur eineiige oder ein- und zweieiige ge-
mischt. Auch drei Drillinge können eineiig sein.
Die Frage endlich, was die letzte Ursache für die Ent-
stehung der EZ und ZZ ist, ist noch stark umstritten. Die
meisten Autoren, Davenport, Dahlberg, vor allem aber
Curtius und v.Verschuer 3 ) glauben, daß die Entstehung
von EZ und ZZ gemeinsam .auf dem Vorhandensein eines: 1 Erb-
faktors beruht. Man stellt ihn sich als Spaltungstendenz vor.
Er kann in der Ei- oder Samenzelle liegen, er dürfte rezessiv
sein. Lenz 2 ) hält den Beweis nicht für erbracht. Greulich 8 )
betont einen Erbfaktor für die Bildung von ZZ, lehnt einen
für EZ ab.
Wenn nun wirklich EZ erblich vollkommen gleich sind,
erhebt sich die Frage, ob und wieweit nun alle ihre Eigen-
schaften phänotypisch auch wirklich gleich sind. Der Augen-
r ) Steine r. Nachgeburtsbefunde bei Mehrlingen und Atmlichkeits-
diagnose. Arch. Gyn. Bd. 159, 1935.
3 ) Lenz. Zur Frage der Ursachen von Zwillingsgeburten. Arch. Rass.
Ges. Biol. 27. 1933. v. V e r s c h u e r. Antwort, dgl. Lenz, Meyer. Ebd.
3 ) Grculic h. TIeredily in Human Twimiing. Am. Journ. Phys. Anüir.
Vol. XIX, 1934.
ENTSTEHUNG DER MEHRLINGSSCHWANGERSCHAFT. 105
schein lehrt, daß das nicht der Fall ist, aber er lehrt zugleich,
daß EZ immerhin die ähnlichsten Menschen sind, die es über-
haupt gibt. Schon ein erster Blick zeigt im allgemeinen, daß
die Ähnlichkeit der EZ außerordentlich viel größer ist als
die von ZZ,
Auf dieser Tatsache beruht die Zwillingsforschung, die in
den letzten Jahren ungeheuer ausgebaut worden ist und eine
der wichtigsten Methoden der menschlichen Erbforschung über-
haupt darstellt. Da die Ungleichheiten der EZ ausschließlich
auf Umweltwirkung beruhen müssen, die der ZZ aber auf Erb-
wirkung und auf Umweltwirkung, da weiter in größeren
Zwillings reihen Art und Grad der Umweltbeeinflussung der
EZ und ZZ gleich groß sind, zeigt uns der Ähnlichkeitsunter-
schied zwischen beiden Gruppen für jede Eigenschaft den An-
teil von Erbe und Umwelt. Die Methoden zur Prüfung und
teilweise ziffernmäßigen Auswertung werden unten erörtert.
In sehr seltenen Fällen sind eineiige Zwillinge nicht völ-
lig erbgleich. Theoretisch kann bei dem einen irgendein Gen
mutieren. Praktisch wird dieser Fall als extremste Ausnahme
ohne Bedeutung sein. Dann können weiter bei der zur Zwil-
lingsbildung führenden Teilung der embryonalen Anlage erb-
ungleiche Zellteilungen auftreten, wie sie in Form von Chro-
mosomenstörungen z. B. bei Drosophila nachgewiesen sind.
Auch diese Erscheinung dürfte praktisch für die Forschung
wegen der außerordentlichen Seltenheit ohne größere Bedeu-
tung sein.
Starke Umwelteinflüsse wirken schon vor der Geburt auf
die Zwillinge ein. Bei der Geburt sind EZ und ZZ bezüglich
Gewicht und Länge gleich unähnlich. Die Geburtsdifferenzen
nehmen dann (nach v. Verschuer) in den ersten sechs Mo-
naten bei beiden Zwillingsarten allmählich ab. Bei den EZ
geht diese Abnahme in den nächsten Monaten noch weiter,
dann ist ein gewisser Grad von Ähnlichkeit erreicht, der be-
stehen bleibt. Bei den ZZ dagegen nimmt die Unähnlichkeit
gleichmäßig zu, bis ein bestimmter Grad endgültig erreicht ist.
Gewicht und Körpergröße zeigt ähnliche Verhältnisse, v. Ver-
schuer konnte zeigen, daß auch besonders die Kopfform vor
der Geburt starke Verschiedenheiten bei beiden Zwillings-
arten aufweist. Die bei der Geburt vorhandene Verschiedenheit
der Schädclform gleicht sich bei EZ teilweise wieder aus. Das
ist die erbliche Tendenz. Dieselbe bedingt, daß bei ZZ die Ver-
schiedenheit der Schädelform während der Jugend umgekehrt
106 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
zunimmt. Ähnliches gilt von den Körperproportionen und ande-
ren Dingen. Für Einzelheiten muß auf das Schrifttum, vor allem
auf die Schriften von v. Verschuer verwiesen werden. Das-
selbe gilt für die Frage von den Asymmetrien bei eineiigen
Zwillingen.
Die Erbforschung der letzten Jahre hat an einem Zwillings-
material von sicher annähernd ioooo EZ und ZZ zahlreiche
anatomische, physiologische, pathologische und psychologische
Einzelheiten durchgeprüft und immer wieder eine geradezu
Staunen erregende Ähnlichkeit aller dieser Merkmale bei EZ
festgestellt. Es ist klar, daß bei ihnen solche Eigenschaften,
die von der Umwelt gar nicht beeinflußbar sind, vollkommen
gleich sein müssen, daß ganz gering beeinflußbare wenigstens
sehr ähnlich sein müssen, dagegen solche, die sehr stark von
der Umwelt abhängen, unähnlicher sein müssen. Bei ZZ wird
sich demgegenüber ein starker Unterschied zeigen. Wenn da-
gegen eine Erscheinung von Umwelteinflüssen abhängt, die auf
fast alle Menschen gleich wirken, werden EZ und ZZ keine
Unterschiede zeigen. Dies gilt z. B. von den Zwillingen beider
Arten, die an den ganz häufigen Infektionskrankheiten er-
kranken. Trotzdem werden auch hier erbliche Unterschiede
sein, deren Nachweis aber schwierig ist. (Man vergleiche die
betreffende Darstellung in Abschnitt 3.)
Die stärkste Probe für die Prüfung dieser Verhältnisse
wurde von Schiff und v. Verschue r 1 ) durch Untersuchung
der sog. Blutgruppen durchgeführt. So weit wir wissen, sind
die betreffenden Eigenschaften von Blutkörperchen und Serum
von Umweltfaktoren vollkommen unabhängig. Die beiden Auto-
ren konnten zeigen, daß EZ nicht nur bezüglich der Faktoren
für Gruppe A, A 1; B, AB und O, sondern auch bezüglich der
Blutfaktoren M und N ausnahmslos gleich waren. Bei zwei-
eiigen Zwillingen waren nur 640/0 gleich. Eine ebensolche ab-
solute Gleichheit von EZ kennen wir für kein anderes Merk-
mal. Aber eine sehr große Differenz zwischen EZ und ZZ
besteht für die Bildung des carabellischen Höckerchens am
Backzahn und für den sog. quantitativen Wert der Finger-
leisten (s. S. 145).
Derartige auf sehr umfangreichem Material (je über 400
Paare) beruhende Untersuchungen bringen den bindenden Be-
weis von der Zuverlässigkeit der Zwillingsdiagnose.
*) Schiff, F. und O. v. Verschuer. Serologische Untersuchungen
an Zwillingen. IL Mttlg. Z. f. Morph, u. Antlir. 32, 1933.
ZWILLINGSDIAGNOSE.
107
Z w i 1 1 i n g s cl i a g n o s e.
Zur Feststellung, ob es sich um EZ oder ZZ handelt,
wird heute die Ähnlichkeitsdiagnose durchgeführt. Sie beruht
auf der Untersuchung sehr vieler Merkmale auf ihre Ähnlich-
keit, besonders von solchen, deren Vererbung aus Kreuzungs-
bzw, genealogischen Untersuchungen schon bekannt ist, Gro-
ßenteils handelt es sich dabei um kleinste und feinste Einzel-
heiten. Man vergleicht die Blutgruppen und Blutfaktoren, alle
Einzellreiten der Physiognomie, die Papillarlinien der Finger
und Handflächen, die Hautgefäße usw. Alle in den folgenden
Abschnitten beschriebenen Merkmale, deren Erblichkeit fest-
steht, kommen in Betracht. Für die technische Durchführung
der beschreibenden und messenden Feststellungen muß auf
Einzelwerke verwiesen werden, eine technische „Anleitung"
kann hier natürlich nicht gegeben werden. Die folgende Ta-
belle (nach Diehl und v. Verschuer 1 ) gibt eine Vorstel-
lung von der sozusagen verschiedenen Brauchbarkeit einiger
Peristatische Variabilität bei
Empi-
Merkmal
EZ in 0/0
rische
Nr.
Völlige
Gleichheit
Gleichheit
mit
kleinen
Varia-
tionen
Größere
Unter-
schiede
(Diskor-
danz)
Diskor-
danz-
häufigkeit
in %
bei ZZ
1.
Blutgruppe ....--.
100
?
36
2,
Blutfaktoren M u. N ...
100
?
38
3.
Augenfarbe .......
86,5
13
0,5
72
4.
Haarfarbe ........
75
22
3
77
5.
Hautfarbe
87
13
55
6.
Haarform
99,5
0,5
21
7,
Augenbrauen .......
98
2
49
8.
Form der Nase
80—85
1 5—20
65—- 70
9
Form der Lippen
85
15
ca. 35
10.
Zungenfalten
84
11
5
40
M.
Form des Ohres
77
■21
2
80
12.
Hautgefäße .... . .
80
15
5
ca. 30—40
13.
Form und Stellung der Zähne
_
_
—
_
14.
Sommersprossen
70—75
25—30
45—50
15.
Fingerleisten (Quant. Wert) .
81
11
8
60
Erfahrungsgemäße Gleichheit und Ungleichheit einiger Eigenschaften
bei EZ und ZZ (nach Diehl und v. Verse h u e r).
!) A.a.O.
108 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
DOPPELGÄNGER. — ALLG. ERBANLAGEN.
1.09
Merkmale je nach ihren Manifestationsschwankungen bzw. der
Umweltbeciiifluß barkeit. Die rechnerische Bearbeitung ist in
Abschnitt 4 dargestellt.
In diesem Zusammenhang muß auf andere Fälle von Ähn-
lichkeit, d. h. von Gleichheit einer Anzahl Merkmale bei zwei
Menschen hingewiesen werden, wir nennen solche einander zum
Verwechseln ähnliche, nicht blutsverwandte Menschen Doppel-
gänger. Jankowsky 1 ) hat eine Anzahl solcher untersucht, er-
zeigt am physiognomischen Gesamtbild wie an einigen Kopf-
und Körpermaßen die große Ähnlichkeit, die sich auch auf
manche psychischen Züge erstrecken kann. Er betont mit
Recht, daß es sich dabei um den Besitz gleicher Erbanlagen,
oder besser gleiche Kombination einiger gleichen Erbanlagen
handeln muß. Es sind in der Tat Gleichheiten von als erblich
erwiesenen Bildungen. Er spricht deshalb von „unpersönlicher
Blutsverwancltschaft", was den Erbbefund gut ausdrückt.
Gleichzeitig müssen auch die Umweltwirkungen auf jene glei-
chen Erbanlagen gleich sein, damit das phänotypische Doppcl-
gängertum entsteht. So ähnlich oder gleich wie EZ sind Dop-
pclgänger niemals, eine Untersuchung der feinen. Einzelheiten,
wie sie die Zwillingsdiagnosc benutzt, zeigt ausnahmslos Un-
terschiede (Blutgruppen, Handabdrücke, Einzelheiten von Ohr,
Nasenboden usw.). Insofern ist solche Untersuchung von Dop-
pelgängern eine Stütze für die Sicherheit unserer Zwillings-
diagnosen.
2. Die einzelnen Erbanlagen.
Die Darstellung der Erbanlagen des Menschen gliedern
wir in drei Abschnitte, die normalen Erbanlagen für die kör-
perlichen Eigenschaften, die krankhaften Erbanlagen und end-
lich die Erblichkeit der geistigen Begabung.
Daß der letzte Punkt vom ersten getrennt ist, hat seinen
Grund darin, daß wir hier vor der schwersten Aufgabe stehen,
daß wir von der Erkenntnis der einzelnen Erbfaktoren noch
sehr viel weiter ab sind als in den beiden anderen Bereichen,
und daß man endlich die Vererbungscrscheinungen auf dem
Gebiet normaler geistig seelischer Anlagen und Leistungen
sehr viel leichter verstehen und darstellen kann, wenn man die
l ) Jankowsky. Die Blul Verwandtschaft im Volk und in der Fa-
milie. Stuttgart 1934.
Erberschcinungen auf dem Gebiet seelischer Störungen als
Unterlage hat.
In diesem Abschnitt sollen also nun die normalen Erb-
anlagen für die gesamten körperlichen Eigenschaften, anato-
mische, d. h. solche des Baues des Körpers und aller seiner
Teile, und physiologische, d.h. solche für den Ablauf aller Vor-
gänge im Körper, behandelt werden 1 ).
a) Die allgemeinen Erbanlagen.
Es ist heute selbstverständlich, daß restlos für Alles an
und im Körper einzelne Erbanlagen verantwortlich sind. Die
Entwicklung von der Befruchtung an, Aufbau des Körpers
und Einzelausgcstaltung, Aufbau, Form, Größe und Zahl aller
Organe oder Organteile, aber auch alle ihre Tätigkeiten, Funk-
tionen, sind, wie wir immer, mehr beweisen und erkennen, je
von einzelnen oder gemeinsamen Erbanlagen (Genen, Faktoren)
abhängig und geformt. Da wir die Wirkung von Genen nur
feststellen können, wenn sich Individuen mit für eine Eigen-
schaft ungleichen Genen kreuzen und fortpflanzen, können wir
das Vorhandensein aller dieser der ganzen Menschheit gemein-
samen Gene für normalen. Körper- und Organaufbau nur fest-
stellen, wenn ein Gen krankhaft verändert ist und der Träger
sich mit einem Normalen fortpflanzt. Das gilt selbstverständ-
lich wie für Pflanzen und Tiere so für den Menschen. Durch
Beobachtung zahlreicher erblicher Mißbildungen und Krank-
heiten (Drosophila !) konnte man auf diesem Weg feststellen,
daß tatsächlich die mendelnden Erbfaktoren sich nicht nur auf
sog. äußerliche Einzelheiten, beim Menschen etwa Augenfarbe,
Haarform, Scchsfingrigkeit oder dergleichen beziehen, son-
dern, wie gesagt, den gesamten Körper und alle seine Glieder
und Teile beherrschen.
Wir dürfen also auch für den Menschen zunächst beson-
dere, sagen wir, Regulierungsfaktoren der ersten Wachstums-
und Teilungsvorgänge des Eies und Keimes annehmen, die
vom Augenblick der Befruchtung an wirksam werden. Der Be-
weis dafür liegt in der Tatsache, daß beim Fehlen (bzw. krank-
hafter Veränderung) dieser Gene die Eier sich nicht normal
entwickeln, sondern mißbildct werden oder absterben. Man
1 ) Eine sehr eingehende Darstellung der Art gibt E. Fischer: Ver-
such einer Genanalyse des Menschen. Zeitschr. ind. Abst. 54. 1930. (Lk.
bis 1929 sehr ausführlich.)
110 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
spricht von Letalfaktoren. Grosser 1 ) schätzt, daß i o o/o
menschlicher Eier sich nicht richtig furchen, io<>/o als Keim-
blasen zugrunde gehen und weitere 5 — 10 0/0 im Lauf der näch-
sten Monate der Entwicklung pathologisch werden. Er zeigt,
daß das, zum Teil in noch höherem Flundertsatz, bei allen
daraufhin untersuchten Tieren der Fall ist. Damit hängt die
Übersterblichkeit männlicher Früchte zusammen, wie unten
gezeigt werden wird. Wie sich die von Spcmann u. a. nach-
gewiesenen Induktoren und Organisatoren der Entwicklungs-
mechanik zu bestimmten Genen verhalten, ist noch vollkommen
unbekannt.
Eine andere Reihe von Erbfaktoren regelt nun Wachstum
und Entwicklungstempo der einzelnen Organe und Organteile.
Beim Menschen konnte Hanhart 2 ) zeigen, wie die verschie-
denen Formen erblichen Zwergwuchses auf verschiedenen, teils
dominanten, teils rezessiven Erbanlagen beruhen. Einige be-
herrschen schon das Wachstum vor der Geburt (primordialer
Zwergwuchs), andere die frühe Kindheit (infantilistischer
Zwergwuchs), einige besonders die Knorpelbildung (Chondro-
dystrophie), andere zugleich gewisse Teile des Stoffwechsels
(Zwergwuchs mit Dystrophia adiposo-genitaiis). Jeder solche
krankhafte Erbfaktor beweist, daß ihm als Allel ein den be-
treffenden normalen Wachstumsvorgang beherrschender Fak-
tor entspricht. Einen Teil dieser Faktoren dürfen wir uns ein-
fach als Faktoren des Wachstumstempo vorstellen. Lan-
dauer 3 ) konnte zeigen, daß beim Huhn ein einzelnes domi-
nantes Gen chondrodystrophischc Verkürzung der Extremitäten
hervorruft (Abb. 33). Die dadurch entstehende sog. Rasse des
Krüperhuhns zeigt nun außerdem auffällige Mißbildungen am
Schädel und an den. Augen (Abb. 34/35). Diese treten beihomo-
zygoten Individuen auf, die am Leben bleiben; die meisten
Homozygoten sterben aber nach einer Entwicklungsdauer von
etwa 72 Stunden. Man stellt also fest, daß die eigenartige
Verbindung von Skelett- und Augenmißbildungen „durch die
doppelte Quantität eines Gens hervorgerufen (wird), das in
einfacher Dosis (nur) chondrodystrophische Störungen des
Skelettwachstums zur Folge hat". Landauer zieht daraus
x ) Grosser. Frühentwicklung, Eiliautbildung usw. (Deutsche Fraucn-
kunde V). München 1927.
s ) S. Abschnitt 3 (Lenz).
3 ) Landauer. Untersuchungen über das Krüperhuhn. Zcitschr. mikr.-
anat. Forsch. 32. 1933 (Lit.). — Ders. Journ. Genet. 26. 1932 und Journ.
Hered. 24. 1933.
ALLGEMEINE MORPHOLOGISCHE ERBANLAGEN. 111
mit Recht den bindenden Schluß, daß beide Mißbildungen von
ein und demselben Gen abhängen. Dabei ist die eine an ciner
ektodermalen, zerebralen Anlage, die andere am Mcsoderm-
knorpel festzustellen! Es muß ein Gen allgemeiner Wirkung
auf Embryonalentwicklung sein, und Landauer konnte in
Abb. 33. Homozygoter Krüperhuhnembryo mit Extremilälenmißbildung.
(Nach Landauer.)
der Tat zeigen, daß sich normale Flühner- und homozygot
kranke Krüper-Embryonen verschieden rasch entwickeln und
offenbar die Wachstumshemmung bestimmter Teile und zu
bestimmten Zeiten nachher die Augcnmißbildung bedingt. Bei
so verschiedenartiger Erscheinung der Einzelmißbildungen an
einem Embryo hätte man an sich und von vornherein niemals
an die Wirkung eines einzigen Gens gedacht. Man muß bei
so verwickelten Genwirkungen zum Teil an Genwirkung auf
dem Umweg über Hormonwirkung denken. (Ärztlich gibt das
bezüglich mancher sehr verwickelter Syndrome sehr zu denken !)
Für den Menschen seien nur als Beispiele erwähnt, daß
uns die Erblichkeit gewisser Myelodysplasien, wie Bremer 1 )
sehr schön zeigt, das Vorhandensein verschiedener und kompli-
ziert ineinander arbeitender Gene für den normalen Schluß
des Wirbelkanals, die normale Ausbildung des Rückenmark-
rohres verraten, zugleich aber für eine ganze Anzahl Bil-
: ) Breme r. Nervöse Erkrankungen unter dem Gesichtspunkt der Ver-
erblichkeit. Aus: Wer ist erbgesund und wer ist erbkrank? (Herausg. W.
Klein) Jena 1935.
112 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
düngen, die davon sekundär abhängen. — Die Erblichkeit der
Zystennierc beweist, daß Gene vorhanden sein müssen, die den
normalen Entwicklungsvorgang der Umbildung der embryo-
nalen Urnierenbläschen in die Glomeruli beherrschen. Genau
Abb. 34
Abb. 35
Abb. 34 und 35, Schnitte durch das Auge
a) eines normalen 10 Tage alten Hühncrcmbryo mit der normalen
Kno q:> eise hiebt in der Beinliaut (Skleralknorpel).
b) eines homozygoten 12 Tage alten Krüperhuhnembryos ohne jede
Spur von Knorpel. (Nach L a n d a u e r.)
ALLGEMEINE PHYSIOLOGISCHE ERBANLAGEN.
113
so zeigt erbliche Haarlosigkeit, daß Erbfaktoren die Ausbil-
dung von Haarwurzeln und Haarbälgen wie das Wachstum der
Haare verursachen. Hierher würde Albinismus und normale
Farbbildung, Polydaktylie und normale Fingerbildung, Amelie
und normale Gliederbildung, Colobom und normaler Schluß
des Augenbechers, Wolfsrachen und normale Gaumenbildung,
Hüftgelenkluxation und normales Hüftgelenk, Rot-Grün-Blind-
heit und normaler Bau und Funktion der retinalen Zapfen und
vieles, vieles andere gehören; auch für die Größe und Form
des Augapfels und die Krümmung der lichtbrechenden Appa-
rate beweist die Vererbung ihrer Anomalien das Vorhanden-
sein normaler Gene beim Gesunden. Man vergleiche die Schil-
derung aller Erbleiden in Abschnitt 3, um zu sehen, daß, wie
gesagt, für alle und jede Bildung und Umbildung bald einzelne
getrennte, bald verwickeitere ganze Vorgänge oder Bildungen
gleichzeitig beherrschende Erbfaktoren anzunehmen sind. Fällt
einer aus, kann ein ganzes System sozusagen in Unordnung
kommen und eine sehr verwickelte Mißbildung erscheinen, in
anderen Fällen eine ganz beschränkte, z. B. eine einzelne weiße
Haarsträhne. Warum bald das eine, bald das andere, wissen
wir nicht. Hingewiesen sei noch darauf, daß wir allmählich
auch auf diesem Wege zum Verständnis der „Harmonie" des
Wachstums oder der Anordnung und des Verhältnisses von
Organen oder Körperteilen kommen. Kühne und Fischer
konnten zeigen, daß ein einziges Genpaar die gleichsinnige und
harmonische Entwicklung von Wirbelsäule, Rippen, Rücken-
muskeln, Pleura und Nervenplexus der Extremitäten restlos
beherrscht (s. S. 185).
Genau dasselbe gilt auf dem Gebiet der Physiologie im enge-
ren Sinne. Unser gesamter Stoffwechsel, die Erscheinungen im
Gebiet des Blutkreislaufs, des Nervensystems und der Sinnes-
organe hängen von zahllosen einzelnen Erbfaktoren ab. Auch
hier kann nur wieder an einzelnen Beispielen diese Tatsache, er-
wiesen werden. Es seien die als Alkaptonurie und Cy stimme
bekannte Störungen im Ablauf des Eiweißabbaues erwähnt.
Bei jener werden bestimmte Aminosäuren nicht bis zu Ende,
sondern nur bis zur Homogentisinsäure abgebaut. Sozusagen
die letzte Strecke des Abbaues unterbleibt. Die Erkrankung
beruht auf einem einfachen rezessiven Faktor (s.Afoschn. 3), den
man sich etwa als Fehlen eines Fermentes vorstellen kann
(Toenniessen). Es folgt aber daraus, daß alle normalen
Menschen einen dominanten Erbfaktor haben, der die Bildung
Baur-Fischer-J, enzl. 8
114 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
jenes Fermentes, jedenfalls die Endstrecke des Eiweißabbaues
beherrscht. Da weiter die Cystinurie in einer Unterbrechung
des Abbaues des schwefelhaltigen Eiweißbestandteiles auf der
Cystinstufe besteht, wozu die Anlage einfach dominant ist, müs-
sen alle normalen Menschen einen zweiten, uns dadurch be-
kannt gewordenen, und zwar rezessiven Faktor haben, der den
normalen Abbau von Cystin bis Harnstoff beherrscht. Aus die-
sen Tatsachen ergibt sich aber nun der so gut wie bindende
Schluß, daß es auch für die vorhergehenden sozusagen „Streic-
hen" des Eiweißabbaucs, vom Eiweiß bis zur Homogentisin-
säure bzw. zum Cystin, Faktoren geben muß, wir wissen nicht
wie viele, die die ersten Phasen des Umbaues bestimmen.
Daß wir diese nicht kennen, ist dadurch bedingt, daß, wenn
sie einem Menschen fehlten, dieser schon auf embryonaler
Stufe, sagen wir von der Zeit der Leberausbildung an, einen
Eiweißstoffwechsel überhaupt nicht haben würde und damit
als Embryo zugrunde ginge. Ein Fehlen dieses Faktors, den
wir uns dominant vorstellen müssen (sein Fehlen wäre rezes-
siv), kann gelegentlich tatsächlich vorkommen. So lange er
heterozygot bleibt, hätten die betreffenden Individuen einen
normalen Eiweißabbau, weil ihnen der normale dominante
Allelfaktor genügt. Wenn aber zwei Individuen mit der hetero-
zygoten Fehlanlage sich, kreuzen, werden 250/0 der Früchte den
Faktor beidelterlich erhalten, als Embryonen keinen Eiweiß-
stoffwechsel haben und 'absterben. Der Nachweis des Grundes
dieses Absterbens wird nie zu erbringen sein. Das sind
dann (sicher extrem selten, einzelne) solcher Fälle, wie sie
Grosser dem ungefähren Mengenverhältnis nach festge-
stellt hat.
Für den Kohlehydratstoffwechsel zeigt uns die Erblich-
keit des Diabetes, für den Lipoidstoffwechsel die sog. Spleno-
Hepato-Megalie nach Niemann-Pick die Beherrschung
durch bestimmte einzelne Gene. Die Erblichkeit von Allergien
(s. Abschn. 3) zeigt, daß auch für die entsprechenden feinen
normalen Reaktionen Erbfaktoren anzunehmen sind.
Es ist unmöglich und nach dem Gesagten wohl auch un-
nötig, im einzelnen auszuführen, daß entsprechend für die Gc-
fäßspannung, die Dauerhaftigkeit und Gesundheit der Gefäß-
wände, daß für die Eigenart der Leitungsvorgänge im Nerven
(s, „Tempo" S. 213), für das Funktionieren der Stäbchen und
Zapfen (s. Abschn. 3);, für den Eintritt der geschlechtlichen Reife,
des Wachstumsabschlusses, des geschlechtlichen Zyklus bei der
ALLGEMEINE PHYSIOLOGISCHE ERBANLAGEN.
115
Frau jeweils Erbfaktoren aus den entsprechenden erblichen
krankhaften Änderungen beweisbar sind.
Es steht noch als große Aufgabe vor uns, viele solche Ein-
zelheiten durch immer genauere Erbanalyse der Störungen in
ihrer Erbbcdingtheit zu erfassen, eine Aufgabe, die am Kran-
kenbett und durch physiologische und klinische Untersuchung
der Blutsverwandten erkrankter Menschen (bzw. Zwillinge)
gelöst werden kann.
Die Fragen nach dem Verhältnis einzelner Anlagen zum
betreffenden Erscheinungsbild, nach dem Vorkommen von mul-
tipler Allelie, nach gegenseitigen Beeinflussungen einzelner
Erbanlagen und andere sind noch ganz im Fluß, aber teilweise
gerade am Menschen zur Erforschung geeignet, weil wir, wie
schon erwähnt, für kein Tier so viel von Pathologie, Physiolo-
gie und Anatomie kennen wde für ihn. Auf die Bedeutung
all dieser Dinge für die klinische Medizin verweist E. Fischer 1 )
— eine Reihe sehr schöner Hinweise und Darstellungen bringt
Just 2 ).
Diese ganze verhältnismäßig neue Vorstellung, daß alle
morphologischen und physiologischen Erscheinungen von ein-
zelnen mendelnden Erbeinheiten abhängen, führt noch zu einer
anderen Betrachtungsweise. Die Stellung des Menschen zu den
anderen Säugetieren und im besonderen zu den Großaffen, am
nächsten zum Schimpansen (Schwalbe, Weine rt), ist na-
türlich durch Gemeinsamkeit bestimmter und Verschiedenheit
anderer Gene und Gengruppen bedingt. Nur Kreuzungen mit
jenen könnten das im einzelnen erweisen, und solche gibt es
nicht. Aber das Vorkommen z. B. gleicher Blutgruppen, d. h.
der sie bedingenden Agglutinationsgene beim Menschen und
Schimpansen, die wir ja als solche kennen, begründet obige
Annahme. Die Entwicklung des Menschen aus einer schim-
pansenähnlichen Großaffenform bestand im Ersatz gewisser,
nennen wir sie schimpansider Gene durch hominide und in der
Neubildung besonderer, erstmalig auftretender, rein hominider
Gene 3 ). Es bedeutet ein Vorgreifen auf spätere Ausführungen,
2 ) Fische r. Die heutige Erblehre in ihrer Anwendung auf den Men-
schen. Verhdlg. D. Ges. hin. Med. 46. Kongr. Wiesbaden 1934.
s ) Just. Multiple Allelie und menschliche Erblehie. Ergeb. d. Biol.
Bd. 12, 1935.
3 ) S. z.B. M ollis 011. Arteiweiß und Erbsubstanz. Z. f. Morph. Anthr.
(Fcstb. Fischer) 34. 1934.
116 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
wenn gleich dazugefügt wird, daß dann im Gensatz des ge-
wordenen Menschen abermals Verlustmutanten und Gewinn-
mutanten verschiedenster Art und zu verschiedener Zeit einzeln
und gruppenweise gehäuft auftraten: das war dann Rassenbil-
dung (s. diese). Ihre Einzelheiten sollen uns später beschäf-
tigen. ;
b) Erbanlagen der Färbung.
Hautfarbe.
Für die Farbe der Haut 'müssen wir eine ganze Anzahl ein-
zelner Erbanlagen annehmen. Dabei dürften multiple Allele
die Reihe von dunkel nach hell bestimmen mit Dominanz der
dunkleren Stufen über die helleren. Ein einfaches intermediäres
Braun für Mulatten gibt es nicht, es löst sich bei exakten Un-
tersuchungen, z, B. D a v e n p o r t s 1 ) auf Jamaika, in eine Reihe
von Spaltungen auf. Fischer 1 ) fand an Europäer-Hotten-
totten-Mischlingen seiner Zeit schon dasselbe.
Außerdem muß es aber noch polymere Faktoren geben,
die gewisse Einzeleigenschaften der Hautfarbe bedingen. So
scheint in der Negerhaut ein erblicher Gelbbestandteil zu sein.
Dafür spricht das Auftreten von Gelbfärbung bei Rückkreu-
zung von Mulatte mit Europäer, wo es vor allem am Daumen-
nagel und an der Nasenlippenfalte sichtbar wird, während nach
Davenports 8 ) interessanter Angabe die Kreuzung von Euro-
päern mit Australiern die verschiedensten Abschattierungen
von Dunkel gibt wie bei Mulatten, aber kein Gelb. Darnach
würde dem Australier der als rezessiv anzunehmende Gelb-
faktor der Negerhaut fehlen.
Es gibt aber offensichtlich auch ein dominantes Hell, d.h.
in der hellen Europäerhaut steckt noch ein Faktor, der viel-
leicht als Pigmentunterdrückungsfaktor aufgefaßt werden darf.
Davenport fand bei seinen Mulattenuntersuchungen bei hell-
Xhell-Kreuzungen eine nicht ganz unbeträchtliche Zahl dunkler
Nachkommen, Fischer dasselbe bei den Hottentottenbastards
und Rodenwalclt bei Kisaresen. Da wäre jener Faktor in
der Mendelspaltung ausgeschieden. Die seinerzeit von Hagen
als besonders auffällig erwähnte Erscheinung, daß Tamil-
!) Die in fast allen Abschnitten immer wieder zu nennenden grundle-
genden Werke: Davenport and Stagerda, Fischer (Bastards und
Genanalyse), Rodenwaldl, Dünn, v. Verschuer u. a. sind S. 289
aufgeführt.
2 ) Am. Jour. phys. Anthr. 8. 1925.
ERBANLAGEN DER HAUTFARBE.
117
Malaien- Mischlinge oft dunkler sind als beide Eltern, und daß
Portugiesen-Indier-Bastarde, unter sich fortgepflanzt, in vielen
Fällen fast schwarze Farbe bekommen sollen, läßt dieselbe
Deutung zu.
Daß bei Europäer-Polynesier-Kreuzung die F-t -Kinder so
hell wie die europäische Seite sind (Fischer) 1 ), zeigt eben-
falls einen Dominanzfaktor des europäischen Hell.
Einen besonderen dominanten Faktor hat das Gelb der
Mongolen. Es ist darnach genetisch von dem rezessiven Gelb
des Negers zu sondern. Die Dominanz des mongoliden Gelb-
faktors zeigt sich deutlich bei F-^Bastarden von Kreuzungen
zwischen Europäer und Chinese. Von 41 solchen waren nach
Tao a ) 3J gelblich, 2 braun, d. h. das Gelbe mehr zugedeckt,
und 2 kleine Säuglinge karminweiß. Bei diesen ist ein Nach-
dunkeln anzunehmen. Gates gibt auch für einen F^Bastard
von Portugiese und Tupi-Indianer eine Dominanz des gelben
Tones neben dem dunklen Ton an.
Lebzelter stellt fest, daß F t -Bastarde EuropäerXBusch-
mann gelb aussehen, also ist auch hier das Gelb dominant.
Weiter bestehen zweifellos bestimmte Verteilungsfaktoren,
die den Unterschied in der Stärke der Pigmentierung von
Rücken- und Bäuchseite, Streck- und Beugeseite der Glieder,
das Hellbleiben von Handflächen und Fußsohlen, auch bei
ganz dunkelhäutigen Rassen, regeln. Sie scheinen bei allen
Menschen gleich, bei Affen anders zu sein. Nach Frieden-
thal sind beim Tschego-Fetus im 4, Monat Hand- und Fuß-
sohlen hell wie beim Neger, während der erwachsene Affe sie
pigmentiert hat.
Dann dürfte man erbliche Unterlage für den Unterschied
des hellen Rosaweiß gegenüber mehr elfenbeinfarbenem Weiß
für die hellhäutigen Europäer annehmen. Ich glaube, daß es
nicht Erbfaktoren der Pigmentation, sondern der Hautbeschaf-
fenheit sind, etwa dichteres Bindegewebe und dickere Haut bei
Elfenbeinweiß. Die interessante Angabe von Holmes 3 ), daß
die Negerhaut gegenüber der europäischen viel geringere Nei-
gung zu gewissen Hauterkrankungen (Hautkrebs, Furunkel,
Erysipel usw.) hat, läßt uns noch andere Erbfaktoren der Haut
r ) Fischer, E. Europäer-Polynesier-Kreuzung. Z. Morph. Anthr.
2S. 1930.
r ) Tao, Chinesen-Europäerinnen-Kreuzung. Z. Morph. Anthr. 33, j 935.
3 ) II o 1 m e s. The resistant ectoderm of the Negro. Am. J. phys. Anthr.
12, )92&.
118 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
annehmen. Schon fast aufs pathologische Gebiet führt die Be-
sprechung von Sommersprossen. Die Erbanlagen dazu sind
viel verwickelter, als es auf den ersten Blick erscheint. Ihr Auf-
treten dürfte zunächst an einen dominanten Erbfaktor geknüpft
sein. Aber es kommt wohl ein besonderer Verteilungsfaktor
dazu. Die Gleichmäßigkeit bei eineiigen Zwillingen (Dek-
king) 1 ) spricht dafür. Zwischen den betreffenden Genen und
den bei der roten Haarfarbe beteiligten müssen irgendwelche
uns noch nicht bekannte Zusammenhänge sein. Karmin weiße
Haut zeigt viel häufiger Sommersprossen als gelblichweiß e,
bei der die allerstärksten Fälle nie vorkommen. AuchSkerlj 2 )
findet bei Sloweninnen Beziehungen, die sich aber im einzelnen
nicht fassen lassen.
Zum Erscheinungsbild der Sommersprossen wirken aber
auch Hormone mit, und zwar wohl sexuelle, wie die Änderung
der Zahl und Intensität der Sommersprossen bei ein und dem-
selben Individuum in verschiedenem Alter zeigt.
Man behauptet, daß Mischlinge von Europäern und Ja-
panern und von Japanern und Malaien besonders häufig stark
sommersprossig sind, genaue Untersuchungen scheinen aber zu
fehlen.
Noch mehr auf pathologisches Gebiet führt die Erschei-
nung des Albinismus und Melanismus. Für letzteren fehlen an
der Haut Beobachtungen (s. Haar).
Albinismus kommt bei allen Rassen vor, aber in sehr ver-
schiedener Häufigkeit. F. Sara sin 3 ) gibt eine sehr gute Zu-
sammenstellung der Befunde. In Hinterindien und einigen
chinesischen Provinzen ist Albinismus besonders selten, ebenso
auf Sumatra und Borneo, dagegen sind auf Banka und Bah
viele Albinos. Am meisten verbreitet ist der Albinismus bei
einigen Stämmen von Zentralamerika ( i Albino auf 2 — 300
normale Individuen), dann an der afrikanischen Westküste,
z.B. an gewissen Orten der Goldküste (1 : 100). In Europa
schätzt man 1 Albino auf 10—20000 Menschen. — Die Ver-
schiedenheit im Vorkommen dürfte teils in verschiedener Häu-
figkeit der Mutationen, teils in verschiedener Schärfe von Aus-
1 ) D e c k i n g. Ephclidcnuntcrsuchungcn zum Ausbau der Sieraens-
schen Methode zur Diagnose der Eineiigkeit. M. med. W. Nr. 29. 1926.
2 ) S k c r 1 j. Beiträge zur Anthropologie der Slovcnen. Z. Morph. Anthr.
28. 1930 und Anthr. Anz. 8. 1931-
3 ) S a r a sin, F. Die Anschauungen der Völker über den Albinismus.
Schweiz. Arch. f. Volkskunde. 34. 1936.
ERBANLÄGEN DER HAUTFARBE.
119
lese, größtenteils in verschiedener Stärke von Inzucht ihren
Grund haben.
Partieller und ah gemeiner Albinismus ist von einem, ein-
fach rezessiven Faktor abhängig, daneben ist ein geschlechts-
gebunden rezessiv sich vererbender partieller Albinismus beob-
achtet. Einzelheiten können hier nicht gebracht werden, eben-
sowenig über Pigmentmäler (s. Abschn. 3).
Auch die Unterhaut hat Pigmentierung. Von einzelnen Pig-
mentzellen in der Lederhaut, die ganz zerstreut und vereinzelt
angetroffen werden, kann abgesehen werden. Dagegen inter-
essiert eine Ansammlung verzweigter Pigmentzellen in großer
Menge in der Lederhaut oberhalb des Kreuzbeines. Durch sie
kommt der Sakralfleck zustande, der bei Neugeborenen far-
biger Rassen vorhanden ist. Wegen der tiefen Lage der Farb-
zellen erscheint der Fleck bläulich, er verschwindet dann im
Laufe der ersten Lebensjahre.
Er wurde 1853 von Ochsenius 1 ) als erstem Europäer
entdeckt, dann von Balz als Mongolenfleck wieder entdeckt
und fand seitdem vielfache Bearbeitung (grundlegend von
Adachi). Er findet sich außer bei allen Mongoliden (im wei-
teren Sinn) und Negriden auch bei den mediterranen und
orientalischen Europiden. ten Kate 2 ) findet ihn bei mehr
als der Hälfte von Araber-Berber-Kindern und Judenkindern
Nordafrikas, bei 1,13% Kindern von Griechen, Sizilianernusw.
Nach Untersuchungen von Kreuzungen zwischen Nord-
und Südeuropäern einerseits und Hawaier, Philippiner, Japaner,
Koreaner und Chinesen andererseits auf Hawai versuchen
Larsen und Godfrey 3 ) den Erbgang zu erklären durch
Annahme zweier Faktoren :
P als Faktor für die Ausbildung dieses Lederhautpig-
mentes, vj für dessen Fehlen, dieses rezessiv. Aber das Pigment
braucht zu seinem Erscheinen noch einen zweiten Faktor :
v ) Während die B ä 1 z sehe Entdeckung an japanischen Kindern be-
kannt ist und in der ganzen Lit. erwähnt wird — auch der Name Mongolen-
flcck kommt daher — , ist die Entdeckung des Fleckes an chilenischen
Indianern und Mestizen durch Ochsenius bisher völlig unbekannt ge-
blieben. Erst jetzt teilt sein Sohn mit (Jhrb. f. Kinderhlk. 128. 1930), daß
der Geologe Dr. h. c. Carl Ochsenius in einem Brief 1853 den Fleck
genau beschreibt, er wurde von den Chilenen Callana genannt.
2 ) ten Kate. Asservazioni sulle macchie turchine congenite nei
ragazzi tunesini et algerini. Riv. di Antr. 28.
3 ) Larsen and Godfrey. Sacra! pigment sports, a reeord of seven
hundert cäses with a genetic theory to explain its occurcnce. Am. J. phys.
Anthr. 10. 1927.
120 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
o, rezessiv, läßt den Fleck erscheinen, O verhindert ihn. Indivi-
duen mit dem Fleck müssen PPoo oder Ppoo sein, minde-
stens ein P muß da sein, auch wenn der „Presence"-Faktor
homozygot ist. Da nach der Statistik alle farbigen Rassen den
Sakralfleck haben, dürften sie alle PPoo sein, die nordisch-
weißen ppOo oder ppOO und die Portugiesen usw. PpOo. Die
Beobachtungen an den verschiedensten Mischlingen entspre-
chen dieser Auffassung. Daß unter einigen hundert Weißen
(Nord- und Mitteleuropa, z. B. in Wien, München und Buka-
rest) einmal ein Kind mit dem Fleck beobachtet worden ist, ist
durch gelegentliches Einkreuzen von Südeuropäern leichter zu
erklären als durch solches von Mongolen. Die Verfasser ver-
gleichen es mit der Erscheinung etwa dunkelbrauner Schwe-
den oder blauäugiger Italiener.
Haarfarbe.
Die glänzenden Untersuchungen Nachtsheims 1 ) über
die Vererbung der Haarfarben bei Kaninchenrassen, das Er-
gebnis mehr als zehnjähriger fleißigster Arbeit, zeigen uns, wie
außerordentlich verwickelt die Erbunterlage ist. Sie konnte
nur durch ganz systematische Kreuzungen mit genetisch genau
bekanntem Zuchtmaterial festgestellt werden. Schon daraus
ergibt sich, daß eine sichere Feststellung der Einzelheiten für
den Menschen fast auszuschließen ist. Aber Nachtsheim
konnte auch zeigen, daß seine für die außerordentlich ver-
schiedenartigen H aarf arben der Kaninchen nachgewiesenen
Faktoren bei einer ganzen Reihe anderer Tiere, auch aus ganz
anderen Familien der Säugetiere, vollständige Parallelen haben
(Meerschweinchen, Katze, Hund, Pferd). Da nun die beim
Menschen in Kreuzung und Vererbung beobachteten Erschei-
nungen durch die Annahme entsprechender Faktoren, wie sie
jene Tiere haben, restlos erklärbar sind, ist diese Annahme
doch wohl berechtigt. Man muß sich bewußt bleiben, daß es
nur eine Arbeitshypothese ist, aber man gewinnt doch dadurch
eine Vorstellung und vor allen Stücken Fragestellungen für wei-
tere Forschungen. Ich halte diese Annahmen für um so berech-
tigter, als die Zwillingsforschung den bindenden Beweis bringt,
daß auch feinere Abstufungen der Farbtöne erblich sind.
1 ) Nachtsheim, Die Entstehung der Kaninchenrassen im Lichte
ihrer Genetik. Z. Tierz. u. ZüchUmgsbiol. 14. 1929.
Ders. Das Rexkaninchen und seine Genetik. Ztschr. ind. Abst. 52. 1929.
Mutationen und Rassenbildung bei den Pelztieren. Landw. Pelztierz.5. 1934.
ERBANLAGEN DER HAUTFARBE.
121
v. Verschuer (Die hl und v. V.) betont, in Übereinstim-
mung mit anderen Forschern, daß beiEZclieHaarfarbe ,, nicht
nur im allgemeinen Eindruck, sondern auch in der Verschie-
denartigkeit der Färbung einzelner Strähnen oder in der ver-
schiedenen Farbe von langem Haar am Ansatz oder Ende"
gleich ist. Kleinere Verschiedenheiten stellen sich gelegentlich
in der Wachstumszeit, verschieden schnelles Nachdunkeln, ein.
Sonst ist die Gesamttönung fast immer gleich. Von 215 EZ~
Paaren haben 75,80/0 völlig gleiche Haarfärbung, von 156
ZZ-Paaren nur 7,1 0/0. Es müssen also auch die feinere Tönung
bestimmende Faktoren da sein, die Aufgabe ist nur, sie zu
finden.
Die Haarfarbe beruht auf kleinen Pigmentkörnchen (wenn
ich hier von Oberflächenstruktur, Fett- und Gasgehalt usw. ab-
sehe). Man findet hellere und dunklere, braune und schwarze
Körnchen, dichtere und lockerere Lagerung. Man findet weiter
rote Körnchen und ziemlich sicher noch eine diffuse rote Fär-
bung. Die Entstehung der Körnchen ist ein Oxydationsprozeß
(Janko wsky 1 ), Salier 2 )). Ob die dunkelbraunen Körner
„durch Übergänge" mit den schwarzen verbunden sind, wie es
Salier darstellt, oder ob die beiden, wie ich glaube, verschie-
den sind, spielt keine große Rolle. In beiden Fällen sind es
eben Unterschiede im Ablauf oder Grad des Oxydationsvor-
ganges. Ablauf und Grad aber werden von einzelnen unter-
schiedenen Erbfaktoren abhängen, etwa genau wie der che-
mische Vorgang des Eiweißumsatzes sozusagen in Strecken
zerlegt ist, die von einzelnen Erbfaktoren beherrscht werden
(s. S. 113). Auch die roten Farbkörner (einschließlich des et-
waigen diffusen Farbstoffes) stellen Oxydationsprodukte dar,
offenbar besonderer Art und, wie ich glaube, abhängig von be-
sonderen Erbfaktoren. Die Sonderung der Pigmentkörner zei-
gen auch spektrophotometrische Untersuchungen von Bunak
und Sobolewa, die eine braune, eine graue und eine rote
Reihe annehmen. Dasselbe habe ich schon rein nach der äußer-
lichen Farbe 1907 vertreten. Ich glaube, eine Färb reihe (Oxy-
dationsreihe) geht von hellem, reinem Grau (silberig oder
aschenfarbig) über dunkleres Grau zu echtem Schwarz, eine
*) Janko wsky. Beitrag zur Frage der Haarpigmente. Zeitschrift
für Rassenphys. 5. 1932 mit Nachtrag. Ebenda.
2 ) Salier und Maroske, Chemische und genetische Untersuchun-
gen an menschlichen Pigmenten, speziell demjenigen des Haares. Zeit sehr .
f. Konstit. -Lehre Bd. 17. 1933. (Lit.)
122 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
zweite Reihe von hellem Gelb über Gelbbraun (ohne rötlichen
Ton) zu tiefem, dunklem, schwärzlichem Braun. Und eine
dritte Reihe geht von lichtestem Rotgold über Feuerrot zu
dunklerem, leuchtendem Rot. Oxydationsstufen der verschiede-
nen Reihen können an demselben Individuum beobachtet wer-
den. Ich stelle mir vor, daß jene Art Oxydation, die die Rot-
reihe macht, von Erbfaktoren abhängt, die als Mutation aus
den anderen entstanden sind. Diese Mutation tritt bei den mei-
sten Säugetieren gelegentlich auf (Rutilismus). Rassenmäßige
Sonderung ist wohl nur für die beiden anderen Reihen einge-
treten (s. unten). Die Erbfaktoren für die Entstehung der
Haarpigmente sind von denen für die Entstehung der Haut-
pigmente bis zu einem gewissen Grad unabhängig (die chemi-
schen Vorgänge wohl auch nicht ganz dieselben), aber irgend-
welche starken Zusammenhänge bestehen doch (s. unten). Die
Vorstellung dieser Farbreihen, deren Vorhandensein in jüng-
ster Zeit Bryn 1 ) in sehr schönen Untersuchungen in Nor-
wegen bestätigt („cenclre Blonde" und „Gelbblondc" mit eige-
nen Ausbreitungsgebieten), ist die Voraussetzung für die An-
nahme ähnlicher Erbverhältnisse, wie sie Nachtsheim, wie
gesagt, zunächst für das Kaninchen herausgearbeitet hat. Er
zeigt, daß alle Haarfarbenrassen dieses Tieres, deren man
mehrere Dutzend kennt, von der Farbe des Wildkaninchens
ableitbar sind, von dem ja auch alle in der Tat abstammen.
Für das Wildkaninchen wird als ursprünglicher Genotypus der
Haarfarbe das Vorhandensein von fünf ursprünglich homo-
zygoten Faktoren angenommen: A, B, C, D, G 3 ).
Dabei ist A der Grundfaktor für die Pigmentierung über-
haupt, a verhindert diese, macht also totalen Albinismus. B, C
und D sind die eigentlichen Pigmentfaktoren. Und G ist ein
Verteilungsfaktor, der beim Kaninchen jene Farbverteilung
macht, die wir Wildfarbe nennen. Für den ursprünglichen
Menschen, vor seinem Zerfall in Rassen, nehme ich dann ent-
sprechend als Erbformel an A, B, M, r, G. Da eigentliche Rot-
farbigkeit (R) nirgends als Rassenmerkmal auftritt, war sie
ursprünglich nicht vorhanden; ich könnte ebenso den Buch-
staben r weglassen. In der obigen Formel würde A wie beim
Kaninchen der Grundfaktor für die Pigmentierung sein, a würde
x ) Bryn und Schreiner. Die Somatologie der Norweger. Skrit
Nor. Akad. Oslo mat nat. Kl. i, 1929.
a ) Ich lasse mit Nachtsheim je den 2. Buchstaben auch in allen
folgenden Formeln der Einfachheit halber weg, er ist selbstverständlich.
ERBANLAGEN DER HAARFARBE
123
also, wie wir es überall in der Menschheit gelegentlich fest-
stellen können, totalen Albinismus, also weißes Haar machen.
Es ist bekanntlich rezessiv gegen das dunkle. G ist ein Vertei-
lungsfaktor. Er müßte also die Verteilung, d. h. die Verschie-
denheit der Ffaarfarbe auf ein und demselben Kopf oder die
Verschiedenheit zwischen Kopf und Körperhaar, aber auch an
ein und demselben Haar regeln. Salier macht auf das Vor-
kommen von deutlich verschiedenen Haaren besonders aufmerk-
sam. Ich habe 1907 auch schon darauf hingewiesen. Über die
Verteilung wird nachher noch zu sprechen sein. Die Faktoren
B und M wären dann (entsprechend Nachts hei ms Kanin-
chenfaktoren B, C,D) beim Menschen die eigentlichen Pig-
mentfaktoren. Dabei würde B eine braune Farbe, M (Melanis-
mus) eine schwarze bedingen. Der Mensch mit der Formel
ABMG hätte also eine normale Pigmentbildimgsfähigkeit (A),
eine normale (in ihrer Art jetzt einmal nicht näher zu erör-
ternde) Verteilung seiner Farben (G) und dunkelbraunschwar-
zes Ff aar (BM). So könnte man sich den ursprünglichen Men-
schen vorstellen. B und M haben natürlich kein gegenseitiges
Dominanz-Rezessiv-Verhältnis, da ein solches nur zwischen Al-
lelen besteht. Rassenbildung tritt nun auf, indem ein Gen weg-
fällt, z. B. dasjenige für braun. Solche Individuen haben dann
die Formel AbMG. Dieses Haar wäre wirklich schwarz. Echt
schwarzhaarige Rassen wären also durch eine Genmutation
aus der Ursprungsform entstanden. Hat umgekehrt das andere
Farbgen mutiert, entstand die Formel AB mG. Das gibt ein dun-
kelbraunes Haar. Man könnte natürlich auch als ursprüngliche
Form das Schwarz und dann das Braun als erste neu aufge-
tretene Mutante oder umgekehrt auffassen; es ändert am Er-
gebnis nichts.
Eine Anzahl Autoren, z.B. Piabe, haben nun Intensitätsfakto-
ren angenommen. Man kann das tun und könnte nun die Stufen
von Schwarz nach Grau und parallel von Braun her nach Hell-
braun und Blond durch solche Intensitätsfaktoren erklären. Die
zahllosen Experimente am Kaninchen lassen uns aber noch eine
andere Erklärungsmöglichkeit sehen. Wir können uns, wobei
ich ganz den Ausführungen Nachts heims folge, an Stelle
des Allelenpaares Aa eine albino tische Allelenserie vorstellen.
Nachts heim führt aus, wie a an Stelle von A jegliche Me-
laninbildung aufhebt, so daß weißes Haarkleid und farblose,
d. h. rotleuchtende Iris auftritt. Aber, fährt er fort: „Außer
diesen beiden Extremen Aa sind uns heute hier weitere Fak-
124 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN.
toren bekannt, die wir mit a chI , aa, a m und a u bezeichnen, und
die, ihrer phänotypischen Wirkung nach betrachtet, Zwischen-
stufen zwischen A und a darstellen. Keiner von diesen Fak-
toren erlaubt eine volle Melaninbildung, wie sie bei Anwesenheit
von A vor sich geht, unterdrückt aber auch andererseits die Me-
laninbildung nicht vollständig, wie es a tut. Die vier Faktoren
leiten von dem einen Extrem, der vollen Ausfärbung, Schritt
für Schritt zu dem anderen Extrem über, dem vollständigen
Albinismus." Ich glaube, das paßt auch für den Menschen ganz
ausgezeichnet. Die unter der Annahme der Albino-Allelen-Serie
analysierten Kaninchenrassen zeigen bei dem stufenweisen Farb-
verlust über chinchilla-f arbig, bräunlich, schmutzig-weiß, rus-
senfarbig bis weiß auch die verschiedensten Stufen von hell-
brauner, grauer und blauer Iris. Bekanntlich sind Neger-
Albino, auch manche Albino bei uns, nicht weißhaarig, sondern
zeigen gelbliches oder gelbblondes Haar. Ebenso kennt man
Neger-Albino mit blauen Augen, bei denen also Pigmentbil-
dung im retinalen Apparat noch möglich war. Auf allerlei Stu-
fen amniotischer Entfärbung macht Harris 1 ) bei den sog.
weißen Indianern in San Blas aufmerksam. Ich habe in meiner
Domestikationsarbeit den Beweis zu erbringen versucht, daß
grundsätzlich kein Unterschied ist im rein anatomischen Ver-
halten von Iris, Haut und Haar zwischen manchen Stufen von
Albinismus und blondhaarig-blauäugig-weißhäutigen Rassen,
bei Tier und Mensch.
Wenden wir diese Vorstellung auf den Menschen an und
drücken wir sie in einer allerdings ganz hypothetischen Erb-
formel aus, so müssen wir zwischen A und a eine Anzahl Stu-
fen einfügen. Da wir nicht wie beim Kaninchen Chinchilla-
farbe, Marderfarbe usw. annehmen können, .liegt zunächst die
Annahme einfacher Intensitätsstufen nahe. Wieviele solcher, ist
ganz unsicher. Diese Albino-Allelen können sich dann mit der
braunen wie mit der schwarzen und mit der ursprünglich
schwarzbraunen Rasse verbinden. Wir bekämen beispielshalber :
ABmG dunkelbraun Iris braun
a 4 BmG braun
blond Iris hellbraun, gesprenkelt,
grau, grün usw.
hellblond Iris blau
ajBmG fahlblond Iris blau
a BmG weiß Iris rot
a 3 BmG
a 2 BmG
x ) Harris. The San Blas Indians. Am. J. phys. AnLhr. 9. [926.
ERBANLAGEN DER HAARFARBE
125
a 4 bMG
a 3 bMG
a 3 bMG
Ganz entsprechend sieht die Kombination dieser Allelen-
serie mit M aus :
AbMG schwarz Iris schwarzbraun
dunkelgrau
mittelgrau Iris hell
hellgrau Iris grau ? blau ? hellgrün ?
a ± bMG silber Iris grau ? blau ? hellgrün ?
a bMG weiß Iris rot.
Eine entsprechende Reihe ließe sich natürlich auch für die
ursprüngliche Formel ABMG aufstellen.
Mit Nachts heim müssen wir uns auch für den Men-
schen vorstellen: „Der Faktor, der die stärkere Melaninbil-
dung bedingt, ist immer dominant über den Faktor, der die
schwächere Melaninbildung hervorruft."
Es ist nicht ausgeschlossen, daß entsprechend wie beim
Kaninchen die Albino-Allelen nicht nur rein stufenweise De-
pigmentierung machen, sondern verschiedenartige helle Farb-
wirkung, Chinchilla usw., so auch beim Menschen allerlei
Nuancen der blonden Töne auf derselben Basis entstehen. Man
sieht doch ab und zu Menschen mit fahlem Blond, fast weißen
Augbrauen, blaßblauen Augen, die sehr lichtempfindlich sind.
Man hat deutlich den Eindruck eines nicht vollständigen Albi-
nismus. Lotsy und Goddijn beschreiben solche verschie-
denen Grade bei südafrikanischen Mischlingen.
Ich will hier gerne noch clazufügen, daß, wenn sich Sal-
ier s Annahme bewahrheiten sollte und schwarzes Pigment
und braunes Pigment an sich dasselbe ist, daß wir dann statt
B und M nur einen Farbfaktor annehmen müßten und sämt-
liche blonden Nuancierungen auf die Wirkung der Albino-
Allelenreihe schieben müßten. Es scheint mir theoretisch we-
niger wahrscheinlich, aber die Entscheidung wird Mikroskopie
oder chemische Untersuchung liefern, vielleicht auch glücklich
beobachtete Menschenkreuzungen.
Bei dieser ganzen Darstellung wurde nun von der Rot-
haarigkeit ganz abgesehen. Für diese muß man im Rahmen
dieser ganzen Theorie einen durch. Mutation neuaufgetretenen
Faktor R annehmen. Da es den Anschein hat, daß Rothaarig-
keit unter Braunen und Goldblonden häufiger vorkommt als
etwa unter den schwarzhaarigen Mongolen und Negern, darf
man die Mutante vielleicht in Beziehung zum Faktor B bringen.
Von ihm hätte sich der Faktor R als neuer Faktor: abgespalten.
Chemisch ausgedrückt, es ist noch eine neue zweite Art des
126 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Oxydationsganges entstanden, der zu einem roten Endprodukt
führt — dieser chemische Vorgang wird vom Faktor R be-
herrscht. Er kann neben dem anderen herlaufen! Sein Fehlen
(r) läßt nur den anderen Oxydationsvorgang zu. Ich möchte
aber annehmen (mit Conitzcr 1 ), daß es auch niedrigere
Stufen von R gibt, also nicht nur R und sein Fehlen r, sondern
etwa noch eine oder zwei Mittelstufen, r v r 2 , die den Prozeß
nicht bis zu ausgesprochenem Rot, sondern nur bis gelb oder
rötlich führen. Eigenartig muß das Verhältnis von A zu R sein.
R ist von ihm, soviel wir sehen können, unabhängiger, als es
die anderen Pigmentfaktoren sind. Es wird vielleicht nur durch
den a-Zustand ganz unterdrückt, nicht aber durch a ± , a 2 , a 3 , a ± .
Aber wir wissen noch nichts Genaues darüber. Beobachtung
von Rothaarigen unter Halb- und Ganz-Albinos wären hier
von Wichtigkeit. Immerhin weise ich auf die außergewöhnlich
weiße und empfindliche flaut und helle lichtempfindliche Augen
mancher Roten hin! Ich stelle mir also R als einen eigenen
Erbfaktor vor, der bei vielen Menschen vorhanden ist, meist
aber fehlt. Er hat dann zu B und M keinerlei Dominanz- oder
Rezessivverhältnis, sondern ist, wenn vorhanden (R), dominant
über seine Allele r. Das scheint zunächst den Beobachtungen
und interessanten Stammbäumen S allers (a. a. O.) zu wider-
sprechen. Ich glaube aber, man kann diese Stammbäume doch
in Einklang mit obiger Hypothese bringen. Der Faktor R
kann bei ABmG oder auch bei a 4 BmG-Individuen, die dunkel-
braun oder braun aussehen würden, auftreten. Wir sehen dann
von diesem Rot entweder nichts, weil es durch den B-beding-
ten braunen Farbstoff zugedeckt wird (zudecken wörtlich zu
nehmen, nicht im Erbgang). Oder aber das braune Haar sol-
cher Individuen hat einen etwas stärkeren rötlichen Schimmer.
Man würde also ein Individuum mit der Erbformel ABmGR
nicht oder kaum unterscheiden von einem ABmGr. Noch mehr
gilt das von r t — während AbmGq noch gelbrot erscheint I
Wahrscheinlich würde in der M -Reihe ein R noch stärker zu-
gedeckt sein und unserer Beobachtung entgehen. Wenn aber
nun im Albinofaktor einzelne von den unteren Mutationsstufen
seiner Allelenreihe auftreten, a 2 oder a :L , dann erkennt man das
R sofort. In den S all er sehen Stammbäumen, in denen er den
Rotfaktor als rezessiv auffaßt, würde ich die Sachlage also so
deuten, daß eine Rezessivität der niedrigen a-Stufen gegen die
höheren besteht. Bei den hohen und bei A sieht man dann .'auch
2 ) Conitzer. Die Roüiaarigkcit. Z. Morph. Anthr. 29. 1 93 1 .
ERBANLAGEN DER HAARFARBE
127
etwa vorhandenes Rot nicht und deswegen mußte es Salier
für rezessiv halten. Zum Studium des Rot sind nach meiner
Auffassung Bevölkerungen wie die, mit deren Haaren Salier
arbeitete, Rialaien, Melanesien-, ungünstig. Das konnte Salier
nicht wissen. Kranz 1 ) bestätigt, es an Eskimos. Ich hätte wegen
der Auffälligkeit und des z. B. von N euhaus 2 ) geschilderten
Vorkommens von Rothaarigkeit im Malaiischen und Melanesi-
schen Archipel vor Sa Hers Arbeit solche Studien auch für
ganz besonders wichtig und interessant gehalten. Gerade S al-
lers Arbeit hat mich auf den richtigen Weg geführt. Ich will
ihn nicht irgendwie als eine Lösung bezeichnen, sondern nur
und einzig als Arbeitshypothese. Meine früheren Vorstellungen
gebe ich damit auf. Die nächste Aufgabe ist wohl die Verfol-
gung eines sehr reichen Materials von Rothaarigen in einer
blonden Bevölkerung. Die größere Häufigkeit Roter neben
Blonden gegenüber Dunklen wäre demnach nur äußerlich, in-
dem wir das Rot bei den Dunklen nicht sehen. — Daß zur Er-
kennung des Rot eine halbalbinotische Aufhellung des Braun
gehört, zeigt die Beobachtung von Neuhaus 3 ), daß die
Roten neben den Papuas am Sattelberg stets „hellere Haut-
farbe" hatten. Auch Schellong 4 ) sagt von den Zabim : „Die
Haarfarbe ist schwarz; sehr selten kommt auch rötliches Haar
mit ebensolchen kurzen Wimpern vor. Solche Individuen haben
dann zugleich die hellste Färbung der Flaut." — Vielleicht ist
die Rotfarbe im ganzen viel häufiger als man denkt ! Wenn der
Rotfaktor wirklich aus mehreren Allelen besteht, verstehen wir
hell und dunkel, sichtbar und weniger sichtbar, sog. brandrot
und fuchsrot oder andere Einzeltöne. Sie könnten andererseits
natürlich auch durch die Wirkung der a x , a 2 und b D b 2 usw.
bedingt sein. Auch Kecrs 5 ) hält die rote Farbe für bedingt
durch eine selbständige Allelreihe.
Noch bedarf der Verteilungsfaktor G einiger Worte. In
genau entsprechender Form wie etwa beim Kaninchen und vie-
len anderen Tieren wirkt er beim Menschen nicht. Der Mensch
x ) Kra n z. Die Haare von Ostgrönländern und wcstgrönländischen
Eskimo-Dänen-Mischlingen. Wiss. Ergebn. Deutsch. Grönl. Exp. Wegener.
Bd. 6. Leipzig 1930/31.
2 ) N e u h a u s. Deutsch Neu-Guine.a. Berlin 191 1.
3 ) N e u h a u s. Deutsch Neu- Guinea, Berlin 191 i.
i ) Schellong. Beiträge zur Anthropologie der Papuas. Zeit, Ethn.
23. 1S91.
5 ) IC e e r s. Über die Erblichkeit des menschlichen Kopfhaares, Arch.
Kass. Ges. 27. 1933.
128 EUGEN FISCHER, D/E KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
hat eine typische Verteilung dunkler und heller Haarfarben
auf Rück- und Vorderseite nicht. Dagegen kommen doch auch
Farbunterschiede zwischen Kopf- und Körperhaar und zwi-
schen den einzelnen Haaren auf dem Kopf vor. Häufig sind
die Haare auf dem Vorderkopf heller als die auf dem Hinter-
haupt. Beim Mann ist sehr häufig Bart und Körperhaar mehr
rot als das Kopfhaar, häufig auch heller als das Kopfhaar,
jedoch so gut wie niemals dunkler. Dagegen haben sehr viele
Blondinen dunkles Schamhaar. Wie weit das nun wirklich von
einem Verteilungsfaktor abhängt und nicht etwa nur hormonal
bedingt ist, muß ich offenlassen,
Von Hormonwirkung abhängig ist auch die Erscheinung
des Nachdunkeins, die Lenz 1 ) geklärt hat. Meine eigene frü-
here Annahme eines Dominanzwechsels ist damit durch eine
bessere ersetzt. Ein Farbwcchsel setzt gelegentlich schon gleich
nach der Geburt ein. Man beobachtet bei uns ab und zu Neu-
geborene, die dunkelhaarig sind und dann in den ersten Le-
bensmonaten diese Härchen durch ganz helle ersetzen. Nach
Lenz hat in solchen Fällen das betreffende mütterliche Hor-
mon die Bildung reichlichen Haarpigmentes bei der Frucht
erlaubt. Nach der Geburt genügen die eigenen Hormone des
Kindes nicht für stärkere Pigmentbildung, das Kind ist blond.
Später, wenn die Geschlechtsorgane, die die Hormone abgeben,
reifen, dunkelt es nach. Der Grad des Nachdunkeins unter dem
Einfluß der Hormone hängt von Art und Zahl der erblichen
Pigmentanlagen ab. Bei Rassen mit sehr großen solchen An-
lagen sind eben dann schon Kinder so dunkelhaarig, daß kein
nennenswertes Nachdunkeln zustande kommt. Ebensowenig
aber kommt solches bei rein blonden Rassen vor, „weil die
wenigen Pigmentanlagen auch bei maximaler Aktivierung nicht
ausreichen, um wirklich dunkle Pigmentierung zu bewirken".
Bei Kreuzung Blonder und Dunkler verursacht die verschie-
dene Mischung von Pigmentanlage und aktivierenden Hormo-
nen das verschieden starke und zeitlich verschiedene Nach-
dunkeln. Dies ist der von mir zuerst an den Bastards beschrie-
bene Zusammenhang von Nachdunkeln und Bastardierung.
Zur Erscheinung des Nachdunkeins gehört es wohl auch, daß
gelegentlich Rothaarige später braunhaarig werden. Ich halte
das für ein Nachdunkeln des Braun, das dann die nach wie
vor bestehende Rothaarigkeit zudeckt.
x ) Lenz. Muß das Nachdunkeln der Haare als Dominanzwechsel auf-
gefaßt werden? Arch. Rass. Ges. Biol. 16. 1925.
ERBANLAGEN DER IIAAREARBE
1.29
Sehr interessant sind die Feststellungen, daß Australicr-
kinder eine rötliche KÖrperbchaarung" haben (K 1 a a t s c h ),
ebenso Akkakindcr (S t uhlm ann) ! ) und solche in Neukaledo-
nien (Sa ras sin). Diese relativ reiche rötliche KÖrperbchaa-
rung der Kinder verschwindet nachher. Das erwachsene Kör-
perhaar ist bei diesen Rassen natürlich wie das Kopfhaar
schwarz. Das dürfte nicht nur unter den Gesichtspunkt des
Nachdunkeins fallen, sondern uns noch die Wirkung stammes-
geschichtlich älterer Erbfaktoren zeigen, die dann durch die
Wirkung der jüngeren abgelöst wird.
Genauere Untersuchungen über etwaige Erbfaktoren be-
züglich früheren oder späteren Ergraucns fehlen. Es dürften
ebenfalls hormonale Dinge mitspielen. Und eine Verbindung
nach den oben vermuteten Verteilungsfaktoren könnte man in
der häufigen Erscheinung sehr ungleich frühen Ergraucns
etwa von Kopfhaar, Augbraucn, Bart, Schamhaar usw. er-
blicken. Über alle diese Dinge fehlt, wie gesagt, noch fast jede
Untersuchung. Wie lohnend sie wäre, zeigen die ersten Hin-
weise auf rassenmäßige Unterschiede im Ergrauen: Neger
scheinen später weiß zu werden als Europäer, Mulatten stehen
dabei zwischen beiden (Boas 2 ), Castellanos) 3 ).
Der Versuch, die Nachtsheimschen Ergebnisse der
Genetik des Kaninchenhaares auf den Menschen zu übertragen,
führt auch zur Möglichkeit der Erklärung des lokalen Albi-
nismus beim Menschen, d. h. der Erscheinung, daß nur eine,
oder fleckenweise zerstreut, eine Anzahl Haarsträhnen pigment-
los sind. (Derselbe fleckige Albinismus kann ja auch die Haut
betreffen, sog. Elsterneger, „Tigcrmäclchen".) Die Erschei-
nung dürfte auf einem eigentlichen Scheckungsfaktor beruhen,
wie wir deren mehrere bei zahlreichen Tieren kennen. Daß
beim Menschen mindestens gewisse Fälle von echtem Flek-
kungs-Albinismus sich als dominant vererbt erwiesen, zeigt,
daß es sich nicht um gewöhnliche Depigmentierung der Alle-
lenserie A . . . a handelt. Mit dem Fleckungsfaktor hängt bei
Kaninchen, wie Nachtsheim in weiteren sehr schönen Ar-
beiten zeigen konnte, die sog. Heterochromie, Verschiedenfar-
bigkeit der beiden Iris oder Fleckung ein und derselben Iris
zusammen (s. S. 134 und Ab sehn. 3).
l ) Nach mir mündlich gemachten Mitteilungen Gusindes gilt das
für alle inncrafrikanischen Pygmäen.
") B o a 5 und M i c h c 1 s o 11 , The G rayin g of Hair. Am. Journ. Phys.
Anthr. Vol. 17. 1932.
s ) C a s t e 1 1 a 11 o s. El Pelo en los Cubanos. Habana 1933.
E a u r - F i s c li c r - I y e 11 e I. 9
130 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Völliger Melanismus, wie wir ihn bei vielen Tieren sehen
(schwarzes Eichhörnchen, schwarzes Puma usw.), ist beim
Menschen nicht beobachtet. Aber er ist wohl auch nicht fest-
stellbar, da beim heutigen Fehlen völlig reinrassiger Blond-
rassen jedes schwarzhaarige Individuum unter diesen als das
Ergebnis von Kreuzung aufgefaßt wird; man kommt gar nicht
auf den Gedanken, daß etwa eine echte Melanismus-Mutation
vorliegen könnte. Ich habe zwei Fälle von partiellem Melanis-
mus beobachtet. Bei blonden, blauäugigen Männern fand sich
einmal oben am Scheitel und einmal am Hinterhaupt im Blond-
haar je ein beinahe talergroßer Fleck schwarzbrauner Haare.
Auch hier dürfte das Zusammenwirken eines Fleckungs- mit
einem Pigmentfaktor anzunehmen sein. Über die Vererbung
weiß ich nichts; die betreffenden Eltern der beobachteten Män-
ner sollen angeblich nichts Ähnliches besessen haben. Ganz
vereinzelte schwarzbraune Haare auf dem Körper oder Kopf
hellhaariger Individuen kommen oft vor.
Schließlich ergibt ein Blick auf die gesamten Rassen, daß
bei den meisten der M-Faktor homozygot vorhanden sein dürfte,
die meisten sind schwarzhaarig. Bei vielen dürfte derB-Faktor
homo- und heterozygot daneben vorhanden sein, was Dunkel -
braunhaarige zwischen den Schwarzen zur Folge hat, z. B.
Australier, gewisse Indianer u. a. Die Europiden dürften homo-
zygot, den Schwarzfaktor entbehren (mm). Die nordische Rasse,
die fälische und ostbaltische haben dann homo- und hetero-
zygot die verschiedenen Allelstufen des Pigmentierungsfaktors
A, also a 4 , a 3 , a 2 , a v Bei allen Rassen gab es Mutationen, die
zum Rotfaktor führten, so daß dieser heterozygot und homozygot
bei allen vorkommt, wenn auch in verschiedener Häufigkeit.
Dasselbe gilt dann von allen anderen genannten Faktoren.
Augenfarbe.
Die Iris der Säugetiere verdankt ihre Färbung einer dop-
pelten Pigmentierung. Die hinterste Irisschicht hat eine dop-
pelte Lage intensiv gefärbter Epithelzeilen (Netzhautepithel),
die allein schon genügt, die Iris lichtdicht zu machen gegen das
Augeninnere. Vor jener liegen dann im Irisgewebe eine Menge
großer und kleiner verzweigter Pigrnentzellcn, diese oft ganz
erfüllend. Von diesem, allen Säugetieren zukommenden Bau
gibt es nur eine Ausnahme : Bei einigen hellen Rassen der ver-
schiedensten Haustiere verliert die Iris im vorderen Gewebe
ihre Pigrnentzellcn teilweise oder ganz ; dadurch erscheint die
ERBANLAGEN FÜR AUGENFARBE.
131
Iris hellgelbbraun oder grau oder grün oder blau. (Letzteres
bei völligem Schwund der .Pigrnentzellcn; das stets bestehen
bleibende pigmentierte Irisepithel schimmert dann durch die
halbdurchsichtigen vorderen Irisschichten durch, was die Blau-
färbung verursacht.) Beim Menschen ist im allgemeinen die
Färbung wie bei den Säugetieren, also dunkel, nur rassenmä-
ßig kann auch hier wie bei jenen einzelnen Haustierrassen das
Pigment in der vorderen Irisschicht verloren gehen. So gibt es
genau entsprechend hellbraune, graue, grüne, blaue mensch-
liche Augen. Derselbe Verlust kommt Individuell vor, bei
partiellem Albinismus, man kennt .zahlreiche solche Fälle, z.B.
bei Negern, die dann blauäugig sind bei heller Haut und gelb-
lich weißem Haar. Bei völligen Albinos kann dann der Pig-
mentschwund eine Stufe weiter gehen, auch das hintere Iris-
epithel ergreifen ; dann ist die Iris lichtdurchlässig und er-
scheint infolge der durchschimmernden Blutfarbe rot.
Die naheliegende Annahme, daß das anatomische Fehlen
des vorderen Irispigmentes auf einer Verlust-Mutation beruht,
wird durch Beobachtung der Vererbung zunächst bestätigt.
Rein blaue Augen vererben sich im allgemeinen rezessiv gegen
graue, grüne, hellbraune und, ein vorhergehender Schritt des
Verlustes, diese rezessiv gegen die dunklen. Die dunklen sind
darnach (beim Europäer) teils homozygot, teils heterozyg~ot,
weshalb aus der Kreuzung dunkelX dunkel in vielen Fallen alle
helleren Stufen herauskommen können. Aber gegenüber die-
sem leicht übersehbaren Erbverhalten zeigten sich doch sehr
viel verwickeitere Verhältnisse. Unsere Vorstellung, daß blau
einfach ein rezessives Fehlen allen Pigmentes in der vorderen
Irisschicht sei, grau und grün usw. ein teilweises Fehlen und
eine verschiedene Verteilung des Restes, entspricht nicht der
Wirklichkeit. Wie Wcninger 1 ) zeigen konnte, bestehen außer-
ordentlich große Unterschiede in der Einzelstruktur der Iris,
die ganz offenbar erblich sind. Die sog. vordere Grenzschicht,
aus lockeren Zellen mit wenig Bindegewebsfasern und ohne
Blutgefäße aufgebaut, trägt sehr wesentlich zur Farbe der
Iris bei. Blaue Iris hat eine ganz zarte Grenzschicht und fast
pigmentlose Zellen. Braune Iris hat nicht nur stark pigmen-
tierte Zellen, sondern auch eine dicke Grenzschicht. Die Grenz-
schicht kann fehlen, kann mittelstark ausgebildet sein oder voll-
ständig erhalten. Von ihr hängt großenteils die ohne weiteres
1 ) W e n i n g c r , J. Irisstruklur und Vererbung. Zeit sehr. Morph.
Anthr. Bd. 34. 1934.
132 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
am lebenden Auge (besonders am hellen) sichtbare Zeichnung
von Streifen, Flecken, Ringen usw. ab. VVeninger zeigt in
prächtigen farbigen Abbildungen die ungeheure Verschieden-
heit bei verschiedenen Augen, andererseits eine verblüffende
Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern und eine geradezu
unglaubliche bei eineiigen Zwillingen.
Über den Erbgang dieser Dinge wissen wir noch nichts.
Sie versprechen aber erbtheoretisch und praktisch (z. B. Va-
terschaftsbegutachtung) eine große Bedeutung zu bekommen.
Diese Untersuchungen lassen also nun vermuten, daß neben
den Faktoren für Pigmentbildung bzw. stufenweisem Pigmcnt-
vcrlust noch Faktoren für Strukturunterschiede anzunehmen
sind. Dadurch würden folgende Erscheinungen verständlich,
wenn auch noch nicht erklärbar. Braune und dunkle Augen
haben nicht immer „volle Dominanz" über Blaugrau, wie Bryn
findet, es treten Mittelfarbige auf. Auch Helene Boas findet
bei der Kreuzung von blau mit blau 120/0 zu wenig blau. Die
bisherigen Versuche, die Erberscheinungen zu klären, etwa
durch. Annahme besonderer Typen der Irisflecken, ringförmig,
strahlenförmig, regellos, Davcnp r t 1 ), lösen die Frage nicht,
offenbar, weil sie sich auf die einfache Betrachtung der Iris
beschränken. W e n i n g c r (1. c.) arbeitet mit der Zcißschen
Flammerlampc, der .Raumbildkammer und stereophotographi-
schen Aufnahmen. Einstweilen müssen wir uns also mit der oben
angedeuteten vorläufigen Annahme begnügen. Ich halte auch
einen neueren Vorschlag von Bounak und Sobolewa 2 ),
wonach strukturelle Gruppen unabhängig von gewissen Far-
ben angenommen werden müssen, noch für keine Lösung.
Bei der Vererbung der Augenfarbe kommt aber weiterhin
noch eine Beziehung zum Geschlecht in Frage. Die Statistik
zeigt, daß in vielen Bevölkerungen das weibliche Geschlecht
mehr dunkle Augen hat als das männliche. Das gilt z. B. für
Schottland, Schweden, Dänemark, Finnen und Lappen. Da-
v empört gibt dafür eine Zusammenstellung. Sehr deutlich
ist die Erscheinung auch bei den indischen Chitpavans (nach
Karvc) 3 ). Dagegen fehlt diese Erscheinung bei vielen Grup-
pen in Osteuropa, Russen, russischen und polnischen Juden,
1 ) Davenport. Ra.cc crossing in Man. C. R. III Scss. Inst, intern.
Anthr. Amsterdam 1927.
2 ) Russisch mit deutschem Aus?Aig (Exp. Bjol. Serie 1925).
3 ) Karvc. Beobachtungen über die Augenfarben an Chitpavan-Brah-
manen. Zeitschr. Morph. Anthr. 28. 1931.
ERBANLAGEN FÜR AUGENFARBE.
133
Serben, Bulgaren. Man muß offensichtlich, wie es Lenz 1 )
schon lange getan hat, neben den allgemeinen noch eine ge-
schlechtsgebundene Erbanlage annehmen. Sie wäre wohl (D a-
venport) in Nordwestcuropa im Geschlechtschromosom hcr-
ausmutiert.
Wir kennen ja am Auge auch pathologische Erbfaktoren,
die geschlechtsgebunden sind.
Diese geschlechtsgebundene Erbanlage dürfte auch auf die
Haarfarbe wirken. Das Volk behauptet, dunkelhaarige Vater
und blonde Mütter hätten meist blonde Söhne und dunkle
Töchter. Es ist leider niemals nachgeprüft. Wenn wir eine Erb-
anlage für gewisse Pigmente im Geschlcchtsc.hrom.osom anneh-
men, müssen weibliche Individuen, die ja diesbezüglich homo-
zygot sind, häufiger diese dominante Farbanlage bekommen
als Männer. Tatsächlich ist die weibliche Bevölkerung entspre-
chend der dunkleren Augenfarbe in den vorhin genannten Ge-
bieten auch dunkelhaariger als die männliche. Im Erbgang
muß der Mann häufiger die Pigmentanlage von der Mutter als
vom Vater haben.
Beziehungen zur Hautfarbe sind noch nirgends untersucht.
Gates berichtet, daß bei Indianern bei ganz dunkler Haut
ausnahmslos dunkle Augen, bei etwas hellerer Haut aber aller-
lei Augenfarben vorkommen. Ein Erbfaktor wirke also gleich-
zeitig auf Auge und Haut, andere nicht. Dort sollen auch ohne
Mischung hellere Individuen mit helleren Äugen vorkommen.
Es wären also spontan Vcrlustmutationen aufgetreten.
Für die ganzen eben angedeuteten Beziehungen zwischen
Haar-, Haut- und Augenfarbe hat man in der Rassenlehre das
Wort Komplexion geprägt. Man versteht darunter die gleich-
sinnige Färbung von Haut, Haar und Iris. Bei der großen
Mehrzahl auch rassengemischter Individuen ist der relative
Grad der Pigmentierung an den drei Stellen übereinstimmend.
Es dürfte also einen gemeinschaftlichen, die einzelnen Pigment-
faktoren regelnden übergeordneten Faktor geben. Ich glaube
nicht, daß Übereinstimmung (Komplexion) nur zufällig ist, in-
dem entsprechende Einzel faktoren sich bei den zahlreichen
Kreuzungen häufiger treffen als nicht entsprechende. Aber
jener Faktor muß auch fehlen können, denn wir finden nicht
selten disharmonische Färbung. Dabei scheinen Haar- und
Irisfarbe viel seltener auseinander zu gehen, als LI aar- und
- 1 ) L e 11 7.. Über geschlechtsgebundene Erbanlagen für Augenfarbe.
Arch. Rass. Ges. 13. 1921.
134 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERB ANLÄGEN.
Hautfarbe. Aber man findet doch auch nicht ganz selten bei
uns blonde Individuen mit Haut, die gleichmäßig bräunt.
Es ist noch wenig darauf hingewiesen worden, daß man
bei uns an schwarzhaarigen und schwarzäugigen Juden des
sephardimschen Typus fast als Regel eine besonders weiße
pigmentarme Haut beobachten kann. (Ob auch bei solchen in
Südeuropa und Nordafrika ?)
Ähnlich wie bei der Haarfarbe haben wir auch an der Iris
die Erscheinung des Nachdunkeins, wenn auch, lange nicht in
dem Umfang wie dort. Helle und mittelhelle Augen dunkeln
bei uns teilweise in den ersten Lebensjahren etwas nach, ab
und zu sogar noch bei 10 — 12jährigen Kindern. Und ebenso
wie das Haar werden auch Augen im Alter heller. Aber eben-
falls nicht annähernd in gleichem Umfang. Wirklich dunkle
Augen (vor allem auch bei rein dunkeläugigen Rassen) blei-
ben dunkel. Dagegen werden grünblaue und tiefblaue heller
und mehr stahlblau oder grau. Ob es wirklich eine Pigmcnt-
und nicht eine Strukturänderung ist, steht nicht fest.
Die Erscheinung der Heterochromie (Farbverschiedenheit
von rechtem und linkem Auge) beruht auf sehr verschiedenen
Dingen, teils rein pathologisch auf Erkrankung bestimmter
Elemente des Sympathikusnervs, teils auf erblichem Vorhan-
densein eines Fleckungsfaktors. Der Nachweis dafür ist aller-
dings nur für das Kaninchen erbracht (Nachtsheim) 1 ).
Auch das Vorkommen von andersfarbigen Abschnitten (Sek-
toren) in einer Iris beruht auf solchem Fleckungsfaktor.
Auf rein pathologisches Gebiet führt die Erscheinung, daß
auch in der hintersten Epithclschicht der Iris kein Pigment ge-
bildet werden kann; es besteht totaler Albinismus; die Iris
leuchtet dann durch das Blutgefäßnetz, besonders die durch-
schimmernde Aderhaut, rot auf.
Das sog. Augweiß ist bei farbigen Rassen gelblich oder
schmutziggrau oder mit leicht braungelber Marmorierung. Die
tieferen Zellagen des Bindehautepithels sind hier stets pig-
mentiert, wie bei allen Säugetieren mit Ausnahme einiger ganz
helläugiger Haustierrassen. Auch hierfür müssen wir natürlich
Erbfaktoren annehmen.
Schließlich sei angeführt, daß die Form der Pigmentzellen
im Irisgewebe, ebenso aber auch Menge und Anordnung von
Pigment in der Sklera und Konjunktiva rassenmäßig sehr ver-
r ) Nachtshei m. Die genetischen Beziehungen zwischen Körperfarbe
und Augenfarbe beim Kaninchen. Biol. Zentralbl. 53. 1933.
ERBANLAGEN LVR TASTLEISTEN.
135
schieden sind, wie PI a u s c h i 1 d *) nachwies — also liegen
auch diesen Einzelheiten bestimmte Erbeinheiten zugrunde. Am
Lebenden erkennt man die Pigmentierung des ,, Augweiß", also
der Conjunctiva sclerac bei farbigen Rassen sehr deutlich; das
„Weiß" ist dort ersetzt durch Gelblich, oft mit deutlicher
dunklerer Marmorierung, oder mit einzelnen braunen Flek-
keil 2 ). Diese Färbung soll bei Mischlingen, in deren Ahnen
einmal ein Neger war, besonders lange sichtbar bleiben. Ge-
naue Angaben darüber fehlen, man wird bei Untersuchungen
von Mischlingen darauf achten müssen.
c) Erbanlagen für Tastleisten und Handfurchen.
Die Haut der Handfläche und Fußsohle ist an ihrer Ober-
fläche grundsätzlich anders gebaut, als die des übrigen Kör-
pers. Die Oberhaut trägt ein !f eines Leistensystem, die Papillar-
leisten oder Tastleisten (Dermoglyphcn). Die Leisten bedecken
die gesamte Haut und verlaufen in sehr eigentümlichen ver-
wickelten Figuren. Sie bilden sog. „Muster" (Pattcrns).
Die Tastfigurcn entsprechen den Tast- oder Sohlenballen
der Affen und anderer Säugetiere, sie legen sich auch beim
menschlichen Embryo zunächst noch in Ballenform an.
Über die Vererbung der auffälligen Muster hat zuerst
Galton Untersuchungen angestellt, auf ihn gehen die heu-
tigen Einteilungen großenteils zurück, vor allen Stücken auch
die Anwendung der Erscheinung zur Identifizierung von Ver-
brechern. Für diese Zwecke ist eine besondere Technik in
der Kriminalistik ausgebildet worden, die Daktyloskopie
(s. Heindl 3 ). Die Möglichkeit dazu ist gegeben einmal in
der Tatsache, daß das gesamte Leistenbild einer Hand, wenn
es einmal beim Embryo ausgebildet ist, das ganze Leben lang
unverändert bleibt. Die Leisten ändern sich nach Zahl und
in gegenseitigem Verlauf nicht mehr. Als zweite Tatsache
kommt dazu, daß die Kombinationsmöglichkciten der Figuren
so groß, daß die Zahl der die einzelnen Figuren zusammen-
setzenden Linien schwankend genug und daß endlich die Aus-
gestaltung jeder einzelnen Linie mit kleinen Unterbrechungen,
*-) Hauschi .1 d. Untersuchungen über die Pigmentation im Auge ver-
schiedener Menschenrassen. Zeit sehr. Morph. Anthr. Bd. 12. 1909.
2 ) Steiner. Ebenda Bd. 10. 1907.
3 ) Heindl, R. System und Praxis der Daktyloskopie, 2. Aufl. 1922.
3. Aufl. 1927.
136 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN,
Knickungen, Verdickungen, Gabelungen usw. so ungeheuer
groß ist, daß zwei vollkommen gleiche Hände überhaupt nie-
mals gefunden werden.
Für die Erblchre haben diese Linien erst Interesse ge-
wonnen, seit die mühevollen Arbeiten sehr vieler Forscher die
außerordentlich verwickelten Erbverhältnisse klar zu legen be-
gonnen haben. Ich bin überzeugt, daß in allernächster Zeit die
Prüfung dieser Linien in bestimmt gelagerten Fällen von Va-
terschaftsbegutachtung von mindestens ebenso großer Bedeu-
tung sein, wird wie Blutgruppen und andere Merkmale. Auch
für die Zwillingsdiagnose dürften sie weitaus das wichtigste
Merkmal sein, in einzelnen Fällen schon ganz allein dafür ge-
nügen. Den größten Fortschritt in dieser Forschung und
den größten Beitrag zur Lösung der zahlreichen Fragen
stellen die rasch aufeinander folgenden und in schönster
Folgerichtigkeit aufgebauten Arbeiten Kristine Bonne vi es
(seit 1923) 1 ) dar. Sie fußt auf den ersten Untersuchungen
Galtons, dann vor allen Stücken H. H. Wilders 2 ). Zu
nennen wären dann zahlreiche Arbeiten besonders der Wil-
der sehen 3 ) Schule, Cummins 3 ), Midlo u. a. Dann viele
Einzclbciträge von Japanern, Amerikanern und deutschen For-
schern (Abel 4 ), Bett mann, Loth, Poll, Schlagin-
häufen, v. Verse huer 5 )).
!) B o 11 n e vi c , K. Was lehrt die Embryologie der PapiHarmuster über
ihre Bedeutung als Rassen- und Familien Charakter ? Teil III. Zur Genetik
des quantitativen Wertes der Papillarmuster. Ztschr. f. indukt. AbsLamm.
u. Vererbungslehre. 1931, Bd. 59. H. r (Grundlegende Arbeit über die
drei Erbfaktoren).
Dies. Zur Mechanik der Papillarmusterbildnng. II. Anomalien der
menschlichen Finger- und Zehenbeeren, nebst Diskussion über die Natur
der hier wirksamen Epidermispolster. Wilhelm Roux. Arch. f. Eniwicklungs-
mechanik d. Organismen. 1932. Bd. 126. H. 2.
Dies. Vererbbarer Zercbrospinaldefekt ( ?) bei Mäusen mit sekundären
Augen- und Fußanomalien nebst TurmschädcLinlagc. Avhandlinger Utgitt av
Det Norske Vidcnskasps-Akadcmi I Oslo, j 93 1 .
~) Wilder, II. FI. und Wentworlli, B. Personal Indentiücation.
Boston [918.
3 ) Cummins. Dermaioglyphics in Jcws. . . . in Ncgrocs. . . . in In-
clians. Am. Journ. phys. Anthr. 10. 14. 15. 1927—30,
Ders. and Leche and Mac C 1 u r e. Bimanual Variation in palmar
dermatoglyphics. Am. Journ. of anat. 48. 193t.
*) Abel, W. Wissenschaftliche Ergebnisse der deutschen Grönland-
expedition Alfred Wegener. Leipzig 1929. 1930/31. Bd. 6. (Lit)
Ders. Hand- und Fingerabdrücke von Fcuerländern. Ztschr. f. Morph,
u. Anthrop. Bd. 34. 1934.
ENTSTEHUNG DER TASTLEISTEN.
137
Zunächst soll die Entwicklung der Leisten, dann das erb-
liche Problem behandelt werden, ich folge durchaus ßonnc-
vie. Schon im zweiten Monat der Entwicklung haben sich
kleine faallenförmigc Erhebungen mit Verdickung der Ober-
haut an den künftigen Fingerbeeren und in der Handfläche
gebildet. An der LIandfläche sind es vier solche oberhalb der
Fingerwurzeln und je eine auf Daumen und Kleinfingerballen.
Bald erscheinen dann noch auf dem Grundgelenk aller Finger
kleinere Pölsterchen (s. Abb. 36). Nun beginnt die Keim-
schicht der Oberhaut sich in feine Falten zu legen. An den Fin-
Abb. 36. Modelle von Händen menschlicher Früchte,
a vom Ende des 2. und b des 3. Monats, Vergrößerung a etwa 2ofach,
■ b etwa I5fach (nach Schäuble, Zeitschr. Ethn. 65. Jahrg. 1933).
gerbeeren beginnen solche in querer Richtung an der Furche,
die das Endglied (Abb. 36) g&g&n. das Mittelglied begrenzt,
und schreiten von hier nach der Fingerspitze fort. Am Nagel-
wall beginnt eine Faltung, die gegen die Kuppe hinaufschreitet,
und irgendwo auf der Höhe der Kuppe beginnt ein Falten-
system, das sich ring- oder bogenförmig ausbreitet. Dieses
kann auch an zwei Stellen auftreten, also doppelseitig sein.
An der Handfläche entstehen in derselben Zeit auf den Zwi-
Ders. Über die Frage der Symmetrie der menschlichen Fingerbeeren
und der Klassenunterschiede der PapÜlarmuster. Biologia Generalis, Bd. 9,
II. Hälfte. 1934. (Lit.)
fi ) v. Verscbuer, O. Zur Erbbiologie der Fingerleisten, zugleich
ein Beilrag zur Zwillingsforschung. Verhdl. d. Dtsch. Ges. f. Vererbungs-
wiss. 1934.
138 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
ENTSTEHUNG DER TASTLEISTEN.
39
schcnfingerballen ebenfalls kreisförmig fortschreitende Fal-
tungen, dann am Rand des Ballens ebenfalls solche, ferner ober-
halb der Beugefaltc der Fingergrundlinie und endlich solche
entlang den tiefen Beugefurchen (.Dreifingerfurche und Fünf-
fingerfurche) der Handfläche (Abb. 36) (nach Schäuble) 1 ).
Ähnlich werden auf dem Daumen- und Klcinfingerballen Fal-
tenbildungen entstehen, die aber noch nicht genauer untersucht
sind. (Am Fuß fehlen noch entsprechende Untersuchungen,
nur auf die grundlegende Arbeit von Schlagin häufen 2 )
sei verwiesen 3 ).
Eine genaue Untersuchung der Mechanik der Entstehung
dieser Falten liegt nur für die Fingerbecren vor (B onnevie).
Im folgenden sollen deshalb zunächst einmal nur die Tast-
linien der Fingerbeeren dargestellt werden.
Das gegenseitige Verhältnis der drei Faltensysteme wech-
selt. Die beiden von den Rändern der Beere kommenden bilden
Bogen. Sie können fast allein das künftige Muster, ein Bogen-
muster, machen. Die Falten von der Kuppenmitte machen
Schlingen oder Wirbel, um die herum dann nur Bogen ziehen.
Um diese Zeit sind die künftigen Flautnerven schon weit in
die Finger hineingewachsen und stoßen von unten gegen die
Flaut vor. B onnevie hat anfangs angenommen, daß die
Stelle, wo ein kleiner FI autnerv zuerst an die Haut wirklich
herankommt, den Mittelpunkt des beginnenden Musters bildet.
Der Nerv sei das Maßgebende.
Seitdem fand sie noch andere formende Einflüsse auf die
Musterung. In jenen Entwicklungsstufen kriecht unter der
Flaut seröse Flüssigkeit, ausgehend von der Hirnflüssigkeit
(an der vorderen Nachbimlückc austretend) über den vorderen
Teil des Körpers unter der Haut vorwärts bis in die Finger
hinein. Die Flaut der Fingerkuppe wird dadurch etwas hoch-
gehoben und bald mehr, bald weniger gespannt. Sic leistet
auch bald mehr, bald weniger Widerstand. Das hängt von der
1 ) Schäuble, J. Die Entstehung der palmaren digitalen Triradien.
Ein Beitrag zur Entwicklung der Hautleistenzüge der distalen Palma. Ztschr.
L Morph, u. Anthr. 1933. Bd. 31. H. 3.
2 ) Schlaginliaufen, O. Hautleislensystcm der Primatcnplanta.
Mit Berücksichtigung der Palma. Morph. Jahrbuch 1905. Bd. 33. II. 4;
Bd. 34. H. 1.
3 ) Einen kleinen kasuistischen Beitrag gibt L a s s 1 1 a. Anihrop. Un-
tersuchungen über die Form und das Leistenrclicf der Fußsohle bei der
Bevölkerung von Suomi. Ann. Acad. sc. Fennicae A. 31. Nr. 2 (Acta istit.
anatom. Univers. „Helsinski 1 92g).
Verschiedenheit der Menge und des Drucks der Flüssigkeit
und wechselnder Fiautdickc ab. Diese letztere scheint die Haupt-
sache auszumachen, je dünner die Flaut ist, desto höher wölbt
sich unter dem Innendruck die Fingerbeere, und diese Wöl-
bung zwingt zur Bildung sehr vieler Feisten. Je dicker aber die
Epidermis, desto weniger Wölbung, und die flache Beere bil-
det dann weniger Leisten. Die Verdickung der Epidermis
scheint aber an einzelnen Fingern auch noch örtlich zunehmen
zu können, an einzelnen oder benachbarten oder allen Fingern.
Man spricht dann von Epidermis„polstern". Wo solche Polste-
rung ist, ist also die Leistenzahl verringert 1 ).
Auf diese Weise sind allmählich die Fingerkuppen voll-
kommen bedeckt worden mit Leisten, die also nun bestimmte
und sehr verschiedenartige Muster bilden. Einiges dabei hängt
vom Zufall (Umwelt) der Verteilung und Menge der Flüssig-
keit ab, anderes von der Dicke im allgemeinen oder stellen-
weise, und diese Verhältnisse sind nach B onnevie erblich
('s. unten).
Fingerleisten.
Die fertigen Muster zeigen nun, wie gesagt, eine unge-
heure Vielfältigkeit. Man teilt sie ein in Bogen, Schleifen und
Wirbel (Abb. 37). (Ich folge in der ganz kurzen Beschreibung
dem praktischen Leitfaden von Geipel) 2 ).
1 2 3a 3b
Abb. 37. Schemalischc Darstellung von 1. Bogen, 2. Schleife, 3 a und b
Wirbel. Aus Geipel, Leitfaden (nach Wilder).
*) Ich persönlich glaube nicht, daß die Rolle des Nervs geringer ist,
als es Bonnevi e ursprünglich annahm. Er dürfte auch für die Ausbrei-
tung der Flüssigkeit nicht ohne Bedeutung sein. Daß der radiale und ulnare
Polsterungsfaktor (s. u.) mit den entsprechenden Nerven zusammenhängt,
glaube ich sicher. Hier müssen noch weitere Untersuchungen einsetzen.
z ) Geipel, G. Anleitung zur erbbiologischen Beurteilung der Fin-
ger- lind II an dl eisten. München 1935.
140 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
MUSTER DER EINGERLEISTEN.
141
Das Bogenmuster besteht aus bogenförmig quer über die
Fingerkuppe laufenden Linien. PI auf ig haben die einzelnen Li-
nien Gabelungen oder Unterbrechungen, aber grundsätzlich
ist nie Anfang und Ende der Linien auf der gleichen Seite des
Fingers (Abb. 38). Gelegentlich ist der Bogen so steil und
hoch, daß eine innerste Linie fast wie eine Achse wirkt. Man
nennt diese Bogen Tannenbogenmuster (engl, tented, d.h.zelt-
förmig) (s.Abb.38b,c). Da alle Leisten vom Grund des Fingers
bis zur Spitze gleichmäßig quer laufen, werden die Bogen-
muster als „kontinuierliche" bezeichnet.
Beim Schlcifenmustcr laufen die untersten Linien ebenfalls
quer, ebenso die an der Fingerspitze in hohem Bogen von einer
Seite zur anderen. Dazwischen aber liegen andere, die nicht
von einer zur anderen Seite gehen, sondern von einer Seite
kommen, umbiegen und zu ihr zurückgehen (s. Abb. 3?). We-
gen dieser zweierlei Anordnung wird das Muster „diskonti-
nuierlich" genannt. Immer entsteht durch diese Anordnung an
mindestens einer Stelle ein Punkt, wo sozusagen die querüber-
gehenden oberen und unteren Leisten auseinanderweichen müs-
sen, um für die Schleife Platz frei zu lassen. Ein solcher Punkt,
besser die kleine Lücke an der Stelle, heißt „Delta", es ist
immer ein Dreieck, da die auseinandcrweichcndcn querüber-
gehenden Linien sich an die äußerste Linie der Schleife an-
■Itl
Abb. 38. Verschiedene Muster, aus G e i p e .1 , meist nach Wilder.
a Bogenmuster, b Tannenbogcn, c desgl. mit verstärkter Mittelachse.
d Ulnare Schleife mit Delta bei T.
e Schleife, die leicht für Bogen gehalten werden kann — es ist eine
Schleife, weil sie ein Delta hat: bei dem Punkt in der Mitte des
Musters, f Muschelschleife (s. Text).
g li i Wirbel verschiedener Art (je 2 Dcltal).
k Zwillingsschleifc, d. h. zwei verschieden gerichtete Schleifen über-
einander geschoben.
1 m „Zufällige" Wirbel, d. h. sehr unregelmäßige Muster.
142 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
legen müssen. Die von den Ecken des Deltas ausgehenden Li-
nien bilden einen „Triradius'' (Dreistrahl). Die Schleife selbst
besteht aus einer Anzahl von Linien, die von einer Seite kom-
men und nach ihrer Umbicgung nach derselben Seite zurück-
laufen. Je nach der Seite, .von der die Schleife kommt und nach
der sie wieder geht, spricht man von radialer Schleife (von der
Daumensei tc her) und ulnarer Schleife (von der Kleinfinger-
seitc her). Das Innerste der Schleife kann eine einzelne Linie
sein, die im Mittelpunkt einfach endet, oder ein engster Schlei-
fenbogen, die Endigung heißt innerer „Terminus" (Abb. 39).
Auf eine Reihe von kleineren Einzelheiten, die aber für die
Praxis der Bestimmung bestimmter Werte bedeutungsvoll sind,
kann hier unmöglich eingegangen werden.
Eine besondere Art von Schleifen, die häufig vorkommen,
sind die, ich möchte sagen, überstürzten, invaded loops von
Wilder (Abb. 38 f). Liier sind die innersten Schlingen sozu-
sagen mißbildet, eingepackt in die äußeren, Geipel nennt sie
daher sehr gut „Muschelschleife" (Abb. 38 f). Ihre Enden
führen nicht wieder nach außen. Es sind Übergänge zu Wir-
beln, mit denen sie auch verwechselt werden können.
Die Wirbehnuster endlich zeichnen sich dadurch aus, daß
das eigentliche innere Muster sozusagen den Anschluß nach
beiden Seiten verloren hat. Infolgedessen müssen die es be-
grenzenden Bogen an mindestens zwei Stellen auseinander-
weichen, und es entstehen zwei Deltas (Abb. 37 g, h, i). Nach
deren gegenseitiger Lage und dem Verhältnis der Linien zwi-
schen ihnen, werden einzelne Unterarten des Musters unter-
schieden. Abgesehen davon kann nun das Muster selbst aus
geschlossenen Kreisen oder Ellipsen bestehen oder aus Spiralen.
Auch Doppelspiral.cn sind nicht selten. Bei der Spirale wie
beim ringförmig geschlossenen Muster kann mehr oder weni-
ger Kreisform, d. h. annähernde Gleichheit des Längs- und
Querdurchmessers oder Langform, d. h. starke A^erschicdcnheit
der Durchmesser vorkommen. Endlich können zwei getrennte
Musterkerne vorhanden sein; man spricht dann von „Doppeh
zentrizität" ; die Muster selbst heißen „zusammengesetzte". Je
nachdem die beiden Achsenlinien nach derselben Seite oder
entgegengesetzt (s. Abb. 38 k) verlaufen, spricht man von
„Seitentaschen" oder von „Zwillingsschleifen" (k). Schließlich,
wenn auch selten, kommt es noch zu ganz unregelmäßigen
Mustern, die sich in eine dieser schematischen Abteilungen
nicht einfügen lassen (s. Geipel).
MUSTER DER EINGERLEISTEN.
143
Zur Bestimmung der von Bonnevie auf unmittelbare
Wirkung von Erbfaktoren zurückgeführten Einzelheiten hat sie
eine sich offensichtlich bewährende, aber recht mühsame und
feine Methode ausgearbeitet. Festgestellt, werden muß die Zahl
der Pole der Muster, dann in vergleichbarer Weise die Zahl
der Linien aller Muster und endlich das Verhältnis der Größe
ihrer Durchmesser. Das erste davon ist einfach, es werden
Doppclpole (sog. „Doppelzentrizität") gesucht und notiert. Den
zweiten Punkt drückt man aus mit dem sog. „quantitativen
Wert des Musters". Es wird vom Triradius zum inneren Ter-
minus eine gerade Linie gezogen und abgezählt, wieviel Leisten
von dieser geschnitten werden (Einzelheiten müssen hier über-
gangen werden (vgl. Abb. 39a mit 39b). Endlich wird die Form
Site
Abb. 39. Zwei Schleifcnmuster mit eingezeichneter „Geraden" zur Zählung
der Leisten. Die Gerade läuft je vom „Triradius" zum „inneren Terminus".
Auf Abb. a werden sehr viele, auf b nur 6 Leisten von der „Geraden"
gekreuzt. (Nach Wilde r.)
des Musters durch den „Formindex" ausgedrückt. Er ist das
Verhältnis der Breite des Musters zu seiner Höhe. Die Höhen-
achse geht durch die Mittellinie des Musters, die andere senk-
recht dazu (Einzelheiten s. bei Geipel).
Bonnevie hat durch mühsame Untersuchungen von El-
tern und Kindern folgende Einzelheiten über die Erbunterlage
festgestellt. Die Zahl der Leisten eines Musters hängt, wie
oben gezeigt wurde, von der Epidermisdicke der embryonalen
Fingerbeere ab. Sie scheint nun erblich bestimmt zu werden
durch ein Gen V, das allgemeine „Epidermisdicke" aller Fin-
ger macht. Fehlt es, ist die Haut dünn. Wie sich oben ergab,
macht die dünne hochgewölbte Haut mehr Leisten. Man muß
für das Viel und Wenig nach der Erfahrung bestimmte Gren-
zen annehmen, wobei man aber bei der Gesamtdeutung von
Händen an der Grenze nicht zu ängstlich genau sein darf . Da es
144 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
sich bei V um einen Faktor für alle Finger handelt, beurteilt man
ihn nach den Fingern mit der höchsten Leistenzalü. Beträgt die
höchste Leistenzahl 22 und darüber, haben wir ganz dünne
Haut, der Verdickungsfaktor fehlt also, die Erbformel ist vv.
Ist umgekehrt die höchste Leistenzahl 15 und weniger, haben
wir dicke Haut, was dem Erbfaktor VV zu verdanken ist. He-
terozygote Formen haben eine mittlere Anzahl von Leisten,
also 16— 21, was der Erbformel Vv entspricht.
Zu dieser für einen Embryo erbeigentümlichcn allgemei-
nen Epidermisdickc kommt nun noch die Möglichkeit beson-
derer Verdickung an einzelnen Fingern, sog. Epidermispolster.
Sie legen sich, wie B onnevie bei der Untersuchung des Erb-
ganges in Familien fand, grundsätzlich getrennt an für die drei
ersten Finger, Daumen, Zeige- und Mittelfinger, und die beiden
anderen, Ring- und kleiner Finger. Man spricht von einem
„radialen" und einem „ulnaren" Polsterungsfaktor 1 ). Die Wir-
kung des Polsterungsfaktors macht sich nun geltend durch Ver-
ringerung der Leistenzahlen an den von ihm beherrschten Fin-
gern gegenüber dem von V abhängigen allgemeinen höchsten
Wert eines Fingers. Man bestimmt also die Differenz zwischen
dem höchsten Fingerwert (der überhaupt vorkommt) und dem
vorhandenen niedrigsten Wert eines radialen und eines ulnaren
Fingers, wobei man rechte und linke Hand getrennt untersucht.
Bei Polsterlosigkeit gibt es natürlich keine oder fast keine
solche Differenz, weil keine lokale Hautverdickung die Leisten
vermindert. Polsterlosigkeit oder Fehlen des Polsterfaktors
wird für die radialen Finger mit der Erbformel rr, für die
ulnaren mit uu bezeichnet. Die Differenz der Leistenzahlen ist
dann o bis 4, d. h., wie ich oben sagte, nicht oder fast nicht
vorhanden. Umgekehrt macht starke Polsterbildung, bedingt
durch das Genpaar RR bzw. UU, 10 und mehr Leisten Unter-
schied. PIcterozygote Formen haben mittelgroße Unterschiede,
5 — 10 Leisten und stellen den Genotypus Rr bzw. Uu dar.
Mit dieser etwas umständlichen, bei Übung aber doch
leicht durchzuführenden Untersuchung muß man also zunächst
den maximalen Fingerwert, dann den niedrigsten Wert der
radialen und der ulnaren Seite, dann deren Differenz feststel-
1 ) Es ist außerordentlich interessant, daß B o 11 11 e v i e rein aus dem
Bclimd an den Fingerbeercn gerade diese Fingcreinlcilung fand. Man denkt
an die Verteilung der Hauptnerven bzw. die embryonalen Segmente — hier
steckt also unter den betreifenden Genwirkungen eine stammesgeschichtlich
ganz alte Beziehung.
ERBANLAGEN DER FINGERMUSTER.
4-5
len und darnach den Genotypus bestimmen. Nach einer vor-
läufigen Feststellung für das untersuchte norwegische Material
kommt B onnevie zu folgenden Häufigkeitszahlen der Geno-
typen für den quantitativen Wert der Fingerleisten :
370/0 vv 50,50/0 Vv 12,50/0 VV
2,30/0 rr 38,40/0 Rr 59,3% RR
170/0 uu 53,5% Uu 29,50/0 UU
An deutschem (Berliner) Material, und zwar an 710 Zwil-
lingspaaren (K.-W. -Institut Dahlem) hat Geipel diese Ziffern
nicht nur grundsätzlich bestätigt; sondern gewisse Unterschiede
festgestellt, die rassisch bedingt sein dürften und eine Vertei-
lung der Erbanlagen gefunden, die der theoretischen Erwar-
tung fast vollständig entspricht. Er stellt mir freundlicherweise
folgende (noch nicht veröffentlichte) Tabelle zur Verfügung,
wo neben die gefundenen die theoretisch zu erwartenden Werte
in. Klammern zugesetzt sind:
410/0 ( 45j 6) vv 44 ; 20/o (43,9) Vv 14,80/0 (10,5) VV
6,5% ( 6,3) rr 34,00/0 ( 37;7 ) Rr 59,50/0 (56 ) RR
19,30/0 (20,5) uu 53,00/0 (49,6) Uu 27,70/0 (29,9) UU
Von diesen Hautdickenfaktoren hängen nun mittelbar auch
noch andere Einzelheiten ab. Ist bei dicker Haut die Finger-
kuppe flach, entstehen, fast nur Bogen. Ist sie umgekehrt stark
gewölbt, entstehen die sog. diskontinuierlichen Muster, Schlei-
fen und Wirbel. Wovon deren Form, Größe usw. dann im ein-
zelnen abhängen, ist nur wenig geklärt. Die embryonalen Fin-
ger sind in der Form der Fingerbeeren und deren Wölbung
sehr ungleich. Die meisten Finger sind in sich durchaus nicht
symmetrisch gebaut. Es scheint, daß symmetrischer Fingerbau
zur Entstehung von Kreis- und Spiralmuslcm Veranlassung
gibt, mit einem Mittelpunkt, schief gebaute Beeren dagegen
zu Schleifen oder auch zu doppelkernigen Mustern neigen. Der
4. Finger scheint am häufigsten symmetrisch zu sein. Wovon
diese Dinge abhängen, etwa von der Stellung und Haltung der
Finger gerade in der betreffenden embryonalen Zeit, wissen
wir nicht; hier spielen aber sicherlich embryonale (entwich-
lungsgcschichtliche) Umweltfaktoren die Hauptrolle.
Die Neigung zur Ausbildung von zwei Mittelpunkten scheint
nach den Familienuntersuchungen deutlich vererbt zu werden.
Abei' über Erbgang und Einzelfaktoren steht noch nichts fest.
Auch der Formindex, also das Längcnbreitenverhältnis der
Muster, scheint erblich zu sein. Schon B onnevie 1 ) hat das
x ) Bonncvie. Zeitschr. ind. Abs!:. 50. 1929.
Baur-Fischer-IiCiiz I. ^"
146 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
vermutet, Gcipcl und v. Verse hu er 1 ) erbrachten den Be-
weis. Dabei zeigte sich, daß die Norweger mehr elliptische, die
Deutschen mehr kreisförmige Formen haben. Der Erbgang
scheint intermediär.
Man sieht aus dieser Darstellung, wie außerordentlich ver-
wickelt das Spiel zahlreicher Erbfaktoren und umweltliche Ver-
hältnisse ineinandergreifen, und man versteht dadurch, daß es
Millionen von Kombinationsmöglichkeiten gibt. Unendlich viel
wird dabei noch erforscht werden müssen. Aber doch hat die
Arbeit, vor allem Bonnevies, im Laufe der letzten Jahre
von den Erbverhältnissen soviel geklärt, daß wir einen ersten
großen Einblick in das erbbiologische Geschehen einer ebenso
auffälligen wie verwickelten Erscheinung haben, wie sie das
bunte Bild der Tastleisten geben. Und praktisch kann man
schon erfolgreich damit arbeiten.
Die Untersuchungen an Zwillingen (Poll, Siemens,
K omai, C u m m ins, N e w m an, v. V e r s c h u e r , H a r a 2 )
und andere) haben das Vorhandensein von Erbanlagen nur
grundsätzlich bestätigt, aber für die Frage der embryonalen
„Umwelt" Wirkungen (entwicldimgsgeschichtliche Vorgänge)
keine Förderung gebracht.
Seit wir über die Beteiligung bestimmter Erbfaktoren an
der Entstehung der Fingermustcr unterrichtet sind, gewinnen
auch rein statistische Erhebungen über die Häufigkeit der ein-
zelnen Muster und ihrer Kombinationen bei verschiedenen Ras-
sen erst Bedeutung und Wert. Es hat sich gezeigt, daß die
Neigung zu Wirbeln, Schleifen oder Bogen bei den einzelnen
Rassen so deutlich verschieden ist, daß diese Unterschiede un-
möglich auf embryonalen Umweltwirkungen beruhen können.
Es müssen also die Rolsterungsfaktoren, wie vorhin erwähnt
der Formindex, aber vielleicht auch uns noch unbekannte Fak-
toren für Fingerwölbung oder Symmetrie und Asymmetrie der
Einzelfinger bei den einzelnen Rassen ungleich häufig sein. So
kann auch die rein statistische diesbezügliche Untersuchung
uns zur weiteren Aufhellung der Erbfaktoren führen. Nur in
diesem Sinn werte ich auch die besondere Methode, die Poll 3 )
ausgearbeitet hat, zur Darstellung der statistisch festgelegten
i ) G e i p e I und v. V e r s c li u e r. Zur Frage der Erblichkeit des Form-
index der Fingerleistenmuster. Eer. D. Ges. Vererbg. 1935.
2 ) H a r a , S. Untersuchung der Fingerleisten von Zwillingen. Z, Morph.
Anthr. 30. 1 932. (Lit.)
3 ) Poll. Seltene Menschen. Erg. -Heft Anat. Anz. 66. 1928.
ERBANLAGEN DER EINGERMUSTER.
147
Musterkombinationen an Tausenden von Händen einer Bevöl-
kerung (Kirchmair 1 ), Henckel 2 ), Fleischhacker 8 ) u. a.).
Er stellt die Verhältnisse dreidimensional, in Form dreieckiger
Säulen dar und nennt eine solche Wiedergabe Bimanuar (oder
für eine Hand Unirnanuar). Man ersieht mit einem Blick die
Häufigkeit bestimmter Musterkombinationen an einer oder bei-
den Händen. Auf diese Weise wurde festgestellt, daß bestimmte
Kombinationen sehr viel häufiger als andere vorkommen, ge-
wisse fehlen so gut wie ganz. Leider fehlt einstweilen jedes
Einarbeiten der Ergebnisse in die gewonnenen Vorstellungen
von den erblichen Unterlagen. Solange solche Einfügung nicht
erfolgt, ist es Spielen mit Zahlen. Beziehungen des „Manuars"
zu anderen Eigenschaften, z. B. Geisteskrankheiten, wie es
Kirchmair behauptete, sind nicht einwandfrei nachweisbar.
Daß die Rassen nicht unwesentliche Unterschiede in der
Häufigkeit von Bogen, Schleifen und Wirbeln haben, ist vor
allem durch japanische und amerikanische Forscher festgestellt
worden. Es handelt sich also, erbbiologisch ausgedrückt, um
verschiedene Häufigkeiten der Faktoren V, R, U und der an-
deren, uns noch nicht einzeln faßbaren Faktoren. Bei keiner
Rasse fehlt einer davon etwa ganz. Das sind also sehr ähnliche
Verhältnisse wie bei den Blutgruppen. Vielleicht wird die Kom-
bination mehrerer derartiger Eigenschaften für die Erkennung
der Rassenzusammenhänge doch noch einmal entscheidend
werden.
Von den vielen Einzelheiten kann hier nur einiges Wenige
gebracht werden. Die folgende Tabelle gibt einen kurzen Über-
blick; sie ist nach verschiedenen Forschern zusammengestellt
Henckel' 1 ), Abel 5 ), und Biswas 6 ), Cummins and
1 ) Kirchmair. Über relative und absolute Symmetrie der Papiliar-
mustcr bei gesunden :uncl kranken Populationen. Z. Morph. An ihr. 33.
1935. (Lit.)
2 ) Henckel. Beitrage zur Anthropologie Chiles. [.Über die Papillar-
linienmuster der Fingerbecren bei der Bevölkerung der Provinz Concepciön.
Zeilschr. Morph. An ihr. Bd. 31. 1933.
3 ) F 1 e i s c h h a c k e r. Untersuchungen über das Hautlcistensystem der
Hottenlolten-Palma. Anthr. Anz. 11. 1934.
*) 11 c n c k e 1. Über die Papillanriuslcr der Fingerbeeren bei Indianern
der Provinz Cantin. Zeitschr. Morph. Anthr. (Festb. Fischer.) 34. 1 934.
B ) Abel, W. Über die Verteilung der Genotypen der Hand- und Fin-
gerbeerenmuster bei europäischen Rassen. Bericht U. Ges. Vererbg. 1935,.
6 ) Biswas. Hand- und Fingerleisten der Inder. Ztschr. Morph. Anthr.
voraussieht!.. Bd. 35. 1 936.
148 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
S t e g g e r d a r ), wo die Literatur angegeben. Ich habe alle
Zahlen auf volle abgerundet, die Angaben über die Zahl der
Fälle weggelassen, Ergebnisse verschiedener Forscher über
die gleiche Bevölkerung zusammengezogen.
Wirbel
Schleifen
rc + li
Bogen
20
25
26
24
32
32
37
36
32
40
70
67—71
67
63
61
63
57
59
65
58
9
6
7
12
6
Nordamerikancr
5
4
Span. Chilenen
Aino -
5
3
2
25
32
191
66
59
76
10
1 I
5
43
53
4
Nias
34
45
45
45
51
42
37
39
34
47
72
63
53
52
52
48
56
56
58
61
48
27
3
2
3
3
1
7
5
Kskimo Ost Grönlands
5
4
■1
Man sieht vor allem einen deutlichen Unterschied zwischen
den Mongoliden und Europiden. Innerhalb Europas hat der
Norden weniger Wirbel und mehr Schleifen als der Süden und
Osten. Die Ahm schließen sich Europa deutlich an und fallen
aus den Mongoliden heraus. Auch Vorderindien schließt sich
wenigstens einigermaßen an Europa an. Besonders auffällig
ist die Sonderstellung der Juden, die mit ihrer hohen Wirbcl-
zahl und geringen Schleifenzahl aus dem Bereich der Euro-
1 ) C u m m i n s and S t c g g e r da. Finger prints in a Dutch family
scrics. Am. J. phys. Anthr. 20. 1935.
ERBANLAGEN DER EINGER- UND- HANDMUSTER. 149
päer völlig herausfallen. Cummin (a. a. O.) fand das an
amerikanischen Juden. Kirchmair (a. a. O.) hat es an Ju-
denkindern in Hamburg bestätigt. Neger bilden wohl eine
Gruppe für sich, sind aber noch ganz ungenügend untersucht.
Sehr auffallend — und für ihre Stellung unter den Rassen sehr
wichtig — ist das Verhalten der Hottentotten (nach Fleisch-
hacker, a. a. O.). An die eigentlichen Mongolen reihen sich
die Indianer. Aber auch hier sind die Unterlagen noch sehr
dünn. Eine sehr eigenartige Stellung nehmen die Eskimo ein,
die ostgrönländischen stehen in der Häufigkeit der Wirbelbil-
dung ganz für sich (Abel a. a. O.).
Das Gesamtmaterial ist noch zu gering, als daß man schon
gesicherte Einzelheiten über die Verteilung der Erbfaktoren
bei den verschiedenen Rassen sagen kann. Es fehlen noch
große Zahlen über die Verteilung des quantitativen Wertes.
Aber man kann doch wohl schon mit Bonnevie behaupten,
daß die verhältnismäßig hohe Zahl von Bogen bei den Nord-
europäern eine stärkere Verbreitung der Polsterungsfaktoren
bedeutet, und daß andererseits die Mongolen in der Embryo-
nalzeit stärkere Symmetrie der Fingerbeeren in Zusammen-
hang mit dünnerer und polsterloser Haut haben, d. h. in grö-
ßerem Ausmaß die betreffenden Erbfaktoren. Da die Polste-
rungsfaktoren erblich sind, kann es nicht wundernehmen, daß,
als teilweise von ihnen unmittelbar bedingt, die Häufigkeit der
Muster bei Bastarden ziffernmäßig zwischen der bei ihren
Elternrassen liegt. Dies zeigt sich in der Tabelle für Mulatten
(nach Steggerda) und für Eskimomischlinge (nach Abel).
Nach vorläufigen Mitteilungen Abels sind auch innerhalb
der europäischen Rassengruppen Uäufigkeitsunterschiede der
Muster nachweisbar, es bedarf aber noch viel größeren Ma-
tcriales, sie im einzelnen festzulegen.
Es wäre sehr zu wünschen, daß Untersuchungen dcrHand-
und Fingerabdrücke, aber nur im Sinne von Bonnevie, in
ganz großem Maße durchgeführt werden. Sie lohnten sicher.
Dagegen nützen uns einfache Statistiken über die Häufigkeit
von Mustern und ihrer Kombinationen nichts.
Handfläche.
Die Hautlcistenzüge auf der eigentlichen Handfläche sind
nicht annähernd so gut durchgearbeitet wie die auf den Fin-
gerspitzen. Ihre Entstehung hat Schaeuble untersucht, sie
wurde oben schon erwähnt (Abb. 36). Die Beschreibung und
150 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Einteilung in Muster entbehrt einstweilen noch jeder biologi-
schen Einsicht. Man kann nur nach der Erfahrung schema-
tisch Einteilungen treffen. Man unterscheidet den Daumen-
ballen (Thcnar) mit seinem. Muster, den Kleinfingerballen
(Hypothcnar) mit einem Muster, zu dem noch weitere dazu-
kommen können. Die Muster fehlen öfters. Am Grund der Zwi-
schenfingerspalten (interdigitale Räume), die als 1 bis IV be-
Abb. 40. Abdruck einer linken Hand. Digitale Triradien a, b, c, d mit den
HaupÜmien A, B, C, D. Numerierte Strecken am Rande des Abdruckes,
Nr. 1 — 13. Achsiale Triradien t, t', t". Drfl = Dreifingcrfurche, Fff — Fünf-
fingerlurche, Df — Daumen Cur che. (Links oben ein Ausschnitt aus einem
anderen Handabdruck mit Darstellung der Schleilenmcssung. Auf diese und
auf die über das llauptbild gezogenen dünnen Achsenlinicn soll hier nicht
eingegangen werden.) Nach M cy er- lleydenliagen (aus Geipel).
zeichnet werden (wobei I zwischen Daumen und Zeigefinger
liegt), finden sich die sog. Zwischenfingerballen. Deren sind
es also dann vier. Jeder trägt entweder ein Muster oder ein
„offenes Feld" (s. Geipels „Anleitung"). Endlich gibt es
die sog. „digitalen Triradien" (Abb. 40). Sie tragen vom Zeige-
finger an nach dem Kleinen die Bezeichnung a, b, c, d. Zwei
ERBANLAGEN DER HANDMUSTER.
151
Linien jedes Triradius, der sich am Grund der Finger befindet,
gehen nach oben und endigen rechts und links an der betref-
fenden Fingerwurzel. Interesse hat nun aber der dritte Strahl.
Er führt den entsprechenden großen Buchstaben, also vom
Zeigefinger-Triradius a ausgehend : A, vom Mittelfinger -Tri -
radius b ausgehend: B usw. Wilder und seine Schüler haben
nach dem Verlauf dieser Triradien linien sog. „Formeln" auf-
gestellt. Dazu wird, willkürlich der Rand der Hand vom Dau-
menballen an über das Handgelenk und am Kleinfingerrand
in die Höhe in numerierte Strecken eingeteilt, Nr. r — 13 (s.
Abb. 40). Flier interessiert uns, daß auf die Zwischenfinger-
spalte zwischen Klein- und Ringfinger Nr. 7, auf die nächsten
Spalten dann 9, 11 und 13 kommen. Man verfolgt nun die
Haupt (triradien) Knien, am Klcinfingcr beginnend. In Abbil-
dung 40 sieht man dessen Linie D in u endigen, die Linie C
geht rückwärts nach 7, die Linie B vom Mittelfinger geht eben-
falls nach 7 und die Linie Ä geht zum Klein fingerrand der
H. an df lache nach 4. Das drückt man aus mit der Formel ;
11. 7. 7. 4. Auf weitere Einzelheiten kann hier nicht eingegan-
gen werden, es gibt Fehlen von Triradien (mit bezeichnet),
Übergang einer Triracliuslinic unmittelbar in eine andere und
dergleichen mehr (vgl. Geipel, Anleitung).
Über einzelne Erbunterlagen wissen wir noch, nichts ; man
hat bisher nur statistisch die Häufigkeit der Formeln und ihrer
Kombinationen untersucht und dabei, wie bei den Finger-
mustern, Rassenunterschiede gefunden (s. unten), Schon daraus
geht hervor, daß auch hier Erbfaktoren bestimmter Art wirk-
sam sind. Die umfangreichste Feststellung erblicher Unterlagen,
wenn auch noch, nicht einzelner Faktoren, gelangen Meyer-
Hey den h a gen 1 ) durch eine sehr schöne Untersuchung der
Handabdrücke von je 100 Paaren EZ, ZZ und 50 PZ aus dem
Dahlemer Material. Vorher hatten schon Wilder, Carriere,
Cummins, Newman u. a. die ersten Schritte unternommen.
Da wir mangels Familicnuntersucliungen über den Erbgang
noch fast nichts wissen (von einigen Hinweisen bei den ge-
nannten Forschern abgesehen) 2 ), hat die Schilderung von Ein-
zelheiten wenig allgemeines Interesse. Für die Praxis (erbbio-
logische Gutachten) kommen diese Dinge erst langsam in Be-
tracht. Für die Zwillingsdiagnose sind sie schon jetzt von gro-
- 1 ) M e y c r - H e y d e n h a g e 11 , G. Die palmaren Hautleisten bei
Zwillingen. Zcitschr. f. Morph, u. Anthr. 33. 1935.
2 ) A.a.O.
152 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
ßcr Bedeutung; dafür muß aber auf die Arbeit von Meyer-
H c y denhagen verwiesen werden. So sei hier nur die Fest-
stellung- betont, daß in der Ausbildung der Triradien und im
Verlauf der Hauptlinicn EZ sehr deutlich ähnlicher sind als
ZZ. Bei einzelnen gibt es iauch noch Unterschiede zwischen ZZ
und PZ, die also einen Geschlechtsunterschied bedeuten. Die
folgende Abbildung 41 zeigt den Unterschied der Gleich- bzw.
Ungleichheit der verschiedenen Zwillingspaare für eine Reihe
Linie C
Linie A
Achs.Triradien
M.M.
I.Jnl.
IV.Jnt.
t™ ms
KJnt.
ff.
m ez
D ZZ
ÜB PZ
Abb. 41. Die Verteilung konkordanter Merkmale an homologen Händen von
EZ, ZZ und PZ in %, — Bezeichnungen: Linie D, C und A = Verlauf dieser
Linien (s. Abb. 40), Achs. Triradien = Anordnung der achsialen Triradien
t, l' (5. Abb. 40), Int = Inlerdigiialia oder Zwischenfingerräume mit Fi-
guren. H == Flypothenar und Th — Thenar. (Nach Mcy er- H ey denhagen.)
Einzelheiten, auf die nicht weiter eingegangen werden soll. Der
verschiedene Hundertsatz der Gleichheit (Konkordanz), z.B. in
der oberen, mittleren und unteren Reihe der Abbildung, zeigt
die verschiedene Größe der Umweltbeeinflußbarkeit. Auch die
anderen hier nicht dargestellten Merkmale zeigen gleiches Ver-
halten, so daß man sagen kann, die Differenzen aller Maße,
Indizes und Formen sind bei EZ sehr viel kleiner als bei ZZ,
häufig um mehr als die Hälfte. Auf diese Weise erklärt es
sich, daß in sehr vielen Fällen EZ einfach überraschend gleiche
Hände haben, und man bei allen wenigstens eine sehr große
Anzahl von gleichen, neben einzelnen voneinander abweichen-
den Merkmalen findet. Dabei hat sich gezeigt, daß gleichsei-
ERBANEAGEN DER HANDMUSTER.
153
tige Hände zweier EZ nicht nur sehr viel ähnlicher sind als
spiegelbildliche, sondern daß sie sich auch ähnlicher sind als
rechte und linke desselben Menschen. Wir fanden, daß bei
allen Linienmerkmalcn, die eine Rcchts-Links-Diffcrenz bei
ein und demselben Individuum zeigen, die gleichseitigen Hände
in EZ diese größere Ähnlichkeit gegenüber Rechts-Links
desselben Individuums aufweisen, v. Verschuer hat auf
diese Erscheinung als eine grundsätzlich allgemeine hinge-
wiesen. An spiegelbildlichen Blanden ist es etwas auffällig,
daß gerade Hypothenarmuster häufiger gleich sind. Zusam-
menfassend glaubt Meyer-Heydenhagcn auf Grund
ihres großen Materials, daß, wenn man Punkt für Funkt die
Muster und Linien der Handabdrücke durchgeht, man in
90 Prozent der Fälle allein daraufhin die erbgleichen Zwil-
linge von den erb verschiedenen trennen kann. Da wohl auch
an den Handballen, wie nach Bonnevics Feststellungen an
den Fingerballen, Polsterungen eine Rolle spielen werden, wird
es weniger auf die Form der Muster als auf Lage und Verlauf
der Triradien bzw. ihres Flauptstrahles ankommen. Meyer-
Hey denhagen weist daraufhin, daß die langsamere Ent-
stehung der langen Leisten auf der Handfläche ihre starke
Beeinflussung durch die intrauterine Umwelt erkläre, und man
also mit Erbfaktoren rechnen müsse, die das Wachstum in den
Ballen- und Furchenzentren regeln, wo die Hautleistcnbildung
ihren Anfang nimmt. Als verhältnismäßig umweltstabil be-
trachtet sie: „Größere Wirbelmuster (am Thenar, am Tri-
radius d), gut ausgebildete Schleifen auf Thenar- und I. Zwi-
schenfingerballen, Schleifen mit Neben triradien in den Zwi-
schenfingerräumen. Alle Triradien sind umweltstabiler als die
zugehörigen Muster. Der Flypothenarballen ist stark umwelt-
labil, am konstantesten ist dort noch ein t" (weit distal [finger-
wärts] gelegener axialer Triraclius)."
Einen ersten genaueren Hinweis auf Vererbung des The-
narballens gibt M. Weninger 1 ) nach Familienuntersuchun-
gen. Es dürfte sich nicht um ein einfaches Genpaar handeln,
das das Muster unmittelbar bedingte, sondern um verwickcltcrc
Erbeinflüsse auf die Aus- und Rückbildung des Ballens.
Rassenuntersuchungen haben, wie schon erwähnt, deutlich
gezeigt, daß auch in den Einzelheiten der Hohlhandleisten,
r j Wcninger, M. Familienuntersuchungen über den HauUeisten-
verlaul am Thenar und am ersten Interdigital ballen der Palma. Mitteilungen
Anthr. Ges. Wien Bd. 65. 1935.
154 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERDANLAGEN.
ähnlich wie in denen der Fingcrbccrcn, deutliche Unterschiede
bestehen. Schon Wilder hat einen „Europäertypus" (mit der
größten Häufigkeit der Formel j i . 9. 7.) einem Negertypus
(/• 5- 5-) gegenübergestellt. Miyake hat einen Mongolen-
typus mit gleicher Formel dazugefügt. Eine gute Übersicht
über die Häufigkeit der gewöhnlichsten Formeln gibt anläß-
lich einer Untersuchung von Handlinienmustern bei Eskimo
W. Abel. Man kann deutlich ein Zunehmen in der Häufig-
keit gewisser Formeln bei Europäern und ein Abnehmen bei
Mongoliden zeigen. Ahm stehen in der Mitte, Eskimo-Dänen-
Mischlinge stehen ebenfalls in der Mitte, reine Oslgrönland-
Eskimo stehen merkwürdigerweise nach der europäischen Seite
ganz für sich. Die folgende Tabelle nach Abel zeigt das Ver-
halten deutlich.
w
o<
135
H.
7— 5_5
9—7—5
1 1 __9_ 7
Summe
6,6
41,4
4 30,3
78,3
Q. o)
O -ö
O }H
~ r3
n P
uir>
M 3
U
400
600
H.
IL
H.
9,0
16,7
27.7
10,1
26,2
■A 1 ,0
53,4 1 67,3
11,7
29,6
34,3
Q
28
It.
14,2
35,7
28,4
75,6 [78.3
110
H.
390
H.
19,1
18,2
18,2
55,5
24,3
19,0
1 6,6
200
H.
27,5
23,5
9,0
59,9 60,0
T-i a
37
Ii.
268
H.
29,0
49,2
7,2
85,
32,0
27,1
18,1
d _
u_> o
616
H.
32,0
1 9,3
18.1
77,2169,4
S^
552
II.
33,0
16,9
17,7
67,6
Die Encligungstypcn der Linien B, C, D bei einigen verschiedenen
Rassen (in Prozenten). Die Aufstellung- der Typen erfolgte nach Wilder
fiuich Abel a. a. O.).
Ähnlich wie bei dem Verlauf dieser Linien sind auch' in
der Häufigkeit der Muster deutliche Rassenunterschiede. Nur
als Beispiel sei erwähnt, daß Hypothenarmuster bei Indianern
und Chinesen nur in 5 — 170/0 vorkommen, während Euro-
päer solche in 36—420/0 besitzen. Eskimo liegen, zusammen
mit Japanern und Koreanern, mit einer Häufigkeit von 21 bis
30 0/0 in der Mitte. Eskimo-Däiiien-Mischlinge (unbekannter Grad)
kamen den Europäern auffällig nahe. Für das Muster auf
dem Daumenballen und das erste Intercligitalmuster sind die
Unterschiede eher noch deutlicher. Thcnarmuster kommen bei
Europäern in etwa 60/0, bei 'Chinesen in 8 — 1 1 o/o, bei Indianern
in 48 — 500/0 vor. Auch vierte Interdigitalmuster sind bei Far-
bigen häufiger, bei Weißen dritte (Steggerda, S h I n o ,
ERDANLAGEN DER IIANDMUSTER — HANDFURCHEN 155
Wilder u. a.). Es mögen von obigen Angaben manche noch
auf zu kleiner Unterlage beruhen, eigenartig sind diese Ras-
scnuntcrschiccle gewiß. Ihnen mag zugefügt werden, daß nach
F 1 e i s chh a ck e r s Angaben, Hottentotten obige drei Typen
(der Reihe nach) in der Häufigkeit 18- — 15—31 haben (Neger
haben sie in 21" — 12,5 — i4,6°/o)- In gewissen Einzelheiten glei-
chen Hottentotten mehr dem Europäer als dem Neger. Auch
ohne daß wir über Wölbung und Polsterung und Faktoren
schon Einzelheiten wissen, ist der Schluß erlaubt, daß beim
Weißen der Ballen am Daumen am häufigsten abgeflacht ist,
der am Kleinfinger noch nicht. W h i p p 1 e macht wohl mit
Recht auf die stammesgeschichtliche Entwicklung der mensch-
lichen Hand aufmerksam, die mit einer seitlichen Ausdehnung,
Verbreiterung und Abflachung einhergeht.
Über die Leisten auf dem Grund- und Mittelglied der Fin-
ger und etwaige Musterbildungen darauf erschienen noch keine
Untersuchungen 1 ).
Für die Fußsohle müssen sicher grundsätzlich dieselben
Erb- und Umweltverhaltnisse angenommen werden, wie für die
Hand. Die grundlegende Untersuchung, die vor allen Stücken
die vergleichende anatomische Unterlage, die Rückführung
der Muster auf die Sohlen bzw. Tastballen der Affen, schuf,
hat S c h 1 a g I n h a u f e 11 geliefert. Mit den neuen Fragestel-
lungen ist die Fußsohle bisher so gut wie nicht bearbeitet wor-
den (s. S. 138, Fußnote 3).
Handfurchen.
Die Beugungsfurchen in der Hand, die seit Jahrhunderten
berühmten Wahrsagelinien der Chiromantik, sind uns erbbio-
logisch noch sehr wenig klar. (Die drei wichtigsten sind in
Abb. 40 dargestellt.) Hella Poch 2 ) zeigt, daß die Bildung
gewisser Hauptlinien beim Embryo von 25 — 30 mm Länge
schon begonnen hat und beim Neugeborenen so gut wie fertig
ist. W ü r t h B ) hat die Entstehung genauer untersucht und
] ) Meine Schülerin Ploctz-Radmann hat solche durchgeführt.
Darnach haben auch diese Glieder ausnahmslos bestimmte Hautleistenmu-
ster, grundsätzlich nur andere wie an Endgliedern und Handfläche, je nach
den Fingern und Gliedern in verschiedene!' Häufigkeit und bei EZ ähnlicher
als bei ZZ, folglich auf erblicher Unterlage. Die Arbeit wird 1936 in der
Zehschi-. Morph. Anthr. erscheinen.
3 ) Poch, LI. Über Handlinien. Mitt. Anthr. Ges. Wien. 55. 1925.
a ) Die Arbeit wird 1936 in der Zlschr. Morph. Anthr. erscheinen. (Lit.)
156 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
konnte zeigen, daß schon zur Zeit, wo jedenfalls typische,
durch bestimmten Gelenkbau der Finger geregelte Bewegungen
noch nicht stattfinden können, bei Embryonen von 25 — 30 mm,
die Linien sich in der später bekannten Form als deutliche
Hautverdünnungen anlegen. Die Haut ist also hier für die
künftige Faltung eigens ausgebildet. Das spricht natürlich für
eine unmittelbare erbliche Bedingtheit. Damit stimmt übercin,
daß Hella Pöch bei Eltern und Kindern ein häufigeres Auf-
treten derselben Variationen als sonst, auch Zwischenformen
zwischen beiden findet, allerdings einen bestimmten Erbgang
einer Bildung nicht nachweisen kann. Sie beobachtete auch
deutliche Häufigkeitsunterschiede einzelner Bildungen zwischen
Wienern und Wolhyniern. Grüneberg findet bei Zwillingen
für bestimmte Anordnungen bei EZ über 900/0, bei ZZ nur
57% Gleichheit. Meine eigene frühere Bemerkung (Fischer),
daß die Linien lediglich von der Anordnung von Muskeln und
Gelenkformen abhängen, halte ich auf Grund der entwicklungs-
geschichtlichen Befunde meines Schülers Würth nicht mehr
für richtig. Aber es werden die Nebenlinien, die sich im Laufe
des Lebens vermehrenden und vertiefenden kleineren Furchen,
sehr stark umweltbedingt sein (Gebrauch, Fettpolster usw.).
Eine grundsätzliche Bearbeitung der ganzen Erscheinung wäre
dringend nötig.
In gewisser Beziehung gehören zu diesen Handfurchen
auch die eigenartigen sehr schwankenden Beugefurchen an der
Innenseite der Fingergclenke. Sie sind am Gelenk zwischen
Grund- und Mittelglied ganz anders wie zwischen Mittel- und
Endglied. Untersuchungen Hegen nicht vor.
Auf der Haut des Handrückens und sonst auf der Körper-
haut finden sich in wechselnder Ausbildung feine Rinnen zwi-
schen den Hautporen und Haaraustritten. Erbbiologisch wis-
sen, wir nichts darüber. Bettmann 1 ) und Pinkus 2 ) haben
einige Untersuchungen vorgelegt.
d) Erbanlagen für die Form des Haares und der Behaarung.
Während fast alle freilebenden Säugetiere glattes, schlichtes
Haar oder, wenn mehr wolliges, wenigstens innerhalb der bc-
■ l ) Bettmann. Felderimgsxeiehnung der Bauchhaut und Schwanger-
schai'lsslreifen. Zeit. Anat. Entwg. 85. 1928.
Dcrs. Leichen-Dermatogramme. Ebenda 92. 1930.
2 ) rinkus. Die normale Anatomie der Haut. Handb. der Baut- und
Geschl.-Krankli. I. 5. Berlin 1927.
ERBANLAGEN DER BEHAARUNG.
157
treffenden Spezies gleichmäßiges Haarkleid zeigen, hat der
Mensch nach Rassen eine sehr starke Verschiedenheit seiner
Haarformen. Einzig bei den Haustieren, und zwar bei der Mehr-
zahl ihrer Arten, finden wir die gleichen Verhältnisse (Woll-
haarigkeit, Angorahaarigkeit u. a.).
Wir müssen also bei allen diesen Formen, einschließlich
Mensch, das Auftreten neuer Erbfaktoren annehmen, die bei der
Rassenbildung die verschiedenen Haarformen bedingt haben.
Beim Menschen kann man manche Erscheinungen noch als Reste
und damit Zeugnisse für den ursprünglichen Zustand nachwei-
sen. So zeigt F. Sarasin 1 ), daß bei den Neukaledonicrn, die
als Erwachsene stark kraushaarig sind, kleine Kinder schlich-
tes oder höchstens welliges Haar haben. Auch ältere Neger-
embryonen haben nach P. Sarasin 2 ) viel glatteres Haar als
Erwachsene, wenn auch die Drehung der Haarwurzeln sich
schon angelegt hat (F r i e d e n t h a 1) 3 ) . Aber auch für straffes
Haar gilt das. Kranz konnte an Eskimokindern zeigen, daß
kein Kind unter fünf Jahren straffes PI aar hat. Das stammes-
geschichtlich ältere Schlichthaar tritt also bei kleinen Kindern
und als Vorläufer des straffen stets auf. Tao zeigt, daß Euro-
päer-Chinesen-Bastarde als kleine Kinder z. T. schlichthaarig
sind, bei Erwachsenen ist das Straffhaar (dominant) regelmäßig
vorhanden. Ob endlich auch die Neigung europäischen Kinder-
haares zur Wellung — Locken — hierher gehört, ist nicht; ganz
sicher, die Lockung geht über die eigentlich schlichte Form
hinaus, aber ich möchte es trotzdem annehmen. Auch daß für
die anzunehmenden Erbfaktoren das schlicht- bis weitwcllige
Haar, wie es Europäern einschließlich Ainu, dann Australiern
und der Wcddiden-Gruppe eigen ist, sozusagen der erbliche
Ausgangspunkt ist, spricht für die 'Ursprünglichkeit dieser
Form. Leider kennen wir noch keine Untersuchungen über
Kreuzungen von Australiern mit Europäern, Weddas mit Euro-
päern usw. Von dieser Haarform hat nach der einen Richtung die
Härte, zum Teil auch die Dicke zugenommen, das Haar wurde
1 ) Sarasin, F. Anthropologie der Ncu-Caledonicr und Loyaluy-In-
sulaner (Sarasin und Roux, Nova Caledonia). Berlin 1916—22.
Dcrs. Siir le changement de la chevelurc che/: les cnl'anLs des Melane-
siens et des Negres africains. L'Anthr. 35. 1925.
a ) Sarasin, P. Die menschlichen Sexualorgane in enlwiclüungsge-
schichllicher und anthropologischer Beziehung usw. Verh. Nalurf. Ges.
Basel. 37. 1926.
3 ) Fricdenthal, Ergebnisse und Probleme der Haarforschimg.
Ztschr. Ethn. 47. 191 5.
158 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
„straff", so bei Mongoliden, Indianern, Eskimo. Nach der an-
deren Seite hat sich die leichte Biegung verstärkt zu mehr-
facher welliger Krümmung, es entstand die „wellige" Haar-
form (weit- und engwellig). Endlich hat ein weiterer Muta-
tionsschritt den Faktor für spiralige Drehung, Lockenbildung
hervorgebracht, bei engerer solcher Spiraldrehung das typisch
,, krause" Haar, bei dem die einzelnen Haarspiralen zu einem
dichten Matratzenpolster zusammenhängen (viele Neger, Me-
ianesier). Schließlich können die Spiralen sehr eng gewickelt,
das Haar dabei kurz und die Spiralen benachbarter Haare je
zu kleinen Klümpchcn zusammengeflochten sein; man spricht
dann von „fil-fü" oder Pfefferkornhaar, wie es die Buschmän-
ner haben (Erbfaktor?).
Daß beim Negerkind das Kinderhaar viel früher zum er-
wachsenen wird, auch viel früher (oder gleich) schwarz wird
als beim Ncukaledonicr, zeigt, daß die an sich gleiche Kraus-
haarigkeit beider Gruppen keine nähere Verwandtschaft be-
weist (Sarasin), vielmehr je selbständig entstanden ist, wie
ich denke, als Domestikationsmutationen.
Die Erbfaktoren für diese rassenmäßigen Neubildungen
sind durch zahlreiche Kreuzungsuntersuchungen mit recht gro-
ßer Sicherheit klargelegt. Bei Kreuzung schlicht- und kraus-
haariger Europäer unter sich wie bei der zwischen schlicht-
haarigen Europäern und engen, krausen (spiraligen) Negern,
Hottentotten und Melanesien! zeigt sich das schlichte Haar
gegen die anderen rezessiv ; es spaltet aus den angegebenen
Kreuzungen die wellige Form heraus. Man darf annehmen,
daß je ein besonderer Faktor C wellige Biegung, S Spiral-
drehung macht. Beide sind dominant über die glatte schlichte
Form, die also mit der Formel cc ss ausgedrückt wer-
den kann. Locker wellige und lockige Haare dürften Hetero-
zygoten sein (Cc ss). Enger welliges Haar wäre CC ss. Die
Spiraldrehung käme also dann dazu: CC SS bedeutet stärkste
Spiraldrchung, engstes Kraushaar, wie es etwa die Hotten-
totten und manche Negergruppen haben. Vielleicht kann
S ohne C nicht wirken. Die größere Seltenheit des Zusam-
mentreffens aller betreffenden Faktoren würde erklären,
warum z. B. bei Juden scheinbar unvererbt und plötzlich und
auch nicht häufiger als tatsächlich enges negrides Kraushaar
auftritt.
Obige Annahme der verschiedenen Faktoren erklärt den
Befund an Mulatten xten Grades mit ihren Haarformen, die
ERBANLAGEN DER HAARFORMEN.
159
alle Stufen von engkraus, lockerkraus, engwellig, weitwellig
und schlicht aufweisen. Dasselbe zeigte sich bei den Europäer-
Hottentotten-Bastards E. Fischers 1 ), was Lebzeltcr 2 )
bestätigte und für Europäer-Buschmann-Bastarde erstmals fest-
stellte. Dünn sieht H awaikraushaar dominant gegen euro-
päisches Schlichthaar, Rodcnwaldt 3 ) und Bijlmcr 4 ) fin-
den bei Malaienmischlingen das zu erwartende bunte Bild.
Castellanos 5 ) fügt gleiche Beobachtungen an Kubanern bei.
Auch innerhalb der Europäer scheint sich kraus gegen
schlicht einfach dominant zu vererben wie van B c m m c -
len 6 ) zeigt. Dieses europäische Kraus darf wohl als selbstän-
dig aufgetretene Mutation aufgefaßt werden.
Bei der Kreuzung Malaie mit Negrito findet B ean 7 ) auch
Kraushaar rezessiv, was ich als Ausdruck seiner Entstehung
aus eigener Mutation deute (s. S. 227).
Ob es Gruppen gibt, die nur den Wellungsfaktor CC
haben, scheint sehr zweifelhaft. Bei den teilweise als engwcUig-
haarig bezeichneten Stämmen Nordostafrikas (zum Teil v.
Eickstedts Äthiopiden) kommen neben cngwelligen aus-
nahmslos und in recht großen Mengen auch spiralgedrehte
Haarformen vor, so daß die Erscheinung durch Kreuzung von
schlicht (mediterran und orientalisch) mit spiralgedreht (Neger)
restlos erklärt wird. E. Fischer 8 ) findet keine Unterschiede
zwischen vielen Somali-Haarproben und südwestafrikanischen
Bastard-Haarproben. Auch Puccioni 9 ) spricht sich für deren
Mischlingsnatur aus.
Ob sich das Spiral gedrehte Haar der Ncgritiden (Semang,
Negrito der Philippinen usw.) und das der afrikanischen Pyg-
J) A. a. O.
") Lebzelten Über Khoisanmi schlinge in Süswestafrika. Ztschr.
Morph. Anthr. (Fcstb. Fischer.) 34. 1934.
• ! ) A.a.O.
4 ) Bijlmcr. Ouilincs of the anthropology of the Timorarehspclago.
Weltevresen 1929.
fl ) A. a. O. s. S. 129.
G ) van Bern eleu. Die Vererbung der Haar form beim Menschen.
Vcrh. 5, internal-. Kongr. Vererb. Berlin 1928.
7 ) Bean. Heredily of hair form araong the Filipinos. Am. Natural.
45. 1911.
a ) Fischer, E. Zur Frage der äthiopischen Rasse. Ztschr. Morph.
Aiilhr. 27.
n ) Puccioni. Africa nordorientale e Arabaia. Pavia. 1929.
Ders. Antropologia. c etnogratia delle genti dclla Somalia. Bologna
! 93i-
160 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
mäen in Kreuzung mit Europäern ebenso verhält, wissen wir
nicht.
Nach der anderen Seite, vom Schlicht aus, Hegt das straffe
Haar. Ein Erbfaktor L (lissotrich) darf angenommen werden,
der dominant ist über gebogene, schlichte und sogar krause
Haarform. Dünn zeigt die Dominanz des straffen Chinesen-
haares in der Kreuzung mit kraushaarigen Hawaiern, Tao ] )
dasselbe bei Europäer-Chinesen-Kreuzung. Landauer gibt
eine gute Zusammenstellung. Das gelegentliche Vorkommen
schlichten Haares bei Südchinesen würde ich darnach, für ein
Herausmendeln dieser Form aus der Kreuzung des chinesischen
Straffhaares mit Kraushaar vormongolider Elemente halten.
Noch unklar ist der Erbgang bei Kreuzung von Europäer
mit Eskimo. Zunächst ist zu betonen, daß Eskimo ganz und
gar nicht rein straffhaarig sind. Kranz 1 ) zeigt bei reinen
Ostgrönländern (wenn man alle Jugendlichen drin läßt) doch
gegen 40 o/o Schlichthaarige. Als rein homozygote (1 1) sind sie
an Zahl zu groß. Ihre Heterozygotie würde bedeuten, daß
straff auch rezessiv gegen schlicht sein kann. Die Frage muß
offen bleiben. Familienuntersuchungen liegen nicht vor.
Die Straffheit hängt nicht nur mit der Haardickc zusam-
men; es scheint noch als besondere Eigenschaft und als beson-
derer Erbfaktor die Härte eine Rolle zu spielen. S aller 2 ) be-
tont das für Malayen-Mischlingshaar ausdrücklich. Aber Ein-
zelheiten lassen sich noch nicht angeben.
Eine unerklärliche Erscheinung bilden vier bisher bekannt
gewordene Fälle, wo auf ein und demselben Kopf etwa in der
Mitte des Kopfes richtiges Kraushaar und ringsherum schlich-
tes Haar stand. Über Vererbung ist nichts bekannt 3 ).
Die Gesamtbe h a a r u n g ist zwischen den einzelnen
Rassen so stark verschieden und scheint so unabhängig von
Umwelteinflüssen, daß wir mit Sicherheit verschiedene Erb-
faktoren annehmen müssen. Aber wir können uns noch keine
einzelnen solche vorstellen. Ein Verteilungsfaktor für Kopf-
und Körperhaar scheint zunächst bei allen Rassen gleich zu sein.
Die sehr auffällige Grenze des Kopthaars an Stirn, Schläfe,
um die Ohrmuscheln herum und am Nacken muß vor aller
i) A. a. O.
2 ) Salier. Mikroskopische Untersuchungen an den Haaren der Ki-
saresen und Kisarbaslarden. (In: Rodcnwaldt). 1927 — und auch Sal-
ier a. a. O. —
3 ) Einzelangaben und Li f. s. Fischer, Genanalyse.
ERBANLAGEN DER 11 AARFORMEN.
Rassenbildung beim Menschen entstanden sein. Der Anthro-
poide hat nichts dergleichen. Auch die Form der Achsel- und
Schambehaarung ist grandsätzheh, einschließlich des Geschlechts-
unterschiedes, bei allen Rassen gleich, nur an Ausdehnung und
Stärke wechselnd. Dagegen haben wir am Bart nicht nur die
sehr auffälligen Unterschiede in seiner FüUe und Größe — er
ist weitaus am stärksten bei Europäern, Ainu und Australiern,
nur angedeutet bei manchen Indianern und Eskimo — , son-
dern hier ist auch eine deutliche.; Verschiedenheit von Grenze
und Form festzustellen. Wedda haben einen starken Bart, aber
er läßt die Vorderseite der Unterlippe und des Kinnes und die
Wangen vor dem Ohr so gut wie frei, er ist nur unter dem 1
Kinn entwickelt. Über Vererbung wissen wir nichts.
Die Körperbehaarung am übrigen Körper ist z. B. beim
Europäer viel stärker als beim Neger, der Mulatte gleicht dem
Neger mehr, das deutet nicht gerade auf Dominanz der
starken Europäerbehaarung. Innerhalb der Europäer glaubt
Danforth für die Behaarung der Rückseite der Fingerglie-
der einen besonderen dominanten Faktor, für das Fehlen auf
dem Mittelglied einen solchen rezessiven annehmen zu müssen.
Aber all das ist noch sehr unsicher. Zwillingsuntersuchungen
zeigen, daß auch feinere Einzelheiten wie Asymmetrie der
Nackenhaargrenze, Ausbiegung, sog. Geheim rat s wink el an der
Stirnhaargrenze, eine längere Erhaltung, des embryonalen Flau-
mes an Stirn und Wange, bei EZ in einer erdrückenden Mehr-
zahl der Fälle gleich, bei ZZ meist verschieden sind (Bek-
kershaus 1 ), v. Verschuer a. a. O.). Besonders auffällig
scheint die Nichtvererbung der Wirbelbildung. Während Bern-
stein 2 ) und Schwarzburg 3 ) einen dominanten Faktor für
die Rechtsdrehung des Scheitelwirbels und einen rezessiven für
Doppelwirbel angenommen haben, zeigten ZwiUingsuntersu-
chungen meines Schülers N ehse 4 ), daß eine sehr große Zahl
von EZ ungleiche Wirbelbildung hat. Ein einfacher Erbfaktor
für solche besteht also sicher nicht. Weder die Lage des Wir-
bels, noch die Drehungsrichtung, noch die sog. Haarlinie wer-
1 ) Beckershaus. Über eineiige Zwillinge. Ztschr. Augenheilkunde.
59. 1926.
2 ) Bernstein. Beiträge zur mendelis tischen Anthropologie I. u. II.
Sitz.-Ber. Pr. Akad. Wiss. phys. math. Kl. V. 1925.
fi ) Schwarzburg. Statistische Untersuchungen über den menschli-
chen Scheitel wirbcl und seine Vererbung. Ztschr. Morph. Anthr. 26. 1927.
*) Nehse, Beitrage zur Morphologie und Vererbung der menschlichen
Kopfbehaarung. Wird 1936 in Z. Morph. Anthr. erscheinen.
Baur-Fisclier-LenzT. n
162 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
den vererbt, sondern sind intrauterinen Um weit Wirkungen zu-
zuschreiben. Die Zahlen wei'te Bernsteins und seiner Schule
müssen Zufallsbefunde sein. Dagegen beruhen die Stärke der
Drehung und die Form der Nackenhaargrenze auf Erbanlagen.
H. Virchow 1 ) konnte bei vier Geschwistern und wieder bei
vier Kindern eines dieser Geschwister einen Wirbel in der Aug-
braue feststellen. Das spräche für einen einfach dominanten
Faktor. Daß die Verwachsung der Augbrauen über die Stirn,
die Räzclbildung, in Vorderasien und Kreta — hier in einzel-
nen Provinzen bis zu 60 o/o — viel häufiger vorkommt als
sonst, zeigt wohl, daß ihr eine Erbanlage zugrunde liegt. Der
Erbgang ist nicht festgestellt ; der Faktor wird wohl, nach
seinem scheinbar unvermittelten Auftreten bei uns, rezessiv sein
gegen den für haarfreie „Glabella" (Stirnglätzchen).
Auch über die Länge der einzelnen Behaarungen (Kopf,
Bart, Scham), über die Dicke und FI arte des Einzelhaares, über
Wurzelfestigkeit, über Glatzenbildung, Form der Augbrauen
u. a. Unterschiede wissen wir vom Erbstandpunkt aus noch
nichts Sicheres. Ich verweise auf Landauer 3 ), Fischer
(Genanalyse), auch Scheuer 3 ) gibt gute Übersicht und
reiche Schriftenangaben.
e) Erbanlagen am Skelett.
Hirn-Schädel.
Kein Teil des menschlichen Körpers ist anthropologisch so
eindringlich und so oft bearbeitet worden wie der Schädel.
Man kann der Übersicht halber und nach Ihrer stammesgeschichtlich-
systematischen Bedeutung die Schädelmerkmalc in einzelne Gruppen einteilen:
Einmal gibt es eine große Anzahl Merkmale (genau wie solche an allen
anderen Organsystemen), qualitative und quantitative, durch die sich Affen
und Mensch deutlich und scharf unterscheiden. Diese Merkmale sind also
für die menschliche Art spezifisch, sie müssen also in der Erbmasse des
,, Menschen" fixiert sein. Beispiel shalbcr sei genannt: Bei Anthropoiden die
geringe Größe des Hirnschädels gegenüber dem Gesichtsschädel, die Bildung
dachartig über die Augenhöhlen vorspringender Knochenränder (Supra-
orbitalleisten), das Vorstehen des Eckzahns über die übrige Zahnreihe, die
mächtige Ausbildung des Unterkiefers mit fliehender, kinnloser Vorderseite
1 ) Virchow, li. Die Stellung der Haare im Brauenkopf. Ztschr.
Ethn. 44. 1912.
2 ) Landauer. Die Vererbung von Haar- und Hautmerkmalen, aus-
schließlich Färbung und Zeichnung. Ztschr. ind. AbsL 42 (1926) und 50,
1929. (Lit.)
3 ) Scheuer. Die Behaarung des Menschen. Frauenk. und Konst. For-
schungen 1933.
ERBANLAGEN DES SCHÄDELS
163
— beim Menschen ist von all dem das Umgekehrte vorhanden. An der Erb-
lichkeit all derartiger Merkmale des Menschen, am Vorhandensein beson-
derer, sie bedingender Erblaktoren, und zwar in der Erbmasse der gesamten
Menschheit, kann kein Zweifel seht. Gelegentlich tritt nun eine affenähn-
liche, „pithekoide" Bildung beim Menschen in die Erscheinung. Man muß
annehmen, daß die gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Affen ähn-
liche Merkmale besaßen, und daß — durch uns meistens nicht bekannte Ver-
hältnisse — ■ als sogenannter „Atavismus" — ein solches Merkmal wieder
erscheint, genau wie etwa ein dunkler Rückenstreif beim Pferd.
Erbtheoretisch denken wir dabei nicht mehr so sehr an sich treffende,
beicl elterliche, sehr seltene rezessive Erbanlagen, sondern eher an den Weg-
fall (auch schon helerozygotisches Fehlen) gewisser, die normale Entwick-
lung beherrschender Gene und damit Bestehenblcibcn oder Wiederauf treten
embryonaler Durchgangsbi.1 düngen der normalen Entwicklung.
Ebenso wie gegen die Affen grenzen auch gegen den Neanderta] men-
schen, also gegen den ganzen Homo primigenius (Neandertal, Spy, La
Chapelle u. a.), dann gegen den Homo heidclbergensis (Unterkiefer von
Mauer) und endlich gegen den Pithecanthropus und Sinanthropus den Schä-
del des heutigen Menschen eine Anzahl Unterschiede scharf ab. Auch für
diese gilt, was oben für die anderen gesagt wurde, einschließlich der „atavi-
stischen" Merkmale. Als Rückschläge auf sie oder ähnliche Vorfahrenfor-
men, demnach als Reste der alten Erbmassen, treten hie und da einzelne
neandertalahnlichc Merkmale auf, nie aber die gesamte und wirkliche eigen-
artige Kombination der Neandertalmerkmale. Für die Rassenkunde sind alle
diese Merkmale von geringerer Bedeutung als die folgenden:
Der Schädel jeder Rasse ist durch eine große Anzahl deut-
licher und ihr eigentümlicher Merkmale gekennzeichnet. Selbst-
verständlich zeigt jedes davon bestimmte Schwankungen nach
Stärke und Ausprägung, so daß der eine sehr scharf ausge-
prägt die Eigenheiten seiner Rasse zeigt, der andere nur ganz
gering. Kommen dazu noch rassenfremde Einschläge, dann
gibt es natürlich Übergangsformen und nach Rasse nicht mehr
erkennbare.
Von den Rassenunterschieden ist am auffälligsten die ras-
senmäßige Verschiedenheit der Gesamtform des Schädels, so-
wohl der Gehirnschädelkapsel wie des Gesichtsschädcls und
einzelner Teile (Nase).
Neben der Beschreibung benützt man zur Festlegung und Wiedergabe
der Formunterschiede die Messung. Seit Anders Retzius (1864) wird
dabei stets ein Maß im Hundertsatz des anderen angegeben, um die schwere
Vergleichbarkeit absoluter Werte je zweier zueinander gehöriger Strecken
— z. B. Länge und Breite — zu vermeiden. Jenen Verhäitniswcrt bezeichnet
man als Index. So drückt man z.B. die Schädelbreite in Hundertsteln der
Länge aus und spricht vom Längenbreitenindex. Die Länge und Breite be-
ziehen sich auf die Ausmaße der Gehirnschädelkapsel, nicht des Gesichtes,
s. Abb. 42. Es muß dabei betont werden, daß die damit gewonnenen Eintei-
lungsmöglichkciten in Langschädel oder Dolichozephalc, Mittelformcn oder
Mesozcphale und Breitschädcl oder Brachyzephale, in Lang- und Breitge-
164 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
sichter usw. willkürlich sind; keinenfalls bedeutet die durch Messung fest-
gestellte Langschädeligkeit in einer Gruppe hier und einer anderen dort ohne
weiteres eine Zusammengehörigkeit. Die relative Länge ist z. B. bei den
langen Schädeln aus Schweden durch ganz andere Einzelheiten der Kno-
chenbildung bedingt wie bei den langen Schädeln aus Negerländern Afrikas.
Es kommt auf die einzelnen Formen von Stirn, Scheitel, Hinterhaupt usw.
an. Die Bezeichnungen „Langschädel" usw. geben also nur einen kurzen
Ausdruck für das Verhältnis zweier Hauptausdehnungen, Vor allem ist es
falsch, die willkürlich festgesetzten Grenzen von Lang-, Mittel- und Kurz-
schädcln als natürlich gegebene Rassengrenzen anzusehen. Das natürliche
Schwanken jedes Merkmales um ein Mittel kümmert sich nicht um jene
Kategorien. Die kürzesten Schädel einer typisch langschädcligen Rasse wer-
den meist noch weit in die Kategorie der „Mesozephalie" hineingehen, sie
sind darum nicht weniger rasserein als die langen.
So ist es völlig verkehrt, bei prähistorischen Funden von 6 oder 10
Schädeln, von denen einige etwa mesozephal und andere brachyzephal sind,
sofort von Rassenmischung zu sprechen, es sind mit größerer Wahrschein-
lichkeit nur Varianten einer Rasse. Ja, eine Rasse kann das Mittel ihrer
Schwankungsbreite gerade an der Stelle haben, wo wir herkömmlicher Weise
zwei Kategorien aneinander grenzen lassen, sie muß dann scheinbar „zweier-
lei" „Formen" (I) haben, in Wirklichkeit ist sie so homogen wie irgend-
eine andere!
Abb. 42.
Sog. „Langschädel" und sog. „Rundschädel".
1. Knabe: Kopflänge 190 mm, Kopf breite 137 mm, Längenbreitenindex 72,1.
2. Knabe: Kopflänge 174 mm, Kopfbreite 154 mm, Längenbreitenindex 88,5.
G— O = größte Kopflänge, P—P = größte Kopfbreite (nach Rose).
ERBANLAGEN DER SCHÄDELFORM.
165
Die Frage ist nun, wieviel an den erkennbaren und gerade
am Schädel durch die bis aufs äußerste getriebene Kraniologie
aufs genaueste untersuchten Merkmalen Ausdruck von Erbf ak-
toren und wieviel solche der abändernden Umweltwirkung ist.
Über die meisten rassenmäßigen Formeigentümlichkeiten
sind Erbuntersuchungen überhaupt noch nicht angestellt wor-
den. Ob und wie sich z. B. die Form der Nasenbeine und des
knöchernen Naseneingangs, die Prognatie, die Form der Augen-
höhlen oder Überaugenwülste und andere rassenbezeichnende
Einzelheiten vererben, ist unerforscht. Aber die physiognomi-
schen Studien Abels, Scheidts, Weningers u. a. zei-
gen, daß wir offenbar für alle diese Dinge einzelne in ihrer
Wirkung gesondert erkennbare Erbanlagen annehmen dürfen.
So weit sie die Physiognomie und teilweise den Gesamteindruck
der Kopfform bedingen, sei auf die Darstellung S. 192 verwie-
se^ bezüglich der Nase auf S. 195. Wieweit aber hier Einzel-
heiten erblich festgelegt sind und, nebenbei bemerkt, wie groß
auch die rein ärztliche Bedeutung dieser Dinge ist, zeigt die
Tatsache, daß die dem Ohrenarzt bekannte (und bei der Ope-
ration gefürchtete) Verlagerung des Sinus sigmoideus im Fel-
senbein bis ganz nahe an das Antrum mastoideum heran ein-
mal bei zwei Geschwistern und deren Mutter beobachtet wurde
(Leicher 1928). Auch an der knöchernen Nase sind eine
Menge Einzelheiten als einzeln vererblich nachgewiesen. Die
Ausbildung einer Fossa pränasalis beruht offensichtlich auf
einem rezessiven Gen, wie der Befund an Eltern und Kindern
und an Zwillingen erweist. Dadurch erscheint ihr Auftreten an
Negerschädeln in ganz anderem Licht als viele sonstige osteo-
logische „Varietäten". Entsprechende Untersuchungen an Mu-
latten wären dringend nötig. Dagegen zeigt die Ausbildung
einer Spina nasalis fließende Übergänge in der Vererbung,
vielleicht sind die stärkst ausgebildeten Formen dominant.
Stammesgeschichtlich nicht ohne Bedeutung im Sinne der
Weiner t sehen Ausführungen ist die Beobachtung, daß für
die Ausbildung der Stirnhöhle ein dominanter Entwicklungs-
faktor und vielleicht dazu ein Hemmungsfaktor anzunehmen
sind. Erblichkeit ist weiter nachgewiesen für die Ausbildung
und die Formen der Höhlen in Kiefer, Keilbein und Warzen-
fortsatz. Die Breite der Kieferhöhle scheint gegenüber Schmal-
heit dominant zu sein. Die Mastoidzellen zeigen bei EZ „Über-
einstimmung in der Zellbildung bis auf die Einzelzelle" (nach
Leicher s. S. 177).
166 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN.
Die meiste Arbeit wurde für die Frage angewendet, ob die
Gesamtform des Schädels, wie sie in der Längenbrei-
ten- und Längenhöhenmessung ausgedrückt werden soll, erb-
lich so festgelegt ist, daß Umwelteinflüsse wenig daran for-
men 1 ). Man kann dabei an die Vererbung der einzelnen Durch-
messer, also an gesonderte Erbanlagen für das Längen-, Brei-
ten- und Höhenwachstum denken. Da aber für alles Wachstum
gegenseitig gewisse Abhängigkeit besteht, deren Ergebnis wir
dann als Harmonie der Teile empfinden, kann man auch an
eine einheitliche Erbunterlage für die Form als solche denken.
Das tut vor allen Stücken Frets 2 ), der sich am eingehend-
sten mit der Untersuchung dieser Frage beschäftigt hat. Er
denkt selbstverständlich nicht an eine Vererbung des Index,
als ob etwa gesonderte Erbfaktoren für einen Längen-Breiten-
Index von 70 oder von 85 wären, sondern an verschiedene
Erbanlagen für die „Variationen eines , Charakters', der durch
Messungen sozusagen künstlich in Dimensionen aufgelöst wird".
Er nimmt also eigene Gene für die Form an, nicht für die Ein-
zeldurchmesser. Deren Größe wird nach ihm noch einmal
durch andere Gene bestimmt, die Faktoren der Form seien
dominant über die der Größe. Ehe aber auf die Frage nach
der erblichen Unterlage hier im einzelnen eingegangen werden
kann, muß die Frage der Umweltwirkungen erörtert werden,
erst deren Kenntnis läßt sozusagen übrig, was nun vom Erbe
wirklich in die Erscheinung tritt.
Schon vor der Geburt wirken offenbar Kräfte von außen
auf die Form des kindlichen Kopfes ein. Untersuchungen an
Zwillingen (Dahlberg, v. Verschuer, Siemens u. a.)
haben gezeigt, daß die Kopfform bei Zwillingen stark beein-
flußt wird, und zwar gerade durch die besonderen Verhältnisse
der Zwdllingsschwangerschaft selbst. An großem Zwlllings-
material konnte v. Verschuer zeigen, daß bei der Geburt
Zwillinge, EZ und ZZ, häufig verschiedene Kopfform haben.
Bei den EZ nun wird die Verschiedenheit in den ersten Wachs-
tumsmonaten deutlich geringer. Jetzt wirkt also die eigentliche
erbliche Tendenz, die vor der Geburt wohl durch Einflüsse
von Lageunterschieden in der Gebärmutter überdeckt wurde.
l) Schreiner. Zur Erblichkeit der Kopfform. Genetka V. 1923. Hil-
den. Zur Kenntnis der menschlichen Kopfform in genetischer Hinsicht.
Hereclilas VI. 1925. Bryn, The genetic relaüoti of index cephalicus I-Ie-
reditas I. 1920. Vidensk. Skr. math. Kl. Nr. 5 Kristiania 1921.
s ) Frets. The cephalic index and its Heredity. Haag 1925. (Lit.)
UMWELTWIRKUNG AUF DIE SCHÄDELFORM.
167
Dann bleiben sich dauernd die Schädel von EZ erheblich ähn-
licher als die von ZZ. Diese letzteren nehmen an Unähnlich-
keit von der Geburt an umgekehrt zu, weil eben jetzt wie bei
den EZ die Erbtendenz, diesmal aber bei den beiden Paarun-
gen jeweils in verschiedener Richtung, wirken kann. Noch stär-
ker ist diese Zunahme der Unähnlichkeit bei Pärchenzwillin-
2,8 2,e 1,1-
Abb. 43. Die Entwicklung der Kopflänge von der Geburt bis zur Mitte des
zweiten Jahrzehntes bei Zwillingen. Nach v. Verschuer (Erklärung im Text).
gen. Abb. 43 zeigt die Verhältnisse deutlich. Je weiter die über
die Lebensjahre sich erstreckenden Linien von der Senkrechten
seitlich nach rechts und links abweichen, um so größer ist die
Unähnlichkeit der Zwillinge. Damit ist einwandfrei bewiesen,
einmal, daß tatsächlich Erbfaktoren der Schädelform (hier
Schädellänge) zugrunde liegen und dann, daß die Umwelt
deren Wirkung stark beeinflußt.
So kann es nicht überraschen, daß Abel (a. a. O.). beim
Untersuchen von Umrißkurven am lebenden Kopf zwar EZ
bedeutend ähnlicher fand als ZZ, aber doch nicht immer gleich.
ZZ aber waren nie ganz gleich. Im Stirnteil waren Gleich-
heiten besonders deutlich'.
Bei der Geburt selbst entstellt durch Übereinanderschieben
der Knochenränder und Verbiegungen von Knochen die sog.
Geburtsdeformität, die bei nicht normalem Geburtsverlauf be-
sonders stark wird. Aber diese Einwirkungen pflegen nach
Tagen, Wochen oder Monaten spurlos zu verschwinden. Ab-
norm starke Verunstaltungen, zum Teil mit Knickungen oder
Zerreißungen von Knochen können wohl auch dauernd eine
168 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Mißgestalt hervorbringen. Aber derartige einzelne krankhafte
Formen können hier außer Betracht bleiben. Ein von Sie-
mens 1924 berichteter Fall von Turmschädel bei einem von
zwei EZ zeigt übrigens deutlich die Nicht erblichkeit dieser
Dinge, wenn auch solche Fälle bei beiden vorkommen können,
wie Engerth 1 ) zeigt.
In der ganzen Wachstumszeit lenken die Hypophyse und
wohl auch andere Drüsen, Thymus, Keimdrüse u. a. mit ihren
Hormonen das Wachstum. Ihre Erkrankung verändert die
Schädelform. Bei als Knaben Kastrierten bleibt die Knorpel-
fuge zwischen Keil- und Hinterhauptsbein abnorm lang offen.
Am bekanntesten ist die abnorme Vergrößerung des Unter-
kiefers beim Krankheitsbild der Akromegalie. Aber auch noch
nicht gerade als krankhaft aufgefaßte Mehr- oder Weniger-
funktion der Hypophyse, vielleicht auch anderer Drüsen, kön-
nen ganz sicher die Schädelform beeinflussen. Roth 2 )' konnte
an Ratten durch Fütterung mit Hypophysenvorderlappenextrakt
im Zusammenhang mit Wachstumsbeschleunigung und Wachs-
tumsvermehrung die Schädel relativ länger machen. Der Index
wird gegenüber dem durchschnittlichen um etwa drei Ein-
heiten niedriger. Wir kennen entsprechende Wirkungen beim
Menschen nicht unmittelbar. Wieweit aber die im Laufe der
letzten zwei Generationen mindestens bei der Stadtbevölkerung
eingetretene frühere Geschlechtsreife (s. S. 229) und die seit
etwa 80 Jahren erfolgte Zunahme der Körpergröße in den
meisten Ländern Folgen von Veränderungen der inneren Drü-
senabsonderung sind und diese dann auch die Schädelform be-
einflußt haben, ist noch unbekannt. Die an vielen Stellen nach-
weisbare Zunahme der Rundschädeligkeit könnte damit zu-
s ammenhängen.
Weiter wissen wir, daß auch Ernährungsverhältnisse un-
mittelbar die Schädelform beeinflussen können, scheinbar am
stärksten tun es gewisse Mangelkrankheiten. Rachitis macht
bekanntlich eine ganz bestimmte Kopfform mit starker Be-
tonung der Stirn- und Scheitelhöcker, das Caput quadratum.
Auf Vitaminmangel antwortet der wachsende Rattenschädel
durch Verbreiterung, so daß er randschädeliger wird (Neu-
bauer 1925 und E. Fischer 1924).
x ) Engerth. Angeborene Turmschädelbildung bei einem erbgleichen
Zwillingspaar. Neur. u. Psych. Bd. 14S. 1933.
3 ) Roth. Wach stumsver suche an Ratten. Z. Morph. Anthr. 33. 1935.
UMWELTWIRKUNG AUF DIE SCHÄDELFORM.
169
Günther (Leipzig) 1 ) weist mit vollem Recht auf Zusam-
menhänge von Kopfform, besonders auch abnormer, z. B.
Turmschädel, mit konstitutionellen Dingen, z. T. mit bestimm-
ten Erbanlagen (Polydactylie) hin.
Es mögen aber bei der Schädelbildung noch sehr ver-
wickelte andere Dinge mitspielen, allgemein chemischer und
klimatischer Art (Wasser, Luft usw.). Nur so erklären sich
wohl die bekannten Ergebnisse von -Boas, Guthe undHirsch.
Bei Kindern von in Amerika eingewanderten Ostjuden wird
der Schädel schmaler, als er bei ihren brcitschädeligen
Eltern ist, und zwar je später die Geburt nach der Einwande-
rung erfolgt, desto mehr. Und umgekehrt bekommen die Kin-
der schmalschädeliger Sizilianer in Amerika etwas breitere
Köpfe. Dasselbe hat sich bei Kindern eingewanderter schmal-
schädeliger Schotten gezeigt, sie werden breitschädeliger. Und
die in Porto Rico geborenen Spanier bekommen rundere Köpfe
als ihre Eltern. — Ich habe die in Berlin geborenen Kinder
von aus dem Osten eingewanderten Juden und diese Eltern
untersuchen lassen (Dornfeldt — die Arbeit ist noch nicht-
ganz vollendet). Die Köpfe der Stadt-Kinder scheinen hier eine
Kleinigkeit schmäler zu werden. Einwanderung in Amerika und
hier ist etwas sehr Verschiedenes — man sieht, wie verwickelt
die Frage ist. Wir wissen eben von den betreffenden Umwelt-
einflüssen noch nichts. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, daß
Hirnfunktionen und Hirnwachstum unmittelbar oder auf dem
Umweg über Drüsen mitbeteiligt sind, woran A. Schreiner
und Hirsch denken. Ich stelle dazu die Beobachtung Hrd-
lickas 2 ), daß Neger in Amerika viel mehr zu vorzeitigem
Verschluß der Pfeilnaht neigen als in Afrika.
Mit derartigen, die Erbunterlage als solche natürlich nicht
ändernden, sondern nur im Erscheinungsbild wirkenden Ein-
flüssen muß man offenbar auch rechnen bei der Beurteilung
der eigentümlichen Erscheinung der „Verrundung" des Schä-
dels gewisser europäischer Bevölkerungen, vor allem der süd-
deutschen. Ich habe seit Jahren darauf immer wieder hinge-
wiesen. Auch Beobachtungen bei uns sprechen dafür, daß es
1 ) Günther, H. (Leipzig). Über konstitutionelle Varianten der Schä-
delform und ihre klinische Bedeutung usw. Virch. Arch. 278. 1930.
Ders. Die konstitutionelle und klinische Bedeutung des Kopfindex. Z.
menschl. Vererbung und. Konst. ig. 1935.
2 ) Hrdlicka. Catalogue of human crania in the U. S. Nat. Mus. —
Pi-oc. U.S. Nat. Mus. 71. Art. 24. 1928.
170 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
unmittelbare Einwirkungen der Umwelt auf die Kopfform ge-
ben muß, In einzelnen Schwarzwaidgegenden, vor allem aber
diene als Beispiel das Große Walsertal in Vorarlberg, sind
über 980/0 der Bevölkerung rundköpfig, dabei etwa ] / 4 hell-
äugig und hellhaarig. Auslese, etwa Auswanderung, kann die-
ses Verhältnis unmöglich, gezeitigt haben, mit der Ausmerzung
der Schmalschäcleligen müßten auch mehr Helle verschwunden
sein, da es bei der ursprünglichen rassenmäßigen Zusammen-
gehörigkeit dieser beiden Merkmale unmöglich ist, daß so gut
wie alle Schmalschäcleligen, aber fast keine Hellen ausgetilgt
sein sollten.
An Schädeln aus dem Karolingischen Kloster Lorsch scheint
sich zu zeigen, daß schon 300 Jahre nach der Einwanderung
typisch langschädeliger Bevölkerung starke Rundschädeligkeit
erreicht war. Wir kennen die eigentlichen Zusammenhänge
noch keineswegs (Fischer 1 ). Reche 2 ) spricht geradezu
von „Domestikationsformen". Salier 3 ) findet eine solche Ver-
rundung in Gebieten früherer und heutiger Slawensitze wie in
Niedersachsen. — Es müssen Um weit Wirkungen sein — mit
dem erblichen Rassenbild haben sie unmittelbar nichts zu tun;
die Erscheinung zeigt nur dringend, daß wir bei der Rassen-
beurteilung die Reaktionsbreite der erblichen Eigenschaften
berücksichtigen müssen und nicht auf rein metrisch-deskrip-
tiven Merkmalen ohne Analyse der Erbunterlage „Rassen"
einteilen können. Eine Leugnung der Rasse, wie sie von ge-
wissen Seiten gefolgert wird, ergibt sich daraus keineswegs!
Die Erbanlagen der betreffenden Rassen werden von all diesen
Umweltwirkungen nicht berührt. — Aber die Erkennung der
Zusammenhänge von vorgeschichtlichen Rassen und heutigen
aus den Schädelformen wird ungeahnt erschwert. Jedenfalls ist
mit einfacher Messung von Länge und Breite nichts getan!
l ) Fischer. Untersuchungen über die süddeutsche Brachykephalic.
III. Ztschr. Morph. Anthr. 31. 1933. — Dazu s. weiter:
Jäger. Die Rassengeschichtc Frankens (mit Beiträgen zur Wenden-
frage in Deutschland). Ztschr. ges. Anat. Bd. 18. 1934.
M ü hl mann. Untersuchungen über die süddeutsche Brachykephalie.
I. Ztschr. Morph. Anthr. 30. 1932.
■ 2 ) Reche. Natur- und Kulturgeschichte des Menschen in ihren gegen-
seitigen Beziehungen. Volk und Rasse. 3. 1928.
3 ) Salier. Neue Gräberfunde aus der Provinz Hannover und ihre Be-
deutung für die Rassengeschichte Niedersachsens und Europas überhaupt,
Ztschr. Anat. u. Entw.-Gesch. Bd. 101. 1933.
Ders. Die Rassengeschichte der bayrischen Ostmark. Ztschr. f. Kon-
stitutionsl. Bd. 18. 1934.
UMWELTWIRKUNG AUE DIE SCHÄDELFORM.
171
Abgesehen von erblichen Anlagen besteht noch ein Zu-
sammenhang von Körperlängenwachstum und Schädel-Breiten-
und Längenwachstum. Johannsen (1907) und B oas (1899)
haben auf diese Tatsache liingewiesen, Frets 1 ) hat sie er-
neut betont. Mit zunehmender Körpergröße nimmt das Län-
genwachstum des Schädels etwas mehr oder rascher zu als die
Breitenausdehnung; so kommt es, daß die Schädel bei Stei-
gerung der Körpergröße etwas länglicher werden, einen etwas
kleineren Längenbreitenindex bekommen. Man kann bei einer
Zunahme der Körpergröße stets auf entsprechende Abnahme
der Indexeinheiten rechnen. Nun ist, wie unten (S. 208) ge-
zeigt werden wird (von gewissen pathologischen Fällen abge-
sehen), die Größe des Einzelindividuums zum Teil durch des-
sen Ernährungs- und vielleicht andere Verhältnisse während
der Wachstumsperiode bedingt. So wird also die dadurch her-
vorgerufene Größen- Zu- oder -Abnahme auch entsprechend
eine Index- Ab- oder -Zunahme im Gefolge haben. Beim Ein-
zelindividuum muß man also bei der Beurteilung seines L.-B.-
Index Rücksicht auf die Körpergröße nehmen. Kleiweg de
Zwaan 2 ) zeigt diese Abhängigkeit erneut, er findet sie auch
für Gesichtshöhe und Jochbogenbreite (Malaien).
Von viel geringerer Bedeutung sind ganz unmittelbar den heranwach-
senden Kopf von außen treffende Einwirkungen. Es sei an die sogenannte
Deformierung erinnert, wie sie Indianer und andere Völker z. T. in sehr
großem Umfang geübt haben, indem sie den Kopf des Säuglings in feste
Binden oder zwischen Brettchen einschnürten. Auch fest angelegte Hauben-
bänder (Hclgoländer- Hauben usw.) können in dieser Richtung wirken. Aber
schon die Lagerung des Säuglings auf harte oder weiche Unterlage und
damit herbeigeführte Lage des Kopfes auf der Seite oder auf dem Hinter-
haupt kann, wie Wal eher s. Z. gezeigt hat, das Wachstum des Schädels
beeinflussen und damit deutliche Formunterschiede hervorbringen. Köpfe
von eineiigen Zwillingen, die zunächst sehr gleich waren, können bis zu
einem Index-Unterschied von 8 Einheiten verschieden werden. Basier 3 )
hat gezeigt, daß der Unterschied, in einzelnen Fällen nach 15 — 20 Jahren
noch völlig erhalten war, also zu einem Dauerunterschied geworden ist.
Man darf bei all dem nicht vergessen, daß damit nur et-
was gezeigt wird, was jedem Erbforscher selbstverständlich ist.
Es wird nicht ein starres, erbliches Etwas vererbt, sondern
1 ) Frets. The Cephalie Index. C. R. Congr. intern. Sc. Anthrop.
ELhn. London 1934.
3 ) Klciweg de Zwaan. Der Zusammenhang zwischen Kopf- und
Gesichtsmaßen mit der .Körperlänge bei den Minangkab au- Malaien Mittel-
Sumatras. Proc. Vol. 38. 1935.
3 ) Basler. Über den Einfluß der Lagerung von Säuglingen auf die
bleibende Schädelform. Ztschr. Morph. Anthr. 26. 1927.
172 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
eine Reaktionsbreite. Die erbliche (rassische) Form ist eben
durch Um weit Wirkungen nach allen Richtungen beeinflußbar,
und teilweise dürfte der Ausschlag nach einer Seite so groß
sein, daß er sich mit dem einer erblich ganz andersartigen
Form noch überschneidet. Daß das die Schwierigkeit der Er-
forschung der eigentlich erblichen Unterlage ganz besonders
groß macht, bedarf keines Wortes.
Gegenüber allen diesen Um weit Wirkungen
besteht nun die Erb Wirkung als solche. Die Tat-
sache, daß überhaupt Erbfaktoren mit Sicherheit angenommen
werden können, verdanken wir der Zwillingsforschung. Oben
wurde gezeigt (S. 167 und Abb. 43), daß typische Unterschiede
zwischen EZ und ZZ vorhanden sind. Am Vorliegen von Erb-
faktoren ist also nicht zu zweifeln. Es ist vielleicht von Inter-
esse, darauf hinzuweisen, daß deren Wirkung schon erkennbar
ist auf Stadien, wo die Umweltwirkung sozusagen immer gleich
ist, nämlich in früher Embryonalzeit. Am Schwein hat Kim 1 )
gezeigt, daß die erblichen Rassenunterschiede (Berkshire ge-
gen Landschwein) schon gleich bei der Anlage der primor-
dialen Schädelbasis deutlich werden.
Aber auch am Menschen läßt sich das erweisen. Rita
Hause hiid 2 ) findet schon bei Negerembryonen von 36, von
49 und 50 mm Scheitelsteißlänge, daß am Knorpelschädel der
Hirnraum schmäler, die Ohrkapseln höher und der Abschnitt
des Untergesichts (unter den Augenhöhlen) länger und mehr
vorgebaut sich anlegen. Rassenunterschiede sind also so früh
deutlich I
Wie verwickelt aber diese Schädelbildungsvorgänge verlaufen, erweist
eine sehr interessante Arbeit Troitzkys 3 ), die durch Experimente am
Kaninchen zeigt, daß die Nähte der Schädclknochen fest vorherbestimmt
sind, und zwar an bestimmten Stellen der Hirnhaut, nicht durch das
Wachstum des betreffenden Schädclknochens selbst! Das kann dann nur
vererbt sein. Aber die Zusammenhänge übersehen wir noch nicht I
Die einzelnen Erbfaktoren nun, die die Gesamtschädel-
form, wie oben gesagt, ausgedrückt durch den Längenbreiten-
index, bestimmen, sind im einzelnen noch nicht mit Sicherheit
zu erk ennen. F r e t s *) hat gegen 400 holländische Familien
1 ) Kim. Rassenunterschiede am embryonalen Schweineschädel und ihre
Entstehung. Ztschr. Morph. Anthr. 32. 1933.
a ) Hauschild, Rita. Das Primordialkranium des Negers. (Die Ar-
beit wird 1936 in Ztschr. Morph. Anthr. erscheinen.)
a ) T r o i t z k y. Zur Frage der Formbildung des Schädeldaches. Ztschr.
Morph. Anthr. 30. 1932.
*) A.a.O.
ERBANLAGEN DER SCHÄDELFORM.
173
untersucht, Er gibt zur Erklärung der Vererbungserscheinun-
gen zwei Theorien. Nach der einen sollen zwei AUelenreihen
der Vererbung zugrunde liegen. Der dominante Faktor der
einen soll ein die Brachyzephalie steigernder Faktor sein, der
dominante der anderen ein die Dolichozephalie steigernder. Es
gäbe demnach dominante Brachyzephalie und dominante Doli-
chozephalie. Unter seinen zahlreichen Erhebungen findet er
zwei Gruppen von Familien: Dominante Dolichozephalie-Fami-
lien und dominante Brachyzephalie-Familien. Die letzteren sind
die viel zahlreicheren, ihre Kinder sind stärker variabel, ihre
Köpfe im ganzen größer. Die zweite Reihe verbindet sich mit
Kleinheit des Kopfes : dolichozephale Kleinköpfe. Bei seiner
zweiten Annahme berücksichtigt er auch die Kopfhöhe und
nimmt drei Paare von Faktoren an. Aber das Ganze befriedigt
überhaupt noch nicht. Die Vererbung scheint mir letzten Endes
überhaupt nicht unmittelbar die Form zu beeinflussen sondern
einzelne Schädelteile. Ich denke eben dabei immer wieder
daran, daß ein dolichozephaler Negerschädel einen gänzlich
anderen Bau hat als ein dolichozephaler Schädel der nordi-
schen Rasse. Es dürften verschiedene Erbeinheiten sein, die
den einen und den anderen bilden. Auch Frets erwähnt ge-
legentlich, daß bei dominanter Brachyzephalie der Schädel-
abschnitt hinter dem Ohr relativ klein, die frontale Breite groß
ist, bei rezessiver Brachyzephalie umgekehrt die postauriku-
lare Länge groß und die Stirnbreite gering. Uns fehlen immer
noch für eine Erbtheorie gewisse morphologische Kenntnisse
am Schädel. Wir kennen keine genealogisch zusammengehöri-
gen Schädel. Man hat unglaublich viel gemessen und darüber
vergessen, daß wir morphologisch und entwicklungsgeschicht-
lich gar nicht wissen, was wir letzten Endes messen.
Ich glaube, man kann den Schaden, den die Einführung
von Ziffernwerten für die Grenze von Dolicho-, Meso- und
Brachyzephalie gestiftet hat, gar nicht hoch genug anschlagen.
Man kann überzeugt sein, daß sich brachyzephalerc und doli-
chozephalere Formen nach bestimmtem Modus vererben und
trotzdem die ganze Indexvererbung, d. h. Vererbung ganz be-
stimmter Schädelformen durch eigene, sie speziell beherr-
schende Faktoren ablehnen. Ich möchte dem vorsichtigen Stand-
punkt Alette Schreiners 1 ) beitreten. Eigene Erfahrungen
bestätigen vollständig ihre Ausführung, daß man im Leben
häufig Köpfe in bestimmten Familien sieht, die eine Reihe von
~~ !) A, a. o.
174 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Merkmalen, ja ich möchte dazufügen, ihren gesamten, einem
Beobachter deutlich auffälligen Stil und Bauplan, ganz deut-
lich vererben; Eltern, Kinder, Enkel, aber auch Geschwister
oder Vettern zeigen dieselben Bildungen. So „daß man von
wahren Familienköpfen reden möchte". Und mißt man dann
und bestimmt man „den Zephalindex, so wird man zum großen
Verdruß nicht gar selten genötigt, die schönen Familienköpfe
zu verschiedenen Kategorien zu rechnen" (Schreiner). Es
handelt sich eben oft um geringfügige Zu- oder Abnahmen von
Länge oder Breite, um Unterschiede von mehreren Einheiten
erscheinen zu lassen. Ich unterschreibe es, wenn die Forscherin
weiter ausführt, man habe „mittels dieses fast zu leicht zu er-
mittelnden Index für die Klassifikation der Köpfe ein verfüh-
rerisch übersichtliches, zahlenmäßig überaus einfaches und
klares, dabei aber ungemein künstliches System geschaffen,
das natürlich in vieler Hinsicht nützlich sein kann, aber die
große Gefahr in sich trägt, daß man allzu leicht vergißt, wie
künstlich es eigentlich ist". Den richtigen Weg zur Erfor-
schung dieser schwierigen Verhältnisse zeigt Abel in seinen
physiog no mischen Studien (s. S. 192), wo jeder einzelne Form-
bestandteil gesondert untersucht wird — aber es sind erst An-
fänge. F r e t s hat unstreitig das Verdienst, die Frage aufge-
rollt zu haben, sie wird aus der Diskussion nicht verschwinden,
bis sie gelöst ist. Davon sind wir noch weit entfernt. Ich glaube
sogar, Frets Arbeiten und das riesige Material, das er und
die anderen beigebracht haben, dazu all die Kritiken, haben
gezeigt, daß die Frage an europäischem Material überhaupt
nicht lösbar ist. Hier sind vermutlich die verschiedensten,
sagen wir einmal Schädelformungstendenzen so zahlreich, daß
wir in dem Gewirre der Erblinien, kompliziert durch hetero-
genste Umweltwirkungen, jede Einsicht verlieren. .Vielleicht
sind Kreuzungen von Dolichozeplialic und Brachyzephalie zwi-
schen Rassen, die sonst viel weiter auseinander stehen, und bei
denen man eine relative Herrschaft rein homozygoter Schädel-
formen annehmen darf, für unser Studium weit aussichtsreicher.
Auch meine Rehobother Bastards, an denen ich zuerst einen
Wahrscheinlichkeitsbeweis für die Vererbung der Kopfform,
durch den Längen-Breiten-Index ausgedrückt, erbracht habe,
sind dazu wegen des unsicheren europäischen Elementes nicht
ideal, wenn auch wohl besser als Europäer unter sich. Solche
Falle müßten also gesucht werden. Auch A. Schreiner denkt
an Ähnliches, wenn sie z. B. Kinder untersucht, deren Vater
ERBANLAGEN DER SCHÄDELFORM.
175
als reinrassiger ( ?) Lappe Hyperbrachyzephale ist, die Mut-
ter reinrassige ( ?) dolichozephalc Norwegerin. Von den Kin-
dern ist eines brachy-, zwei meso- und eines dolichozephal. Also
waren wohl beide Eltern heterozygot!! Dünn zeigt, daß die
Brachyzephalie der Hawaier in b\ gegen Europäer dominant
ist. Rodenwaldt, der auch nicht gerade besseres Material
hatte und mit seinen Resultaten etwa im Rahmen des oben be-
richteten Tatsächlichen bleibt, sagt entsagungsvoll: „An der
Ungunst der Vorbedingungen eines Naturexperimentes vermag
man nichts zu ändern." A. Schreiner weist auf die Not-
wendigkeit hin, Kreuzungen am Tier zu ; verfolgen ; sie berichtet
einen Fall von Kreuzungen von Hunderassen mit verschiedenen
Schädeiformen. Mir scheinen die Arbeiten von P h i 1 i p -
tschenk o 1 ) über Kreuzung von Kaninchenrassen an gün-
stigerem Material vollzogen, Hunde sind eben auch stark ras-
sendurchkreuzt. Der genannte Autor findet lediglich Spaltung,
vermehrte Variabilität, Transgression. Hier bleibt also alles
noch weiterer Forschung überlassen.
Man erkennt, wie schwierig die ganze Frage nach der Ver-
erbung der Schädelform ist, und damit die nach der Rassen-
form des Schädels. Vererbt wird — und rassenmäßig festge-
legt ist damit — eine bestimmte Reaktionsbreite der Schädel-
form. Wie innerhalb derselben die Einzelform sich gestaltet, ist
Umweltwirkung; jene aber sorgt dafür, daß diese Wirkung in
bestimmten Grenzen bleibt. Wie stark und in welcher Richtung
an gegebenem Ort und auf gegebene erbliche Anlage Umwelt
wirkt, wissen wir im allgemeinen ebenso wenig, wie wir erken-
nen, welche Dinge der Umwelt das Wirksame sind. Ein
Beispiel sei noch erwähnt, das zeigt, wie verwickelt und von
Fall zu Fall verschieden die Dinge liegen. Lundborg und
Wahlund 2 ) machen darauf aufmerksam, man könne „die
zwei helläugigen Bevölkerungen, , Finnen' und Schweden, aller-
dings nicht durch Unterschiede der Augenfarbe, aber ziemlich
gut durch den Längen-Breiten-Index auseinanderhalten. Der
ostbaltische Typus zeigt nämlich einen verhältnismäßig hohen
Kopfindex, der nordische Typus aber ist langköpfiger". Es
*) Philiptschcnko. Variabilite et heredite du eräne chez les mam-
mifercs. Arch. russ. d'anat. et d'embry. T. i. 1917.
a ) Lundborg und Wahlund. Rasscnverhältnisse im nördlichsten
Svcrige (Schweden). Ztschr. Morph. Antlir. (Festb. Fischer) 34. 1934.
176 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
muß dabei betont werden, daß beide Elemente seit Jahrhun-
derten in derselben Gegend leben — hier scheint Umwelt nicht
zu wirken I Es gibt also ganz unstreitig eine Vererbung der
Schädelform und die Schädelform ist ein Rassenmerkmal —
aber (genau wie bei der Körpergröße I) der einzelne Fall —
Rasse wie Individuum — muß biologisch untersucht, nicht ein-
fach schematisch gemessen werden !
Gesichtsschädel.
An allen anderen Eigentümlichkeiten des menschlichen
Schädels ist, wie erwähnt, nach der Vererbungsseite noch we-
nig gearbeitet worden. Nur das Gesichtsskelett als Ganzes hat
einige Bearbeitung gefunden. Zunächst steht fest, daß bei
Kreuzungen von langem, schmalem und niedrigem, breitem
Gesicht neben mittleren Formen schmale und breite, niedrige
und hohe herausspalten. Das konnte für Europäer-Inclianer-
Mischlinge (Boas), Europäer-Hottentotten-Mischlinge (E.Fi-
scher), Europäer-Malaien-Mischlinge (Rodenwaldt u. a.)
festgestellt werden. Aber es scheinen noch besondere Verhält-
nisse vorzuliegen, indem bei Mischlingen das Gesicht über die
zu erwartende Länge hinaus eine Zunahme von Verschmäle-
rung und Verlängerung zu zeigen scheint (Rodenwaldt,
Lundborg u. a.).
Genauere Untersuchungen fand die Gegend des Über-
gangs von mittlerem Gesicht in die Stirn, das Verhältnis der
Stirnbreite zur Jochbogenbreite. (Als Index fronto-jugalis zif-
fernmäßig ausdrückbar.) An den Rehobother Bastarden und
an den Mestizen von Kisar zeigte sich neben Aufspaltung ein
Überschreiten der elterlichen Grenzwerte durch die Bastard-
werte. Und A. Schreiner 1 ) konnte bei Kreuzungen, von Nor-
wegern, Finnen und Lappen auf Grund reichlicher, verglei-
chender Messungen deutlich zeigen, daß die Mischung jeder
dieser drei mit einem anderen deutlich stärkere Schmalstirnig-
keit macht. Ob sie mit der eben erwähnten Bastard-Schrnal-
gesichtigkeit zusammenhängt, ist unentschieden. Entweder sind
es recht verwickelte Erblichkeitsverhältnisse oder ein echtes
Luxurieren (s. S. 302).
Von Einzelheiten sei die Beobachtung von Gates 2 ) er-
wähnt, daß ein F r Bastard aus Portugiese und Tupi-Indianerin
die mütterliche vorstehende Form der Backenknochen rein
i) A. a. o.
2) A.a.O.
GESICHTSSCHÄDEL UND ZÄHNE
177
ausgeprägt hatte. Sie scheint sich also dominant zu vererben.
Auch bei Neger-Hottentotten-Kreuzung finden L o t s y und
G o cl d i j n das nach unten zugespitzte Gesicht der letzteren in
¥ t dominant. (Vgl. auch den folgenden Abschnitt f „Das Ge-
sicht und seine Teile".) Eine Reihe von Einzelbildungen müs-
sen besondere Erbfaktoren haben, wie etwa die Form des Na-
senseptums, die Form der Nebenhöhlen der Nase und des
Ohres (Schwarz 1 ), Leicher 3 )).
Über Vererbungserscheinungen am Kiefer belehrt uns
Korkhaus 3 ), daß die Form des Gaumengewölbes von vorn
nach hinten stärker erblich, quer stärker umweltbeeinflußt
ist. Die Pränasalgrube wurde schon erwähnt (S. 165).
Zähne.
Über Erbanlagen für zahlreiche Einzelheiten am Gebiß
sind wir durch Zwillingsuntersuchung ausgiebig unterrichtet.
Es sei vor allem die systematische Arbeit von Kork haus 4 )
genannt, dann Siemens, v. Verschuer 5 ), VVeitz, Zei-
ger u. a. Wenig wissen wir erst über den Erbgang und
damit die gegenseitige Unabhängigkeit einzelner Erberschei-
nungen.
Schon das Durchbrechen der Milchzähne erfolgt bei EZ
ganz erheblich ähnlicher, d. h. gleichzeitiger als bei ZZ. Das-
selbe gilt für den Zahnwechsel. Beispielsweise trat (nach
Brauns) 6 ) der erste Zahnwechsel unter 23 EZ bei acht
Paaren am selben Tag, bei neun mit einigen Tagen Unter-
schied, nur bei sechs mit zeitlicher Verschiebung von zwei Wo-
chen und mehr auf. Bei 21 ZZ dagegen bei keinem Paar völlig
1 ) Schwarz. Die Formverhältnisse der Nasen Scheidewand bei 84
Zwillingspaaren (53 eineiigen .and 31 zweieiigen). Arch. Ohren-, Nasen- u,
Kehlkopf Heilkunde. Bd. 1 19. 1928.
Ders. Die Bedeutung der hereditären Anlage für die Pneumatisation
der Warzenfortsätze und der Nasennebenhöhlen. Arch. Ohren-, Nasen- 11.
Kehlkopfheilkunde. Bd. 123. 1929.
2 ) Leicher. Die Vererbung anatomischer Varietäten der Nase, ihrer
Nebenhöhlen und des Gehörorgans. München 1928.
3 ) Korkhaus, Ätiologie der Zahnstell ungs- und Kieferanomalien.
Fortschr. Orthodonük H. 1. 1931.
4 ) Korkhau s. Die Vererbung der Kronenform und -große mensch-
licher Zähne. Ztschr. Anat. Entw. 91. 1930,
B ) v. Verschuer. Ergebnisse der Zwillingsforschung. Verh. Ges.
phys. Anthr, 6. 1931. L.
ß ) Brauns. Studien an Zwillingen im Säuglings- und Kleinkindesalter.
Ztschr. Kinderforsch. Bd. 43. 1934.
Baur-Fischer-I,eiizl. 12
178 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
gleich, bei vier mit einigen Tagen Unterschied und bei 17 mit
Unterschieden von zwei Wochen und mehr. Man sieht, daß so-
wohl Umweltwirkungen, aber vor allem auch deutlich, daß
Erbanlagen vorhanden sind.
Das Fehlen einzelner Zähne (am Lebenden nur röntgeno-
logisch als sicheres Fehlen feststellbar), z. B. symmetrisches
Fehlen des äußeren oberen Schneidezahnes oder von Prämo-
laren, war (nach 1 Zeiger) beiEZ immer konkordant. Das Feh-
len der betreffenden Zahnanlage ist also erblich. Erblich ist
Lückenbildung zwischen den mittleren oberen Schneidezähnen
(sog. Trema). M. Weninger 1 ) zeigt, daß es sich dabei um
einen rein dominanten Erbfaktor handelt. Da Männer das
Trema seltener aufweisen, nimmt sie einen im Geschlechts-
chromosom liegenden Hemmungsfaktor an, dagegen zeigen
gewisse Stellungsunregelmäßigkeiten, Drehung und anderes
sehr starke Umwelteinflüsse (Daumenlutschen u. a.). Form
und Größe der Zahnkronen sind nach Korkhaus bei EZ
verblüffend ähnlich. Hier sind die Furchen und feinen Spal-
ten, die Höckerchen und Wülste auf der Kaufläche der Back-
zähne, auf der Innenseite der Schneidezähne meist ein fast ge-
nauer Abklatsch zwischen den beiden Paarungen. Bei ZZ sind
wohl zuweilen Ähnlichkeiten, wie auch bei Geschwistern sonst,
aber eine vollständige Übereinstimmung findet sich nie. Es
müssen also auch diese feinen Einzelheiten erblich bedingt
sein. Noch auffälliger ist es, daß ab und zu auftretende über-
zählige Höckerchen ebenfalls streng erblich bedingt sind. Auf
der Innenseite der seitlichen oberen Schneidezähne kommt das
Tuberculum dentale (Incisivum) und am 1. oberen Mahlzahn
das Tuberculum impar (Garabclli) vor (nach de Terra bei uns
in 1,5 — 8,70/0). Nach zahlreichen Untersuchungen ist das Cara-
bellische Höckerchen 6gmal bei EZ bei beiden vorhanden,
einmal bei nur einem, dagegen bei ZZ nur rund in der Hälfte
der Fälle gleich, in der anderen ungleich. Die Größe der Zähne
ist nach Korkhaus Umwelteinflüssen sehr viel stärker unter-
worfen als die Einzelheiten der Formen, aber immerhin sind
die Größenunterschiede bei ZZ um das Drei- bis Zehnfache
größer als bei den EZ. Korkhaus 2 ) stellt durch Röntgen-
untersuchung fest, daß auch die Zahnwurzeln der Hauptsache
x ) Weninger, Marg. Zur Vererbung des medianen Oberkiefer-Tre-
mas. Ztschr. Morph. Anthr. 32. 1933.
2 ) Korkhaus. Die Vererbung in Zahnstellungsanomalien und Kie-
fer detormiräten. I. Ztschr. Stomat. 28. 1930.
GESICHT UND ZÄHNE
179
nach erbmäßig bedingte Form und Größe haben. Aber es
spielen Außenumstände (Gebrauch, Raummangel, Verlauf der
Blutgefäße und dergleichen) doch auch eine Rolle und können
in einzelnen Fällen die Ähnlichkeit verwischen. Endlich zeigt
derselbe Forscher, daß bei 51 EZ-Paaren die Zahnfarbe bei
48 vollkommen und bei drei beinahe gleich war, dagegen hat-
ten von 33 ZZ-Paaren 16 stark verschiedene Farben, nur 11
vollkommen gleiche. Auch die Zahnfarbe ist also in ihrer
Grundlage erblich. Zur allgemeinen Pigmentierung des Kör-
pers besteht keine Beziehung.
Erblichkeit von PI arte, Widerstand gegen Erkrankung
(Karies) läßt sich in der Zwillingsforschung nicht nachweisen,
die Umwelteinflüsse scheinen so groß zu sein, daß man sichere
Unterschiede zwischen EZ und ZZ nicht findet. Abgesehen
vom theoretischen Interesse ist es auch von praktischer Be-
deutung, daß Abel 1 ) am Schädelmaterial sehr deutlich zei-
gen konnte, daß für Zähne und zugehörigen Kiefer eine ge-
trennte Vererbung besteht. Bei Kreuzung von Hottentotten und
Buschmännern, deren Kiefer klein ist, mit Negern, deren Kie-
fer viel größer und mehr V-förmig, gibt es bei den Misch-
lingen zahlreiche Stellungsfehler der Zähne, teils durch Raum-
mangel, teils durch Raumüberfluß bedingt. Manche Stellungs-
fehler bei uns mögen durch disharmonische Vererbung von
Kiefer- und Zahnkronen bedingt sein.
Wieweit die zahllosen Beziehungen des Gebisses zur Kon-
stitution im allgemeinen und zu Krankheiten von erblichen Zu-
sammenhängen beeinflußt werden, ist noch wenig erforscht.
Eine sehr vollständige und vorzügliche Übersicht gibt PI.
Günther (Leipzig) 2 ).
Übriges Skelett.
An allen einzelnen Knochen findet man nach Rassen und
Individuen eine Menge Unterschiede, die die systematische
Anthropologie beschreibend und messend bis in alle Einzel-
heiten durchuntersucht hat (s. Martins Lehrbuch). Das
meiste davon dürfte umweltbedingt sein, so um ein paar be-
sonders leicht verständliche Punkte herauszugreifen, die Bie-
*) Abel, W. Zähne und Kiefer in ihren Wechselbeziehungen bei
Buschmännern, Hottentotten, Negern und deren Bastarden. Ztschr, Morph.
Anthr. Bd. 31. 1933.
2 ) Günther, H. (Leipzig). Die konstitutionelle Morphologie des
menschlichen Gebisses. Ergeb. AHg. Path. 29. 1934 (Lit. I).
12'
180 BUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
gung- von Oberschenkel und Schienbein (Pilasterbildung, Re-
troversion der Tibia), die Verstärkung der Tibia von vorn nach
hinten und Verschmälerung (Platyknemie) durch die funktio-
nelle Beanspruchung beim Hocken. Die Plumpheit der Kno-
chen des Kulturmenschen gegenüber den sog. Wilden geht
der entsprechenden Erscheinung an Haus- und Wildtieren
gleich. Dagegen dürften etwa die Unterschiede der Becken-
form zwischen Mongolen, Negern und Europäern erblich be-
dingt sein. Wingate Todd hat auf gewisse Unterschiede in
der Entwicklung des Beckens bei Mulatten gegenüber den
Stammrassen hingewiesen. Von all den zahllosen sonstigen
osteo logisch eil Unterschieden, vor allem in der Häufigkeit des
Vorkommens bestimmter Bildungen, kennen wir die erblichen
Unterlagen nicht. Als Beispiel sei erwähnt, daß Terry einmal
bei drei Geschwistern das Vorhandensein des (abtastbaren)
Processus supracondyloideus festgestellt hat, während er bei
vier weiteren Geschwistern und den Eltern fehlte. Bei der Sel-
tenheit des Fortsatzes, den er unter 1000 Individuen nur bei
zehn fand, wird man schwer an Zufall glauben.
Über Vererbung der Form des Schulterblattes, besonders
dessen inneren Randes, stellt W. W. Graves 1 ) seit Jahren
umfangreiche Untersuchungen an. Er hält die verschiedenen
Formen für erblich und konstitutionell gebunden an Lebens-
dauer, Gesundheit oder Krankheit. Auch manche Variationen
anderer Knochen hält er für den Ausdruck solcher Beziehun-
gen. Ich glaube nicht, daß derartige Zusammenhänge nach-
weisbar sind. Die Frage der Vererbung der Knochenunter-
schiede lohnte sicher genauerer Nachprüfung an Zwillingen
und Familien.
Die einzige erbbiologisch glänzend durchgearbeitete Er-
scheinung ist die Variabilität der Wirbelsäule. Seit mehr als
60 Jahren arbeitet die vergleichende Anatomie an der Lösung
der Frage nach der Bedeutung des häufigen Vorkommens
über- und unterzähliger Rippen und Wirbel an der mensch-
lichen Wirbelsäule und der Stammesgeschichte derselben. Es
sei an die erfolgreichen glänzenden Arbeiten Emil Rosen-
bergs erinnert. Eine Lösung aber, wenigstens in gewissem
Sinne, brachten erst die in meinem Institut durchgeführten
glänzenden Untersuchungen meines Mitarbeiters Dr. Konrad
1 ) Graves, W. W. A Note 011 inherited variations and fitness pro-
blems. Scicut. Pap. of the 3. Intern. Cong. of Eug. 1932.
ERBANLAGEN DES SKELETTES
181
Kühne 1 ). Bekanntlich findet sich beim Menschen gar nicht
selten ein dreizehntes, sehr erheblich seltener ein vierzehntes
Rippenpaar, und umgekehrt fehlt gelegentlich die zwölfte Rippe,
äußerst selten auch noch die elfte. Entsprechend ist gelegent-
lich der (normal) 5. Lendenwirbel -mit dem Kreuzbein verwach-
sen, so daß dieses sechs Wirbel hat, oder es ist, etwas häu-
figer, umgekehrt der (normal) 1 . Kreuzbeinwirbel nicht mit dem
folgenden verwachsen, so daß er als 6. Lendenwirbel auftritt.
Und an der FI als Wirbelsäule trägt gelegentlich der 7. Hals-
wirbel eine Rippe, so daß er zum 1. Brustwirbel wird, sogar
der 6. kann entsprechende Tendenzen kleineren Ausmaßes
zeigen. Umgekehrt kann der 1. Brustwirbel seiner Rippe ent-
behren, also in der Form eines 8. Halswirbels auftreten, oder
mindestens kann die Rippe am vorderen Ende rückgebildet,
verkümmert sein, eine beginnende Bildung derselben Natur,
Die vergleichende Anatomie deutet überzählige Rippen und
Verlängerung der Lendenwirbelsäule stammesgeschichtlich als
ältere Ausprägungsstufen, da noch der Gibbon, erst recht aber
die niederen Affen, normalerweise 13 oder 14 Rippen haben
(s. u. S. 186). Aber mit dieser stammesgeschichtlichen Deu-
tung ist die Frage nicht gelöst, wie beim einzelnen Menschen
eine solche Bildung entstehen kann, ob sie sich vererbt, ob es
also ganze Erblinien gibt, die etwa eine rezessive Erbanlage
tragen. Träfen sich zwei solche Anlagenträger, würden bei
einem Viertel der Kinder die betreffenden Bildungen auftreten.
Die Frage hat, wie man leicht verstehen wird, grundsätzliche
Bedeutung für zahllose Erscheinungen am Menschen, vor allen
Stücken viele als primitiv oder als atavistisch gedeutete, die
ja bei manchen Rassen gehäuft zu sein scheinen.
Kühne hat aus mehr als 10 000 klinischen Röntgenauf-
nahmen menschlicher Wirbelsäulen die mit Varietäten behaf-
teten herausgesucht und von diesen, so weit es möglich war,
die zugehörigen Familienmitglieder ebenfalls geröntget. An
23 Familien mit 121 Individuen und dann später an 53 EZ,
55 ZZ, ferner 46 Elternindividuen und 70 Geschwistern cler
Zwillinge konnte der Erbgang der Wirbelvarietäten fest-
gestellt werden. Nur in geradezu verschwindenden Ausnah-
1 ) Kühne. Die Vererbung der Variationen der menschlichen Wirbel-
säule. Ztschr. Morph. Anthr. 30. 1932.
Dcrs. Symmetrie Verhältnisse und die Ausbreitungszentren in der Varia-
bilität der regionalen Grenzen der Wirbelsäule des Menschen. Ebd. 34. 1934.
Ders. Die Zwillingswirbelsäule. Ebenda 35. 1936.
182 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
men, die uns einstweilen noch' nicht erklärlich, sind, treten
an ein und derselben Wirbelsäule Varietäten in zweierlei
Richtung auf, sonst immer nur in ein und derselben. Wenn
also z. B. eine Halsrippe auftritt, was man als Verlagerung der
Hals-Brust-Grenze kopfwärts bezeichnen kann, zeigen sich an
der Brust-Lenden-Grenze, wenn überhaupt, nur Varietäten als
Grenzverschiebung in derselben Richtung, d. h. Fehlen oder
Verkleinerung der 12. oder gar der 11. Rippe. Niemals da-
gegen gibt es in diesem Fall Vergrößerung der 12. oder Auf-
treten einer 13. Rippe, was Grenzverschiebung entgegenge-
setzt, nämlich steißwarts, bedeuten würde. Entsprechend wür-
den im vorliegenden Fall Verschmelzungen des 5. Lenden-
wirbels mit dem Kreuzbein (Sakralisation), Grenzverschiebung
der Lenden-Kreuz-Grenze kopfwärts zu erwarten sein, nicht
Abb. 44. Die rechteckigen Säulen neben den Personen a bis e bedeuten die
Wirbclregionen und zwar: q = cervicale, th = thoracale, I — lumbale, s =
sacrale und cd = caudale Wirbelsäulenregion. Die Pfeile und ihre Richtung
deuten je eine Variation an der betreffenden regionalen Grenze und ihre
„Tendenz" an. R = rechts, L = links. Die „Variationen" sind in dieser
Familie alle der Ausdruck der rezessiven Erbanlage: „Tendenz steißwarts."
(Nach K ü h n e.)
aber umgekehrt eine Loslösung des 1. Kreuzwirbels oder An-
deutungen einer solchen. Die familienweise Untersuchung hat
nun einwandfrei ergeben: 1. Die einzelne Varietät vererbt sich
nicht als solche, weder über- oder unterzählige Rippe noch
regelwidrig gebautes Kreuzbein usw. 2. Deutlich vererbt sich
die Richtung im Auftreten von Varietäten. Kühne nennt es
einstweilen „die Tendenz". Sie kann kopfwärts oder steißwarts
gerichtet sein. 3. Die kopfwärts gerichtete Tendenz ist domi-
nant über die rezessive steißwarts gerichtete. Ein einzig'cs Alle-
lenpaar beherrscht also die ganze Erscheinung. Die beifolgen-
den beiden Stammbäume geben Beispiele (Abb. 44 und 45).
ERBANLAGEN DER WIRBELSÄULE
183
Eine auf Grund des Röntgenbefundes der Wirbelsäule von
Ratten durchgeführte große Zucht dieser Tiere zeigte genau
dasselbe Ergebnis. Die Rattenwirbelsäule variiert grundsätz-
lich ebenso wie die menschliche, die Erbunterlagen sind die-
selben. (Die Veröffentlichung dieser Ergebnisse steht noch aus.)
Was nun die Zahl gleichzeitiger Variationen an ein und
derselben Wirbelsäule, ferner den Grad der Einzelvariationen
und das Vorkommen asymmetrischer Variation anlangt, konnte
Kühne zeigen, daß im allgemeinen die Intensität der Varia-
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Abb. 45. Personen a bis v und A bis E. Die übrigen Bezeichnungen wie
auf der vorhergehenden Abbildung. (Nach Kühn e.)
bilität bei Homozygoten stärker hervortritt als bei Hetero-
zygoten. Aber feste Beziehungen sind noch nicht aufzuweisen.
Wenn nun die Einzelvarietät nicht als solche erblich ist, bildet
die Verschiedenheit ihres Auftretens ein neues Problem, die
Frage der sog. „Penetranz" oder des Durchschlags, d. h. hier
der Ursachen der verschiedenen Manifestation (Erscheinungs-
bilder). Es wurde gelöst durch die Untersuchung von Wirbel-
säulen von Zwillingen. In einer neuen großen Arbeit konnte
Kühne zeigen, daß alle EZ (53 Fälle) dieselbe „Tendenz"
hatten, eine glänzende Bestätigung der obigen Annahme des
Allelenpaares, verstärkt durch die Tatsache, daß bei ZZ 12 Fälle
184 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
erwartungsgemäß sich fanden mit zweierlei Tendenz. Dagegen
konnte der Forscher zeigen, daß die Einzel Varietäten inner-
halb der betreffenden Tendenz bei EZ für die beiden Paar-
ringe häufig ungleich sind (Abb. 46). Das beweist also dann,
daß die einzelne Varietät nicht erblich, auch nicht durch
irgendwelche, etwa übergeordnete, andere Erbfaktoren be-
stimmt, sondern rein umweltbedingt ist. Diese Dinge müs-
sen also, da sie kurz vor der Geburt schon endgültig angelegt
sind, von bestimmten nicht erblichen Einflüssen während der
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.mm
.Costthartli
..UatXX
EU
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...Oal.llior.tt
v Veit. IX
mxxv
BerlXtt
Abb. 46. Röntgenbilder (Pausen, verkleinert) der Lenden- und Kreuzwirbel-
säulen zweier EZ. Bei EZ I. sog. 13. Rippen vorhanden, am 25. Wirbel
(normal = r. Kreuzwirbel) freie Querfortsätzc, also Lendenwirbelcharakter.
Bei EZ II keine 13. Rippe, aber der 25. Wirbel grundsätzlich als Kreuzbein-
wirbel ausgebildet, Spalten rechts und links zeigen die Unvollständigkeit der
„Sacralisation" an. „Tendenz" beider Zwillinge steißwärts. (Nach Kühne.)
Entwicklungszeit der Wirbelsäule abhängen. Man muß an Er-
nährungsverhältnisse, bei der Ungleichheit zweier EZ an deren
Unterschiede durch Lagerung usw. denken. Auch die Asym-
metrien der Wirbelvarietäten, deren erbliche Erklärung unge-
heure Schwierigkeit machen würde, werden dabei einigermaßen
verständlich. Aber ganz ohne erbliche Beeinflussung sind viel-
leicht auch die Varietäten nicht, denn die EZ sind im Gesamt-
Ersclieinungsbild doch etwas ähnlicher als ZZ.
Auch die grundsätzliche Frage von dem, was wir an sol-
chen Gebilden wie die Wirheisäule mit ihren individuellen
Schwankungen „Norm" nennen, erfährt völlig neue Beleuch-
ERBANLAGEN DER WIRBELSÄULE
185
tung, es muß aber hier auf die letzte Arbeit von Kühne
(1936) verwiesen werden.
Wir kommen in der Deutung der der Wirbelvarictät zu-
grunde liegenden Erbfaktoren noch einen Schritt weiter. Meine
Schülerin Frede 1 ) hat an sechs Generationen erwachsener
Ratten aus zwei Sippen, im ganzen 190 Tieren der Kühne-
schen planvoll dazu angestellten Züchtungen den Nervenplexus
der vorderen und hinteren Extremität durchpräpariert. Sie
konnte zeigen, daß diese Geflechte in genau derselben Weise
und in vollkommener Gleichsinnigkeit mit den betreffenden
Wirbelsäulen variieren. Es besteht also jeweils für das Nerven-
geflecht dieselbe „Tendenz" wie für die Wirbelsäule. Die abso-
lute Abhängigkeit berechtigt die Annahme der Beherrschung
durch dasselbe Erbfaktorenpaar 2 ,).
Da wir aus allgemeinen anatomischen Erfahrungen wissen,
daß Zahl und Anordnung der Zacken der verschiedensten
Rückenmuskeln von der Zahl der Rippen und der einzelnen
Wirbelarten abhängen, müssen auch diese von abermals dem-
selben Erbfaktorenpaar bestimmt sein. Und endlich hängt von
der Lage und Größe der untersten Rippen die Lage der Rip-
penfellgrenze (Pleura-Sinus) ab, abermals dasselbe Erbfak-
torenpaar 1
So zeigen diese mühsamen, grundlegenden Kühnes che n
Untersuchungen, daß es sich hier um ein einziges Erbfaktoren-
paar handelt, das die harmonische Ausbildung von Wirbeln,
Rippen, Muskeln, Nervengeflecht und Pleuragrenzc der hinteren
Rumpfwand regelt (E.Fischer) 3 ). Diese Entdeckung eröffnet
uns das Verständnis für zahllose andere Varietäten an den verschie-
denen Organen des menschlichen Körpers. Zugleich zeigt sie
uns aber, wie vielgestaltig die äußere Wirkung eines einzigen
Erbfaktors sein kann. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf
die Verschiedenartigkeit vieler ICrankheits bilde r, bei deren einem
wir einheitliche Erbfaktoren kennen (z. B. Schizophrenie),
1 ) Frede. Untersuchungen an der Wirbelsäule und dem Extremiiälen-
plexus der Ratte. Ztschr. Morph. Anthr. 33. 1934.
s ) Auf die dadurch gegebene Möglichkeit für den Chirurgen, aus der
Röntgenaufnahme einer Wirbelsäule am Lebenden die Tendenz des Ner-
venplexus zu erkennen und bestimmte Nervenvarietäten ausschließen zu
können und auf die Bedeutung dieser Tatsache etwa für Operationen am
Phrenikus oder am Plexus selbst (Durchschneidung bestimmter sens. Wur-
zeln), sei nur kurz hingewiesen.
3 ) Fischer, E. Die Erbuntcrlage für die harmonische Entwicklung
der Gebilde der hinteren Rumpfwand des Menschen. Anat. Anz. Erg. Bd.
(Vers. Würzburg) 1934.
186 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
bei anderen aber höchstens vermuten (Curtius' Degene-
rationsf amilien) .
Auf Grund dieser neuen Erkenntnis von den eigentüm-
lichen Erbverhältnissen kann man nun auch zu befriedigende-
ren Vorstellungen von der stammesgeschichtlichen Umwand-
lung der Wirbelsäule und der Entstehung ihrer typisch mensch-
lichen Form kommen, wie E. Fischer 1 ) darlegte. Abb. 47
zeigt den stammesgeschichtlichen Verkürzungs Vorgang der Wir-
belsäule bei den menschenähnlichen Affen und den Menschen.
drang GorHlo Mensch Schimpanse
Gibbon NiedereAffen
Sfeiss- Wirbel
Abb. 47. Die unteren Enden der Wirbelsäulen einiger Primaten. Die beiden
queren geraden Linien bedeuten die sog. normalen Grenzen von Brust- und
Lenden- wie von Lenden- und Kreuzabschnitt des Menschen. Die Ziffern
rechts und links geben die Zahl der Wirbel an. Schräge Grenzen zweier Ab-
schnitte (zweier Töne der Zeichnung) bedeuten sog. Übergangswirbel.
(Nach E. Fische r.)
Der Orang ist dabei am weitesten vorgeschritten. Wenn wir
uns nun vorstellen, daß bei allen Primaten wie beim Menschen
ein Variieren der Abschnittsgrenzen der Wirbelsäule um eine
sog. Norm stattfindet und weiter, daß die Variationstendenz
kopfwärts dominant und steißwärts rezessiv erblich sind — •
alle vorliegenden Untersuchungen rein statistisch anatomischer
Art sprechen dafür — ■, dann finden wir folgendes eigentüm-
liche Verhältnis, das der Deutlichkeit wegen an Befunden des
Halbaffen Nycticebus und Menschen erläutert werden soll, das
aber für alle höheren Formen entsprechend gilt. Für Nyctice-
1 ) F i s c h e r , E. Genetik und Stammesgeschichte der menschlichen
Wirbelsäule. Eiol. Zenlralbl. 53. 1933.
STAMMESGESCHICHTE DER WIRBELSÄULE
187
bus dürfte in der sog. Norm der 21. Wirbel der letzte rippen-
tragende Brustwirbel sein (Abb. 48). Ein Individuum mit einem
oder zwei Rippenpaaren weniger stellt also eine kopfwärts ge-
richtete Variation dar (dominant, Pfeile in der Abb, 48). Beim
Menschen dagegen stellt ein Individuum, das an demselben
20. Wirbel ein Rippenpaar trägt, eine schwanzwärts gerichtete
Variation dar (rezessiv, vgl. Abb. 47). Bei dem Affen hat sozu-
sagen das rezessive, schwanzwärts tendierende Gen seine Wir-
kung erst weiter unten an der Wirbelsäule. Man kann sagen,
das Genpaar ist dasselbe gebheben, seine Umkehrstelle hat
sich nur stammesgeschichtlich verschoben, eine langsame stam-
Mensch
Nycticebus
Abb. 48. Schema der unteren Brust- und oberen Lendenwirbelsäule bei
Mensch und Nycticebus (jeweils 18.— 23. Wirbel der Gesamtsäule).
Nach E. Fischer.
mesge schien fliehe, kopfwärts gerichtete Verschiebung. Sie ist
abgestuft. Was bezüglich der Lage der Grenzen beim Gibbon
die sog. Norm ist, ist beim Menschen eine rezessive steißwärts
gerichtete Variation, und was beim Gibbon eine dominante
kopfwärts gerichtete Variation ist, ist beim Menschen Norm
und ist (wenigstens an manchen Grenzen) sogar beim Orang
schon eine rezessive, steißwärts gerichtete Variation geworden.
Die Höhenlage, wo das eine Gen vom anderen abgelöst wird
(der Ausdruck ist nur bildlich gemeint), verschiebt sich also.
Was bedeutet bei dieser ganzen Sachlage das Herüber-
tragen unserer Vorstellungen von der morphologischen Er-
scheinung der Grenzenverschiebung auf die von Verschiebung
von Genwirkungen ? Eine greifbare Gestalt nehmen diese Ge-
danken an, wenn man für diesen Vorgang an Gedanken aus der
„physiologischen Theorie der Vererbung" Richard Gold-
schmidts 1 ) denkt. Er faßt die große Mehrzahl der Mu-
*) Goldschmidt, R. Physiologische Theorie der Vererbung. Ber-
lin 1927.
188 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
tationen als Quantitätsmutationen auf. Er sieht feste Bezie-
hungen zwischen Genquantität und Reaktionsgeschwindigkeit.
Wenn in unserem Falle das dominante, kopfwärts gerichtete
Gen und das rezessive, steißwärts gerichtete Gen nur quan-
titative Unterschiede der Reaktionsgeschwindigkeit bedeuten,
kann man sich schon ihre Wirkung auf die Entwicklungsge-
schichte der Wirbelsäule einigermaßen vorstellen. Man kann
etwa zu folgendem kommen: Bei allen Menschen legt sich
gleichmäßig eine 13. Rippe als Sonderanlage an, bei allen
reicht zunächst das Sakrum nicht soweit nach vorn, daß der
25. Wirbel sich noch als (6.) Lendenwirbel anlegt. Ein nun vor-
handenes Kopfwärtstendenz-Gen wirkt entwicklungsbeschleu-
nigend : alles schließt sich von hinten her rascher an, die ange-
legte 13. Rippe verwächst beschleunigt mit dem 20. Wirbel,
verschwindet. Bei noch größerer Beschleunigung verwächst
auch noch die darüberliegende (also normal 12.) Rippenanlage
mit dem 19. Wirbel. Und ähnlich wirkt diese Beschleunigung
auf die Assimilation des zunächst freien 25. Wirbels, so daß' er
Sakrum wird. Fehlt dagegen dieses beschleunigende Gen (nicht
vorhanden = rezessiv = Steißwärtstendenz), so geht alles Ent-
wickeln verlangsamt, die embryonal isolierte Anlage bleibt end-
gültig frei, es bleibt eine freie 13. Rippe, ein freier oder spalt-
fö'rmig getrennter 25. Wirbel. Der Umfang, in dem bei der Be-
schleunigung das Verschmelzen oder bei der Nichtbeschleuni-
gung das Freibleiben stattfindet, hängt, wie oben gezeigt wurde,
von Umwelteinflüssen ab. Hier denke ich an Ernährungsein-
flüsse im gerade „kritischen" Moment, aiiHormonlleferung sei-
tens der Mutter, deren Schwankungen mit verschiedenen Ent-
wicklungsstadien verschiedener Empfindlichkeit zusammentref-
fen können. Kühne konnte nachweisen, daß eineiige Zwillinge
auch im umweltbedingten Grad des Variierens sich doch ähn-
licher sind als gewöhnliche Geschwister, die Umwelt dürfte sie
eben gleichmäßiger treffen 1 ).
Es darf vielleicht noch darauf hingewiesen werden, daß
die Vorstellung eines Beschleunigungs-Gens zur Erklärung der
Wirbelsäulen Variationen gestützt wird durch entsprechende Er-
klärungsversuche anderer Erscheinungen, ich nenne Gold-
schmidts Untersuchungen über Flügelmuster bei Schmetter-
:l ) Man müßte auch zweieiige Zwillinge und Einzelgeschwister ver-
gleichen und bei letzteren größere Unterschiede erwarten als bei jenen —
unsere Untersuchungen gehen weiter, vor allem auch nach der entwicklungs-
geschichtlichen Seite.
STAMMESGESCHICHTE DER WIRBELSÄULE
189
lingen und Zeichnungsmuster bei Raupen, oder Stockards
(1930) grundsätzlich wichtige Ausführungen über die Ver-
erbung stammesgeschichtlich verlorener und ab und zu wieder
auftretender Zehen beim Hund und Meerschweinchen. Gold-
schmidt weist auf den Vorgang der Rückverlagerung (Hy-
sterotelie) und Vorverlagerung (Prothetelie) hin und bringt
das hübsche Beispiel der Brachydaktylie. In der Entwicklung
der menschlichen Hand wird die zweite Phalangen reihe nor-
malerweise zuletzt, und zwar im dritten Embryonalmonat an-
gelegt und ist zur Zeit der Geburt deutlich vorhanden. Ein
krankhafter erblicher Faktor kann gerade diese Anlagen so
treffen, daß diese Phalangen sich erst während der Kindheit
entwickeln und dadurch ganz Idein bleiben. Dadurch ist Brachy-
daktylie bedingt. Es handelt sich also deutlich um Änderung
einer Entwicklungsgeschwindigkeit.
Zu dieser ganzen Vorstellung paßt der Nachweis ausge-
zeichnet, daß eben dieser Faktor kein sozusagen Wirbelsäulen-
Gen ist, sondern eines für die Ausbildung der gesamten zu-
sammengehörigen Gebilde der hinteren Rumpfwand. Die Ein-
zelschwankungen der Wirbelsäulen sind dann nicht einfaches
entwicklungsgeschichtliches Hin- und Pierschwanken um ein
Mittel, sondern in der Tat stammesgeschichtliche Erscheinun-
gen, Ausdruck der langsamen Veränderung des Beschleuni-
gungsfaktors.
Ungelöst bleibt bei diesem ganzen „Erklärungs"~Versuch
des Wirbelsäulenproblems die Frage nach den Ursachen dieser
stammesgeschichtlichen Veränderung. Ich glaube zu diesem
Problem läßt sich zunächst nur etwas Negatives sagen, das
aber doch für das Verständnis der menschlichen Stammesge-
schichte von grundsätzlicher Wichtigkeit sein dürfte. Es ist
folgendes : Man kann für den Vorgang eine einfache natürliche
Auslese im Darwinschen Sinn ausschließen. Einerseits
sehen wir dieselbe Verschiebung der Wirbelsäulenabschnitts-
grenzen bei Gorilla, Schimpanse und Mensch. Ob deren bio-
logische und Anpassungsverhältnisse ganz gleich sind, bleibe
hier unerörtert. Sicher aber sind biologische Verhältnisse, etwa
Angepaßtsein an Hangeln und Schwingen, bei Orang und
Gibbon ähnlicher als bei jedem von diesen und der vorhin ge-
nannten Gruppe der Summoprimaten. Und doch ist die stam-
mesgeschichtliche Entwicklungsstufe des Gibbons ein gutes
Stück unterhalb der menschlichen,, die des Orang oberhalb der-
selben. Die Schwanzlosigkeit ist bei allen grundsätzlich gleich,
190 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
beim Orang am weitesten durchgeführt, ohne daß wir einen
funktionellen Grund erkennen können. Viel ausschlaggebender
aber für die Frage einer etwaigen Selektion bedingenden An-
passung ist der Hinweis auf die Tatsache, daß ja die Einzel-
variation als solche gar nicht erblich ist. Wenn wir uns also
vorstellen, daß das Fehlen eines 12. Rippenpaares etwa einem
Orang eine Begünstigung gegenüber anderen Individuen be-
deutete, müssen wir daran denken, daß dann die Kinder eines
danach positiv selektionierten Paares gar nicht fehlende 12.
Rippe, sondern etwa eine Halsrippe oder eine Spalte im oberen
Sakralabschnitt haben, was als Einzelmerkmal sicher nicht den-
selben Selektionswert hat; ja man könnte vielleicht sogar den-
ken, einen geradezu umgekehrten. Ich glaube, man kann hier
also wirklich etwa eine einfache Vorstellung von strenger Se-
lektion ausschließen. Wenn man in der Selektion hauptsächlich
eine nur ausmerzende Kraft sieht, wird man erst recht zu-
geben, daß sie hier wegen der Manifestationsschwankungen
keine Handhabe hat. Vielleicht ist gerade durch ihr Fehlen
das starke Schwanken dieser Manifestationen bei allen Pri-
matengenera zu erklären, und dieses Fehlen hätte uns dann die
außergewöhnlich große Vollständigkeit dieser vergleichend-
anatomischen „Urkunden" beschert.
Aber auch eine unmittelbare Bewirkung von außen her
kann ich mir für die sich biologisch so verschieden verhalten-
den Affenformen, wo wir überall denselben Prozeß, aber sehr
verschieden weit gediehen, vorfinden, auf keine Weise vor-
stellen. Welcher unmittelbare Einfluß eine größere Beschleu-
nigung des „Entwicklungs-Gens" der Wirbelsäule und der an-
deren achsialen Gebilde beim Orang, eine geringere beim Men-
schen, dieselbe beim Gorilla und Schimpansen, wieder gerin-
gere bei niederen Affen bedingt haben sollte, ist gänzlich un-
vorstellbar.
So bleibt nur die Annahm© einer Art von orthogeneti-
schem Geschehen. Mit der Vorstellung 'Goldschmidts von der
Natur der Mutationen als Quantitätsmutation ließe sich eine
Orthogenese für diese ganze Reihe von Erscheinungen am
leichtesten in Einklang bringen. Kleine Schritte, aber nicht
richtungslos, harmonisch für alle beteiligten Organe, langsame
Umkonstruktion der „anatomischen Konstruktionen" (Böker) 1 ),
aber auf jeder Stufe funktionell vollendet — das ist die Wir-
r ) Bokcr. Vergleichend biologische Anatomie der Wirbeltiere. Bd. 1.
Jena 1935.
STAMMESGESCHICHTE DER WIRBELSÄULE
191
kung einer langsamen stammesgeschichtlichen Veränderung
des den Entwicklungsvorgang beherrschenden Gens. Nicht eine
unvorstellbare Richtungsentwicklung — Orthogenese im oft
gebrauchten Sinn — sondern eine chemisch -physikalisch be-
dingte bestimmte Änderung eines Gens macht äußerlich eine
„Entwicklungsreihe". Eine geradezu zwangsläufig, d.h. jawohl
ortbogenetisch, sich vollziehende Steigerung der Wirkung eines
und desselben Gens scheint hier in der ganzen Primatenreihe wirk-
sam zu sein. Sie tritt äußerlich in die Erscheinung als aEmäliliches
Höherrücken des Umkehrpunktes der Grenze der als „regres-
siv" und „progressiv" angesprochenen Varietäten, innerlich, d. h.
ontogenetisch als Beschleunigung gewisser Vorgänge im Aufbau
der Wirbclelemente. (Die Einzelgestaltung dieser Vorgänge ist
dann der Wirkung von Umweltfaktoren überlassen.) Der gene-
tischen Analyse gegenüber erscheint sie endlich als Wirkung
eines einzigen einfachen Genpaares, das die Ausbildungsweise
der ganzen achsialen Gebilde harmonisch beherrscht. Man
denkt bei dieser stammcsgcschichtlich langsamen, stets gleich-
sinnigen Änderung des Gens an ein Beharren im steten Ab-
lauf eines Vorganges und kann die ganze Erscheinung ohne
weiteres unter dem Gesichtspunkt des „biologischen Trägheits-
gesetzes" von Othenio Abel 1 ) sehen. Es sei auf die letzte Dar-
stellung Ehrenbergs 2 ) verwiesen. Gerade die Tatsache der
entwicklungsgeschichtlichen „Rekapitulation" früherer Wirbel-
säulenstadien in der Ontogenese etwa einer „progressiven"
menschlichen Form und deren Umbildung zum Zustand des
Erwachsenen unter der Herrschaft desselben uralten „Gens"
veranlaßt solche Gedanken. Mit den Hinweisen, die die BÖ-
k e r sehen Konstruktionsvorstcllungen auf das biogenetische
Grundgesetz enthalten, besteht also völlige Übereinstimmung.
Die Auslese, aber schärfste und unerbittliche, tilgt alle „Kon-
struktionen", Änderungen, Typen oder, wie wir es auffassen wol-
len, immer wieder aus, die nicht ganz deiiLcbensansprüchen ge-
nügen. So wacht Auslese letzten Endes doch über dem Ganzen!
Ich glaube, diese Wirbelsäulentheorie hat auch grundsätz-
liche Bedeutung für andere entsprechende Erscheinungen
von Rück- und Umbildungen in der Stammesgeschichte des
Menschen.
^ Abel, O. Das biologische Trägheitsgesetz. Palaeont. Ztschr. 2.
1929.
2 ) Ehrenberg. Das biogenetische Grundgesetz in seiner Beziehung
zum biol. Trägheitsgesetz. Biol. general. 8. 1932.
192 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
f) Erbanlagen für das Gesicht und seine Teile.
Eine Vererbung der Gesichtszüge und zahlloser Einzel-
heiten der Ausgestaltung unseres Antlitzes gilt geradezu als
Selbstverständlichkeit. „Wie aus dem Gesicht geschnitten"
nennen wir häufig die Ähnlichkeit von Kindern und Eltern, und
am Gesicht stellen wir immer wieder Ähnlichkeit, ja geradezu
Zugehörigkeit zu einzelnen Familien fest. Aber im Gegensatz
zu diesen Erfahrungen des täglichen Lebens haben wir wissen-
schaftliche Untersuchungen der eigentlichen Unterlagen, der
Berechtigung zu dieser Volksmeinung, noch fast gar nicht. Von
ernsthaften Versuchen dazu sind zuerst die von Weninger und
seiner Schule, Geyer 1 ), dann von Seh ei dt 2 ) und die jüng-
sten von Abel :i ), Richter 4 ) zu nennen. Die Schwierigkeiten
einer Lösung sind hier deswegen so besonders groß, weil das,
was wir als ,, Physiognomie" bezeichnen, sich aus so unendlich
vielen Einzelheiten zusammensetzt. Es ist ohne weiteres anzu-
nehmen, daß zahllose davon auch von einzelnen Erbfaktoren
abhängen, daß also erblich ein Gesicht sozusagen aus ein-
zelnen Mosaikklötzchen aufgebaut wird. Aber diese sind sicher
nicht alle unabhängig voneinander. Eines beeinflußt von den
ersten Zeiten der Gesichtsentwicklung an das andere. Eine er-
erbte kleine Stupsnase, etwa von der Mutterseite her, muß in
einem, vielleicht von Vaterseite her ererbten, langen, schmalen
Männergesicht störungslos ihre eigene, zur ererbten Form zie-
lende Wachstumstendenz in Einklang bringen mit der ganz
anderen des schmalen, hohen, übrigen Gesichtes. Es sei an die
Disharmonie von Zahngröße und Kieferweite erinnert, s.S. 179,
an scheinbar zu kurze Oberlippe, was sich im Herausblecken
der oberen Zähne zeigt, Wir empfinden es sehr häufig ohne
weiteres als unschön und disharmonisch, wenn ein Gesicht aus
erblichen Einzelbildungen zusammengesetzt ist, die ursprüng-
lich nicht zusammen passen. Man darf ganz sicher sagen, daß
eine sehr starke Ineinanderkreuzung mehrerer in Europa lebcn-
x ) Geyer. Vorläufiger Bericht über die familienanthropologische Un-
tersuchung des ostschwäbischen Dorfes Marienfeld im rumänischen Banat.
Verhandl. Ges. Phys. Anthr. Bd. 7. 1935.
2 ) S c h e i d t. Untersuchungen über die Erblichkeit der Gesichtszüge.
Z. ind. Abst. Vererb. 60. 1932.
3 ) Abel. Die Vererbung von Antlitz und Kopfform des Menschen.
Ztschr. Morph. Anthr. 33. 1935 (Lit.).
ä ) R i c h t e r , Brigitte. Burkhards und Kaulstoß, zwei oberhessische
Dörfer. Eine rassenkundliche Untersuchung. Deutsche Rassenkunde. (Fi-
scher). Bd. 14. Jena 1936.
ERBANLAGEN DES GESICHTES
193
der Rassen unschöne Gesichter macht. Das Durcheinander -
wogen der verschiedensten Erblinicn für die einzelnen Teile
des Gesichtes, etwa Nase, Mund, Kinn, Backenknochen usw.
in den Großstädten und Industriebezirken erklärt die häufig" zu
beobachtende Häßlichkeit sehr vieler Gesichter etwa gegen-
über den regelmäßigen Gesichtern vieler stärker ingezüchteter
und rassereinerer Bauernbevölkerungen. Was heute mit der
Bezeichnung „ostisch" nach Günther von vielen Seiten als
ostischer Typus abgebildet wird und unter den Rassebildern
meist als das Häßlichste dargestellt ist, sind meiner Meinung
nach häufig Mischtypen aus Nordostdeutschland, zusammen-
gesetzt aus ostbaltischem, aus alpinem, und häufig wirklich öst-
lichem, d. h. mongolischem. Einschlag. Die Häßlichkeit ist
durch die starke Durcheinanderschiebung der Erbeinheiten der
verschiedenen Rassen bedingt. Eine sog. ,, Rassendiagnose"
solcher Gesichter ist meistens unmöglich. Es ist sicher nicht
richtig, solche Bilder als einen der Rassenbestandteile des
deutschen Volkes hinzustellen; es sind vielmehr abschreckende
Beispiele für planlose Rassenmischung.
Über die Zahl und Art der Erbfaktoren, die die Gesamt-
heit einer Physiognomie zusammensetzen, lassen sich Angaben
noch nicht machen, die Zahl muß aber sehr groß sein. Eine
gewisse Vorstellung von der ganzen Erscheinung erhalten wir
aus den Beobachtungen über die großenteils ungeheuer weit-
gehende physiognomische Ähnlichkeit erb gleicher Zwillinge,
aber auch über die verschiedensten Grade der Ähnlichkeit von
Geschwistern, Eltern und Kindern, aber auch Verwandter wei-
terer Kreise. Leider gibt es darüber noch fast gar keine- wissen-
schaftliche Untersuchung. Max Fischer 1 ) zeigt in einer sehr
schönen Studie, wie bei stärkerer Inzucht, also großer Ahnen-
gemeinschaft Vettern ersten Grades, hier König Georg V. von
England und der verstorbene Zar Nikolaus IL von Rußland,
sich sehr viel ähnlicher sehen können als sonst Brüder. Ein-
zelne Punkte aus dem Aufbau der Physiognomie untersucht an
größerem Familienmatcrial W. Abel, wie in den folgenden
Ausführungen gezeigt werden wird.
Daß in ausnahmsweise seltenen Fällen einmal auch der
Zufall eine Reihe für den physiognomischen Ausdruck wich-
tiger und charakteristischer Erbanlagen gleicher Art ohne jede
] ) Fischer, Max. Ähnlichkeit und Ahnengcraeinschaft. Z. Morph.
Anihr. 34. 1934.
Baur-Fischer-I,eüi, I. 13
104 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
genealogische Zusammengehörigkeit zusammenfügen kann, zei-
gen die Fälle von sog. Doppelgängcrtum. Wissenschaftlich
ist über diese noch wenig gearbeitet, vgl. S. io8.
Selbstverständlich wirken auch auf das Gesicht die Um-
welteinflüsse stark ein. Eingehendcrc Untersuchungen liegen
nicht vor. Die wichtigsten Ausführungen sind die von He II-
pach 1 ). Kr räumt reinen Außenwirkungen besonders großen
Einfluß ein. Er versucht zu zeigen, wie das Gesicht durch
Minenspiel, das würde also heißen durch Muskclzug, in seiner
Wachstumszeit beeinflußt wird. Jenes aber hängt vom Tem-
perament, von der Art des Sprechens, Lachens usw. ab. Dar-
nach würde die Gesichtsform letzten Endes vom Temperament
beeinflußt sein. Er unterscheidet ein schwäbisches, ein frän-
kisches, ein rheinisches, ein fälisches und ein ostisches Gesicht.
Diese sehr interessanten Studien sind bisher mehr Fragestel-
lung als Ergebnisse. Die Wahrnehmungen, daß die genannten
Gesichter stammesmäßige Verschiedenheiten zeigen, stehen
außer Zweifel. Jetzt muß eine sorgsame Analyse folgen, was
mimisch bedingt, also durch Funktion hervorgerufen wird, die
ihrerseits seelisch regiert wird, und was umgekehrt als knö-
cherne Unterlage und motorischer Apparat die Form der Phy-
siognomie erblich vorschreibt! In Hellpachs Ergebnissen
sind Erb- und Rassenanlagen und umweltbedingte Gewohn-
heits- und Nachahmungs Wirkungen einstweilen unentwirrbar
verbunden. Auf Kruses 2 ) Vorstellungen, daß auch noch un-
mittelbare Außenweltwirkungen (Klima oder geographische
Breite usw.) nicht nur auf jene Erscheinungen, sondern auch
auf andere Rassenmerkmale (Farben usw.) stattfinden soll-
ten, kann nicht eingegangen werden; einstweilen fehlt jeder
Beweis.
In dieselbe Richtung wie FI eil p ach s weisen die Unter-
suchungen von Clauß 3 ). Er gibt ganz ausgezeichnete Beob-
achtungen über die Verschiedenheit des Lachens bei einzelnen
Rassen. Er spricht vom nordischen Lachen, vom ostischen usw.
Daß hier erbliche Unterschiede vorliegen, ist wohl sicher; sie
gehen dann aber mit den entsprechenden psychischen, der be-
treffenden Rassen parallel. Abhängig aber ist die Form des
Lachens nicht von den psychischen, sondern von der Gestal-
1 ) II e 1 1 p a c h. Statik und Dynamik der deutschen Stammcsphysioguo-
licn (3. Mittig.). Sitz.-Ber. Heidelberg. Akad. d. Wiss. Math. nat. Kl. 1 93 1 .
2 ) Kruse. .Die Deutschen und ihre Nachbarvölker. Leipzig 1929.
'■'} Clauß. Kasse und Seele. 3. Aufl. München 1934.
ERBANLAGEN DER NASE
195
tung des Gesichtsskelettes und der Gesichts weich teile. Wohl
aber besteht dann wieder der oben für die FI ellp ach sehen
Ausführungen dargelegte Einfluß, daß (psychisch bedingte)
verschiedene Häufigkeit oder Intensität des Lachens das Ge-
sicht peristatisch beeinflussen.
So sehen wir am gesamten Gesicht (wie zu erwarten) ein
wechselndes Spiel von Erb- und Umwelteinflüssen. Die Kennt-
nis aber und die Möglichkeit, beide voneinander zu trennen
und im einzelnen Fall die Wirkungen zu erkennen, ist auch
praktisch von besonderer Bedeutung. Es kann z. B, bei Vater-
schaftsbestimmungen, bei Rassendiagnosen von ausschlagge-
bender Bedeutung sein ; aber gerade das „Gesicht" bedarf
noch vieler Untersuchungen (vgl. auch S. 176). Besser, bearbei-
tet sind einzelne Teile des Gesichtes, über die noch berichtet
werden soll.
Nase.
Mit Recht ist die Form der Nase als sehr wenig umweltbe-
einflußbar, immer als besonders wichtiges Rassenmerkmal an-
gesehen worden. Ihre Form ist. wohl auch für den Eindruck' des
Gesamtgesichtes von größter Bedeutung. Untersuchungen über
das Verhalten der Nase bei Kreuzungen zeigen, daß nicht etwa
ihre Gesamtform als Einheit übertragen wird. Es müssen Erb-
faktoren für die einzelnen Teile angenommen werden, die von-
einander unabhängig sind. Ja, ich glaube sogar, daß auch zwei
äußerlich annähernd gleiche Formen von Nasenrücken bei
verschiedenen Rassen sich erblich verschieden verhalten kön-
nen. Zunächst bestehen offensichtlich Gene für eine starke
Breitenausdehnung der Nase, wie sie vielen Farbigen zukommt.
Und zwar ist diese Breite dominant. Dieses fanden Fischer
bei der Europäer-FIottentotten-Kreuzung, ebenda Lebzelter,
Davenport und Steggerda, ebenso H 00 ton. an Euro-
päer-Neger-Mischlingen, R o d e n w al d t an den Malaiischen
Mestizen, Dünn an Europäer - Flawai - Mischlingen. Dabei
scheint sich die malaiische Nase in der Kreuzung nicht so
stark durchzusetzen wie die negride. Rodenwaldt weist mit
Recht darauf hin, daß der Nasenindex der Mestizen sich näher
an den der Europäer anschließt als entsprechend bei Mulatten.
Eine ganz interessante Angabe macht Karve 1 ). Sie sah
aus der Verbindung eines schmalnasigen Inders mit einer
v ) Ztsehr. Morph. Anthr. 28. 1930.
196 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Inderin, deren Nase flach, nieder und breit war (breites Ge-
sicht und betonte Backenknochen), 13 Kinder mit derselben
niedrigen, breiten Nase und 40 Enkel, davon 39 annähernd
ebenso, trotzdem die eingeheirateten Väter und Mütter zum
Teil schmalnasig waren; nur eine Enkelin hatte eine schmale
Nase. Hier scheint die niedere, breite Nase der Großmutter
homozygot und das Gen rein dominant gewesen zu sein. (Lei-
der fehlen Maßzahlen.) Bei Kreuzungen innerhalb Mitteleuro-
pas besteht dagegen offensichtlich, wie Abel zeigt, rezessives
Verhalten von breitgewölbten Flügeln. Hier ist die schmale
Nase dominant. Dieses fand L e i c h e r 1 ) bei einer einge-
henden Untersuchung an deutscher Bevölkerung, dasselbe
bei Kreuzungen mit Juden. Die Tiefe der Nase, d. h. der Ab-
stand der Nasenspitze von der Lippenflächc scheint nach Da-
venport und Steggerda, wie nach H 00 ton sich bezüg-
lich ihrer Ausdehnung bei Mulatten intermediär zu verhalten.
Rodenwaldt findet Ähnliches, da rücken die Mestizen von
den Europäern weiter ab, was im allgemeinen einen primi-
tiveren Eindruck hervorruft. S ch c i d t hält eine erhebliche
Tiefe bei unseren Nasen für wahrscheinlich dominant gegen
weniger erhobene (tiefe) Formen.
Der Nasenrücken ist genetisch nicht ganz leicht zu deuten.
Geschlechts- und Altersunterschiede machen sich deutlich be-
merkbar. Stark konvexe Formen, wie etwa die dinarische in
Europa oder gewisse unter Melanesiern, sind beim Mann durch-
schnittlich viel, stärker ausgeprägt als bei der Frau. Auffäl-
ligerweise fand Abel bei EZ gelegentlich ungleiche Rücken-
form. Die Vererbung der Rückenform zeigt, daß es sich um
mehrere verschiedene Gene, vielleicht einige mit Allelen han-
deln muß, was die einzelne Feststellung sehr erschwert. An
deutscher Bevölkerung sind konkave Nasenrücken rezessiv ge-
gen gerade und konvexe. Rodenwaldt bemerkt dasselbe
bei seinen Mischlingen auf Kisar. Sc hei dt findet, daß dieses
Gerade, auch leicht Wellige auch dominant ist gegen mäßige
konvexe Biegung. Auch L eich er findet, daß aus gerade X
gerade konvexe hervorgehen können, es muß also ein rezes-
sives Konvex geben. Nach der Erfahrung Leichers kommt
i ) Leiche r. Vererbung anal. Variationen der Nase, ihrer Neben-
höhlen und des Gehörorgans. (Körner, Ohrenheilkunde XII.) München
1928.
Der5. Über die Vererbung der Nasenform. Verh. Ges. phys. Anlhr. 3.
1929.
ERBANLAGEN DER NASE
197
dieses auch bei arisch-jüdischen Ehen und nach Chcrvin
auch bei Indianer-Negcr-Kreuzung in Bolivien und nach An-
deutungen Nordcnskiölds bei Europäcr-Eskimo-Mischlin-
gen vor. Dagegen betont Scheid t, daß starke Konvexheit,
also wohl die stark vorspringenden dinarischen Nasen gegen
gerade oder wellige deutlich dominant sind. Endlich sind nach
ihm auch sehr stark konkave Formen dominant gegen ge-
rade ( ?). Bei den konkaven Formen mißt er aber der Umwelt
den stärksten Anteil zu, Aber die starke Konkavität der Ncger-
nasc ist gegen die europäische nicht dominant, Daven-
port und Steggerda finden eher ein Vorherrschen der
europäischen Form. Klarheit besteht also hier bei weitem noch
nicht.
Für die Nasenspitze, die Lochbreite, die Lochlänge und
die Höhe der Nasenflügel konnte Abel erheblich kleinere Un-
terschiede zwischen EZ gegenüber ZZ und dadurch das Wal-
ten von Erbanlagen zeigen. Zur Feststellung von Erbgängen
reichte sein Material nicht aus. Auch Leicher ist in seiner
sehr schönen Arbeit in dieser Hinsicht mit Recht sehr vor-
sichtig. Eine spitze Form der Nasenspitze scheint über eine
stumpfe dominant, aber nicht ausnahmslos. Nach Roden-
waldt ist die Größe der Nasenlöcher, deren Querstellung und
die Blähung der Flügel dominant über die betreffenden ge-
ringeren Stufen. Er glaubt, daß man die Einmischung der
charakteristischen Nasenform Farbiger am sichersten und
längsten an Nasenloch und Nasenflügel sehen könne. Eine ge-
wisse Dicke der Flügel kann der letzte Rest sein. Ähnlich sagt
L eich er, daß man eine jüdische Nase in Mischung oft noch
erkennen kann, auch wenn Rückenform und anderes von der
arischen Seite vererbt sind, an einer „weichen Beweglichkeit
(Flexibilität)" der Nasenflügel. Auch Abel findet die Art des
Ansatzes der Flügel bei EZ am stärksten gleich. Ein Knick
im unteren Flügclrand scheint rezessiv zu sein (Richter).
Die Breite und Flöhe der Nasenwurzel ist nach Abel und
Leicher bei EZ erheblich übereinstimmender als bei ZZ,
ein Erbgang ist nicht feststellbar.
Hier muß noch sehr viel exakte Arbeit mit großem Be-
obachtungsmaterial getan werden. Man erkennt ja doch in
zahllosen Fällen noch einige Generationen nach Einkreu-
zung, z. B. einer Judennase, Einzelheiten derselben deutlich,
ohne daß man über deren Erbgang im einzelnen Auskunft
Reben kann.
198 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Lippen.
Zwillingsuntersuchungen (Abel) zeigen, daß die Größe
sowohl der gesamten Hautlippe wie der eigentlichen Schleim-
hautlippe bei EZ sehr viel weniger und seltener verschieden ist
als bei ZZ, also von einem Erbfaktor abhängt. Nicht erbliche
Beeinflussungen sind aber deutlich zu sehen. Ein klarer Erb-
gang ist für die Einzclformen bei unserer Bevölkerung bisher
nicht festlcgbar. Scheidt hält eine lange Hautoberlippc eher
für dominant, Abel für rezessiv. Auch bei meinem Bastard-
material scheint sich Lippendicke, alles zusammen genommen,
intermediär zu vererben. Man muß wohl an Allels tufen denken.
Hooton weist darauf hin, daß die Lippendicke bei Mulatten
sich in der Kreuzung sehr schnell vermindert. Dünn findet
bei Europäer-Hawaier-Kreuzung und Chinesen-Hawaier-Krcu-
zung die Lippendicke etwa in der Mitte zwischen den elter-
lichen. Auch Rodenwalclt sah Ähnliches auf Kisar, die
dickeren Lippen doch wohl mit Neigung zu einer gewissen Do-
minanz. Endlich fand auch Bi jimer an dem Rassengemisch
auf Timor alle Übergänge.
Abel weist darauf hin, daß Größe und Form von Haut-
lippe und Schleimhautlippe in gewissem Verhältnis stehen, aber
nicht ganz fest. Im großen, und ganzen haben kleine Kiefer-
höhen auch kleine Lippenhöhen und umgekehrt, aber es gibt
Ausnahmen. Er erklärt die bekannte Erscheinung der offenbar
sich dominant vererbenden Habsburger Unterlippe so, daß er
dominante Vererbung eines hohen Kinnes mit Vorbiß und hohe
(rezessive) Hautlippe annimmt. Dazu sei dann durch Einheirat
eine kurze (dominante) Hautlippe getreten, und das führte dann
zu der stark vorgewulsteten Schleimhautlippe des Habsburger-
typus. Die Kinnhöhe ist dabei beim Mann stärker betont, so daß
dadurch die Erscheinung im Mannesstamm so auffällig wurde.
Auch die Breite der Mundspalte ist bei EZ nach Abel
sehr viel ähnlicher als bei ZZ, also erblich mitbestimmt.
Vielleicht darf schließlich noch erwähnt werden, daß das
allgemeine und gleiche Vorkommen charakteristischer Wulst-
lippen beim Neger oder dicker, aber konvexer Oberlippen bei
den Pygmäen auf Neuguinea als homozygot erbliche Anlage
und daher mit Recht als Rassenmerkmal aufgefaßt werden
muß ; dann gilt wohl dasselbe für die ganz schmale, strichför-
mige Lippenform einzelner Individuen als fälische Rasseneigen-
schaft (z. B. in Hessen, nach Kern) 1 ).
i) Kern. Stammbaum und Arlbild der Deutschen. München 1927.
ERBANLAGEN VON LIPPEN UND AUGEN
199
Auge.
Über die Erbverhältnisse der verschiedenen Lidspaltenfor-
men bei unserer eigenen Bevölkerung, eng und weit, gerade
oder nicht ganz gerade gestellt, haben wir noch keine Angaben.
Daß die sog. Mandelform ab und zu, vor allen Stücken bei
Juden und der orientalischen Rasse überhaupt, auftritt, spricht für
ihre Abhängigkeit von einem sich rezessiv vererbenden Faktor.
Außerordentlich interessant ist die Vererbung der schrä-
gen Augenfalte (Mongolcnfalte). Die echte Mongolenfalte ist
gegenüber der faltenlosen Lidkante deutlich dominant. Tao
zeigt an F t -Bastarden (chinesischer Vater, europäische Mutter)
an reichem Material eine einfache Dominanz des Merkmals.
j*
Abb. 49. Dominanz der Mon-
golenfalte" bei einem F^Ba-
stard aus einem Vater aus Annam
und deutscher Mutter (Aufnahme
Dr. Abel).
Abb. 50. Die sog. „M o ti g o 1 c n-
ia.lt e" bei einer Hottcntoltin
(Aufnahme E. Fische r).
Auch Wagens eil s noch unveröffentlichtes Material von den
Bonin-Inseln, in das er mir liebenswürdigerweise Einsicht ge-
stattete, beweist, daß F r Bastarde von Japanern mit Euro-
päern und mit Europäer-Polynesier-Mischlingen ebenfalls die
Dominanz der Mongolenfalte zeigen. Neuhaus erwähnt einen
F t -ßastard von Chinese und Kanakin mit derselben Dominanz
und Salaman gibt an, daß die sog. chinesischen Juden schief-
äugig seien. Auch Dunns Material von Chinesen-Hawai-
Mischlingen verschiedenster Grade und die Mischbevölkerung,
200 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN
die Bijlmer 1 ) auf Timor untersuchte, sprechen im Heraus -
mcndeln der Falte für deren Dominanz. Endlich fand Abel
dieselbe Dominanz bei F r Mischlingen von Annami ten mit
Europäerinnen. (Noch unveröffentlichtes Material s. Abb. 49.)
Die schräge Augenfalte der Ostasiaten ist also gegen Falten-
losigkeit dominant. Außerordentlich auffällig ist nun die Tat-
sache, daß im Gegensatz dazu die entsprechende Falte am
Auge der Hottentotten in der Kreuzung mit Europäern zwei-
fellos rezessiv ist, wie E. Fischer an den Rchobothcrn
einwandfrei zeigen konnte. Trotzdem rein anatomisch, „phäno-
typisch" die beiden Falten gleich sind (s. Abb. 50), zeigt der
verschiedene Erbgang, daß sie genetisch nichts miteinander
zu tun haben. Die Falte ist also auf genetisch verschiedene
Weise zweimal in der Menschheit durch Mutation entstanden.
Aber damit nicht genug. Die Eskimo haben ebenfalls die
(anatomisch) gleiche Augenfalte. Da man die Eskimo allge-
mein zu den Mongoliden rechnet (wobei gerade diese Falte,
etwa neben der Haarform, als besonderer Beweis gilt), spricht
man hier bisher stets von Mongolenfalte der Eskimo. Aber sie
vererbt sich in Kreuzung mit Europäern rezessiv. Es ist also
genetisch nicht die Mongolenfalte. Ich verdanke der Liebens-
würdigkeit des Eskimoforschers Lcedcn zwei Bilder von
Europäer-Eskimo-Bastardmädchen, die keine Spur von Lidfaltc
und Schiefstellung der Spalte haben. Auch Nordenskiöld
bildet Mischlinge r. Grades ohne Augenfalte ab. Auch die
Eskimo-Augenfalte ist also genetisch selbständig entstanden
und beweist nicht nur kein Mongolentum, sondern spricht ge-
radezu gegen eine Mongolenverwandtschaft 2 ). Endlich muß
erwähnt werden, daß Aichel 3 ) bei Indianern in Chile eine
obere Lidfalte beschreibt, deren Bau und Form von der schrä-
gen Augenfalte der Mongolen, der Hottentotten und Eskimo,
die ja unter sich gleich sind, aber auch von Epikanthusbil-
dungen der Europäer deutlich verschieden ist. Die Falte wird
1 ) B 1 i 1 m c r. Outlincs of the anthropology of the Timor archipelago.
Weltev reden 1929.
2 ) Die Frage der rassischen Stellung der Eskimo wird dadurch neu
aufgerollt und bedarf als ganz besonders interessantes Problem dringend
der Bearbeitung. Ich verweise auf die Eigenart der Ilaarform S. 1 60 und der
Fingerleisten S. 148 und 154, Ich persönlich nehme an, daß sie nicht, zu den
Mongoliden, gehören.
3 ) Aichel. Ergebnisse einer Forschungsreise nach Chile-Bolivien. 4.
Epicanthus, Mongolenfalte, Negerfalte, Hottentottenfalte, Indianerfallc. Zeit-
schrift Morph. Anthr. Bd. 31. 1932.
ERBANLÄGEN DER AUGEN
201
nicht wie die Mongolen-Hottentotten-Falten von der Haut
oberhalb des Lidrandes, sondern vom medialen Abschnitt des
Lidrandes selbst gebildet. Aichel glaubt — mit Recht — ,
daß diese Falte unter den Indianern entstanden ist und sich
vererbt. Über den Erbgang in Kreuzung wissen wir nichts. —
Bei Indianern kommt — selbstverständlich von den Mongolen
her — auch echte Mongolenfalte vor, wahrscheinlich viel sel-
tener als behauptet wird, denn sehr oft ist wohl die Indianer-
falte einfach als Mongolenfalte gezählt worden, trotzdem sie
etwas ganz anderes ist.
Endlich gibt es auch kleine Faltenbildungen am äußeren
und inneren Winkel des Auges bei Negern, es sind aber ganz
kleine Fähchen. Doch sieht man die Neigung des Augenlides,
selbständig bei verschiedenen Rassen zu mutieren !
Die Schiefstellung der ganzen Augenspaltc, so daß der
äußere Lidwinkcl höher steht als der innere, hängt mit der-) Fal-
tenbildung nicht fest zusammen, wenn auch bei Mongolen mei-
stens beides vorhanden ist. Unabhängig von Faltcnbilclung
wird als schief nur der Fall bezeichnet, wo wirklich der innere
Augenwinkel (von einer etwaigen Falte entblößt) tiefer steht.
Tao findet sechs erwachsene F r Mischfinge aus der Verbin-
dung schief X gerade ausnahmslos schieläugig. Bei Kindern
von chinesischem Vater mit schiefer und europäischer Mutter
mit gerader Lidspalte zählt er 75—780/0 schiefe Augen. Aber
er findet auch einen Fall, wo bei gerader Spalte des chinesi-
schen Vaters ein Kind schiefe Spalte hatte, was unerklärt bleibt.
Man darf wohl das Schief als dominant bezeichnen. Auch hier
ist nun wieder die Abweichung bei Hottentotten in derselben
Richtung; ihre Kreuzung mit Europäern zeigt, daß gerade do-
minant ist über schief.
Über Erblichkeit der sog. Dcckf alten (s. Aichel) und des
Epikanthus, dessen Bildung aber schon zum Pathologischen zu
zählen ist, gibt es nicht viele brauchbare Angaben. Richter 1 )
bestätigt Scheid t und Keiter, daß eine stark entwickelte
Deckfalte über eine schwache im Erbgang dominiere. Eine
nach außen abfallende glaubt Routil erblich erweisen
zu können, Richter kann es nicht ganz bestätigen. BciAbels
Zwillingen erwies sich die Zwischenaugenbreite durch ihre
größere Ähnlichkeit bei EZ als erbbedingt, wenn auch beein-
flußbar durch Umwelt. Vielleicht ist geringe Zwischenaugen-
breite dominant.
i) A. a. O.
202 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Aber auch feine und feinste Einzelheiten der Augengegend
sind offenbar von Erbfaktoren beherrscht. J. Weninger 1 )
zeigt an Zwillingen, daß z. B. Weite der Lidspalte, Größe des
Lidwinkels, Höhe des Oberlides, Form des Brauenstriches und
anderes bei EZ ganz erheblich ähnlicher sind als bei ZZ.
Ohr.
Am Ohr finden sich im Gegensatz zu vielen anderen äuße-
ren Körperteilen, Nase, Lippe, Augenlid, Haar so gut wie
keine Unterschiede zwischen den einzelnen Rassen. Mutationen,
die die Gesamtgrößc oder Gesamtform stärker beeinflußt hät-
ten, scheinen nicht aufgetreten zu sein. Dies ist auffällig, weil
bei sehr vielen Haustieren nicht nur jene
| anderen Organe ebenfalls wie beim Men-
; sehen Rassenunterschiede zeigen, sondern
auch das Ohr: Hängeohren, Kurz- und
* , Langohren. Beim Menschen kommt als
rassenmäßig auftretende, erbliche Muta-
tion nur das sog. Buschmannohr vor, aus-
gezeichnet durch eigenartige Wulstbil-
dung der Innenseite der Muschel. Nach
den Beobachtungen an den südwestafri-
kanischen Bastards muß es ein rezessives
Gen haben.
Dagegen finden sich an den Ohren
aller Rassen individuell eine Unmenge
Verschiedenheiten aller Teile der Ohr-
muschel, Läppchen, Rand, Leisten und
Furchen der Muschel, Stellung des ganzen Ohres usw. Über
das Bestehen erblicher Unterlagen und die Verschiedenheit des
Grades der Umwelteinflüsse auf die einzelnen derartigen Bil-
dungen unterrichten uns eine Anzahl schöner Untersuchungen
Quelpruds 2 ). Er untersuchte im Dahlemcr Institut über 3000
Einzelpersonen und 950 Zwillingspaare, das sind mehr als
1 2 000 Ohren. Auch die kleinen Einzelheiten sind hier von
Wichtigkeit, weil wir bei Kenntnis ihrer Häufigkeit, ihrer Um-
-i'
'•V
Abb. 51. Buschmannohr
(von einem Bastard) nach
E. Fischer.
!) Weninger, J. Über die Weichteile der Augengegend bei crbglei-
chen Zwillingen. Anthr. Anzg. 1932.
2 ) Q u e 1 p r u d. Untersuchungen der Ohrmuschel von Zwillingen. Z.
ind. Abst. 62. 1932 und 67. 1934.
Derselbe. Die Ohrmuschel und ihre Bedeutung für die erbbiologische
Abstammungsprüfung. Erbarzt. Nr. 8. 1935 (Lit.).
ERBANLAGEN DER OHREN
203
weltfestigkeit oder -becinflußbarkeit und ihres Erbcharakters,
wenn möglich auch Erbganges, ein vorzügliches Material für
Vaterschaf tsuntersuchungen und dergleichen zur Verfügung
haben. Zum leichteren Verständnis einiger Einzelheiten diene
Abb. 52, die deren viele benennt.
Zur Feststellung einer Erbunterlage für die Ausgestaltung
der einzelnen Teile genügt (wie überall, so auch hier) der
Nachweis, daß ein Merkmal bei EZ sehr viel häufiger an
beiden Paarungen gleich ist, oder daß es bei Ungleichheit
grundsätzlich eine geringere Differenz aufweist gegenüber ZZ.
Dieser Nachweis ist für die meisten Merkmale leicht zu er-
bringen. Das Material ist so groß, daß der Nachweis bindend
ist. Bekanntlich sind auch das rechte und linke Ohr desselben
Crus Itelicis
Incisura anii 1 1 i
Ühmugencht it
Tragus
Iiicisttra intertmgica
Lobuhts
Uclix
A Ütclixäsle
Pi winsches Höckerchen
inllislix
V ! plia
( oncha.
h titragiis
Abb. 52. Ohrmuschel mit den üblichen Bezeichnungen einzelner Teile.
(Nach Quelpru d.)
Menschen nicht ganz gleich. Diese Unterschiede sind umwelt-
bedingt, die entsprechenden bei EZ dann also auch. Bei Zwil-
lingen werden jeweils alle vier Ohren verglichen. Beim Ver-
gleich von Photographien ist es praktisch, die der linken Ohren
spiegelbildlich wiederzugeben, so daß man scheinbar durchweg
gleichseitige nebeneinander hat (s. Abb. 53). Die Ähnlichkeit
von 4 Ohren von EZ kann geradezu erstaunlich sein!
In der folgenden Tabelle sind die Befunde von rechts und
links desselben Zwillings, dann der gleichseitigen und der
spiegelbildlichen (entgegenseitigen) Ohren jedes Paares zu-
sammengestellt 1 ). Zunächst das Ergebnis von igMaßen. Diese
1 ) Herr Quclprud stellte mir diese Zahlen aus seiner künftigen
großen Arbeit über die Vererbung der Ohrmuschel freundlichst zur Ver-
fügung, wofür ihm verbindlichst gedankt sei.
204 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
umfassen Länge und Breite der Gcsamtmuschel, Lange ihrer
Ansatzstelle, des Ohrläppchens, des inneren Muschelteiles
(Concha), Länge und Breite der Incisura intertragica, Tiefe
des unteren Anthclixastes, Breite des Hclixrandes an verschie-
denen Stellen usw. (s. Abb. 52). Wenn man den Durchschnitt
aller Differenzen dieser 19 Ohrmaße nimmt, zeigt es sich
(s. Tabelle: A), claß die Unterschiede der gleichseitigen wie
der spiegelbildlichen Ohren von EZ genau so groß sind, wie
die von rechts und links derselben Person. Die Unterschiede
der gleichseitigen wie der spiegelbildlichen Ohren von ZZ und
FZ sind dagegen erheblich größer. Die geringen, Unterschiede
sind also umweltbedingt, die größeren bedeuten die Erbunter-
schiede von erbverschiedenen Menschen (Geschwistern). Man
sieht aber auch, daß PZ noch stärker verschieden voneinander
sind: darin offenbart sich der Geschlechtsunterschied der Bru-
der-Schwester- Pärchen.
Tabelle
Mittlere Unterschiede zwischen
den Ohren
derselben
Person
gleichseitigen I spiegelbild-
Ohren der liehen Ohren
Paarlinge | der Paarlinge
19 verschiedene Ohrmaße
(Durchschnitt) (mm)
EZ
ZZ
PZ
1,1
1,1
1,0
1,1
1,0
1,8
1,8
| 2,5
2,5
Physiognomischer Ohr-
index (Indexeinheiten)
"EZ
2,0
2,0
2,2
2,0
2,2
ZZ
3,3
3,3
PZ
1 3,7
3,8
B
Stellung des Ohres (oberer
Winkel) (Winkel grade)
EZ
5°
5°
6«
ZZ
5°
6°
90
8°
PZ
13»
13°
c
Verwachsung des Ohr-
läppchens (im Hundertsatz)
EZ
5
6
8
6
6
ZZ
15
15
PZ
| 20
i
20
D
Größe des Darwinschen
Höckerchens (Größen-
klassen)
EZ
0,8
0,9
0,8
0,8
0,9
ZZ
1,! 1,1
PZ
| 1,3
1,3
E
ERBANLAGEN DES OHRES
205
Nimmt man nur das Längen-Breiten- Verhältnis der Ohr-
muschel, so findet man ebenfalls (Tabelle: B) keinen Unter-
schied in den Größenabweichungen von rechts und links des-
selben Menschen und von den beidartigen Ohren der KZ. Aber
wieder einen erheblich größeren bei ZZ. Auch hier kommt der
Gcschlcchtsuntcrschied deutlich zum Ausdruck.
Das Abstehen der Ohren, kann geinessen werden durch Be-
stimmung des Winkels zwischen der Plinterseite des oberen
Muschelteil.es und der Seitenfläche des Kopfes. Die Winkel-
R.
Zw. 1.
R.
Zw. II.
Abb, 53. Die Ohrenpaare zweier EZ.
Die beiden linken Ohren sind bei der photographischen Wiedergabe umge-
dreht worden, so daß sie spiegelbildlich erscheinen. Man beachte die große
Ähnlichkeit. Die beiden rechten zeigen am oberen Helixrand eine kleine
Verdickung, aber nicht ganz gleich.
werte (Tabelle: C) zeigen dieselbe Erscheinung wie bei den
bisherigen Maßen. Auch hier erscheint eine Geschlechtsver-
schiedenheit.
Der Grad des Angewachscnscins des Ohrläppchens wird
auf dieselbe Art im folgenden Teil der Tabelle (D) und die
Ausbildung' des Darwinschen Höckerchens in ihrem letzten Teil
iE) dargestellt. In der Verwachsung des Läppchens zeigt sich
ein deutlicher Erb unterschied zwischen EZ und ZZ, ebenso
ein deutlicher Geschlechtsunterschied bei PZ. Beim Darwin-
schen Höckerchen ist ein geringerer festzustellen.
Grundsätzlich dasselbe Ergebnis fand Quelprud für die
Größe des Tragus, des Antitragus, für die Lage der Tragus-
ebene und der Antitragusebene, dann für das Längen-Breiten-
206 EUGEN EISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN,
Verhältnis der Incisura intertragica und für das Größenver-
hältnis des oberen und unteren Muschclab Schnittes für eine
Reihe von Maßen und Winkeln. Auch Geschlechtsunterschiede
ließen sich jeweils nachweisen. Bezüglich der Ziffern muß ich
auf die Originalarbeiten verweisen.
Zusammenfassend kann man für alle diese Einzclbildun-
gen mit Sicherheit Erbanlagen, und zwar als einzelne Fak-
toren, annehmen, für alle auch deutlich eine in gewissen Gren-
zen sich bewegende Umweltbeeinflussung. Diese Umweltwir-
kungen machen sich teilweise schon vor der Geburt geltend. Es
müssen Lagerungs- bzw. Ernälmings Verschiedenheiten und ähn-
liche Dinge sein. Aber auch nach der Geburt wirken solche
noch fort. So konnte Quelprud feststellen, daß das Ohr-
läppchen bei Kindern bis etwa
zum 1 5 . Jahre freier ist, dann
mehr angewachsen bis etwa
Mitte der 50er Jahre. Im hö-
heren Alter wird es dann wie-
der freier. Dabei ist es durch-
weg beim weiblichen Geschlecht
mehr angewachsen als beim
männlichen. Auch das Darwin-
sche Höckerchen, das bei Kin-
dern etwa gleich stark ist in
beiden Geschlechtern, wird im
Alter bei Männern stärker, bei
Frauen schwächer. Bei allen
ist es im Durchschnitt rechts
deutlicher als links und, wenn
einseitig, rechts häufiger als
links. Auch bei einigen von den anderen Merkmalen bestehen
in Häufigkeit und Ausprägung kleine Geschlechts- und Alters-
verschiedenheiten. Ein paar Einzelheiten, die sehr viel seltener
sind als die oben genannten, seien noch erwähnt, weil ihre
Feststellung bei Gutachten gerade deswegen wichtig werden
kann. Im oberen Conchateil kommt etwa in der Häufigkeit von
5 — 60/0 ein nach Form und Größe recht schwankender Längs-
wulst vor, das Grus eymbae (Abb. 54). Er wurde bei mehreren
ZZ nie gleich, bei einem EZ-Paar gleich gefunden. Famiüen-
untersuchungen deuten auf dominanten Erbgang mit ziemlich
großen Manifestationsschwankungen. Sehr viel häufiger findet
man auf der Rückseite der Ohrmuschel einen kleinen Höcker
Abb. 54. Ohr mit gut ausgebil-
detem ,,Crus eymbae",
seltenere Bildung.
ERBANLAGEN DES OHRES
207
oder niederen Kamm, bei Männern in 720/0, bei Frauen in 290/0.
Er ist bei EZ ausnahmslos gleich. Der Erbgang ist noch nicht
festgestellt.
Dagegen liegen für den Erbgang einiger anderer Merk-
male Untersuchungen vor. Hilden*) untersucht (an 247
Runö-Finnen) das erbliche Verhalten des Ohrläppchens und
glaubt ein einfaches Faktorenpaar annehmen zu können, wobei
das freie Ohrläppchen dominant ist. Auch Leicher 2 ) bestä-
tigt das. Dagegen zeigt Q u c 1 p r u d an seinem außerordentlich
viel größeren Material, daß die Verhältnisse keinesfalls so ein-
fach liegen. Die Alters- und Geschlechtsunterschicde erschwe-
ren die Entscheidung manchmal. Es dürfte eine AUelenreihe
sein, das größere Ohrläppchen scheint jeweils dominant. Wei-
ter zeigt L eiche r, daß das „schmale" Ohr dominant ist über
das „breite" und das „gerade" angesetzte dominant über das
„schiefe". Endlich erweist Geyer 3 ) an Familienuntersuchun-
gen in Obersteiermark den sog. „bandförmigen Helixrand" als
einfach rezessiv vererbt, und eine „ausgerollte FIclix" als
„wahrscheinlich geschlechtsgebunden rezessiv vererbt". Über
diese letzteren Dinge liegen von Quelprud keine Unter-
suchungen vor.
Leider fehlen ausführlichere Angaben über anzunehmende
Unterschiede in der Häufigkeit aller dieser als erblich erkann-
ten Einzelheiten bei verschiedenen Rassen noch fast ganz. Sie
würden eine verschiedene Häufigkeit der betreffenden Gene
beweisen und die Feststellung großer Verschiedenheiten würde
unter Umständen Licht auf ihre Entstehung, d. h. auf Selten-
heit oder Häufigkeit der Mutationen werfen. Nach dieser Rich-
tung kann erwähnt werden, daß das Darwinsche Höckerchen
nach Hilden 4 ) bei Schweden und Finnen ungefähr gleich
häufig ist wie bei Elsässern (nach Schwalbe). Dagegen haben
Finnen häufiger eingerollten Helixrand als Schweden. Und
eben zeigt Hilden 5 ), daß Finnen häufiger fehlendes Ohr-
läppchen haben als Schweden.
1 ) Hilden. Studien über das Vorkommen der Darwinschen Ohrspitze
111 der Bevölkerung Finnlands. Fennia 52. Nr. 4. 1929 (Lit.).
2 ) Leicher. Die Vererbung anatomischer Variationen der Nase, ihrer
Nebenhöhlen und des Gehörorgans. München (Ohrenheilkunde der Gegen-
wart. Ed. 12) 1928.
3 ) G e y c r. Vererbungsstudien am menschlichen Ohr. Mitl. und Sitzber..
Anthr.-Ges. Wien. 58. 1918.
*) A.a.O.
5 ) H i 1 d c n. Zur Kenntnis des Vorkommens des freien und angewach-
senen Ohrläppchens in der Bevölkerung Finnlands. Com. Biol. V. 5.1935.
208 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Aus allen diesen Erblichkeitsuntersuchungcn ergibt sich,
daß man beim Verfolgen von Erblinien (Vaterschaftsgutachten
und dergleichen) die Wirkungen von Alter und Geschlecht und
allerlei Umwcltwirkungen berücksichtigen muß, daß man we-
gen zufälliger (nicht genealogischer) Ähnlichkeit zwischen häu-
figen und seltenen Merkmalen scheiden muß, und daß das Ur-
teil „vererbt" für die verschiedenen Einzelbildungen sehr ver-
schieden leicht oder schwer ausgesprochen werden kann. Das
Darwinsche Höckerchen, die Ausgestaltung des Helixrandcs
sind keine „guten" Eigenschaften, DieSkapha, ihre Fortsetzung
in das Läppchen, ein doppelhöckeriger Tragus, die Form der
Incisura intertragica, besonders auch das Ohrläppchen sind da-
gegen „gute" Merkmale — nur muß man bei der Beurteilung,
wie gesagt, an Alters- und Geschlechtsunterschiede denken 1
g) Erbanlagen für Körpergröße und Körperform.
Die Körpergröße ist bekanntlich außerordentlich deutlich
rassenmäßig verschieden, so daß man von pygmäischen, von
kleinen, mittelgroßen und großen Rassen spricht, wobei selbst-
verständlich die Einzelmaße in der betreffenden Rasse um
das betreffende Mittel sehr stark schwanken. Die Beobachtung
von Kreuzungen macht es zunächst sehr wahrscheinlich, daß
durch eine Allclcnreihe „Größer" gegen „Kleiner" dominant
vererbt wird. Daß auch innerhalb von Populationen Erbfaktoren
stärker als sehr viele Ernährungs- und andere Umwelteinflüsse
die Körpergröße beherrschen, sieht man ja bei uns, man kann
sagen täglich, an klein- und großwüchsigen Familien. Bei der
Gattenwahl scheint hier eine deutliche Siebung vorzuliegen, be-
sonders für die stärkeren Abweichungen vom Mittel. Ein beson-
ders schönes Spalten nach Kreuzung von „Groß" und „Sehr klein"
zeigten Fälle von „Cape people"-Mischungen, die Lotsy und
Goddijn 1 ) darstellen. Hier erwiesen sich also der Hoch-
wuchs des Negers und der pygmoide Wuchs des Buschmann-
Hottentotten als echte mendelnde Erbeigenschaften. Es kann
kein Zweifel bestehen, daß auch die anderen Wuchsformen der
verschiedenen Rassen, wie sie durch lausende systematischer
Messungen festgestellt sind, auf Erbfaktoren beruhen. Dabei
sind für jede Rasse eine Anzahl Allelen anzunehmen, deren
Wirkung (zusammen mit solcher der Umwelt) die Schwan-
kungsbreite der individuellen Körpergrößen innerhalb der Ras-
i) A. a. O.
KÖRPERGRÖSSE UND KÖRPEREORM
209
sen darstellt. In der Gesamtmenschheit begreift dann natürlich
die Allelcnreihe recht viele Allelstufen.
Diese erbliche Unterlage der „Körpergröße" erklärt leicht
die Erscheinung, daß die Körpergröße von Kindern eines un-
gleich großen Elternpaares oft über das beide] terliche Maß
hinausgeht. Scheidt 1 ) hat hier sehr schöne Beobachtungen
und Erklärungen beigebracht.
Auch bei Rassenkreuzung werden Kinder eines Kreuzungs-
paares jenes Verhalten zeigen, aber auch die Gesamtheit der
Bastarde wird über die Variationsbreite der Eltern nach beiden
Seiten hinausvariieren.
Ob es daneben noch ein Überschreiten der elterlichen
Größe nur nach oben gibt, das man Luxurieren nennt — und
ebenso nach unten — Pauperieren, ist zweifelhaft ; das Ganze
wird wohl nur die Folge einer Polymerie sein. —
Ich habe bei den Rehobother Bastards und für die von B o a s s. Zt. be-
obachtete Zunahme der Körpergröße bei Indianer-Halbblut gegenüber dem
Vollblut Bastardluxurieren angenommen. Ich habe übrigens auch dort schon
vorsichtig dazugefügt : „Ob dieses sog. Luxurieren nicht stets nur eine-
durch die Umwelt bedingte „Modifikation" ist, möchte ich heute nicht
entscheiden." Rodenwaldt findet bei seinen Mestizen keine entspre-
chende Zunahme der Körpergröße. Er sucht nach einer eigenen Erklärung
für dieses Ausbleiben. Ich glaube, das ist nicht nötig. Man darf keinesfalls
aus der Feststellung eines Luxurierens in zwei Fällen (Boas und Fischer)
— einmal angenommen, daß es wirklich ein Luxurieren ist — den Schluß
ziehen, es müsse jede Rassenkreuzung zu Luxurieren führen. Im Gegenteil,
das Luxurieren ist immer für eine Ausnahme zu hallen. So bin ich nicht
überrascht, wenn Bryn Norwegcr-Lappen-Mischlinge klein findet. Bei Mu-
latten ist von keiner Seite ein Luxurieren festgestellt worden, beiläufig be-
merkt, auch kein Pauperieren, wie ich das Gegenteil jener Erscheinung
genannt habe. Als ein Beispiel weise ich auf eine Untersuchung von Stcg-
gerda 3 ) hin, der an Europäer-Negcr-Mischlingcn in Jamaika (1400 Schul-
kinder) die Neger etwas größer- als die Weißen, die Mulatten in der Mitte
zwischen beiden, fand. Solche Angaben ließen sich leicht vermehren, /.. B. an
Chinesen-Hawai-Mi schlingen (D u n n), die auch gerade in der Mitte zwischen
ihren Elternrassen stellen. (S. über Luxurieren auch S. 302.)
Es bedarf kaum besonderer Betonung, daß die Erbanlage
„Körpergröße" für das betreffende Individuum nicht seine
Größe in Zentimetern und Millimetern „bestimmt". Wir ererben
natürlich auch hier wie stets eine Reaktionsbreite, etwa im Be-
reich hohen oder mittleren oder niederen Wuchses gelegen.
Welche tatsächliche (in Zentimetern ausdrückbare) Größe jeder
!) Scheidt. Die Asymmetrie der Körpergrößenkurven und die An-
nahme der Polymerie. Arch. Rass.Gcs. Berlin. 16. 1925.
2 ) Steggerda. Physical dcvelopmcnt of negro-white hybrids in Ja-
maica. Am. Journ. ph. Anthr. 12. 1928.
Baur-l'ischer-Leiiz, I. 14
210 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
innerhalb seiner erblichen Reaktionsbreite erreicht, hängt dann
von Umwelteinflüssen ab, von Ernährung der Frucht und des
wachsenden Menschen, Krankheiten, Klima usw. (s. „Wachs-
tum" S. 110 und folg. Kap.).
Wie vorsichtig man in der Annahme rassenmäßiger, d.h.
erblicher „Größe" einer Bevölkerung sein muß, lehrt folgende
Beobachtung Speissers 1 ), die bekannt zu werden verdient,
weil noch immer so viele nur messende Untersucher mit der
Feststellung "von „Rassenmerkrnalen" recht unvorsichtig sind !
Speisse r konnte auf den Neuen Hebriden zeigen, daß im
Innern mehrere, wie es der Anthropologe zunächst nennen
würde, kleinwüchsige Stämme sind, daß diese aber in allen
anthropologischen Merkmalen den großwüchsigen Küstenleuten
mehr gleichen als diese Großen anderen Großen der benach-
barten Inseln I Er macht es sehr glaubhaft, daß diese Klein-
wüchsigkeit kein Rassenunterschied, sondern eine Modifikation
ist. Bestätigend gibt der dortige Missionar an, daß in Familien,
die vom Bcrgland an die Küste übersiedeln, die Eltern klein
und untersetzt bleiben, die jüngeren Kinder aber später groß
werden und den Küstenleuten völlig gleichen.
Diese Erscheinung muß uns beim Versuch, verschiedene
Rassen nach ihrer rassenmäßigen, cl. h. also erblichen Körper-
größe zu vergleichen, sehr vorsichtig machen !
Unter denselben Gesichtspunkt fällt die Tatsache, daß die
europäische Bevölkerung sehr vieler Staaten. (Deutschland,
Holland, Schweden, Italien u. a.) im Laufe der letzten 50 Jahre
nicht unbeträchtlich an durchschnittlicher Körpergröße zuge-
nommen hat. Die Erhöhung der Durchschnittsgröße ist haupt-
sächlich auf Minderung der Zahl der „Kleinen" zurückzu-
führen. Dieselbe Erscheinung ist in Japan beobachtet worden.
Die Zunahme ist natürlich, eine rein umweltbedingte, die Einzcl-
ursachen kennen wir nicht genau.
Wachstum.
Weiterhin müssen wir aber die Fragen lösen nach denErb-
unterlagcn und den Umweltbeeinflussungen derjenigen Vor-
gänge, die zu diesen als erblich erkannten Körpergrößen füh-
ren, d. h. der Wachstumsvorgänge. Von äußeren Einflüssen
räumen wir den Ernährungsverhältnissen eine große Rolle ein,
dann aber auch den Mangelkrankheiten (Rachitis, Avitaminose
1 ) Speisse ]'. Anthr. Messungen usw. Verbands!. Nat. Ges. Basel.
Base] 39. 1928.
ERDANLAGEN DES WACHSTUMS
211
usw.), dem Licht, dem Klima, den Körperbewegungen, dem
Auftreten und Ablauf von Infektionskrankheiten, mittelbaren
oder unmittelbaren Schädigungen (Verletzungen, mechanische
Behinderungen usw.). Weiter wirken Störungen der normalen
Tätigkeit jener innersekretorischen Drüsen, die das Wachstum
beherrschen. Wir wissen, daß alle diese Umwelteinflüsse von
sehr eingreifender Wirkung auf das Wachstum und damit auf
die Körpergröße sein können.
Die derart beeinflußten Erbanlagen sind nun wohl als
Wachstumgene zu bezeichnen, v. Verschrie rG versucht auf
der Grundlage von Zwillingsuntersuchungen sie im einzelnen
zu verfolgen. Zunächst zeigen erbliche Wachstumsstörungen
nvie oben S. 110 schon erwähnt) das Vorhandensein von Genen
für den normalen Ablauf mit Sicherheit an. Sic äußern sich
teils vor, teils nach der Geburt, sind teils rezessiv, teils domi-
nant. Sie dürften für alle Menschen normalerweise gleich sein,
v. Verse hucr nennt sie „Grundfaktoren des Wachstums
(analog z. B. dem Grundfaktor A für Pigmentbiklungj". Zu
ihnen kommen dann „Erbanlagen für Individual- und Rassen-
unterschiede". Die Beobachtungen über das Wachstum von
Zwillingen, und zwar an 1176 Paaren (davon 846 aus dem
eigenen Dahlcmer Institut, die anderen aus der Literatur) zei-
gen nun, wie sehr das Wachstum des ganzen Körpers und ein-
zelner Teile in seiner erblichen Anlage verschieden ist und von
Umwelt gemodelt wird. Die Kurven (Abb. 55) zeigen, diese
Unterschiede deutlich. Je stärker eine Kurve oder eine Kurven-
strecke von der senkrechten Linie mit den Altersangaben sich
nach rechts entfernt, um so verschiedener sind die Paarlinge
in den betreffenden Zwillingsgruppen. Da grundsätzlich bei
diesen Zwillingsgruppen die Umwcltwirkungcn für die einzel-
nen Gruppen (abgesehen von „ Pärchen", wo der Geschlechts-
unterschied berücksichtigt werden muß I völlig gleich sind, be-
deutet die durchweg festzustellende größere Ähnlichkeit der
EZ den Ausdruck der Erbanlagen 2 ).
Man sieht, daß das Körpergewicht arn stärksten von außen
beeinflußt ist, dann folgt der Brustumfang. Die EZ sind sich
meistens bei der Geburt am unähnlichsten, die Folge der star-
ken Ungleichheit der Ernährung im gemeinsamen Uterus, um
J i v. V er schuer. Die Erbbedinglheit des KörpenvachsUims. Zlschr.
Morph. Anthr. 34 (Festband G. Fischer). 1934.
2 ) Die Lenz scheu Darlegungen (Abschn. 4) zeigen, daß die wirkliche
erbliche Differenz noch viel großer ist, als es hier erscheint.
14'
Jahrs
Jahre
212
Umfang der Brust
Breite zw. den Akromien
EZ
ZI
überZS
Jahre
Körpergröße
Ott 08 1.Z IE ZU 2>Z8 3.2 3fi
Zä'/^e des Armes
EZ
U
n-is
ffi-w
T
T
\
ü 1 * 08 n 1,6 2.0 ZA 1.8 3,Z
0> DB 1Z IG ZD 2> 20 32
J-jhfE
Körpergewicht
fZ
ZI
PI
-i-
-t-
T
9-1!
3-5
4-
D-Z,
0> 0.8 1,Z IG Z.ü Z> Z.8 3.Z 3.6 V0
Jahre
Länge des Beines
11
0/r 0,8 XL 1,B Z.Ü 24 2.8 3,2 3,6
\
\
\
N
.-**■"
■J
Abb. 55, Die durclischnittlichen
Unterschiede einiger Körpermaße
zwischen den Paarungen von
EZ, ZZ und PZ in verschiede-
nen Altern, (Einzelerklärung im
Text.) Nach v, Vcrschuer,
umn \i ig z.o is vi sz 36 <to ^i. w s,z s.e g.o ga
ERBANLAGEN DES WACHSTUMS
213
dann ähnlicher zu werden. In der Pubertätszeit ist sehr häufig
eine stärkere Zacke in der Kurve, die Umwelteinflüsse an-
zeigt, v. Verschuer deutet sie als den Ausdruck kleinerer
zeitlicher Schwankungen im Eintritt der Pubertät oder (und)
einer stärkeren Beeinflußbarkeit des Körpers in dieser Zeit.
Sehr interessant ist die Kurve der Körpergröße. Bis ungefähr
zum 2. Lebensjahr sind EZ und ZZ je unter sich gleich ver-
schieden, was zeigt, daß die Verschiedenheit umweltbedingt ist.
Dagegen von 3—5 Jahren und dann zunehmend bis zu 12 oder
13 Jahren werden ZZ immer verschiedener, EZ behalten die
gleiche Differenz untereinander, werden sogar in der ersten
Zeit deutlich einander ähnlicher 1 ) . Hier machen sich also
Erbunterschiede geltend, diese Wachstumsperiode wird von
besonderen Erbfaktoren beherrscht. Sie sind zwischen dem 3.
und 13. Lebensjahre wirksam. „Das Überraschende ist nun",
so sagt v. Verschuer, „daß diese bemerkenswerte erbbe-
dingte phänotypische Differenzierung zwischen den ZZ-Paar-
lingen im weiteren Leben nicht erhalten bleibt, sondern ziem-
lich weitgehend wieder zurückgeht. Dieses Ähnlicherwerden der
ZZ in der Körpergröße vom 14. Lebensjahr an kann unmög-
lich durch Umweltwirkung erklärt werden — sonst müßten
auch die EZ ähnlicher werden, was aber nicht der Fall ist. Die
Erklärung unseres Befundes sehe ich vielmehr darin, daß die
Erbanlagen, die Unterschiede im Wachstums rhy thmus oder
Wachstums te m p o bedingen, nicht auch Unterschiede im
Wachstums erfolg, d. h. in der schließlich erreichten Körper-
größe bedingen. Die letzteren Erbunterschiede haben nicht die-
selbe Bedeutung. So kann es z. B. vorkommen, daß der eine
Paarung erst rasch und dann langsam wächst, während der
andere das etwa gleiche Ziel in gleichmäßigem, langsamcrem
Wachstum erreicht. Ein solches Zwillingspaar ist zunächst sehr
verschieden, später wird es ähnlicher. Solche Fälle scheinen so
oft vorzukommen, daß sie dem Durchschnitt das Gepräge
geben."
Boas 2 ) zeigt auch für Geschwisterschaften Wachstums-
ähnlichkeiten, die er als Ausdruck von Erbanlagen für das
Tempo deutet.
v ) K omai und ¥ ukuoka (Journ. Hcred. 25. 1934) beschrieben einen
Fall, wo einer von EZ vom etwa 10. Jahr an im Wachstum stark hinter
dem Bruder zurückblieb, zugleich Diabetes bekam und eine Verkleinerung
der Hypophysengrube hatte ■ — ■ eine Erklärung ist nicht zu geben.
2 ) Boas, The Tempo of Growlh of Fraternhies. Proc. Nat. Acad.
Sc. Vol. 21. 1935-
214 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN.
Einen ähnlichen Wachstumstyp wie der Gcsamtkörpcr, zeigt
die Armlänge und die Beinlänge (s. Abb. 55). Hier konnte v.
Verschuer an einzelnen Fällen zeigen, wie bestimmteUmwclt-
einflüsse, hier Leibesübungen, die endgültige Ausgestaltung der
Proportionen stark beeinflussen. So ist ja auch .die Tatsache zu
verstehen, daß Menschen bestimmter Berufe auch gewisse
Eigenheiten der Proportionen zeigen, Schmiede und derglei-
chen, haben lange Arme, Seeleute lange Arme und Beine, Kopf-
arbeiter relativ längere Beine als Arme. Auch die sog. Sport-
typen gehören hierher, Turner, Kurzstreckenläufer, Langstrek-
kenläufer, Schwerathleten haben je besonderen und charakteri-
stischen Körperbau. Die Zwillingsuntersuchungen zeigen, daß
die Grundlagen ererbt sind und den betreffenden Mann gerade
zu der betreffenden Betätigung geführt haben werden. Dann
aber hat die Betätigung ihrerseits die Ausprägung des Typus
vollendet und verstärkt (s. S. 222).
Entsprechend dürften auch die Proportionsunterschiede
der verschiedenen Rassen beurteilt werden. Die Unterlage so-
zusagen dürften jeweils rassenmäßig verschiedene Erbfaktoren
bilden; Umwelteinflüsse (Lebensweise usw.) modeln aber so
stark daran, daß bestehende erbliche Unterschiede häufig zu-
gedeckt werden, und in anderen Fällen Verschiedenheiten auf-
treten, die nicht erblich sind. Selbstverständlich sind auch von
den erblichen Unterschieden, die in den v. Verschuer sehen
Kurven (Abb. 55) zum Vorschein kommen, einzelne als ras-
sische zu deuten, Unterschiede zwischen den verschiedenen
Rassebestandteilen innerhalb unseres Volkes. Die Proportions-
unterschiede zwischen den großen Rassen sind noch wenig
untersucht. Davenport 1 .) findet bei einer kleinen Anzahl Euro-
päcr-Australier-Halbblut die europäische Kürze der Beine do-
minant. Ob aber diese Mischlinge so aufgewachsen sind und
gelebt haben wie die langbeinigen Australier, ist nicht festge-
stellt. Einwandfrei sind dagegen die Feststellungen desselben
Forschers und Steggerdas 2 ), daß bezüglich Beinlänge,
Klafterweite und Beckenbreite die Jamaika-Mulatten in der
Mitte zwischen den deutlich voneinander abweichenden Euro-
päern und Negern stehen, bei gleicher Lebensweise der drei
ldeinbäuerlichen Gruppen. In Körpergröße und Gewicht stan-
den dabei Mulatten und Neger gleich. Roden waldt kam bei
') A. a. O. und 1> a v e 11 p o r t and S i e. g g" c r d a a. a. O.
2 ) Sieggerda. Pbysica] developmenl of negro-white hybncls in
Jamaica. Am. jour. ph. Anih. 12. 1928.
UMWELT UND WACHSTUM
215
seinen Mestizen zu keinem brauchbaren Ergebnis. Dagegen
stellte er die interessante Erscheinung fest, daß deren Gesamt-
körperbau graziler ist als der der beiden Stammrassen; eben-
so sind Armlänge, zum Teil die relative Beinlänge, ferner die
weibliche Beckenbreite geringer als bei beiden Elternrassen.
Vorsichtigerweise berücksichtigt Rodenwaldt die Möglich-
keit von allerlei Umweltfaktoren, glaubt aber mit Recht doch
auch Erbunterlage annehmen zu
müssen. Es scheint eine Art von
Pauperieren zu sein. Dasselbe gilt
für die Erklärung der auffällig
geringen Gesamtkörperfülle bei
diesen Mestizen.
All diese Darlegungen von
Erb- und Umwelteinflüssen wer-
den nicht berührt von der Tat-
sache, daß das gesamte Wachs-
tum wie das der einzelnen Teile
und damit die Größe und die Pro-
portionen von der Tätigkeit inne-
rer Drüsen — Hypophyse, Thy-
mus, Keimdrüse, Epithclkörper-
chen u. a. ( ?) — abhängt. Erb-
anlagen für Wachstum, Wachs-
tumstempo usw. wirken also mit-
tels dieser Drüsen, sie sind letzten
Endes erbliche Anlagen dieser Ge-
bilde. Aber auch die Umweltein-
flüsse sind großenteils (oder
nur?) solche, die auf die Drüsen
wirken (chemische). Wie stark
hier eingewirkt und das Wachs-
tum willkürlich geändert werden
kann, zeigen zahlreiche Experi-
mente (vor allem Evans, dann Johnson, Lit. bei Roth) 1 ).
In derselben Weise wirken natürlich krankhafte Zustände
der betreffenden Drüsen, seien es auf Erbanlagen beruhende,
seien es umweltbedingte (Mangelkrankheiten, Verletzungen,
Zerstörung durch Geschwülste und dergleichen). In dieser Hin-
sicht sind die Wuchs- und Proportionsänderungen bekannt, die
*) Roth, Wachstumsversuche an RaUen. Zeitschr. Morph, und Anthr.
33- 193 5-
- -*V-
Abb. 56. Hochwuchs durch Ho-
denmißbildimg. (Nach Henckcl.1
216 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
die Kastration Jugendlicher im Gefolge haben; als Beispiel sei
Abb. 56 gegeben, wo eine Minderentwicklung der Hoden eine
eigenartige, langgliedrige, hochwüchsige Körperform bedingt
hat, die der von Eunuchen gleicht. (Größe [87,7 cm — nach
Hcnckel.) Über menschliche Kastraten berichten u. a. Wa-
genseil 1 ) und ausführlich Pittard 2 ).
Auch sehr viel geringere Störungen des Spiels der Drüsen
— Erhaltenbleiben kindlicher Zustände usw. — werden die
Proportionen verändern. Es ist ein sicher ungeheuer verwickel-
tes Ineinandergreifen umweltbedingter und erblicher Einflüsse.
Von einigen zu besonders auffälligen Abweichungen führenden
Entwicklungsstörungen kennen wir die Erbanlagen im einzel-
nen, so von gewissen Zwergwuchsformen mit und ohne Ände-
rung der Gliederproportionen; doch soll auf diese krankhaften
Erscheinungen nicht hier sondern im Abschnitt 3 eingegangen
werden.
In einem gewissen Grade ist unabhängig von Wuchs und
Körpergröße die Ausbildung von Fett, die Derbheit von Binde-
gewebe und Knochen, die Entwicklung 'der Masse.
Die Körperfülle selbst und die allgemeine Form des Ge-
samtkörpers, schlank oder gedrungen, untersetzt oder fein-
gliederig, hängen sicher zum Teil von Uniweitwirkung ab. Aber
man sieht doch ganz deutlich auch erbliche sog. Neigung zu
Fülle oder Magerkeit, noch mehr zu untersetztem, oder schlan-
kem Körperbau, individuen- bzw. familienweise und auch für
ganze Rassen. Davenport 3 ) glaubt mehrere sich steigernde
Erbfaktoren für die Zunahme an Korpulenz und Körperge-
wicht annehmen zu müssen. Rassisch gelten nordafrikanische
Jüdinnen als stark geneigt zu Fettablagerung. Wenn man aber
sieht, wie untätige und übermäßig ernährte Ncgcrhäupthnge
unendlich viel fetter sind als ihre Untergebenen gleichen Stam-
mes, wenn man sieht, wie fast fettlose Eingeborene in der euro-
päischen Siedlung fetten Europäern bald nichts mehr nach-
geben, wird man mit der Annahme rassenmäßiger Erbfaktoren
sehr vorsichtig.
1 ) W a g c 11 s e i 1. Chinesische Eunuchen. Z. Morph. Anlhr. 37. 1933
(Ut).
2 ) P i t t a r d. La castration chez l'homme. Paris 1934.
3 ) Davenport. Body build: its developrncnt and mheritance. Eug.
Reeord Off. Bul. 24. 1925.
KÖRPEREORMEN UND KÖRPERBAUTYPEN
217
Die Steatopygie, der Fettsteiß der Flottentottenweiber,
anatomisch dem Fettsteiß und Fettschwanz mancher Schafras-
sen und dem Fettbuckel des Zebu entsprechend (s. Abb. 57, 58,
S. 264), tritt bei jenen Frauen ganz regelmäßig auf, meistens
auch noch die Oberschenkel einschließend, während der übrige
Körper geradezu mager bleiben kann. Es ist ein sicher erbli-
ches, auf das weibliche Geschlecht beschränktes Rassenmerk-
mal der Hottentotten. An Hottentotten-Europäer-Bastarden
xten Grades konnte ich echte Steatopygie nicht beobachten,
wohl aber gradweise sehr verschieden und manchmal recht
starken Fettansatz an Hüfte, Oberschenkel und Gesäß. Bei uns
unterscheidet man verschiedene Typen der Fettanordnung am
weiblichen Körper (Reithosentyp usw.). Von Vererbung wissen
wir nichts.
Von sonstigen Einzelheiten der äußeren Körperform sei
die Verschiedenheit der Form des Brustkorbes erwähnt, von
der v. Verschue r und Zip perlen (s. S. 234) zeigen konn-
ten, daß sie bei EZ in der ganz erdrückenden Mehrheit gleich
oder fast gleich, bei ZZ ebenso häufig verschieden ist. Doch
führt diese Angabe schon aufs Gebiet der sog. Konstitutions-
typen (s. unten).
Die verschiedene Größe und Lage der weiblichen Brust
dürfte auch nicht nur umweltbedingt (Dauer des Stillens, Zahl
der Schwangerschaften usw.) sondern auch Ausdruck erblicher
Anlagen sein. Rassenmäßig nimmt nur die Buschmannfrau
eine Sonderstellung ein, bei der die Brüste ganz hoch und ganz
gegen den Rand der Achselhöhle gerückt sind ; es ist natürlich
besondere Erbunterlage anzunehmen, aber über Vererbung
liegen keine Beobachtungen vor.
Schließlich noch ein Wort über die sogenannten
Körperbautypen.
Ob in eine Aufstellung normaler menschlicher Erbfaktoren
eine Erörterung des Konstitutionsbegriffes überhaupt gehört,
ist mindestens sehr zweifelhaft 1 ). Die Antwort hängt von der
Auffassung dieses Begriffes ab. Ohne im einzelnen zu der gro-
ßen Diskussion darüber Stellung zu nehmen, sei hier nur ange-
deutet, daß viele Autoren Genotypus mit Konstitution gleich-
setzen und alles andere mit T andler Kondition nennen. An-
dere Autoren begreifen unter Konstitution außer erblichen
x ) Es sei ausdrücklich auf den Abschnitt „Konstitution" bei Lenz
verwiesen (Abschn. 3).
218 EUGEN EISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
auch peristatisch bedingte Momente oder gar nur letztere. Der
ganze Begriff ist m. M. nach keiner, der sich etwa mit den Be-
griffen Idiotypus, Paratypus usw. vergleichen läßt, vielmehr
eine aus der ärztlichen Praxis genommene und für sie unent-
behrliche Bezeichnung eines bestimmten Komplexes. Wenn es
nur der Idiotypus sein sollte, brauchten wir überhaupt keine
Erörterung; dann ist eines der beiden Worte zu streichen. Aber
ich glaube, Konstitution bedeutet doch etwas anderes ! Zustand
und Reaktionsart eines Menschen ist damit bezeichnet. Aber
nicht diese beiden zu jeder Zeit und auf jede Weise. Etwas
ganz Vorübergehendes darin, alles Wechselnde ist nicht inbe-
griffen. Das mindestens auf lange Dauer Gleichbleibende der
Reaktionsart und sie bedingender Zustände eines Menschen be-
deutet dem Arzt die Konstitution. Der Konslitutionsbegriff ver-
liert seine Brauchbarkeit, wenn wir uns darunter etwas vor-
stellen, was je in kurzer Frist sich ändert. Die relative Un Ver-
änderlichkeit braucht aber durchaus nicht zur Voraussetzung
nur eine Erbunterlage zu haben. Ganz auszuscheiden ist natür-
lich das Erbgefüge eines Menschen nie und bei nichts, es läßt
sich überhaupt nicht wegdenken. Aber wie peristatische Dinge
jenes modifizieren, braucht meiner Meinung nach nicht nur von
Art und Intensität dieser Faktoren und vom Idiotypus, der ge-
troffen, wird, abzuhängen, sondern auch vom Zustand, und das
ist oft der Zeitpunkt des Treffens innerhalb der Entwicklungs-
bahn des Individuums. Man denke an die sog. sensible Phase
z. B. bei Temperaturversuchen mit Schmetterlingslarven. Ich
habe einmal 1 ) kurz ausgeführt, daß recht viel dafür spricht,
daß peristatische Wirkungen auf den Embryo von anderem Ein-
fluß sind, als dieselben Faktoren etwa im späteren Leben. Ich
stelle mir vor, daß Einflüsse, die in gewissen „kritischen Sta-
dien" den Embryo treffen, Modifikationen hervorrufen können«
die ihm als Individuum für sein ganzes Leben eine besondere
Prägung geben. Dieser entsprechend reagiert er dann, das
ist bei ihm „konstitutionell". Die Erbanlage kommt dabei
nur insoweit in Betracht, als natürlich, wie schon oben gesagt,
auch die peristatische Beeinflußbarkeit des Embryo nach Grad
und Art von seinem gesamten Erbgut abhängt. Daß solche
Beeinflussung stattfindet und dann das „konstitutionelle" Ver-
halten dauernd bestimmen kann, zeigen Beobachtungen an
Zwillingen. Liier scheinen mir sehr eingehende Beobachtungen
''} Zum KonstitiUionsbegriff. (Kurzes Referat über einen Vortrag.) Kim.
Wo eh. 3. 1924.
ERBE UND KONSTITUTION
2.19
W. Lehmanns 1 ) an rachitischen Zwillingen besonders schla-
gende Beweise zu bringen. Er zeigt, daß für Ausbruch, Verlauf
und Schwere der Rachitis (natürlich neben Umweltwirkungen)
eine Erbanlage zugrunde liegen muß. Aber auch EZ zeigen
gelegentlich Diskordanz. Dabei kann für eine Reihe solcher
cliskordanter Fälle die Ursache wahrscheinlich gemacht wer-
den ; sie ist deutlich, derart, daß der Arzt von „konstitutionellen
Unterschieden" sprechen würde. So ist z. B. bei einem rachi-
tisch -diskordanten EZ-Paar der erkrankte Paarung bei der
Geburt schwächlicher und leichter gewesen als seine Schwester
und behielt diese Unterlegenheit — er erkrankte dann erheblich
schwerer i Die Unterlegenheit, gelegentlich sogarausgesprochene
Minderwertigkeit eines Paarlings von EZ bei der Geburt kann
ja nur durch umweltliche Einflüsse (Lage, Ernährung) vor der
Geburt verursacht sein — ■ sie ist ein Zeichen ungünstigerer
„Konstitution", die zeitlebens bestehen bleiben kann. (Viele
Fälle von nur ungleichem Geburtsgewicht gleichen sich aber
aus; hier war der Einfluß nicht to tiefgehend, er betraf nur das
vorgeburtliche Endwachstum.) — Lehmann führt weitere Be-
obachtungen zu derartigen Konstitutionsschädigungen an, er
schreibt: „Nach Untersuchungen von S traßmann (zit. nach
Dichl und v. Verschuer) stirbt der eine Fetus dreimal so
häufig bei EZ ab als bei ZZ. Die Mortalität bei und kurz nach
der Geburt ist nach O rel (zit. nach Diehl und v. Verschuer)
bei EZ größer als bei ZZ. Besonders interessant sind Unter-
suchungen, die Schatz (zit. nach Diel und v. Verschue r)
an Zwillingen gemacht hat. Die durchschnittlichen Entwick-
lungsdifferenzen sind um die Mitte der Schwangerschaft für
Körperlänge und Gewicht bei EZ größer als bei ZZ
Schatz konnte dadurch nachweisen, daß die gegenseitige Be-
einflussung während der intrauterinen Entwicklung bei EZ
größer ist als bei ZZ Diese Beispiele mögen genügen,
um zu zeigen, daß durch Einflüsse im vorgeburtlichen Leben
Schädigungen bei dem einen der Paarlinge auftreten können."
Ich glaube, diese darf und muß man im wahren Sinne des
Wortes konstitutionell nennen. Gerade weil sie den sieh ent-
wickelnden unfertigen Organismus treffen, schädigen sie ihn
für immer, und solche Dauerä n d e r u n g seines Zustandes
und damit seiner Reaktionsart nennen wir konstitutionell. Der
Erwachsene wird durch Ernährungsverhältnisse höchstens vor-
! j Lehmann, W. Rachitis bei Zwillingen. Zeitschrift für Kinder-
heilkunde. 1935.
220 EUGEN EISCI/ER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
übergehend, geschädigt, er gleicht sie leicht wieder aus. Dage-
gen dürfte gegenüber schwereren Einwirkungen der junge
Säugling noch empfindlich und auf Dauer beeinflußbar sein.
Lehmann beschreibt ein anderes EZ-Paar, wo der eine Paar-
ung als junger Säugling unter besonders günstigen Verhält-
nissen lebte und dann — wieder mit seinem Bruder in den
ungünstigen Verhältnissen vereinigt — nur eine ganz leichte
rachitische Erkrankung durchmachte gegenüber der schweren
jenes Bruders.
Weiter sei betont: Man darf vielleicht bei den für die
Dauer geänderten, also konstitutionell so oder so gewordenen
Dingen an ganze Keimblätter, etwa auch das Gesamtmesen-
chym, das Nervensystem usw. denken, vielleicht ebenso an Be-
einflussung inkretorischer Drüsen und damit konstitutionelle
Festlegung von Wachstum, allgemeiner Entwicklung und dgl.
Und unter den peristatischen Faktoren, die auf den Embryo
wirken, denke ich in erster Linie an hormonale Wirkungen
von den Drüsen der Mutter her und andere chemische und
nutritive Einflüsse von ihr. Bei diesen Einflüssen, am leichte-
sten etwa bei Hyperfunktionen solcher Drüsen, die schon auf
die Mutter selbst entsprechend wirken, kann man sich „konsti-
tutionelles" Ähnlichwerden von Kind und Mutter vorstellen,
das dann fälschlicherweise als erbliche Ähnlichkeit aufgefaßt
wird. Das ist der Hauptgrund, warum ich hier diese ganze Er-
örterung doch für nötig hielt.
Vererbung der Konstitution als solcher ist also ihrer
Natur nach ausgeschlossen. Ich glaube, es hat auch noch nie-
mand einen Beweis dafür bringen können, muß allerdings zu-
geben, es liegt überhaupt kein ernsthafter Versuch vor. Die
paar Fälle der Ähnlichkeit äußerer Konstitutionstypen bei
Eltern und Kindern oder Geschwistern halten ernsthafter Kri-
tik nicht stand, obige „Erklärung" ist für sie immer gegeben.
Aber damit ist nicht gesagt, daß Erbe und damit auch Rasse
und Konstitution gar nichts miteinander zu tun haben. Ebenso-
wenig wie man Erbe und Konstitution für das gleiche halten
kann, so daß die Konstitution in ihrer Gesamtheit erblich wäre,
ebensowenig kann man sie voneinander trennen. Das konstitu-
tionelle Ergebnis der Entwicklung hängt eben auch bei gleicher
Peristase von der erblichen, d. i. aber auch rassenmäßigen Be-
schaffenheit des betreffenden Individuums ab. Wenn bestimmte
Gene verschiedener Individuen sehr verschieden leicht oder
sclnver „reagieren" (empfindlich sind), oder wenn gewisse Gene
KONSTITUTION
221
etwa fehlen, werden bei gleicher Peristasewirkung konstitutio-
nell sehr verschiedene Individuen entstehen. Es liegt nun
nahe, daran zu denken, daß bestimmte Rassen, bei uns etwa
nordische, alpine usw., derartige Verschiedenheiten in ihren
Gensätzen haben. Dann wird dieselbe peristatischc Bedingung
auf jede dieser Rassen mit einem anderen Endeffekt abschlie-
ßen. Wir würden dann feststellen, daß zwischen Konstitution
und Rasse eine bestimmte Beziehung besteht. Wenn eine
äußere Manifestation der Gesamtkonstitution (nur eine
solche!) durch einen gewissen Körperbautypus, Konstitutions-
typus genannt, ausgedrückt ist, erscheinen uns auf diesem
Wege Zusammenhänge zwischen Rasse und Konstitutionstypus.
In der Tat glauben viele Autoren, diese nachgewiesen zu haben.
Man sagt, der leptosome, schmale, dünne, früher häufiger als
asthenisch bezeichnete Körpertyp gehöre zur nordischen, der
pyknische zur alpinen und der athletische zur dinarischen Rasse.
Man sagt es häufig so, daß man dabei eine rein erbliche Un-
terlage des KÖrperbautypus annimmt, also, wenn auch unaus-
gesprochen, bestimmte Gene für die schmale Thoraxform, die
dünnen Glieder, den langen Hals usw., Gene, die zum selben
Bestand gehörten wie solche für die schmale nordische Nase,,
den nordischen Schädel, die hellen Farben usw. Ich glaube
nicht, daß die Verhältnisse so liegen, sondern möchte Zusam-
menhänge, die wohl wirklich vorliegen, so auffassen wie oben
ausgeführt 1 ). Daß in bestimmten Rassen gewisse psychische
und psychopathische Erbanlagen verschieden häufig sind, kann
man natürlich nicht bezweifeln. Dies könnte, wie gleich gezeigt
wird, dann mit den entsprechenden Pläufigkeiten je eines Kör-
perbautypus zusammenhängen.
Bekanntlich hat Kretschmer die Aufstellung seiner
Körperbautypen zuerst für Geisteskranke vorgenommen. Es war
ein Schaden für die ganze Konstitutionsforschung, daß man nicht
von gesunden, normalen, sondern von krankhaften Typen aus-
gegangen ist, wie Darre betont hat. An dem Zusammenhang
von Körperbau und Charakter, wie ihn Kretschmer zeichnet,
kann man nicht zweifeln. Erklärlich ist er wohl nur so, daß man
annimmt, dieselben, erblich bestimmt geformten und reagieren-
den endokrinen D rüsen wirken unter bestimmter Peristase, die sie
konstitutionell beeinflußt, m typischer Art auf den Körperbau und
zugleich auf bestimmte Dinge des Zentralnervensystems ein.
So entstünde die feste korrelative Verbindung eines bestimmten
1 ) Ich hatte früher einen ablehnenden Standpunkt, gebe ihn aber auf.
222 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Körperbaues mit bestimmtem Charakter. Auch sekundäre typi-
sche Beeinflussungen des einen durch den anderen, nachdem
erblich und konstitutionell zuerst nur der eine sein Gepräge
bekommen hat, wären denkbar. Dieser Modus erklärte etwas
die Erscheinung, daß der Körpertypus erst mit den Jahren
„typisch" wird, während man die betreffende psychische Veran-
lagung schon früher feststellt.
Wie sich dann im einzelnen die „psychischen Konstitutio-
nen' ' oder sagen wir die psychischen Anlagen zu. den „Rassen' ' —
in Europa — verhalten, wird in Abschnitt 5 dargestellt' (Lenz).
Es sei aber hier noch erwähnt, daß man den unsrigen völlig
vergleichbare Körperbautypen auch bei außereuropäischen
Rassen findet. Schon vor langer Zeit hat Bäiz an den Japa-
nern, auf entsprechende Unterschiede hingewiesen, W agen-
seil 1 ) hat sie bei Chinesen beobachtet, es gibt noch viele An-
gaben — aber der Hinweis genüge.
Weil ich in meinem Versuch, den normalen Gensatz des
Menschen darzustellen, Rechenschaft schuldig bin, ob ich mir
besondere Gene vorstelle, die den konstitutionellen Körperbau-
typus oder die Gesamtkonstitution einschließlich der geistigen
im einzelnen bestimmen, mußte ich diese Darlegung meines
Standpunktes geben. Ich bin mir ihrer hypothetischen Natur
bewußt.
Die einzelnen „Typen" zu schildern, etwa die Kretschmer-
schen klassischen Darstellungen für den Pykniker, Leptoso-
men usw. zu wiederholen, gehört nicht mehr zur „Erblehre".
Soweit sie für die Erbpathologie Bedeutung haben, werden
die Fragen, wie gesagt, in den folgenden Abschnitten bespro-
chen (Lenz).
Das Schrifttum dieses Gebietes ist ungeheuer; ich glaube,
ich kann darauf verzichten, eine Übersicht zu geben über die
zahlreichen Arbeiten, die sich mit dem Begriff der Konsti-
tution oder mit der Frage „Konstitution und Rasse" befassen,
aber ebensowenig möchte ich das Schrifttum über Konstitu-
tionstypen, Körperbau und Charakter, Konstitutions- und Ras-
sentypen erörtern.
Neben den sog. Konstitutions-Körperbautypen im engeren
Sinne unterscheidet man noch andere — von anderem Stand-
l ) Wagensei], Rassiale, soziale und körperbauliche Untersuchun-
gen an Chinesen. Z. Morph. Anlhr. 32. 1933.
LONST/TUTIONSTYPEN - ASYMMETRIEN
223
punkt aus und mit anderem Ziel — grundsätzlich lassen, sich
keine Grenzen setzen. Es sind die Sporttypen. Auch über diese
kann hier nur eine ganz kurze Bemerkung folgen 1 ).
Man kann unter sportlich durchgearbeiteten Körpern deut-
liche Körperbauunterschiede je nach der Art des eingehend
ausgeübten Sportes finden. Langstrecken- und Kurzstrecken-
läufer sind deutlich verschieden, ein Schwerathlet ist anders
als ein Springer, ein Schwimmer hat seinen besonderen „Typ"
und so weiter, Einzelheiten zu beschreiben, gehört nicht hierher,
es sei auf das Fach Schrifttum' verwiesen,. Erblich sind diese Sport-
Korperbautypcn als solchenicht.WieobenfS.214) erwähntwurde,
dürfte die Sache so liegen, daß bestimmte erbliche Anlagen
vorhanden sind, die die eigentliche und erste Prägung des
betreffenden Körpers bedingen. Er ist damit z. B. für „Laufen"
oder gegen ,, Schwergewicht stemmen" vorausbestimmt. Dann
wird aber die Ausübung, besonders die energische und dau-
ernde Ausübung der diesem Körper „liegenden" Tätigkeit
den Körperbau noch viel mehr nach der betreffenden Richtung
ausbilden, ihn zum vollendeten Typus des betreffenden Sportes
machen. So wirken auch hier Erbe und Umwelt untrennbar
miteinander-).
Über einzelne Erbfaktoren oder Erbgänge wissen wir
nichts. Wie weit die betreffenden verschiedenen Erbanlagen
bei den verschiedenen Rassen etwa verschieden häufig vorkom-
men und wie sie sich zu deren übrigem Gensatz verhalten, wis-
sen wir nicht. Untersuchungen wären hier sehr erwünscht —
aber auch sehr schwierig.
Asymmetrien.
Man kann bekanntlich an dem sonst in spiegelbildlicher Ähnlichkeit,
also ans zwei Hälften streng symmetrisch aufgebauten menschlichen Körper
zweierlei Asymmetrien unterscheiden. Erstens gibt es Organe, die nicht
doppelt sondern einfach vorhanden sind und dabei nicht spiegelbildlich
zweihälflig gebaut sind, so Magen, Darm, Leber, Bauchspeicheldrüse,
Herz u. a. Sie liegen auch nicht in der Mittclcbcne. Ihre Anordnung- und
Form bedingen unmittelbar und mittelbar Asymmetrien der von ihnen ab-
hängigen Gebilde, wie Gefäße und Nerven oder benachbarter Gebilde, wie
etwa des Bauchfelles usw.
J i Jaensch, YV. Leibesübungen und Korperkonslitulion. (Just.
Schriften zur Erblchre und Rasscnhygienc.) Berlin 1935. (Lit.)
-) Es sei verwiesen auf jaensch W. Körperform, Wesensart und
Rasse. Leipzig 1 934,
224 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERB ANLÄGEN.
Alle diese Asymmetrien entstehen im sog. „normalen"
Geschehen der Fruchtentwicklung. Wir dürfen also das Wir-
ken von Erbfaktoren irgend welcher Art für diese Asymmetrien
annehmen. Ein Fehler an diesen Faktoren oder eine peristati-
sche Störung ihrer Wirkung kann diese Organ-Asymmetrien
abändern. Es entsteht dann ganzer oder teilweiser sog. Situs
inversus, spiegelbildliche Verlagerung des normalen Befundes.
Allen diesen Bildungen steht nun aber zweitens noch eine große Menge
anderer Asymmetrien gegenüber, die an paarigen Organen und Körperteilen
oder an den beiden spiegelbildlichen Hälften unpaarer solcher Gebilde
bestehen, und zwar in individuell sehr ungleichem Wechsel von Stärke und
Körperseite.
Hierher gehören Ungleichheit der rechten und linken Gliedmaßen nach
Größe und Gewicht, ungleiche Rechts- und Linksbiegung der Wirbelsäule,
ungleiche Größe und Wölbung der r. und 1. Gesichtshälften, Mund- und
Nasenhälften, ungleiche Ausbildung oder ungleicher Stand der r. und 1.
Augbraue, der Kopfhaargrenzen, Brüste, Hoden, ungleiches Verhalten aller,
im allgemeinen als „Varietäten" bezeichneter, Einzelheiten an Knochen, Mus-
keln, Nerven, Gefäßen usw., Ungleichheit der Hautleislcn und -furchen,
der Kopfhaarwirbel, des Haarstriches und endlich Ungleichheit im Ge-
brauch von r. und 1. Hand, r. und 1. Fuß oder der Gesichtsmuskeln, der
Augen und anderes mehr.
Nach unserem heutigen Wissen sind diese letzteren Asym-
metrien ohne erbliche Unterlage, also rein umweltbedingt, wo-
bei die bewirkenden Verhältnisse ganz vorwiegend schon bei
der embryonalen Entwicklung gegeben sind. Lenz spricht von
„entwicklungslabilen" Eigenschaften (s. die Ausführungen über
Polydactylie). Auf pathologischem Gebiet scheint es auch eine
Vererbung gewisser Asymmetrien zu geben (s. Heterochromie).
Sowohl Zwillingsuntcrsuchungen (Dahlberg, Siemens,
besonders v. Verschuer) wie Familienuntersuchungen haben
deutlich gezeigt, daß keine erblichen Unterlagen für die ein-
zelnen Asymmetrien bestehen. (Zuletzt gaben Bouterwek 1 ),
Busse 2 ) für Gesichts- und Körperbauasymmetrien, Nehse 3 )
für solche der Kopfbehaarung erneute Belege und Zusammen-
fassungen der früheren Ergebnisse.)
Zum eigentlichen Gebiet der Erbforschung gehört daher die Untersu-
chung dieser Asymmetrien zunächst nicht. Aber gerade die Zwillingsfor-
schung hat sehr eigenartige und fesselnde Fragen dabei aufgeworfen. Bei
Zwillingen sind bestimmte Asymmetrieverhältnisse gehäuft gegenüber Ein-
lingen (z. B. nach Nehse, gewisse Haarwirbel), in gewissen Dingen sind
i) Bouterwek. Asymmetrien und Polarität bei erbgleichen Zwil-
lingen. Arch. Rass. Ges. Biol. Bd. 28. 1934.
s ) Busse, H. Über normale Asymmetrien des Gesichtes und im Kör-
perbau des Menschen. Z. Morph. Anthr. 35. 1936 (noch nicht erschienen).
3) N eh sc. A. S. 164 a. O.
ASYMMETRIEN - MUSKELVARIETÄTEN
225
EZ und ZZ nicht gleich (v. Verschuer 1 )), Dann gibt es die Erschei-
nung, daß Zwillinge spiegelbildliche Gleichheit an asymmetrischen Bildun-
gen aufweisen, was noch mehr an Doppelmißbildungcn auftritt. Und end-
lich können EZ bestimmte Asymmetrien gleich haben; so können z. B. die
gleichseitigen Hände zweier E Z im Leistenbild sich ähnlicher sein, als
rechte und linke Hand desselben Paarlingsl (v. Verschuer 2 ), Meyer-
Heydenhagen, s.S. 153). Eine Erkenntnis aller dieser umweit ab hängi-
gen Besonderheiten würde uns mittelbar auch wichtige Einblicke in erbliche
Unterlagen der betreffenden Gesamtanlagen gewähren.
h) Erbanlagen für Muskulatur, sogen, innere Organe,
Nervensystem, Sinnesorgane
Es liegt wohl an der Schwierigkeit der Untersuchung, daß
wir über alle nicht am lebenden Menschen feststellbaren Unter-
schiede von Erbanlagen noch fast nichts wissen. Em deutlicher
Beweis, daß auch im Bereich der oben genannten Organsysteme
erbliche Unterschiede vorhanden sind, zeigen die Ergebnisse
von Zwillingsuntersuchungen und von statistischen Erhebungen
an Rassen. Für einen folgerichtigen Ausbau der letzteren tritt
immer wieder und mit größtem Nachdruck Loth 3 ) ein, dem
wir auch eine Menge grundlegender, eigener Ergebnisse auf
diesem Gebiet verdanken.
Untersuchungen der Muskulatur an der Leiche haben ge-
zeigt, daß bestimmte Ausbildungen und Anordnungen von
Muskeln, sog. Varietäten, bei den einzelnen Rassen außeror-
dentlich verschieden sind, vor allem bezüglich der Häufigkeit
ihres Auftretens. Dabei bilden vielfach Japaner, Chinesen, Ko-
reaner eine Gruppe, Neger eine solche und Europäer eine. Be-
sonders häufig zeigen sich ziffernmäßige Unterschiede in dieser
Reihenfolge. (Loth 3 ), Wagenseil 4 ) u. a.) Das spricht na-
türlich dafür, daß irgendwelche Erbanlagen, die bei den ein-
zelnen Rassen verschieden oder verschieden häufig sein müssen,
im Spiele sind, die sich aber nicht unmittelbar auf den einzelnen
variierenden Muskel zu beziehen brauchen, wie unsere Unter-
*) v. Verschuer. Zur Frage der Asymmetrie des menschlichen Kör-
pers. Z. Morph. Anthr. 27. 1930.
Derselbe. Die biologischen Grundlagen der menschlichen Mchrlings-
forschung. Z. induet. Abst. Vor. 61. 1932.
s } Ders. Zur Erbbiologie der Eingerleisten usw. Ber. v. d. 10. Jahres-
vers, d. Deutsch. Ges. f. Vererbungswiss. zu Gottingen. 1933.
s ) L o t h. Anthropologie des parties molles. Warschau-Paris 1931 (L. I).
4 ) Wagenseil. Muskclbefunde bei Chinesen. Verh. Ges. phys. Anthr.
1927. (Eine größere Arbeit wird in Z. Morph. Anthr. erscheinen.)
Baur-Fisclier-i,eaz, I.
15
226 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
suchungen an der Wirbelsäule klargemacht haben. Man hat
auch bei einzelnen Muskeln, eieren Form sich am Leben-
den erkennen läßt, familienweise Untersuchungen angestellt.
So fanden beispielsweise Thompson, M c B a 1 1 s und D an-
forth 1 ) das Fehlen des Muse, palmaris longus bei Eltern und
deren Kindern gehäuft. Zebrowski 2: ) bringt den Hinweis
— mehr erlaubt das kleine Material noch nicht — daß das
Fehlen des Muse, palmaris longus familienweise (dominant?)
vorkomme, und Posmykiewicz 3 ) macht es wahrscheinlich,
daß der Muse, peroneus anterior bei Juden etwas häufiger fehlt
als bei Polen. Für Wangen- und Kinngrübchen, die zum Teil
von bestimmten Muskelanordnungen abhängen, läßt sich durch
Zwilling suntersuchung nur sehr teilweise Erblichkeit, d. h.
also auch starke Umwelt-Beeinflussung, feststellen (v. Ver-
schuer, Meirow sky). Das macht es erklärlich, daß die
Versuche, einen Erbgang festzustellen, fehlschlugen. (Br. Rich-
ter denkt an dominanten Erbgang, Scheidt an rezessiven.)
Ähnlich wie für die Muskulatur liegen die Dinge für zahl-
reiche andere Organe. Adachi 4 ) zeigt zahlreiche Unterschiede
zwischen dem Gefäßsystem der Japaner und dem der Euro-
päer. Es könnten zahlreiche Einzelarbeiten genannt werden,
aber über eigentliche Vererbung wissen wir hier noch nichts.
Auf entsprechende Unterschiede an den großen Zungen-
papillen, den Gaumenleisten, den Kehlkopf ta sehen, dem Penis
und anderen Organen sei nur hingewiesen. Interessant ist, daß
Y o s h i o k a 5 ) an einem EZ-Paar fast völlige Gleichheit in der
Ausbildung einer Hufeisenniere und sehr große Ähnlichkeit
des Nieren- Venenverlaufes fand.
Zwilling5Untcrsuchung zeigt, daß für die Herzgröße, Lage
der Herzachse und Form des Herzens (Tropfenherz usw.)
Erbanlagen bestehen müssen, da diese Dinge bei EZ in 32
Fällen ganz gleich, in 17 teilweise gleich und in 6 verschieden
L ) T h o m p s o 11 , Mc. ß a 1 1 s and Danf ortb, Heredity and Racial
Variation in the Musculus palmaris longus. Am. Journ. Phys. Anthr. 4. 1921.
2 ) Zcbrows fc i. Untersuchungen über den M. palmaris longus an
Lebenden. (Poln. mit deutschem Auszug.) Fol. morphol. 5. Warschau 1934.
3 ) Posmykiewicz. Recher ches du peronier ante>ieur sur les vi-
vants. (Poln. mit franz. Auszug.) Ebenda.
d ') Adachi. Das Arteriensystem der Japaner. 2 Bde. (fol.) Kyoto 1928.
Ders. Das Venensystem der Japaner. Bd. I. 1. Kyoto 1933.
B ) Y s h i o k a. Über die Hufeisenniere bei den beiden Foeten der ein-
eiigen Zwillinge und Über die Varietäten der Nierenvenen bei 2 Zwillingen.
Japan. Journ. of Urology. 24. 1935.
ERBANLAGEN SOG. INNERER ORGANE
227
waren, bei ZZ aber nur in 5 Fällen gleich, in 25 Fällen teil-
weise gleich und in 15 verschieden. Umweltfaktoren spielen
also sicher auch eine Rolle dabei (v. Vers diu er und Zip*
perlen 1 )).
Ebenfalls Zwillingsvergleichungen danken wir die Kennt-
nis von erblichen Unterlagen vieler Einzelheiten der Blutge-
fäße. Mayer- Li st und Hübener 3 ) fanden bei der mikro-
skopischen Untersuchung der Kapillaren am Nagelsaum bei
27 EZ 221-nal Gleichheit der Anordnung, bei 23 ZZ da-
gegen nur 3mal. Da der Bau (Typus) dieser Kapillaren offen-
bar eigenartige Beziehungen zu konstitutionellen Dingen, viel-
leicht zu krankhaften Zuständen, auch erblichen ( ?) hat — wie
j aensch 3 ) am stärksten vertritt, wäre eine auf großer Unter-
lage beruhende Untersuchung über die Erblichkeit der Kapil-
larformen besonders wichtig — sie fehlt noch. Der Zustand
der Hautgefäße, wie sie sich in Rötung der Wangen, in Bläue
von Händen und Füßen oder Neigung dazu usw. äußern, ist bei
90 EZ 7omal gleich, bei 15 weiteren mit ganz geringen Unter-
schieden und nur bei 5 deutlich unterschiedlich. (Material
des Dahlemer Instituts, v. Verschuer.) Siemens hat für
die Wangenrötung früher schon dieselbe Erfahrung gesammelt.
Außerordentlich viel Arbeit ist aufgewendet worden, um
Rassenunterschiede an den Furchen und Windungen der Hirn-
oberfläche nachzuweisen. Die individuelle Ausgestaltung ist
hier so vielfältig, daß Rassenunterschiede nicht nachweisbar
sind. Wohl aber bestehen solche im Gehirngewicht und in
Struktur und Ausdehnung gewisser Rindenfelder (B r o d -
mann 4 ), Vogt 5 ) u. a.). Über die erbliche Übertragung wis-
sen wir indessen nichts. Da aber die Leistungen des Gehirns
nachgewiesenermaßen stark verschieden und diese Verschie-
denheiten sowohl zwischen Einzelindividuen wie zwischen Ras-
1 ) v. Verschuer und Zipperlen. Die erb- und umweltbedingte
Variabilität der Herzform. Zeitschi", für klin. Media. Bd. 112. 192g.
E ) Mayer-List und Hübener. Die Capillarmi kr o skopie in ihrer
Bedeutung zur Zwillingsforschung usw. Münch. m. W. 72. 1925.
a ) J a e n s c h. Die Hautkapillarmikroskopie. Halle 1929.
4 ) Brodmann. Vgl. Lokalisationslehre der Großhirnrinde usw. Leip-
zig 1909. — Ders. Vorkommen der Affenspalte bei verschiedenen Menschen-
rassen. Arch. Psych. 48. 1909.
5 ) Vogt. Architektonik der menschlichen Hirnrinde. Allg. Z. f. Psych.
86. 1927.
Vogt, C. und O. Die vergleichend-architektonische und die verglci-
chend-reizphysiologische Felderung der Großhirnrinde unter besonderer Be-
rücksichtigung der menschlichen. Die Naturwiss. 14. 1935.
228 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
sen als erblich erwiesen sind, müssen natürlich auch erbliche
Strukturunterschiede am Gehirn bestehen. Karplus 1 ) glaubt,
besonders große Ähnlichkeit im Typus der Hirnfurchen an
Hirnen von Zwillingen, auch von Mutter und Kind und von
Geschwistern, feststellen zu können. Zufallsähnlichkeiten dürfte
bei der geringen Zahl der Fälle nicht ganz auszuschließen sein.
Der einzig wirkliche Nachweis von Vererbung solcher Varie-
täten ist von Frede für die Anordnung der Extremitätennerven
bei der Ratte geführt (s. S. 185).
An den Sinnesorganen kennen wir an den die eigentliche
Sinnesfunktion ausübenden Teilen einstweilen keine einzelnen
Erbfaktoren. Aber wir wissen, daß z. B. im Sehvermögen zwi-
schen einzelnen Rassen Unterschiede sind ; wir kennen gewisse
Unterschiede im feineren Bau der Fovea centralis der Netz-
haut und können uns nicht vorstellen, daß hier nur Umwelt-
wirkung vorliegen sollte. Für das Ohr kennen wir einiges von
Vererbung auf dem Gebiet der Musikalität; erbliche Struktur-
unterschiedc müssen zugrunde liegen. Mehr ist aber zur Zeit
nicht zu sagen.
■ Dagegen lassen sich erbliche Unterschiede an den Hilfs-
organen der Sinneswerkzeuge, Augenlidern, Ohrmuscheln, äuße-
rer Nase usw. in größerer Zahl aufzeigen. Es sei auf die vor-
angehenden Abschnitte verwiesen.
i) Erbanlagen für physiologische Vorgänge
Auf physiologischem Gebiet ist erbbiologisch noch sehr
wenig erarbeitet, mit Ausnahme des Gebietes der sog. Blut-
gruppen. Auf den anderen Gebieten haben wir nur einzelne
Stichproben. Dazu kommen einige Kenntnisse über das Vor-
handensein von Erbfaktoren für gewisse normale physiolo-
gische Vorgänge, die gegründet sind auf den Nachweis der
Vererbung der krankhaften Störungen jener Vorgänge. Es sei
auf die Ausführungen S. 113 hingedeutet.
Geschlecht
Daß sich beim Menschen genau wie bei allen Tieren das
Geschlecht auf Grund von Erbfaktoren überträgt, ist bekannt.
Der Mann ist wie bei allen Säugetieren heterogametisch. Das
') Rarplus. Variabilität und Vererbung am Zentralnervensystem.
Leipzig und Wien. 1907.
GESCHLECHT - GESCHLECHTSREIFE
229
X-Chromosom ist beim Menschen im Zellkern von den anderen
Chromosomen nicht zu unterscheiden. Nach Goldschmidt 1 )
liegt in den Geschlechtschromosomen ein Gen für Weiblich-
keit: F. Das weibliche Geschlecht hat die Erbformel FF, das
männliche hat nur ein F. Golds chmidt nimmt noch in
einem gewöhnlichen Chromosom einen Männlichkeitsfaktor M
an und stellt sich vor, daß die Entscheidung über das Ge-
schlecht vom quantitativen Verhältnis von F und M abhänge.
Ist der Einfluß von F, bei FF, größer, so entsteht weibliches
Geschlecht, andernfalls männliches. Bei nicht deutlichem Über-
wiegen entsteht ein „intersexuelles" Individuum (Zwitter). Die
geschlechtsbestimmenden Faktoren bewirken dann die Ent-
wicklung der zunächst neutral angelegten Keimdrüse zu einem
Hoden oder Eierstock und erst diese bewirken innersekreto-
risch die Ausbildung der inneren und äußeren Geschlechts-
apparate nach der männlichen oder weiblichen Seite hin.
Von den übrigen Genen im X-Chromosom kennen wir
beim Menschen einige für gewisse Krankheiten, deren ge-
schlechtsgebundene Vererbung festgestellt ist, s. Bluterkrankheit,
Farbenblindheit u. a. Lenz führt die Erscheinung der sehr
hohen Knabenziffer unter den Früh- und Totgeburten auf re-
zessiv geschlechtsgebundene, krankhafte Erbanlagen zurück,
die natürlich nur die männlichen Früchte treffen. Welche
normalen Eigenschaften an das X-Chromosom gebunden sind,
läßt sich im allgemeinen nicht entscheiden; wir dürfen solche
für Haar- und Augenfarbe annehmen (s.S. 132) und für manche
geistigen Anlagen (s. diese).
Geschlechtsreife und Fruchtbarkeit
Nach den Erfahrungen am Tier darf man auch beim
Menschen für Frühreife und Spätreife, sowie für Fruchtbar-
keit und Unfruchtbarkeit Abhängigkeit von Erbfaktoren an-
nehmen. Sehr starke Umwelteinflüsse auf jene Erscheinungen
machen aber den Nachweis sehr schwierig, zum Teil unmög-
lich. Mit den vielfachen Angaben, daß Geschlechtsreife und
Altern bei dieser oder jener Bevölkerung durchschnittlich, in
verschiedenen Lebensaltern eintrete, ist noch kein Nachweis
der Erblichkeit der Erscheinung gegeben, wenn nicht auch alle
Umwelt Verhältnisse, klimatische usw., geprüft sind. So zeigt
1 ) G ol d s chmi d t. Die sexuellen Zwischenstufen. Berlin 1931.
230 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Skerlj 1 ) eine Abhängigkeit des Menstruationseintrittes vom
Klima, die erbliche Unterschiede im Durchschnitt verwischt.
Auch andere wiesen schon auf solche Zusammenhänge hin,
Müller 2 ) bei den Inderinnen, wo Umweltwirkung Eintritt
und Erlöschen der Geschlechtstätigkeit hinausschieben soll. Da-
gegen sprechen die Angaben von einer früheren Geschlechts-
reife von Jüdinnen, im selben städtischen Leben wie die allge-
meine Bevölkerung, für einen Rassen-, d. li. Erbunterschied.
Angaben über fremde Rassen, Neger, Südsee usw., müssen wie-
der mit dem Umweltfaktor rechnen.
Aber innerhalb ein und derselben Bevölkerung gibt es
Erblinien mit früherer und mit späterer Reife. Bolk 3 ) zeigt
an genügend großem Material die auffällige Erscheinung, daß
in Holland der Eintritt der Menstruation bei blonden Mädchen
durchschnittlich mit 13 Jahren 5 Monaten 17 Tagen erfolgt,
bei braunen mit 14 Jahren 4 Monaten 5 Tagen. Blonde müs-
sen also häufiger einen Erbfaktor für Frühreife haben. Er fügt
dazu, daß die Erscheinung nicht ursächlich mit der Pigment-
büdung als solcher zusammenhängen könne, da holländische
Jüdinnen, der Hauptsache nach dunkelhaarig, den Termin mit
13 Jahren 3 Monaten 24 Tagen haben. Stein 4 ) hat am Ma-
terial der Freiburger Frauenklinik keinen Unterschied zwischen
Blonden und Dunklen gefunden. Dagegen liegt für das gesamte
Freiburger Material die Menarche auf 15V2 Jahren, also
erheblich später als in Holland. Allerdings hat die S t ein sehe
Arbeit nur die Krankenblätter der Klinik zur Unterlage, wäh-
rend B olk die Angaben mit außergewöhnlicher Vorsicht und Ge-
nauigkeit erhoben hat. Trotzdem dürfte an einem realen Unter-
schied nicht zu zweifeln sein. Auch persönliche Erfahrungen
des Stadtschularztes Dr. Pauli in Karlsruhe i. B., die er mir
liebenswürdigerweise mitteilte, bestätigen Stein. Dagegen gibt
Skerlj an, daß blonde Jugoslawinnen 6 Monate später men-
struieren als dunkle, das Material ist aber sehr klein.
Bolk stellt weiter durch familienweise vorgenommene Er-
hebungen bei 101 Müttern mit 153 Töchtern die Vererbung von
x ) Skerlj. Menarche und Klima in Europa. Arch. f. Frauenkunde
und Konstit. -Forsch. Bd. 13. 1932. Ders. Die Menarche in Norwegen usw.
CR. Congr. intern. Anthr. Ethn. London 1934.
2 ) Zeitschrift Rass. physioi. 7. 1935.
3 ) Bol k. Untersuchungen über die Menarche bei der niederländischen
Bevölkerung. Zeitschi-. Geb. Gyn. 79. 1917.
4 ) Stein. Der Menstruationseintritt bei. Frauen der nordischen und
alpinen Rasse. Med. Inaug. Diss. Freiburg 1926.
GESCHLECHTSREIFE — ALTERN
231
Früh- oder Spätlage der Geschlechtsreife fest. Nicht das abso-
lute Reifealter wird vererbt, sondern die Eigenschaft, innerhalb
der gegebenen Umwelt relativ früh oder spät zu reifen. Mosz-
kowski hat schon 191 1 einen ähnlichen Hinweis auf Vererbung
der Menarche in weiblicher Linie gegeben. Bolk betont, daß
die väterliche Erblinie dabei ohne Einfluß ist. Dieselben Unter-
suchungen Bolks beleuchten aber auch noch gewisse nicht-
erbliche Einflüsse. Die heutigen Holländerinnen menstruieren
durchschnittlich um i 1 / 2 Jahre früher als die Mädchen der ein
oder zwei vorhergehenden Generationen. Diese Angabe wird
am Freiburger Material bestätigt, Badenerinnen, die nach 1900
geboren sind, menstruieren nach der Freiburger Statistik rund
ein Jahr früher als vor 1880 geborene. Und A. Schreiner
berichtet eine ähnliche Vorverlegung für Norwegerinnen. Mit
welchen Verhältnissen unserer gesamten Lebensführung das
zusammenhängt, läßt sich nicht sagen. Aber es sei auf die Zu-
nahme der Körpergröße der Männer hingewiesen, die etwa in
denselben Zeitraum fiel.
Wie weit bis ins einzelne Erbanlagen die Menarche regeln,
zeigt die schone Untersuchung Petris 1 ) an Zwillings- und
anderen Schwestern.
Mittlere Unterschiede im Eintritt der 1. Menses, in Monaten:
(Nach Petri.)
iiate
51 EZ
2,8 Mor
47 ZZ
12,0
Schwestern
13 — 14
Mütter und Töchter
18,4 ,
Gesamtbevölkerung
18,6 ,
Die Tabelle erweist, wie wenig weit der Menstruationsbe-
ginn bei EZ auseinanderliegt, und wie weit bei ZZ ; bei diesen
ist der durchschnittliche Unterschied viermal, bei Mädchen aus
der Gesamtbevölkerung sechsmal so groß wie bciEZ. Daß der
Unterschied zwischen Müttern und Töchtern verhältnismäßig
groß ist, mag in der vorhin erwähnten Verschiebung liegen.
Altern und Lebensdauer
Für frühes oder spätes Altern und seine bezeichnenden
Erscheinungen wird allgemein Vererbung angenommen. Man
beobachtet frühes oder spätes Ergrauen, langes „Jungbleiben"
usw. deutlich familienweise. Auch alle auf pathologisches Ge-
1 ) Petri. Untersuchungen zur Erbbedingtheit der Menarche. Ztschr.
Morph. Anthr. 33.
232 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
biet führenden Alterserscheinungen, Arteriosklerose usw. gel-
ten als erblich. Aber eine Abgrenzung nach einzelnen Faktoren
ist bisher nicht versucht worden. Die Auswirkung aller jener
Dinge zeigt sich in der physiologischen Lebensdauer. Pearl
und seine Schule haben in zahlreichen Arbeiten die Frage
nach der Erblichkeit der Lebensdauer in sehr schönen genealo-
gischen und statistischen Untersuchungen durchgeführt. Die
Verfolgung der Korrelation der Lebensdauer von Eltern und
Kindern (übrigens auch' als Parallele : Zuchtexperimente an
Drosophila) haben gezeigt, daß es sozusagen Gene „Lebens-
dauer" geben muß, selbstverständlich nur mittelbare, d.h. für
alle möglichen physiologischen Vorgänge. (Widerstandsfähig-
keit, Langsamkeit des Abbaues in den Organen usw.) Beson-
ders für die hohen Alter besteht deutliche Erbabhängigkeit.
In einer neuesten kleinen Zusammenstellung darüber zeigt
Pearl 1 ), daß die Übersiebenzigjährigen zu 45,80/0 aus Ehen
stammen, wo beide Teile ebenfalls über 70 wurden, zu 23,30/0
aus solchen, wo ein Gatte über 70, der andere über 50 wurde.
17,5 weiter aus Ehen, wo ein Gatte über 70 und der andere
unter 50 wurde. Dagegen kamen nur noch 5,80/0 Siebziger und
ältere aus Ehen, wo beide Gatten nur Alter zwischen 50 und
70 Jahren erreichten, 4,9%, wo nur einer über 50 wurde und
2,70/0, wo keiner die 50 überschritt. Kontrollserien zeigten, daß
Zufall ausgeschlossen ist. Ein so erfahrener Forscher wie
Pearl kommt zum Schluß, daß Vererbung eine der wichtig-
sten, wenn nicht die beherrschende Unterlage ist für die
Dauer des menschlichen Lebens.
Verdauung, Atmung, Blutkreislauf usw.
Wie obenS. 113 schon gezeigt wurde, ergeben sich aus dem
Nachweis der Vererbung krankhafter Zustände und Vorgänge
bindende Schlüsse auf die Vererbung und den Erbgang der
entsprechenden physiologischen Dinge. Die ganze Erbpatho-
logie beweist also auch eine Erbphysiologie. Hier kann es ge-
nügen, wenn auf einige wenige Dinge als Beispiele hingewiesen
wird. Es ist aber noch besonders zu erwähnen, daß außerdem
auch für physiologische Vorgänge die Zwillingsforschung in
vielen Fällen die Erbunterlage im einzelnen erwiesen hat. Man
kann zeigen, daß das physiologische Verhalten von EZ oft bis
*-) P e a r 1 , R. Constitulional factors in longcvity. Z. Morph. Anthr.
Festband Fischer. 34. 1934.
LEBENSDAUER — STOFFWECHSELVORGÄNGE
233
in feinste Einzelheiten im Gegensatz zu dem bei ZZ vollkom-
mene oder sehr weitgehende Übereinstimmung zeigt.
Verdauung : Die Abgabe des Magensaftes ist vonGlat-
zel 1 ) an dem Zwülingsmaterial des Kaiser-Wilhelm-Instituts
geprüft, Es zeigte sich, daß diejenigen Merkmale beim ge-
sunden Menschen, „die Ausdruck der Höhe und des zeitlichen
Verlaufs der Säureab Scheidung sind", zu erheblichem Teil erb-
bedingt sind. Dagegen scheint die Menge des nicht in Salz-
säure bestehenden Magensaftes (Schleim) sehr viel stärker um-
weltbedingt zu sein.
Der gesamte Stoffwechsel läßt genau dasselbe er-
kennen. Für den Grundumsatz zeigten in meinem Institut Hil-
singer (noch unveröffentlicht) und Werner 3 ) die größere
Gleichheit von EZ gegenüber ZZ. Für den Wasserhaushalt hat
Geyer 3 ) denselben Nachweis erbracht, er sagt: „Die Blut-
verdünnungskurve nach Wassertrinken ist bei eineiigen Zwil-
lingen doppelt so ähnlich als bei zweieiigen." Damit ist der
Nachweis erbracht, daß die komplizierten Austauschvorgänge
zwischen Blut und Gewebe von der Erbanlage entscheidend ab-
hängig sind. Es zeigt sich somit auch am Wasserhaushalt, daß
die Fu nie tions rieh tung des vegetativen Systems im Genotypus
vorgezeichnet ist. Im Gegensatz zur Blutverdünnung zeigen
Harnausscheidung, Harnverdünnung und Wasserstoffionen-
konzentration bei EZ und ZZ nur geringe Unterschiede, sie
scheinen stärker umweltbedingt zu sein. Gerade die Unterschiede
im Verhalten der einzelnen Funktionen bezüglich größerer oder
kleinerer Umweltbeeinflussung sind besonders interessant. Hier
liegt noch ein großes Feld dringlicher wissenschaftlicher For-
schung.
Wennschon dieErblichkeit der Zuckerkrankheit (s.Absch. 4)
bewies, daß der Zuckerhaushalt von Erbfaktoren abhängt, so
konnte Werner 4 ) an Zwillingen zeigen, daß der Ablauf der Blut-
2 ) Glatzel, FI. Die Erbanlage in ihrer Bedeutung für die normale
Magenfunktion.
2 ') Werner, M. Über den Anteil von Erbanlage und Umwelt beim
Kohlehydratstoffwechsel auf Grund von Zwillings Untersuchungen. Zeitschr.
für indukt. Abstaramungs- und Vererbungslehre. Bd. 67. S. 306. 1933.
Derselbe. Blutzuckerregulation und Erbanlage, Belastungsversuche an
40 Zwillingspaaren. Dtsch. Arch. f. klin. Mediz. 1935.
3 ) Geyer, H. Der Trinkversuch bei eineiigen und zweieiigen Zwillin-
gen. Klin. Woch. 1931.
4 ) Werner. Zwillingsphysiologische Untersuchungen über den Grund-
umsatz und die spezifisch-dynamische Eiweißwirkung. Ber. D. Ges. f. Ver-
erb. 1935.
234 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
zuckerkurven nach Belastung des Körpers mit Traubenzucker
deutlich von Erbanlagen mitbestimmt ist. Die gesamte Regu-
lation des Kohlehydratstoffwechsels ist also derart erblich be-
stimmt. Seite 113 wurde gezeigt, daß ähnliche Vorgänge für den
Eiweißumsatz anzunehmen sind. Erbliche Fettsucht (Ab seh. 3)
und die Seite 113 erwähnten krankhaften Änderungen des Fett-
stoffwechsels zeigen auch dessen Erbbedingtheit.
Auf dem Gebiet der Atmung konnte Werner aber-
mals an den Zwillingen des Kaiser-Wilhelm-instituts zeigen,
daß die vitale Kapazität eine Erbunterlage hat. v. V e r -
schucr 1 ) erwies, ebenso Curtius 2 ), daß die respiratorische
Arythmic und damit der Tonus des Herzvagus genotypisch ab-
hängig sind. Die Zirkulation von Blut und Lymphe zeigt
ebenfalls bis in viele Einzelheiten hinein die erbliche Fest-
legung. Es soll hier nur angedeutet werden, daß die Pulsfre-
quenz nach den ZwÜlingsuntersuchmigen erbliche Regelung be-
sitzt (Curtius 2 ), Stocks 3 ), v. Verschuer, Weitz 4 ),
Zipperlen i5 ). Dasselbe gilt vom Blutdruck (dieselben), eben-
so von der sog. Senkungsreaktion der Blutkörperchen (Cur-
tius) und endlich vom Elektrokardiogramm (Gupter). Nae-
geli zeigt erbliche Unterschiede an den Blutkörperchenfor-
men, Glatzei G ) erbliche Bedingtheit des Hämoglobingehal-
tes, der Zahl der Erythrozyten, neutrophiien Leukozyten und
Monozyten. Dagegen scheinen Leukozyten und Basophile in
ihrer Zahl nur umweltbedingt. Erbliche Unterschiede in den
Formen der Erythrozyten hat man. .mehrfach gefunden. Am auf-
fälligsten ist das Vorkommen elliptischer Erythrozyten, und
zwar fast nur solcher bei einzelnen Individuen, mehrfach ge-
häuft in einer Familie (s. G r z ego rze wski, Fol. haem. 50,
1 933}- Die Erscheinung kommt bei Europäern der verschieden-
2 ) v. Verschuer, O. Die vererbungsbiologische Zwillingsforschung.
Ergeh, d. Inn. Med. und Kinderheilkunde. Bd. 31, 35. J927.
Derselbe. Ergebnisse der Zwillingsforschung. Verhandl. d. Ges. £. phys.
Anthropolog. Bd. VI. Seite 1 — 65. 193 1.
H ) Curtius und Korkhaus. Klinische Zwillingsstudien. Zeitschr.
f. Konstitutionslchrc. 15. 2. S. 22g. 1930.
3 ) Stocks, P. A biometric investigation of twins and their brothers
and sisters. Annais of eugenics. Bd. IV. Parts I und II. S. 49.
4 ) Weitz, W. Studien an eineiigen Zwillingen. Ztschr. £. klin. Med.
101. 115. 1924.
E ) v. V c r s c h u e r , O. und Zip perlen, V. Die erb- und umweltbe-
dingte Variabilität der Herzform. Ztschr. f. klin. Med. 112. 69. 1929.
a ) G 1 a t z c 1. Der Anteil von Erbanlage und Umwelt an der Variabili-
tät des normalen Blutes. Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 170. 140. 1 93 1 .
STOFFWECHSELVORGÄNGE - BLUTGRUPPEN
235
sten Länder wie bei Negern (Ver. St.) vor — der betreffende
Erbfaktor dürfte also mehrfach als Mutation entstanden sein
(Hemmungsmißbildung ?). Gewisse erbliche Störungen der Zahl
der Eosinophilen verraten Erbanlagen, die diese beherrschen
(s. Lenz, Absch. 4).
Die interessanteste Erscheinung aber ist die Vererbung ge-
wisser chemischer Eigenschaften der Blutkörperchen und des
Serums (s. u.).
Noch sehr wenig wirkliches Wissen haben wir vom Rassegeruch. Es
ist fast nie einwandfrei der bei einzelnen Rassen feststellbare, für andere
Rassen besonders empfindliche Eigengeruch zu trennen von einem Geruch,
der von der Eigenart der Ernährung, Körperbehandlung usw. abhängt.
Immerhin scheint es doch echte, d. h. nicht umweltbedingte, Unterschiede
im Geruch der Absonderung von Schweiß- und anderen Körperdrüsen zu
geben, so je zwischen Negern, Mongolen, Europäern u. a. Diese dürften
dann vererbt sein, aber wir haben keine Einzelkenntnisse.
Sogenannte Blutgruppen
Vielleicht das größte Aufsehen auf dem Gebiet der Ver-
erbung beim Menschen überhaupt hat wohl der Nachweis von
Vererbungsvorgängen gebracht, die sich in den sog. Blutgrup-
pen äußern. Auf die Erforschung keiner Erscheinung ist so-
viel Arbeit verwendet worden wie auf diese. Den ersten Nach-
weis verdanken wir v. D ungern, dann hat dessen damaliger
junger Mitarbeiter Hirschfeld das Hauptverdienst, die Frage
im großen angegriffen und in Fluß gebracht zu haben. Die
heute allgemein angenommene Lösung der Frage nach den
Erbfaktoren und dem Erbgang hat Bernstein gegeben.
Auch nur die hauptsächlichsten Forscher weiter zu nennen, ist
hier der großen Zahl wegen unmöglich, es sei auf die Über-
sicht in Steffans 1 ) Handbuch der Blutgruppenkundc ver-
wiesen. Schiff 2 ) gibt eine vorzügliche „Technik der Blut-
gruppenuntersuchung für Kliniker und Gerichtsärzte". Für Va-
terschaftsuntersuchungen sei auch noch Koller 3 ) genannt. Die
laufend erscheinende Zahl der Arbeiten über „Blutgruppen"
ist ganz ungeheuer, Hesch 4 ) gibt regelmäßige sehr dankens-
werte Zusammenstellungen, auf die verwiesen sei.
') S t e f f a n. Handbuch der Blutgruppenkunde. München 1932.
3 ) Schiff. Die Technik der Blulgruppenuntersuchung. Berlin 1932.
3 ) Koller. Statistische Untersuchungen zur Theorie der Blutgruppen
und zu ihrer Anwendung vor Gericht. Zeitschr. Rassenphys. Bd. 3. 1931.
4 ) H e s c h. Deutsches Schrifttum über die Blutballung. (Jahr 1931.)
Ztschr. Rassenphys. 6. 1933.
236 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Während Blutkörperchen in ihrem eigenen Serum „aufge-
schwemmt", d. h. einzeln für sich bleiben, kann fremdes Serum
Blutkörperchen zu klumpigen Massen zusammenballen. Diese
Ballung, „Agglutination", tritt aber nicht zwischen Blut und
Körperchen aller Menschen ein, sondern nur bei manchen. Es
muß nach Landsteiner zwei verschiedene Blutkörperchen-
eigenschaften oder baltbare Substanzen geben, sog. Isoagglutino-
gene, die man mit A und B bezeichnet. Sie können einzeln
oder beide gleichzeitig vorhanden sein oder fehlen. Diese Eigen-
schaft bedeutet dann die betreffende sog. „Blutgruppe", die
mit denselben Buchstaben bezeichnet wird. Es gibt darnach je
eine Blutgruppe A, B, AB und O, bei welch letzterer jene bei-
den Substanzen fehlen. Im Serum sind entsprechende Stoffe,
die die Ballung machen. Ein Stoff a agglutiniert A, also die
Gruppe A und AB, ein Stoff ß agglutiniert B, also B und AB.
Gruppe O ist nicht agglu tinierbar. Das Serum eines Menschen
kann nur die Agglutinine enthalten, die seine eigenen Blut-
körperchen nicht ballen. Blutgruppe A kann also nur Agglu-
tinin ß, Gruppe B nur Agglutinin a, Gruppe AB keines von
beiden und Gruppe enthält alle beide. Die sog. Landsteiner-
sche Regel besagt: „Es sind stets diejenigen Isoagglutinogene
wirklich anwesend, welche neben den vorhandenen Isoagglu-
tinogenen physiologisch bestehen können." Blutgruppe O muß
im Serum a und ß enthalten.
Wie erwähnt, gelang nun der Nachweis für die Vererbung
der Blutgruppen. Bernstein hat festgestellt, daß es sich um
multiple Allele handelt. Es war der erste Fall multipler Allelie
für den Menschen. Die Genreihe enthält vier Allele : A^ A 2 , B
und R (die Gruppe A wurde nach quantitativen Unterschieden
der Ballung in A x und A 2 geteilt). Das Gen R ist rezessiv ge-
gen die anderen. A 2 ist rezessiv gegen A ± . Infolge dieser Ver-
hältnisse hat :
die Blutgruppe A ± entweder den Genotypus A 1 A 1 oder
A 1 A 2 oder A-^R (die letzteren beiden als Heterozygoten),
die Blutgruppe A 2 entweder den Genotypus A 2 A 2 oder A 2 R,
die Blutgruppe B entweder den Genotypus BB oder BR,
die Blutgruppe O den Genotypus RR,
die Blutgruppe AB den Genotypus A 1 B.
Aus den Dominanz- unclRezessivitätsverhältnissen ergeben
sich bei feststehender Blutgruppe zweier Eltern die Möglichkeiten
der Blutgruppen ihrer Kinder, oder, praktisch häufiger verwen-
det, bei gegebenen Blutgruppen von 'Mutter und Kind die mög-
BLUT GRUPPEN
237
liehen und unmöglichen Blutgruppen des Vaters. Dadurch kann
die Vaterschaft eines bestimmten Mannes ausgeschlossen oder
zwischen zwei allein in Frage kommenden Männern unter Um-
ständen entschieden werden. Die Durchführung solcher Prü-
fungen kann hier natürlich nicht erörtert werden; es sei auf
Schiff verwiesen.
Während die Frage nach der Vererbung auf diese Weise
glänzend gelöst zu sein scheint, sind alle anderen Fragen nach
der Bedeutung der ganzen Erscheinung noch völlig dunkel.
Wozu und wodurch sich beim Menschen die verschiedenen
Agglutinine bzw. agglutinablen Substanzen ausgebildet haben,
ist völlig unklar. Die Eigenschaften sind, soweit wir wissen,
vollkommen umweltstabil. Wir kennen keinerlei Beeinflussung
durch Geschlecht, Alter (von der frühen Säuglingszeit in ge-
wisser Hinsicht abgesehen), Ernährungsverhältnisse, Krank-
heiten oder sonstige Umstände. Es bestehen auch keine Kor-
relationen zu anderen Eigenschaften. Zuletzt hat Geipel 1 )
den Versuch, Korrelation von Fingermustern mit Blutgruppen
nachzuweisen, als irrig dargelegt. Auch alle früheren Versuche
— Zusammenhänge mit Krankheiten, psychischen Zuständen
usw. —gingen fehl. Besonders auf Grund dieser außergewöhn-
lichen Unbeeinflußbarkeit des Erscheinungsbildes dieser Erb-
anlagen, hat man immer wieder Versucht, sie auch rassenmäßig
zu deuten, bzw. zu einer Rasseneinteilung zu benützen. Auch
hier hat Hirszfeld einen ersten Versuch in dieser Rich-
tung gemacht. Seitdem ist von zahlreichen Forschern versucht
worden, Beziehungen zwischen der verschiedenen Häufigkeit
der Blutgruppen in den verschiedenen Bevölkerungen der Erde
in Zusammenhang zu bringen mit der Verteilung der anderen
erblichen Eigenschaften, deren gruppenweise Verschiedenheit
auf der Erde wir kennen. Die Ergebnisse sind etwa folgende :
Die Häufigkeit der einzelnen Blutgruppen über die Erde
hin ist außerordentlich verschieden; alle möglichen Kombina-
tionen kommen in bestimmten Häufigkeiten auch tatsächlich
vor. Die Verbreitung bestimmter Kombinationen ist teÜweise so,
daß man über große geographische Gebiete hin ein Absinken
derHäuf igkeit der einen undAnwachsen der anderen Blutgruppen
verfolgen kann. Aber genauere Statistiken haben dann wieder
derartig unregelmäßige Verteilungen gezeigt, daß einstweilen
keine Hoffnung besteht, zwischen der Verteilung der Erbfak-
J ) Geipel. Bestehen korrelative Beziehungen zwischen dem Fingcr-
leislenmustcr und den Blutgruppen? Z. f. Rassenphys. 7. 1935.
238 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
toren für Agglutinine und der Erbfaktoren für Haarform, Na-
senform, Körpergröße und Pigmentverhältnisse u. a. eine Über-
einstimmung zu finden. Und es ist nicht einzusehen, warum man
den einen Erbfaktoren mehr Bedeutung für Rasse und Rassen-
bildung zuerkennen will als den anderen. Aber es haben viele
Forscher trotz aller Mißerfolge immer wieder großen Fleiß
und ehrlichste Arbeitskraft daran gesetzt, das Rätsel zu lösen,
und tun es weiterhin.
Zur Vergleichung der statistisch erhobenen Häufigkeits-
zahlen der einzelnen Blutgruppen, deren gegenseitiges Verhält-
nis in jeder Bevölkerung ein bestimmt gegebenes sein muß, hat
schon Hirszfelcl selbst versucht, einen sog. Index aufzu-
stellen. Er nannte ihn „biochemischen Rassenindex". Dieser
gibt das Mengenverhältnis der Menschen mit Blutgruppe A zu
denen mit B an. Dieser Index gibt aber keine genaue Vergleich-
barkeit des statistischen Materiales zur Erbfrage selbst, da aus
ihm die Anzahl der eigentlichen Gene nicht erhellt. Bei Blut-
gruppe O erkennt man auch die Anzahl der Gene, weil sie
rezessiv sind. Aber z. B. bei Blutgruppe A kann der Genotypus
ÄA oder AR sein. Wir werden also über die Zahl der vorhan-
denen A-Gene allein durch die Angabe der Häufigkeit der
Blutgruppe nicht unterrichtet. Bernstein hat die beste Me-
thode angegeben, nach deren Formeln man aus der Häufig-
keit der Gruppen die der Gene berechnen kann, und hat eine
bequeme Tabelle dafür vorgelegt (s. Schiff). Man bezeich-
net die Häufigkeiten der Gene R, Ä und B mit r, p und q.
Diese Werte zusammen müssen dann immer i bzw. 100 sein.
Ihr gegenseitiges Verhältnis in bestimmter Berechnung wird
bezeichnet als „blutartlicher" und „bluttypischer" Gen-Index.
Steffans Handbuch gibt von all diesen Indices Tabellen über
die gesamten Erhebungen nach dem Stand von Ende 1929,
eine gute Übersicht. Aus den zahlreichen Versuchen, eine
wirkliche Rassenverteilung klar zu legen, sei abermals auf
das Handbuch hingewiesen; den letzten Versuch unternimmt
Hesch 1 ).
Er hält ihn für beweisend für eine richtige Rassenverteilung,
ich bin vom Gegenteil überzeugt. Die wichtigsten Tatsachen
sind folgende. Von Nordwest-Europa nach Osten und Südosten
nimmt die Häufigkeit von A ab (also wird p kleiner). Rußland
hat z. B. schon geringere Werte als Vorderasien. Aber Austra-
l ) Hesch. Die ra ss enge schichtl ich e Bedeutung der Blutgruppenver-
teilung. CR. Congr. intern. Anthr. Eth. 1934.
BLUTGRUPPEN - VERTEILUNG
239
lien, Polynesien, Ainu und Japan haben ebenso hohe Werte wie
Nordeuropa. Auch in Nord-Afrika sind hohe A-Werte, ebenso
auf den Philippinen' und bei Buschmännern. Diese beiden haben
gleichzeitig niedrige B-Werte. Hohe B-Werte haben viele Ost-
asiaten außer Japanern. Australien ist annähernd B-frei. Berber
und Araber sind B-ärmer als Neger, Ägypter wieder sehr
B -reich. Das Gen R ist in Australien und Süd-Afrika am häu-
figsten, ähnlich bei den Indianern. Darnach heute schon von
Strömungen und Wanderungen zu sprechen, ist verfrüht, wir
haben keinerlei befriedigende Lösung sondern nur Fragen.
Nirgends lassen sich bisher wirklich feste Beziehungen der
Blutgruppengene zu den anderen Rassengenen finden — und
diese sind eben auch beweisbare Erbanlagen; es bedeutet Über-
schätzung unserer Kenntnisse von den Blutgruppen (wie vor
Jahren schon Scheidt ausführte), ihretwegen die anderen Erb-
faktoren für die Lösung der Fragen von der Verteilung und
Herkunft der Rassen mehr oder weniger zu vernachlässigen
oder grundsätzlich bei Seite zu lassen.
Das ist auch die Meinung vieler Forscher — zuletzt z.B. von
Suk 1 ) —während andere immer wieder versuchen, die verwik-
kelten Beziehungen aufzudecken, die ja letzten Endes bestehen
müssen! So glaubt Bijlmer 2 ) aus dem hohen Verbreitungs-
grad des B-Blutes in Zentralasien auf dessen dortige Entste-
hung schließen zu können. Wellisch 3 ) weist wiederholt auf die
Blutgruppen von isolierteren Rassenresten (Australier, Wedda
usw.) hin — Routil 4 ) nimmt einen vorsichtigeren Standpunkt
ein — , wie gesagt, wir stehen noch unsicher vor dem Problem.
Das noch dauernd wachsende Schrifttum ist bei Hesch (a.
a. O.) nachzusehen, auf die SpezialZeitschrift für Rassenphysio-
logie sei besonders hingewiesen.
Um wenigstens einen flüchtigen Hinweis auf die Vertei-
lung oder besser die Ranggröße der Unterschiede zu geben,
sei mit folgenden Zahlen der Hundertsatz der Blutgruppen in
der deutschen Bevölkerung und bei Negern angegeben:
L ) Suk. Anthropological aspects of blood grouping. C. R. Congr.
intern. Anthr. Ethn. London 1934.
3 ) B 1 j .1 m c r. The relation of blood groups to race and some perso-
nal enquieries in the south-west Pacific. Ebenda.
3 ) Wellisch. (Zahlreiche Arbeiten.) Ztschr. f. Rassenphys. 7. 1935
(und frühere).
*) Routil. Die Bedeutung der Blutgruppenkombination vonO-A-B-AB
und M-N N-N für Phylogenie. Erblehre und Rassenkunde des Menschen.
Mitt. Anthr. Ges. Wien. 65. 1935.
EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
S — 12 O 28—38
In Deutschland:
AB 3-5 A' 44-54 B
Bei Negern:
AB 3—6 A 20—27 B 20—26 O 41—51
Das starke Durcheinander gegenüber der Abgegrenztheit
mancher Rassen in anderen Merkmalen dürfte z. T. tatsäch-
lich das Ergebnis von Zumischung fremder Bestandteile zu
diesen Rassen sein. Da kann uns vielleicht künftig doch noch
Aufschluß werden. Aber die Möglichkeit ist nicht zu über-
sehen, daß einerseits die Mutationen von AB, die zu den Un-
terschieden geführt haben, mehr als einmal in der Menschheit
entstanden sind. Dann lehrt uns die heutige Verteilung nichts.
Und andererseits darf man nicht vergessen, daß die Häufig-
keit der einzelnen Gene in einer Bevölkerung ganz gewaltig von
Zufällen abhängen kann, nämlich davon, daß bei der Entste-
hung einer sehr vielköpfigen Bevölkerung von verhältnismäßig
geringer Ausgangszahl (bei Wanderungen und dgl.) zufällig
die Zahl der Träger des einen oder anderen 'Gens sehr ungleich
groß und die Träger sehr ungleich fruchtbar waren.
Die Blutgruppen bei Affen
Es ist ganz besonders interessant und für die Frage, ob
man auf Grund der verschiedenen Blutgruppenhäufigkeit in
menschlichen Gruppen wirklich Rassenunterschiede annehmen
darf, von ausschlaggebender Bedeutung, daß sich bei den Men-
schenaffen Schimpanse, Gorilla und O rang die vier menschlichen
Blutgruppen ebenfalls feststellen lassen. Leider sind erst ganz
kleine Untersuchungsreihen vorhanden. Nach der letzten An-
gabe von Weine rt besitzt man einen Blutgruppenbefund von
65 Schimpansen, 4 Gorillas, nOrangs und 16 Gibbons. Aber
schon das kleine Material zeigt, daß die Schimpansen O undA,
die Gorillas A und dieOrangsA, B und AB aufweisen. Vor allen
Stücken bei der kleinen Zahl der untersuchten Gorillas ist da-
mit noch nicht gesagt, daß diese etwa nur Blutgruppe A haben.
Wenn aber alle Blutgruppen bei den menschenähnlichen Affen
vorkommen, ist die Annahme, daß der Urmensch eine einzige
Rasse gebildet habe, und dann die einzelnen späteren Rassen
gewisse Blutgruppen selbständig erworben hätten, nicht mehr
und nicht weniger wahrscheinlich als die, daß schon von vorn-
herein in der noch nicht in Rassen zerfallenen Menschheit alle
Blutgruppen vertreten waren. Damit aber wird jede Hoffnung,
BLUTGRUPPEN BEI AFFEN — BLUTEIGENSCHAFTEN 241
auf Grund der Blutgruppenverteilung ehemalige Rassen unter-
scheiden zu können, zerstört.
Stammesgeschichtlich ist nun weiter von besonderer Wich-
tigkeit, wie Weinert 1 ) mit Recht betont, daß die Gibbons sich
nicht wie die Menschenaffen in die menschlichen Blutgruppen
einordnen lassen. Eine Anzahl Gibbons reagieren mit ihrem
Blut auf menschliche Testsera überhaupt nicht oder ganz un-
bestimmt. Auf alle Fälle zeigen sie auch hier deutlich, daß
sie zu den wirklich Menschen-Ähnlichen nicht gehören. Es soll
dazugefügt werden, daß erst recht alle niederen Affen, der
Alten wie der Neuen Welt, in ihrem Blut- und Serumverhalten
vom Menschen gänzlich abweichen. So ist hier durch die Mög-
lichkeit des Ausschließens dieser Affen und des Einschließcns
der menschenähnlichen für die Frage von Abstammung und
Verwandtschaft viel gewonnen.
Die Eigenschaften M, W und P.
Landsteiner und Levine haben bekanntlich noch
Eigenschaften gefunden, die sich nicht durch Isoagglutination,
sondern nur auf dem Umweg über Immunkörperbüdung nach-
weisen lassen. Bei der Immunisierung von Kaninchen mit
Menschenblut bekommt man nicht nur Antikörper gegen Men-
schenblut im allgemeinen, sondern auch spezifische solche ge-
gen Blutsorten mit bestimmten von einander verschiedenen
Eigenschaften. Diese werden mit M, N, P bezeichnet.
M und N scheinen sich ersetzen, aber auch vertragen zu
können. Mindestens eines ist immer da. Darnach gibt es die
Klassen M, N und MN. Nach Schiff gibt es beispielsweise in
der Berliner Bevölkerung ungefähr 500/0 MN, 30% M, 200/0N.
Bei Indianern soll M viel häufiger und N sehr selten gefunden
werden. Größere Statistiken fehlen noch.
Die Eigenschaften sind ganz konstant und unbeeinflußbar.
Sie vererben sich auf Grund eines einzigen Genpaares. Der
Erbfaktor M bedingt die Eigenschaft M, sein alleler Faktor m
die Eigenschaft N. Bei Heterozygoten (Mm) treten beide Eigen-
schaften M und N auf. Es ist also keine völlige Dominanz.
Nach Bernstein liegen M und N mit den Blutgruppen-Genen
nicht im selben Chromosom. Er hat das Vorkommen von Kop-
x ) Weine r t. Neue Blutgruppenuntersuchungen an Affen im Jahre
1932. Ztschr. f. Rassenphys. 6. 1933.
Derselbe. Blutgruppenuntcrsuchunge.il an Gibbonalfen im Jahre 1934,
Ebenda 7. 1935.
Baur-Pisciicr-I, eiiK,I. 15
242 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN.
pelung als ausgeschlossen nachgewiesen. Auch Routil konnte
(1. c.) statistisch den Erbgang zeigen. Die Eigenschaft P kommt
ab und zu, bei Europäern häufiger als bei Negern, vor. Sie ist
von den anderen unabhängig, ihre Ausprägung gradweise sehr
verschieden (nach Land st einer und Levine).
Es dürften sich im Laufe der Zeit noch einige weitere
„Faktoren" nachweisen lassen. So fand Schiff 1 ) einen sol-
chen Faktor H, der unabhängig von den „Blutgruppen" sich
dominant zu vererben scheint ; einen weiteren, G, meldet der-
selbe Forscher an 2 ). Endlich scheint (nach Schiff und Sa-
saki) 3 ) das Vermögen, Gruppeneigenschaften im Speichel aus-
zuscheiden oder nicht, auf einem einfach mendelnden Genpaar
zu beruhen.
Ein erster Schritt, innerhalb der Blutgruppen, die ja so un-
erhört umweltbeständige Erbanlagen darstellen, nun noch fei-
nere Unterschiede ebenfalls erblicher Art zu entdecken, gelang
Buhle r 4 ) im Nachweis, daß bei EZ der Titer der Isoagglu-
tinine, d.h. etwa der Grad des Agglutinierens konkordanter ist
als bei ZZ. Ein einziges stark diskordantes EZ-Paar zeigt,
daß es aber auch stark beeinflussende (vielleicht sehr seltene)
Um weit Wirkungen geben muß. Plier bedarf es noch vieler wei-
terer Arbeit.
Auch andere Serumeigenschaften müssen in großer Zahl
erblich bedingt sein: Wir haben darüber einige Vorstellungen
auf dem sog. Immungebiet. Die Antikörperbildung im Serum
gegen artfremdes Blut ist bekanntlich für alle Tierarten spezi-
fisch und richtet sich gegenseitig nach dem verwandtschaft-
lichen Verhältnis. Es müssen also für den Ablauf dieser Reak-
tionen im Genbestand auch' des Menschen eine Reihe gesonder-
ter Anlagen vorhanden sein, teils solche, die ihm mit allen an-
deren Primaten gemeinsam sind, teils solche, die er unddie Anthro-
poiden gemeinsam haben und endlich' Ihm allein eigene (Molli-
son) 5 ). Über Erbgang und gegenseitiges Verhältnis und anzu-
l ) Schiff. Über einen eigenartigen serologischen Faktor des Men-
schen. Acta Soc. Med. Fen. Bd. 15. 193z.
s ) Schiff. Ein neues serologisches Erbmerkmal des Menschen. Die
Naturwiss. 1932.
3 ) Schiff und Sasaki. Über die Vererbung des serologischen Aus-
scheidungstypus. Ztschr. Imm. Forsch. Bd. 77. 1932.
4 ) Bühler, E. Untersuchungen über die Erblichkeit des Isoagglutin-
mlitcrs. Ber. D. Ges. Vererbg. 1935.
B ) Mol Li son. Arteiweiß und Erbsubstanz, Ztschr. Morph. Anthr.
(Festband Fischer.) 34. 1934.
ÄNDERE SERUMUNTERSCHIEDE - INNERE DRÜSEN 243
nehmende Zahl dieser Gene wissen wir nichts. Ob Antikörper-
bildung zwischen den Sera verschiedener Rassen auftritt, ob
wir also hier, rassenmäßig verteilt, besondere Gene haben, ist
noch nicht sichergestellt. Gewisse positive Angaben in dieser
Hinsicht über Unterschiede von Europäern und Javanen be-
dürfen der Nachprüfung mit modernen Methoden.
Ein Vergleich der auftretenden Trübungen verschiedenen Grades bei
der Mischung von Seren blutsverwandter, rassisch gleicher und rassever-
schiedener Personen — von Zangemeister zuerst versucht — hat keine
deutlichen Ergebnisse gebracht, ist aber sicher methodisch ausbaufähig. (Ber-
liner, Fol. haemat. 46. 1931.)
Über die Frage besonderer Erbanlagen für die Verschie-
denheit der Immunität gegen Infektionskrankheiten und des
Ablaufs erworbener Immunität vergleiche Lenz Absch. 3.
Die Erbgleichheit von Serum und Gewebe bei EZ beleuch-
tet ein von Bauer 1 ) erwähnter Fall, wo bei einem EZ chirur-
gische Hautüberpflanzung von seinem Paarung mit glattem
Heilerfolg durchgeführt wurde, was bekanntlich zwischen be-
liebigen Menschen im allgemeinen nicht gelingt.
Innere Drüsen.
Besonders erwähnt werden muß wohl noch die Tätigkeit
der endokrinen Drüsen. Da die Ausbildung von Form
und Größe, Wachtum, Aus- und Rückbildung und endlich
die Tätigkeit selbst aller Organe und des Gesamtkörpers
durch Hormone geregelt sind, müssen natürlich auch diese
selbst nach Umfang, Wirksamkeit usw. erblich bedingt sein.
Wenn wir sagen, Körpergröße vererbt sich, so heißt das
eigentlich : die Beschaffenheit, bzw. die Tätigkeit der betref-
fenden innersekretorischen Drüsen (Hypophyse, Thymus, Keim-
drüse usw.) vererben sich. Wachstumsunterschiede, Reifeunter-
schiede usw. zwischen Rassen bedeuten also dann rassenmäßig
erbliche Drüsenunterschiede. Bolk führt die ganze Mensch-
werdung und die Rassenentstehungj auf Mutationen von Drüsen
zurück, die sich vererben; ich glaube nicht, daß man das in
dieser Form darstellen und erklären kann. (Näheres führte hier
zu weit.) Von Einzelheiten auf dem Gebiet jener Drüsen sei die
größere Ähnlichkeit der Reaktion auf Adrenalin bei EZ gegen-
über ZZ erwähnt (Schröder 2 ).
!) Z. indukt. Abst. Ver. 1928. Suppl. S. 151 5. Disk. Bemerkung.
a ) Schröder. Klin. Wochenschrift Bd. 8. S. 1638. 1929.
244 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Auf dem Gebiet des vegetativen Nervensystems
haben wir die ersten Ergebnisse, daß eine Menge von einzel-
nen Abläufen von Reaktionen erblich bestimmt sind. Die nor-
male Pupille in Ruhe und der Kontraktionstypus der Pupillen
auf Licht zeigen bei EZ in deutlichem Gegensatz zu ZZ eine
starke Ähnlichkeit (Löwenstein) 1 ). Sehr aufschlußreich ist
ferner der Nachweis von Werner 2 ) an Zwillingen des Kai-
ser- Wimelm-Instituts, daß die Reaktion des Pulses, des Blut-
drucks, der Atmung, der Schweiß-, Speichel- und Magensaft-
absonderung, ebenso des Blutbildes und des Blutzuckergehaltes
bei EZ nach Injektion von Adrenalin, von Policarpin, von
Atropin und Histamin erheblich gleichartiger sind als beiZZ.
Alle diese komplizierten Funktionen des vegetativen Nerven-
systems hängen also von individuell verschiedenen Erbfaktoren
ab, die man wohl im allgemeinen als kleinere Ailelenreihen für
die einzelnen auffassen muß. Wie weit sie voneinander abhän-
gen oder übergeordnete Faktoren haben, wissen wir nicht. Erst
in diesem Zusammenhang gewinnt die vorher nur als Sonder-
barkeit mitgeteilte Beobachtung von Chenund Poth 3 ) wirk-
liches Interesse, daß Kokain, Euphtalmin und einige ähnliche
Stoffe auf die Iris des Europäers um ein Mehrfaches stärker
einwirken als auf die des Negers, während der Chinese in der
Mitte zwischen beiden steht.
Auch die Erscheinung der Erbbedingtheit der sog. Aller-
gien, Idiosynkrasien, also Überempfindlichkeit gegen bestimmte
chemische Stoffe in Nahrungsmitteln, Arzneimitteln und gegen
bestimmte Hautreize gehört wohl in dieses Gebiet (s. Absch. 3)
und zeigt, daß umgekehrt die normalen Reaktionen der vom
vegetativen Nervensystem beherrschten Teile (Gefäße, Flaut,
Darm usw.) ebenfalls einzeln erblich mitbestimmt sind.
Auf dem Gebiet des anderen Nervensystems liegen Einzel-
untersuchungen über Vererbung normaler Vorgänge erst in
ganz geringem Maße vor.
Um so mehr Schlüsse erlauben die zahlreichen Erbkrank-
heiten dieses Gebietes.
NERVEN PH YSIOL 00 IE
245
') Löwensicin, O. Muskeltonus und Konstitution. Monatsschrift
für Psychiatric. Bd. 70.
s ) Werne r. Erbunterschiede bei einigen Funktionen des vegetativen
Systems nach experimentellen Untersuchungen an 30 Zwillingspaaren. Verh.
D. Ges. inn. Med. Wiesbaden 1935.
a ) Che n and P o t h. Racial differences in mydriatic action of" cocaine,
eiiphthalmine, and ephedrine. Am. Journ. ph. Anthr. 13. 1929.
Curtius und Schnitzler 1 ) konnten zeigen, daß eine
Vergleichung von EZ mit ZZ und mit Nichtgeschwistern für
die Ausschläge des Patellarsehnenreflexes Unterschiede im Ver-
hältnis von 1:1,95:2,55 für die mittlere Differenz des höch-
sten Anfangsausschlages eines Paares und im Verhältnis von
1:1,94:2,81 für die mittlere Differenz des tiefsten Rückschla-
ges ergibt. Die Anzahl der Schwingungen war bei EZ in
66,30/0 gleich, bei ZZ in 57,7% und bei Nichtgeschwistern in
44,30/0. Auch hier besteht also irgendeine Erbunterlage.
Schon über das Gebiet der Nervenphysiologie im engeren
Sinne hinaus gegen sog. psychologische Erscheinungen führen
die ausgezeichneten Untersuchungen von Frischeisen-Köh-
ler 2 ) über das Tempo. Sie konnte nicht nur an EZ und ZZ
(zusammen 118 Paare des K.-W.-Instituts) den Beweis führen,
daß dem individuellen Tempo eine Erbeigenschaft zugrunde
liegen, muß, sondern an 85 Familien mit 318 Kindern auch den
Erbgang ziemlich sicher stellen. Das beschleunigtere Tempo ist
stufenweise dominant über das langsamere.
Ebenfalls an Zwillingen desselben Instituts hat C a r -
mena 3 ) gezeigt, daß der „psychogalvanische Reflex" und —
ein ganz anderes Gebiet — der „Schreibdruck'' bei EZ viel
ähnlicher sind als bei ZZ. Erst die weitere Untersuchung
vieler solcher Dinge wird uns über das Vorhandensein und ge-
genseitige Verhältnis entsprechender Erbanlagen unterrichten.
Noch weniger ist einstweilen über Untersuchungen von
sinnesphysiologischen Erscheinungen bezüglich der Erblichkeit
zu berichten. Wie allgemein diese dabei beteiligt sein muß, zei-
gen alle erblichen Störungen auf diesem Gebiet (Sehstörungen,
Farbenempfindungsstörungen, Hörstörungen usw. s. Absch. 3).
Von Untersuchungen an Zwillingen (Kaiser-Wilhehn-Institut)
sei erwähnt, daß Malan eine größere Ähnlichkeit des Raum-
orientierungssinnes bei EZ gegenüber ZZ fand (noch nicht
1 ) S c h n i t z 1 e r , Karl. Über die Erblichkeitsverhältnisse des Patellar-
sehnenreflexes nach Untersuchungen an 31 Zwillingspaaren. Med. Diss.
Bonn 1933.
3 ) Frischeisen-Köliier. Das persönliche Tempo. Sammlung
psychiatr. neur. Einzeldarstellungen. Bd. 4. 1933.
Dieselbe. Über die Empfindlichkeit für Schnelligkeitsuntcrschiede.
Psychol. Forsch. Bd. 18. 1933.
Dieselbe. Das persönliche Tempo und seine Vererbung. Charakter.
Bd. 2. 1933.
3 ) C armen a, Ist die persönliche Affektlage oder „Nervosität" eine
ererbte Eigenschaft? Z. ges. Neurol. u. Psych. 150. 1934.
Derselbe. Schreibdruck bei Zwillingen. Ebenda [52. 1935.
246 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN,
veröffentlicht), während es nicht gelang, Geschmacksdifferen-
zen zwischen beiden Gruppen nachzuweisen (S chri j ve r x ).
Als Anhang mag hier über die Vererbung der Sing-
st i m 111 e berichtet werden.
Bernstein hat sie zum Gegenstand wiederholter Erb-
forschung gemacht. Er glaubt den Nachweis zu führen, daß
die Stimmlage des Menschen von einem einfach mendelnden
Genpaar abhänge, das dann, bei Mann und Weib hormonal ge-
ändert, entsprechend wirke.
AA soll beim Mann Baß, bei der Frau Sopran bedingen.
Aa äußert sich in Bariton bzw. Mezzosopran und aa ist männ-
licher Tenor, weiblicher Alt. Bei Kindern ist die Stimme schon
festgelegt. Der spätere Tenor hat als Knabe eine Altstimme
(aa), der spätere Baß einen Kindersopran. Die Häufigkeit die-
ser Gene wurde in verschiedenen Bezirken Mittel- und Nord-
westdeutschlands, dann in Süditalien untersucht. Das Baß-
Sopran-Gen kommt darnach z. B. in Friesland und benachbar-
ten Gebieten in 6io/ 0) in Sizilien in 12 o/o, in Pisa in 170/0 vor.
B ernstein bringt es in Beziehung zur nordischen Rasse, da-
gegen das Alt-Tenor-Gen zu anderen europäischen Rassen. Bei
Zigeunern standen 30 0/0 Baß-Sopran gegenüber 20 0/0 Alt-Tenor
des deutschen Stimmtypus und 500/0 eines neuen Alt-Tenor-
typus, der dem deutschen gegenüber klanglich tiefer hegt. Hier
wird ein etwas anderes Gen angenommen ( ?). Ich möchte
glauben, daß diese ganze Erscheinung an Zwillingen und an
Einzelfamilien eine Nachprüfung erhalten sollte.
Grundsätzlich würde hierher die Schilderung der Erban-
lagen auf psychischem Gebiet gehören. Da ihre Untersuchung
zum Teil mit anderen Methoden arbeitet und die Ergebnisse
im Zusammenhang mit der kulturellen Leistungsfähigkeit und
Leistung der Rassen und Völker seine Hauptbedeutung erhält,
wird dieses Gebiet weiter unten in besonderem Abschnitt be-
handelt werden (Lenz, Absch. 5),
3. Die Erbanlagen der Rassen
a) Der Rassenbegriff
Die vorstehende Übersicht hat gezeigt, wie die zahllosen
Schwankungen von Zahl, Größe und Form aller einzelnen Teüe
des Körpe rs sowie aller seiner Vorgänge vom Vorhandensein
1 ) Schrijver. Über die Erforschung erblicher Abweichungen beim
Geschmacksinn. Z. f. Rassenphys. 6. 1933.
RASSENBEGRIFF
247
oder Fehlen bestimmter Erbanlagen und von der Wechselwir-
kung der Umwelt auf diese Anlagen abhängen. Es sei noch
einmal betont, daß wir niemals den erblich bedingten Teil, den
Idiotypus als solchen, in die Erscheinung treten sehen, sondern
nur seine Reaktion auf Umwelteinflüsse. Wir sehen das Er-
scheinungsbild, den Phänotypus. Daß dabei manche Erban-
lagen auf Verschiedenheiten der Umwelt verhältnismäßig stark
ansprechen und daher in weitem Maße schwanken, wie z. B.
die Körpergröße, während andere gegenüber den allerver-
schiedensten Umweltwirkungen fast gänzlich unveränderlich
sind, wie z. B. die Ballungseigenschaften im Blut (Blutgrup-
pen), ist grundsätzlich einerlei, aber für die Erkennung von
Erbe und Umwelteinflüssen von großer Bedeutung.
Überblickt man nun die Gesamtheit aller Gene, die wir für
den normalen Aufbau des Menschen kennen oder annehmen
dürfen, so finden wir große Unterschiede bezüglich regel-
mäßigen oder nur gelegentlichen Auftretens. Es gibt eine große
Anzahl Gene, die zum normalen Bestand des Körpers und sei-
ner Organe und zu deren normaler Tätigkeit unbedingt ge-
hören, die daher bei allen Menschen vorhanden sind, wie schon
oben S. 109 ausgeführt wurde. (Bei diesen bedeutete ein Feh-
len oder eine Veränderung Lebensunfähigkeit [Letalfaktoren].)
Jene Gene sind also tatsächlich ausnahmslos bei allen Men-
schen in gleicher Art vorhanden. Bei anderen Eigenschaften
bedeutet eine Änderung oder ein Fehlen des Gens eine Erkran-
kung oder eine Mißbildung. Sie erscheinen als Ausnahmen,
häufigere oder seltenere, gegenüber der Mehrzahl der norma-
len Menschen. Hier können wir nun schon die Erscheinung be-
obachten, daß Häufigkeit oder Seltenheit verschieden sind,
wenn wir hier oder dort eine größere Anzahl Menschen unter-
suchen. (Über den Grund dieser Erscheinung wird in anderem
Zusammenhang berichtet, s. S. 269.) Weiter finden wir nun aber
außer den normalen Genen, die zum Bestand des Körpers und
seines Lebens gehören, zahlreiche andere, die bei manchen
Menschen vorhanden, bei anderen fehlen oder in anderer Form
vorhanden sind. Offenbar sind sie alle normal, sie engen die
Lebenserwartung (mindestens im allgemeinen) nicht ein. Diese
erblichen Eigenschaften bedingen also Unterschiede erblicher
Art zwischen den einzelnen Menschen. Sie sind in ungeheurer
Zahl vorhanden, wie die Darstellung im vorigen Abschnitt
zeigte, wobei die ebenso zahlreichen Unterschiede auf psychi-
schem Gebiet noch dazu kommen. Eine genauere Untersuchung
EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
dieser Erbeigenschaften nach ihrer Verbreitung in der Mensch-
heit zeigt nun ein sehr ungleiches Verhalten. Einzelne solcher
Erbeigenschaften kommen überall in der ganzen Menschheit
vor, aber überall sind es nur einzelne Individuen bzw. Erb-
linien, die sie aufweisen. Als Beispiel sei die Rothaarigkeit er-
wähnt. Bei allen Bevölkerungen der Erde kommen auf erb-
licher Unterlage Rothaarige vor, hier häufiger, dort seltener.
Diese verschiedene Häufigkeit kann die Folge von verschieden
starker Inzucht zwischen solchen Linien oder etwaiger Auslese
bzw. Ausmerze solcher Linien sein, oder aber auf verschieden
häufiger Mutation beruhen; wir wissen darüber noch fast nichts.
Manche solcher Erbeigenschaften zeigen aber recht deutlich
eine Verschiedenheit in der Häufigkeit ihres Auftretens nach
ganzen Bevölkerungsgruppen über die Erde hin. So wurde
z. B. oben gezeigt (S. 148), daß deutliche Unterschiede in der
Häufigkeit bestimmter Muster der Fingerleisten zwischen Ost-
asien und Afrika und Europa sind. Dasselbe gilt für das Vor-
kommen von Blutgruppen, Wir kennen alle Grade verschiede-
ner Häufigkeit solcher Erbeigenschaften, so daß ein allmäh-
licher Übergang besteht zur extremen Verschiedenheit, nämlich
zu dem Fall, daß eine Erbeigenschaft bei einer menschlichen
Gruppe ganz fehlt und bei einer anderen ausnahmslos vorhan-
den ist. Diesen äußersten Fall kennen wir für eine große An-
zahl. Es dürfte sich keinesfalls um einen im Wesen der Gene,
der Eigenschaften selbst, gelegenen grundsätzlichen Unter-
schied handeln. Vielmehr sind auch liier wohl nur Inzucht und
Kreuzungsverhältnisse, die Wirkung der Auslese, vielleicht auch
verschiedene Häufigkeit von Neumutationen anzunehmen, über
welch letzteren Punkt wir allerdings, wie gesagt, nichts wissen.
Diese Erscheinung, daß also einzelne Erbeigenschaften, das
heißt Gene, deren bald mehr, bald weniger in ihrem Vorkom-
men auf bestimmte Gruppen von Menschen beschränkt sind,
hier aber in der Gruppe bei allen Menschen vorhanden sind
und außerhalb derselben bei allen fehlen, erlaubt uns, Grup-
pen überhaupt voneinander zu unterscheiden. Es sind also
Gruppen bestimmten, erblichen Genbestandes, die von anderen
Gruppen mit anderem Genbestand unterscheidbar sind. Und es
sind immer nur eine Anzahl Gene, die die Abgrenzung machen,
während zahllose andere Gene mehreren Gruppen oder der ge-
samten Menschheit gemeinsam sind. Es sei als Beispiel hin-
gewiesen etwa auf die Buschmänner. Diese haben Erbfaktoren
für Pygmäenwüchsigkeit, für Fil-Fii-Haar, für bestimmte For-
RASSENBEGRIEL
249
men von Nase, Backen, Lippen, sonstige physiognomische
Dinge, für die Form des Penis und manches andere. Das ist
ein ihnen in dieser Kombination allein zukommender Bestand.
Da alle Buschmänner diese Anlagen haben, müssen die Gene
bei jedem homozygot sein. (Ich sehe dabei von offenbaren
Rassenkreuzungen ab.) Die Buschmänner haben nun aber wei-
ter Gene, die sie gemeinschaftlich haben mit Hottentotten,
z. B. für die Hautfarbe, für die Lippenform u. a. Andere mensch-
liche Gruppen haben diese nicht. Jene zwei stehen sich also
durch den gemeinsamen Besitz dieser bestimmten Gene näher
als jede von ihnen irgendeiner dritten. Umgekehrt haben auch
die Hottentotten Gene, die den Buschmännern fehlen, z. B.
für die Lidfalte (s.S. 199). Weiter besitzen nun die beiden zu-
sammen (von S c h ul t z e mit dem Rassennamen „Koisan"
zusammengefaßt) gemeinsame weitere Gene mit der gesamten
eigentlichen afrikanischen Negerbevölkerung, etwa die eigen-
tümlich flachlange Form des Schädels, bestimmte Farbtöne
der Haut, die allgemeine Spiraldrehung des Haares usw. Diese
Eigenschaften fehlen dagegen in Europa oder Zentral-, Nord-
und Ostasien ganz. Jener gemeinsame Genbestand faßt also
offensichtlich die Koisan und die Neger näher zusammen als
einen davon mit Europäern oder asiatischen Mongolen. Nur
die allen Menschen gemeinsamen Gene verbinden dann diese
letzten großen Gruppen. Auf diese Weise ist also eine Grup-
pierung verschiedener Nähe und Ferne tatsächlich gegeben.
Diese Gruppen nennen wir Rassen. Man kann die Benennung
als solche mißbilligen, wie es z. B. Fritz Sarasin in seinem
Neukaledonienwerk tut, der grundsätzlich nur von mensch-
lichen „Varietäten" spricht, weil er das Wort Rasse auf will-
kürlich, womöglich auf bekanntem Weg, gezüchtete Haustier-
rassen beschränkt wissen will. Man kann weiter der Benen-
nung Rasse vorwerfen, daß sie willkürlich bald auf einen ganz
engen Kreis von Besitzern bestimmter Gene, z. B. oben ge-
nannte Buschmänner, angewandt wird, bald aber auch ebenso
auf einen größeren Kreis, der zwar auch noch einen gemein-
samen und gegen andere Kreise sie auszeichnenden Genbestand
hat, jedoch in sich aus zwei oder mehreren genmäßig verschie-
denen Untergruppen besteht, wie z. B. oben die Koisan. Und
ein drittes Mal wird das Wort Rasse auf noch größere Grup-
pen, hier etwa Neger und Europäer angewandt. Es wäre sicher
besser, für alle diese Rangordnungen eigene Namen zu haben,
und es wäre wirklich an der Zeit, solche zu schaffen. Ich selbst
250 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
nenne die größten umfangreichsten Gruppen jeweils Zweig
(Ramus). Aber das Wort Rasse ist einstweilen für kleinere
und größere Gruppen unentbehrlich.
Rassen sind also Gruppen mit gemeinsamem Besitz be-
stimmter Gene, die anderen Gruppen fehlen. Wie erwähnt,
weisen alle Individuen der Gruppe jene Gene auf. Sie sind 1 also
homozygot. Das kann natürlich nur sein, wenn die Gruppen
Fortpflanzungsgemeinschaften sind. Auch typische Bastard-
gruppen können einen Genbestand haben, der anderen Grup-
pen fehlt, z. B. wenn beide Elternrassen, aus denen die
Bastards entstanden sind, verschwunden sind. Aber in solchen
Bastardgruppen ist keine der betreffenden Eigenschaften bei
allen Individuen anzutreffen. Immer zeigt die Bastardgruppe
bezüglich aller betreffenden Eigenschaften heterozygote Indi-
viduen neben einer Minderzahl von homozygoten. Sie ist des-
halb nicht als Rasse zu bezeichnen. Rasse ist also, genauer ge-
sagt, eine Gruppe von Menschen in Fortpflanzungsgemeinschaft,
die eine Anzahl Gene homozygot besitzt, welche anderen fehlen.
Unter natürlichen Verhältnissen unterscheiden sich Rassen
wohl immer durch eine ganze Anzahl gemeinsamer Sondergene.
Aber grundsätzlich würde schon ein einziges genügen. Folge-
richtig bezeichnet auch . tatsächlich der experimentelle Erb-
forscher als Rasse Individuen, die sich von anderen nur durch
ein einziges Gen unterscheiden. Zahlreiche Drosophilarassen
oder Löwenmäulchenrassen sind uns bekannt, die voneinander
jeweils durch ein einziges Genpaar verschieden sind. Man kann
ja jede solche Erbeigenschaft züchten, und man benennt die
Rasse nur nach dieser und übersieht dabei die Gleichheit oder
Ungleichheit aller übrigen Eigenschaften. In der Haustier-
zucht dagegen züchten wir Rassen, die eine ganze Anzahl (uns
wertvoller und daneben wohl auch uns gleichgültiger) Erb-
eigenschaften haben. Und auch beim Menschen nennen wir
Rasse nur solche Gruppen mit einer ganzen Anzahl von an-
deren Gruppen verschiedenen Genen. Warum nicht alle norma-
len oder wenigstens nicht sehr schädlichen Erbeigenschaften,
die wir beim Menschen beobachten können, zur Gruppen-, d.h.
Rassenbildung geführt haben, läßt sich nicht sagen. Wir haben
überall auf der Erde einzelne Rothaarige erblich, aber keine
rothaarige Rasse. Wir haben auch nicht etwa eine sechsfing-
rige Rasse oder eine Rasse der Sommersprossigen. BeiDroso-
phila sprechen wir beispielshalber von einer flügellosen oder
einer weißäugigen Rasse, auch wenn solche Individuen durch
RASSEN BEGRIFF - RASSENENTSTEHUNG
251
gleichsinnige Mutation ganz unabhängig voneinander (aber am
gleichen Gen) in europäischen oder amerikanischen Zuchten
entstehen, und unbekümmert darum, daß diese pathologischen
Rassen ohne Kunsthilfe nicht lebensfällig sind. Es ist folge-
richtig, denn aus jedem solchen Individuum läßt sich züchte-
risch eine homozygote Gruppe herstellen. Beim Menschen könnte
man durch Zucht ohne weiteres eine rothaarige Rasse oder
Polydaktylie-Rasse züchten. (Bei manchen Haustieren haben
wir Rassen mit mehr oder weniger oder verwachsenen Zehen,
z. B. Schweine, Hunde, Hühner.)
Man kann die gezüchteten Haustier- und die menschlichen
Rassen zum Unterschied jener nach einem einzigen Merkmal
benannter Rassen des Experimentes auch als Systemrassen be-
zeichnen. Es wurde gelegentlich mißverstanden, weshalb betont
sei, daß dabei kein grundsätzlicher Unterschied besteht, son-
dern nur angedeutet werden soll, daß man diese durch eine
Anzahl von Eigenschaften gekennzeichneten Rassen nach dem
Bestand einzelner mehreren gemeinsamer Gene systematisch
einteilen kann. Der Name soll also lediglich andeuten, ob ich
im präzisen Sinn des Genetikers oder nach dem Sprachgebrauch,
wenn auch selbstverständlich nach der obigen präzisen Defi-
nition, das Wort Rasse gebrauche 1 ).
Auf die Geschichte des Rassenbegriffes, auch auf die zahl-
reichen Versuche seiner Abgrenzung und Definition möchte ich
hier nicht eingehen.
Wenn bisher versucht wurde, die normalen menschlichen
Gene und ihre Erscheinungsbilder einzeln und systematisch
darzustellen, soll im folgenden die Gruppierung der Gene in
den einzelnen Bevölkerungsgruppen untersucht werden. Ent-
sprechend obiger begrifflicher Auseinandersetzung ist dieses
dann der Inhalt einer allgemeinen Rassenlehre, dagegen wird
auf eine Beschreibung des Erscheinungsbildes der einzelnen
Rassen nicht eingegangen werden,
b) Rassenentstehung
Die Entstehung der menschlichen Rassen hängt in ihren
Anfängen eng zusammen mit der Entstehung des Menschen
überhaupt. Seiner Gesamtorganisation nach gehört der Mensch
unstreitig zusammen mit sämtlichen Affen zu den Primaten
(Herrentieren). Innerhalb dieser Ordnung bilden Anthropoiden
1 ) Ploetz benützte das Wort Systemrasse in anderem Sinn, worauf
aber hier nicht eingegangen werden kann.
252 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
oder menschenähnliche Affen und die Hominiden, d. h. ausge-
storbene und heutige menschliche Formen je eine Sondergruppe,
die eng zusammengerückt sind und den übrigen Familien der
Primaten (niedere Affen der Alten und Neuen Welt) gegen-
überstehen. Gegen Ende des Tertiärs gab es eine reiche Ent-
faltung der Anthropoiden, wie uns zahlreiche fossile Funde
lehren. Damals verbreiteten sich diese Formen von China aus
quer über ganz Asien und Europa, von Indien über Ostafrika
bis zum Kap. Die Verbreitung dürfte nach den Vorstellungen
von Othenio Abel von Zentralasien her erfolgt sein. Die reiche
Entfaltung der tertiären menschenähnlichen Affen birgt For-
men, die den heutigen gegenüber generalisiert, und unter wel-
chen die äf fischen Ahnen des Menschen zu suchen sind. Aus dieser
ganzen formen reichen und weit verbreiteten Gruppe haben sich
in die Gegenwart nur Gibbon, Orang, Gorilla, Schimpanse und
Mensch entwickelt und erhalten. Auf das gegenseitige Verhält-
nis der heutigen Formen untereinander und mit den Fossilen
kann hier ebenso wenig eingegangen werden wie auf Fak-
toren, Ort und Zeit der Menschwerdung. Es sei nur betont,
daß uns vergleichende anatomische und entwicklungsgeschicht-
liche Untersuchungen einerseits und zahlreiche fossile Funde
andererseits in den Stand setzen, eine genauere Entstehungs-
geschichte des Menschen aufzustellen als von den allermeisten
Säugetieren. Es sei auf die zusammenfassenden Darstellungen
von Schwalbe 1 ), von Weine rt 2 ) und von O. Abel 3 ) ver-
wiesen. Hier sei nur angedeutet, daß wir als Zeugnis der letz-
ten Zwischenstufe von Anthropoiden und Hominiden den Pi-
tliecanthropus erectus aus Java und den Sinanthropus aus der
Gegend von Peking haben. Der letztere ist sicher nicht später
als allerfrühestes Diluvium. Ob diese beiden, morphologisch
sicher eng zueinander gehörenden Funde in unserer wirklichen
Ahnenreihe standen, ist noch nicht entscheidbar, aber gut mög-
lich, wobei dann der Pithecahthropus seine ersten menschlichen
Nachfahren in. der alten Form eine Zeitlang überlebt hätte,
Für das Verständnis der Rassenentstehung ist es wichtig,
darauf hinzuweisen, daß nach Ansicht seiner EntdeckerBlack,
Pei und Anders son (1921—30) und ebenso des Prä-
1 ) Schwalbe. Die Abstammung des Menschen und die ältesten Men-
schenformen. Kultur der Gegenw. III. 5. Leipzig 1923.
2 ) Weine rt. Der Ursprung der Menschheit. Stuttgart 1932.
3 ) Abel, O. Die Stellung des Menschen im Rahmen der Wirbeltiere.
Jena 1931.
RASSENENTSTEHUNG — FOSSILE FORMEN
253
liistorikers Breuil, der an Ort und Stelle Untersuchungen
durchgeführt hat, Sinanthropus nicht nur Steinwerkzeuge be-
stimmter Formen benützt hat, sondern auch im Besitz von
Feuer war. Weithin zeigen die Felsen seines Fundortes Wir-
kung von Feuer, und zwar von solchem, das lange Zeit ge-
dauert hat. Ich möchte von den Wesen, die sich vom Affen
zum Menschen entwickelt haben, denjenigen erstmals den Na-
men Mensch zubilligen, die durch den Besitz von Feuer, d. h.
die Kenntnis künstlicher Feuererhaltung (noch nicht Entzün-
dung) und durch den Besitz künstlich hergestellter Werkzeuge
sich als denkend (im Sinne des heutigen Menschen) erweisen.
Ich nehme als sicher an, daß sie dann zugleich im Besitz der
ersten Sprachbildungen waren.
Über den Bestand von Erbanlagen dieser Geschöpfe wis-
sen wir natürlich nicht viel. Aber wir können folgendes sagen:
der Genbestand des heutigen Menschen hat eine große Anzahl
Gemeinsamkeiten mit dem der drei Großaffen, es sind die Gene
für alle morphologischen und physiologischen Gleichheiten
zwischen ihnen und uns. (Nur als Beispiele: Bau der Retina,
der Spermien, gewisser Gehirnteile, Blutgruppen usw.) An-
dererseits besitzt der Mensch eine große Reihe erblicher Eigen-
schaften, die bei allen Menschen über alle Rassen weg voll-
kommen gleich sind und von allen Affen verschieden. Es han-
delt sich dabei auch um sicherlich nicht lebenswichtige Einzel-
heiten sondern oft geringfügige, aber äußerst charakteristische
Bildungen. Als Beispiel sei die Grenze des Kopfhaars von der
Stirn über die Schläfe um das Ohr herum bis gegen den
Nacken erwähnt. Bei allen Menschen ist ganz charakteristisch
die haarfreie Stelle hinter dem Ansatz der Ohrmuschel. Es sei
weiter die grundsätzliche Anordnung der Tastleisten vor allem
am Fuß erwähnt, die Anordnung der großen und kleinen Zehe,
zahlreiche Einzelheiten im Gehirnbau, im Aufbau des Blut-
serums ; es könnte noch eine lange Liste gebracht werden. Die
vollkommene Gleichheit dieser Bildungen (d. h. also auch der
ihnen zugrunde liegenden Gene) beweist einwandfrei und bin-
dend, daß die Vollendung der stammesgeschichtlichen Fort-
entwicklung bis zum Menschen selbst nur ein einziges Mal und
aus einer einzigen Wurzel heraus stattfand. Es ist ganz undenk-
bar, daß jene äußerst komplizierte Kombination neuer, bei
keinem Affen vorhandener Gene, die im Genbestand ausnahms-
los aller Menschen vorhanden sind, sich mehrfach und unab-
hängig voneinander gebildet hat. Auf dem Sinanthropuszustand
254 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
dürfte also die Menschheit ganz einheitlich gewesen sein. Ras-
senbiidung hatte noch nicht eingesetzt.
Die nächste Stufe, die wir kennen, ist uns erhalten im Unter-
kiefer von Mauer bei Heidelberg aus der vorletzten Zwischeneis-
zeit 1 ). Wir wissenüberseineErbeigenschaften, vom Unterkiefer ab-
gesehen, nichts. Um eine Eiszeit (die Riß- oder zweitletzte) undum
ein gut Teil der letzten Zwischeneiszeit später sehen wir in dieser
warmen Zwischeneiszeit den als homo primigenius bezeichneten
Neandertalmenschen auftreten. Auch hier wissen wir von erbli-
chen Einzeleigenschaften nichts außer den charakteristischen,
ihn von allen spätdiluvialen und rezenten Menschenrassen ganz
eindeutig scheidenden Kennzeichen seines Schädels und seiner
Extremitätenknochen. Aber mir scheint es sehr wichtig, fest-
zustellen, daß diese Form sich schon von Asien bis Westeuropa,
von Belgien bis zur Südspitze Südafrikas verbreitet hatte. Auf
dieser Stufe also hat der Mensch schon eine Ausbreitung über
die Erde erlebt wie kein Tier. Dabei möchte ich betonen, daß,
so weit man es nach den Resten beurteilen kann, die Form
mindestens von Vorderasien bis Belgien und von Neandertal
(bei Elberfeld) bis Spanien und Rom völlig gleich war. (Ich
erkenne die Formunterschiede, die Gorjanoviö-Kram-
berger an den zusammengeflickten Resten eines Schädels
feststellen wollte, nicht an.) Ich möchte also glauben, daß hier
jedenfalls eine stärkere Scheidung in Rassen noch nicht statt-
gefunden hat. Höchstens der Fund von Brokenhill zeigt
etwas Sonderbildung gegen die übrigen Neandertalformen.
Nach Ablauf jener letzten Zwischeneiszeit und der Haupt-
vereisung der letzten Eiszeit, in deren schwankungsreichen Aus-
klingen, ist mit neuen Formen von Steingeräten, von Hörn- und
Knochenwerkzeugen und von eigenartiger Schnitz- und Mal-
kunst, der sog. jungpaläolithischen Kultur, ein neuer Typ von
Menschen da, samt und sonders artmäßig dem heutigen Men-
schen, der Spezies homo sapiens, zugehörig. Und in schärfstem
Gegensatz zur vorhergehenden Primigeniusform ist die neue
Form, wie jene über die ganze Alte Welt verbreitet, deutlich
und zweifellos in Rassen aufgelöst. Ob diese Rassen alle oder
einzelne davon unmittelbar aus dem uns bekannten einheit-
lichen Neandertalmenschen entstanden sind, läßt sich weder
beweisen noch widerlegen. Aber sicher ist, daß im Laufe jener
*) Neuester Fund von, größter Wichtigkeit: der Schädel von Steinheim
(Württbg.). (Vorl. Mitt. von Berckhemer, Anthr. Anz. 10. 1923.) Aus-
führliche Bearbeitung von W e i n e r t demnächst in Z. Morph. Anthr. 1936.
RASSENENTSTEHUNG — FOSSILE FORMEN
255
letzten Zwischenzeit und der darauf folgenden Eiszeit die Ras-
senbildung eingesetzt hat, und daß es zur Ausbildung einzelner
Rassen gekommen ist. Wir finden bei diesen Jungpaläolithikern
mit Sicherheit einerseits Rassen, die zu den heutigen Europäern
unzweifelhaft in stamm esg-escliichtlicher.Beziehung stehen (Aurig-
nac -Rasse, Brünn-Rasse, Cro-Magnon-Rasse, Kurzkopf rasse)
und andererseits eine solche, die zu den Negriden gehört (Gri-
maldi-Rasse) . Vorfahren-Rassen von Mongoliden und vielen
anderen heutigen Gruppen kennen wir nicht; für die Australier
dürften die wohl schon postcliluvial anzusetzenden Wadjak-
(Java) und Talgai- (Australien) Funde ebenfalls Ausgangsras-
sen darstellen.
Es ist nicht Aufgabe der Erblehre, auf die fossilen Funde
im einzelnen einzugehen 1 ) . Aber für den Versuch, die Ent-
stehung der erblichen Rassenunterschiede zu erklären, sind die
genannten Tatsachen von grundlegender Wichtigkeit. Wir haben
also auf dem Sinanthropus-Pithecanthropusstadium den Men-
schen im Besitz von Feuer und Werkzeugen. Auf dem folgen-
den Stadium — Primigenius-Neandertal — ist er noch (an-
nähernd) einheitlich, aber schon über die Kontinente ausgewan-
dert, und eine Periode später, wiederum ausgewandert und im
Besitz verschiedenartiger und verschieden entwickelter Stein-
kulturen, ist er in die ersten Rassen zerfallen. Man darf anneh-
men, daß die Rassenbildung dann noch weiterging. Wie kön-
nen wir uns nun die Rassenbiklung als solche erklären ?
Erbliche Unterschiede zwischen einzelnen Individuen oder
ganze Gruppen von solchen kennzeichnende entstehen durch Mu-
tationen (s.Absch. r, S.75). Bei freilebenden Tieren, wobei wir
uns hier auf Säugetiere beschränken wollen, treten immer ein-
mal Mutationen auf, d. h. Veränderungen von Genen, die dann
ein neues Außenmerkmal erkennen lassen. Nach allen unseren
Erfahrungen über das freilebende Tier und besonders auch aus
unseren Experimenten mutieren bestimmte Gene häufiger als
andere. Eine der häufigsten Genveränderungen ist die des Pig-
mentfaktors für das Säugetierhaar zu einer Verlustmutanten.
Es entsteht ein Albino. Die Annahme ist berechtigt, daß die
Haarpigmentierungsgene bei allen Säugetieren teilweise glei-
cher Natur sind. Deswegen wird diese Mutation bei allen gleich
sein. Sie ist, wie gesagt, bei zahlreichen Säugetierarten (auch
1 ) We inert. Menschen der Vorzeit. Stuttgart 1930. (Lit.)
G i e s e 1 e r. Abstämmlings- und Rassenkunde des Menschen. I. Oehrin-
jen 1936. (Lit.)
256 EUGEN EISCH ER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Vögeln) die häufigste. Eine andere Mutation führt zu Melanis-
mus, wieder eine andere zu Rutilismus, beides ebenfalls bei
einer ganzen Reihe von Säugetieren. (Schwarze Eichhörnchen,
schwarze Panther, Puma, schwarze Haustiere. — Rote Katzen,
Kaninchen, Pferde usw.) Eine andere Mutation bewirkt die
Drehung oder Lockenbildung des Haares, ebenfalls bei den
verschiedensten Tieren zu beobachten (Angora- Ziegen, Angora-
Katzen, Meerschweinchen, Kaninchen, Pudelhunde, sogar kraus-
haarige Rinder und Schweine). Auch diese Gene dürften grund-
sätzlich bei allen Säugetieren gleich sein und verhältnismäßig
leicht mutieren (ich glaube aber, seltener und schwieriger als
die Pigmentierungsgene). Dagegen sind z. B. Mutationen der
Gene für das Haar nach der Seite der Haarverdickung, Bor-
stenbildung, offensichtlich im Säugetierstamm außerordentlich
selten. Kurz, es gibt leicht und schwer mutable oder, wie man
auch sagen kann, labilere und stabilere Gene. Dies gilt sicher
auch für den Menschen.
Über die Ursachen der Mutation wissen wir, wie Ab seh. 3
ausgeführt werden wird (Lenz), abgesehen von unseren künst-
lichen Röntgenmutationcn so gut wie nicht 1 -). Vergleichen wir
aber den Menschen mit der Säugetier weit, finden wir an ihm
unendlich viel mehr auf Mutationen zurückgehende Erbunter-
schiede als dort, vor allem auch pathologische. Nur die Haus-
tiere kommen ihm an Zahl und Mannigfaltigkeit des normalen
und krankhaften Genbestandes etwas näher.
Eher noch mehr krankhafte Gene als beim Menschen kennen wir bei
Drosophila, wo in vielen Tausenden von Zuchten jedes Auftreten der klein-
sten Mutation beobachtet und deren Träger sorgfältig gezüchtet werden.
Hier kennen wir erbliche Mißbildungen an ausnahmslos allen Körperteilen
und beobachten zahllose letale Mutationen. Zucht und künstliche Auslese!
Es kann kein Zweifel sein, daß alle Tiere im Zustand der
Domestikation sehr viel stärker und vielseitiger mutiert sind,
also erbliche Sondereigenschaften, Rassenbildung, aber auch
krankhafte Mutationen zeigen, als freilebende. Der Hauptgrund
dürfte der Mangel an Ausmerze sein. Die meisten Mutationen
stellen ungünstigere Eigenschaften her als die nichtmutierten.
Im Freileben werden solche Mutanten und 'ihre Nachkommen
') Auf die theoretischen Vorstellungen über die Entstehung von Mu-
tationen kann hier natürlich nicht eingegangen werden, es sei aber auf die
außerordentlich interessante, anregende und vielversprechende Arbeit von
T i m o f 6 e f f - R e s s o v s k y , Z i m m e r und Delbrück, Über die Na-
tur der Genmutation und der Genstruktur mit allem Nachdruck hinge-
wiesen. (Nachr. Ges. d. Wissensch., Göttingen (Biologie), N. F. B. 1. 1935.)
RASSENENTS TEE ENG: MV TATI ONEN.
257
offenbar aufs schärfste ausgemerzt. In der Domestikation kön-
nen sie sich erhalten oder werden sogar künstlich gehegt. Aber
die Vermutung liegt nahe, daß außerdem durch die Domesti-
kation als solche Mutationen in größerer Zahl entstehen. Die
Domestikation ändert sehr stark den gesamten Stoffwechsel
der betreffenden Tiere, (Nahrungsmengen, Nalrrungsart, Ernäh-
rungsrhythnius, Wärmehaushalt, Körperbewegung usw.) eben-
so die Fortpflanzungs Verhältnisse (willkürliche Eingriffe in
den Beginn, die Begattungshäufigkeit, die Aufzucht der Jun-
gen usw.) Es ist mir mehr als wahrscheinlich, daß im Zusam-
menhang mit solchen Änderungen Mutationen ausgelöst wer-
den. Die labilen Gene mutieren dann am häufigsten. So kommt
es, daß wir bei allen Haustieren bestimmte Erbeigenschaften
stark mutiert sehen in fast völliger Parallele. Bei fast allen gibt
es Albino, albinotisch gescheckte, schwarze, rote, blonde, bunt-
gescheckte, kraushaarige, kurz- und langhaarige, Zwerge, Rie-
sen, Dackelbeinige (Hund, Schaf, Ziege) und vieles andere.
Diese selben Erscheinungen zeigt der Mensch in seinen
Rassen. Diese Gleichheit ist kein Zufall. Biologisch ist heute
die gesamte Menschheit, auch die sog. Primitiven, in derselben
Lage wie die domestizierten Tiere. Keine menschliche Gruppe
besteht, die nicht ihren Stoffwechsel gegenüber dem etwa der
Affen künstlich und willkürlich beeinflußt. Die stärkste Rolle
dabei spielt der Besitz des Feuers, mit welchem der Mensch
Nahrung konserviert (Rösten oder Braten des Fleisches, das
sonst in den Tropen besonders schnell verdürbe) mit welchem
er weiter ungenießbare, harte, schwer verdauliche und vom
Darm nur wenig ausnützbare oder gar in rohem Zustand gif-
tige pflanzliche Erzeugnisse genießbar und nahrhaft macht,
mit welchem er seinen Wärmehaushalt verändert und endlich
als Jagdmittel seinen Nahrungserwerb erleichtert. Und weiter
gibt es keine Gruppe, die nicht ihre Fortpflanzung durch Sitte
und Brauch und Recht künstlich geregelt hätte (Exogamie,
Endogamie, Brautkauf, Kindstötung, Abtreibung usw.). Was
beim Flausticr für die Erhaltung aufgetretener Mutationen
Wille, Nutzziel oder Laune des Züchters ist, sind beim Men-
schen kulturelle Einrichtungen, Sitten, Willkür und wohl auch
Laune, die die natürliche Auslese und Ausmerze auf den primi-
tiven Kulturstufen mindestens beeinflussen, auf den hohen ge-
radezu ausschalten und z. T. ins Gegenteil verwandeln. Ich
fasse also den Menschen von der Zeit an, da er Feuer besitzt
und durch den Gebrauch echter Werkzeuge verrät, daß er
B a 11 r - F i s c h e r - 1, e 11 z I. 17
258 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
wohl auch soziale Einrichtungen und Sitte und Brauch hat, auf
als in einem biologischen Zustand lebend, der dem des dome-
stizierten Tieres völlig gleicht. Vor allem sei das steigende
Ausgeschaltetsein der natürlichen Auslese betont! Damit wer-
den auftretende Mutationen mindestens in viel größerer Zahl
erhalten als beim freilebenden Tier, sehr wahrscheinlich aber
auch in sehr viel größerer Zahl entstehen als dort. Man kann
nun leicht zeigen, daß sämtliche Rassenunterschiede auf Genen
beruhen, die ihre vollkommene Parallele in den Mutationen
der Hausticrc haben. Ich komme unten darauf zurück 1 ).
Wie entstanden nun die einzelnen Rassen ?
Wir haben oben gesehen, daß schon der Sinanthropus
Feuer und Werkzeuge besaß. Seit jener Zeit würde also der
Mensch biologisch einer domestizierten Form entsprechen und
mutieren. Daß nun einzelne aufgetretene Mutationen, die ja zu-
nächst nur ein Einzelindividuum betreffen, sich auf eine Gruppe
ausbreiten und damit Rassenmerkmal werden, hängt von be-
sonderen Umständen ab. Entweder muß eine solche Mutation
zu ungefähr gleicher Zeit bei einer größeren Anzahl von Indi-
viduen einer Gruppe auftreten und dann positiven oder negati-
ven Auslcscwcrt haben; wenn sie selbst sich rezessiv vererbt
und biologisch große Vorteile im Kampf ums Dasein gegen die
vorhergehende (nicht mutierte) Eigenschaft hat, wird sie durch
positive Auslese rasch verallgemeinert werden können. Oder
aber es bedarf der Isolierung. In sehr vielen Fällen — und in
allen mindestens unterstützend — wird Isolierung einzelner mu-
tiert er Individuen die Vermehrung der Träger der neuen Eigen-
schaft bewirken. Und wir dürfen annehmen, daß solche Isolie-
rung in weitestem Umfang z. Zt. der beginnenden Rasscnglie-
derung der Menschheit stattfand. Wir sahen oben, wie der
Mensch schon auf der Neandertalstufe und erst recht nachher
über die Kontinente verbreitet war. Es ist ganz unmöglich,
sich vorzustellen, daß er damals Länder füllende Völker bil-
dete wie später oder heute. Von einem Bevölkerungsdruck, der
von einem Entstehungszentrum des Menschen in wiederholten
Schüben ausging, kann für diese frühen Zeiten gar keine Rede
sein. Jene Menschheit zog in kleinen Trüppchen, familienweise,
v ) Ich habe diese Vorstellungen zuerst 1914 dargelegt (Zeilschr. Morph.
Anthr, t8. Festb. Schwalbe), seitdem aber nach der Seite der Mutations-
ichre ausgebaut. — - Montandon nennt in seinem sehr interessanten Buch
La race, les races (Paris 1933) den Vorgang „self-domeslicalion" und mißt
ihm dieselbe Bedeutung bei.
ISOLIERUNG
WANDERUNG.
259
aus und offenbar über weite Strecken. Es wird viel zu wenig
beachtet, daß das „Wandern" des Menschen etwas ganz ande-
res ist als das irgendeines Tieres. Ein echtes Wandern führt
Tiere innerhalb eines an sich geschlossenen Verbreitungsgebie-
tes im Laufe eines oder auch mehrerer Jahre hin und her. Auf
diese Weise wandern Antilopenherden, Lcmminge und viele
andere. (Auch der Zug der Zugvögel gehört grundsätzlich
hierher.) Wenn wir dagegen sonst von Wanderungen, vor allem
vom Einwandern von Tierarten, z. B. in der Erdgeschichte und
bezüglich der geographischen Verbreitung der Tiere, sprechen,
ist dies ein ganz anderer Vorgang. Da wandert nicht das ein-
zelne Tier, sondern da schiebt sich langsam das Verbreitungs-
gebiet, beim Vogel etwa die Nistplätze, im Laufe mehrerer Ge-
nerationen über die bisherige Grenze vor. Vielfach zieht sich
das Verbreitungsgebiet auf der entgegengesetzten Seite ent-
sprechend zurück. Es wandern also nicht die betreff enden Tiere
im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sie sterben an be-
stimmten Stellen ihres Gebietes aus und schieben an anderen
Stellen ihre Wohn- und Futterplätze langsam vor. Auf diese
Weise dürfte sich aber niemals der vorhistorische Mensch ver-
breitet haben. Er ist aktiv und wirklich gewandert. Hier dürfte
die einzelne Familie innerhalb von Wochen und Monaten Meile
um Meile zurückgelegt haben. Dann hat sie sich wohl in gün-
stigen Gebieten dauernd aufgehalten, vielleicht vermehrt, und
dann sind einzelne Trupps der gleichen, meist aber erst der
folgenden Generationen abermals ausgewandert. Anders können
wir uns die zeitliche und räumliche Verteilung der paläolithi-
schen Funde nicht deuten. Es dürfte nicht ganz abwegig sein,
wenn man sich vorstellt, daß auch der mit solcher Art Wan-
derung verbundene Wechsel klimatischer und anderer Umwelt-
einflüsse ähnlich mutationserregend gewirkt haben dürfte wie
die Domestikationseinflüsse. Erst recht und ganz sicher haben
aber diese Verhältnisse als scharfe Auslese gewirkt. Und end-
lich hat diese Isolierung kleinerer Inzuchtkreise die Entstehung
von Gruppen mit gleichen Mutationen aus den mutierten und
sich kreuzenden Einzelindividuen bewirkt. Welche aller dieser
Vorgänge bei den einen oder anderen der heutigen Zweige und
Rassen stärker und schwächer gewirkt haben, und wie und wo
diese Rassenbildungen im einzelnen stattfanden, entzieht sich
völlig unserer Kenntnis. Aber wichtig scheint mir noch der
Hinweis, daß alle diese Verhältnisse, Wanderung, Isolierung,
Einwirkung neuer klimatischer Faktoren, Domcstikationscin-
260 EUGEN TISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
flüsse, Auslese, außerordentlich lange Zeiten immer wieder an
den verschiedensten Stellen der Erde auf alle möglichen ein-
zelnen Gruppen in grundsätzlich gleicher, im einzelnen aber
immer wieder verschiedener Weise eingewirkt haben. Man darf
nicht vergessen, daß das nicht eine Erdperiode langer gleich-
mäßiger Klimaverhältnisse war, sondern eine mit mächtigen
säkularen Schwankungen, Kältevorstößen (Achen-Bühlschwan-
kung usw.) Wärmeperioden, Trocknung und Feuchtigkeit gro-
ßer Erdteile, Kommen und Gehen von Wald und Steppe und
Wüste. So hat Rassenbildung an vielen Orten und zu vielen
Malen stattgefunden im Gegensatz zürn einmaligen Ablauf des
Prozesses der Menschwerdung selbst. Ich bin überzeugt, daß
von jenen zahlreichen Vorgängen beginnender Rassenbildung
nur eine Anzahl zu wirklichen Rassen geführt haben, in vielen
anderen Fällen dürfte Mutation und Anpassung der Umwelt
gegenüber versagt haben, so daß die Gruppe im Kampf ums
Dasein ausstarb. Wir wissen ja auch aus viel späteren, aus ge-
schichtlichen Zeiten, daß einzelne, in fremde Umwelt vorge-
schobene Gruppen sich nicht halten konnten sondern ausstar-
ben, wie z. B. die Dänen im 14. Jahrhundert an der Ostküste
Grönlands oder die ersten nordischen Siedler in Nordamerika
und andere. Es dürfte manche „Rasse" untergegangen sein,
ohne daß wir Spuren von ihr erkennen können.
Aus diesen Vorstellungen über die Entstehung der Rassen
ergeben sich nun einige Folgerungen, die für die bisherige,
rein äußerlich beschreibende Rassenlehre (Anthropographie)
eine vernichtende Verurteilung darstellen. Eine Unterschei-
dung der Rassen nur nach äußeren. Merkmalen ohne Entschei-
dung darüber, ob die betreffende Ausprägung nicht zufällige
Um weit wirkung darstellt, führt auf falschen Weg. Nur wenn
wir die Erbanlage einer Eigenschaft kennen, dürfen wir diese
als Rasseeigenschaft bezeichnen. Aber die Erbuntcrsuchung
schützt noch gegen einen weiteren Irrtum. Die beschreibende
Rassenkunde versuchte selbstverständlich immer auch eine
systematische Einteilung der einzelnen Rassen nach Gleichheit
oder Ähnlichkeit einzelner Merkmale. Häufig wurde ein einzi-
ges Merkmal der Haupteinteilung zugrunde gelegt. So hat man
die Menschheit etwa in Schlichthaarige, Kraushaarige und
Straffhaarige eingeteilt oder in Weiße, Schwarze, Gelbe, Braune
und Rote. (Die alte Blumenbachsche Einteilung.) Weiterhin
hat man versucht, die Rundschädel und die Langschädcl als
zwei große, genetisch je einheitliche Gruppen aufzufassen.
VIELHEIT DER RASSENENTSTEHUNG,
261
Und heutige Ansichten von der Zusammengehörigkeit der alpi-
nen Rasse mit der ostischen, mongolischen und der dinari-
schen sind nichts anderes als die Folge dieser Überschätzung
der Bedeutung eines deskriptiven Merkmales, über dessen Erb-
unterlage die betreffenden Autoren nichts wissen. Die lang-
schädelige Nordrasse hat auch nichts zu tun mit der langschä-
dcligen Rasse, etwa der Eskimo, oder den langschädeli-
gen Negern. Endlich gehört hierher die Theorie, daß alle sog.
Pygmäen, seien sie in Afrika, in Indien oder in der Südsee
eines gemeinsamen Stammes sind, nur weil sie denselben Klein-
wuchs haben. Dabei wird ganz willkürlich die Grenze dessen,
was man Pygmäen nennt, auf eine mittlere Körpergröße bis
zu 150 cm angesetzt (nach M artin), und was als Mittelmaß der
Körperlänge etwa 154 cm hat, ist nicht mehr Pygmäe, ist höch-
stens „pygmoid" und dann, sozusagen wegen dieser vier Zenti-
meter nicht mehr jenes gleichen gemeinsamen Stammes I Mit
der Grenze der Rund- oder Langschädcl machen es gewisse
Systematiker ebenso! Diese auf gänzliche Vernachlässigung des
Biologischen zurückgehenden falschen, aber leider sehr ver-
breiteten Ansichten können auf Grund der Ergebnisse der Erb-
lehre nicht scharf genug bekämpft werden.
Die Tatsache, daß alle Rassen durch Mutationen von vor-
hergemeinsamen und gleichartigen Genen entstanden sind, daß
es dabei eine Anzahl leicht labile Gene gibt, und daß endlich
die Auslösung von Mutationen durch ähnliche Wirkungen im-
mer wieder erfolgt sein muß, ,muß auch bewirkt haben, daß die
gleichen Mutationen an mehreren Stellen der Menschheit auf-
getreten sind. Es wird kaum jemand glauben, daß der erho-
bene konvexe Nasenrücken der vorderasiatischen Rasse und
der der nordamerikanischen Indianer und der gewisser Mela-
nesier eines einheitlichen Ursprunges sind I (Auch kein Syste-
matiker hat dies bisher angenommen.) Es müssen also an den
genannten drei Stellen die Gene, die der ursprüngdichen, kon-
kaven Form der primitiven menschlichen Nase zugrunde lagen,
sich je selbständig abgeändert haben. So entstand die Mu-
tation Konvexnase dreimal. (Sie ist tatsächlich auch noch an
anderen Orten entstanden, worauf ich hier nicht eingehe.)
Sollte es mit der Entstehung der Mutation ,, Spiraldrehung des
Haares" anders gewesen sein? Wie bei der konvexen Nasen-
form sind es zwei Mutationsschritte, die das Gen „schlicht-
haarig" erfahren hat, um über wellig zu spiralgedrcht zu kom-
men. Ich bin überzeugt, daß die Spiraldrehung des afrikani-
262 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
sehen Negei-haares und die der Papua-Melanesier völlig selb-
ständige und voneinander unabhängige Mutationen darstellt.
(Man vgl. die Unterschiede am Kinderhaar beider, s. S. 157.)
Ich bin weiter überzeugt, daß die Spiraldrehung des Tasma-
nierhaares ebenfalls selbständig aus der Form des welligen
Australierhaares entstanden ist. Wir haben also nicht die
leiseste Veranlassung, verwandtschaftliche Beziehungen zwi-
schen den genannten Gruppen auf Grund der äußerlichen
Gleichheit der Haarform anzunehmen. Und ganz dasselbe gilt
für die Pygmäen. Zwergwüchsigkeit ist eine außerordentlich
häufige Mutation bei allen möglichen Tieren ; es ist mit Sicher-
heit zu erwarten, daß sie auch beim Menschen an verschiede-
nen Stellen selbständig auftrat. Es waren dann jeweils beson-
dere Anpassungsverhältnisse, teilweise an Kümmerräume, ge-
ringeres Nahrungsbedürfnis, die zur Erhaltung dieser Pygmäen
führten, sie nur dort erhalten haben, wo wir sie heute ausnahms-
los finden, in sog. Rückzugsgebieten. Aus gewissen Ähnlichkei-
ten, die durch diese besonderen Lebensverhältnisse bedingt
sind und in der Mentalität und Kultur vieler Pygmäen zum
Ausdruck kommen, lassen sich noch immer Systematiker ver-
leiten, Kleinwüchsige als solche genetisch für einheitlich zu
halten. Warum hält niemand die Ergebnisse entgegengesetzter
Mutationen, die ganz Groß wüchsigen, für einheitlich ? Man
würde lachen, wenn man die Großwuchsmutationen etwa der
ostafrikanischen Watussi und die der Schotten und endlich die
der Patagonier genetisch zusammentun wollte !
Die Gründe also dafür, daß wir ganz unmöglich aus äußer-
lich gleichen Merkmalen, die auf erblichen Mutationen beru-
hen, auf verwandtschaftliche, nahe Beziehung schließen dürfen,
sind die Labilität bestimmter Gene und die Gleichheit der mu-
tationauslösenden Umstände über weite Zeiten und Räume.
Selbstverständlich gilt das nicht nur für diejenigen Mutationen,
die durch die oben geschilderten besonderen Umstände der
Isolierung und Auslese zur Rassenbildung führten, sondern
ebenso für zahlreiche andere, immer wieder bald häufiger, bald
vielleicht nur unter Millionen ein oder das andere Mal auftre-
tende Mutationen. So sehen wir bei allen Rassen als Einzcl-
mutation und dann bei rezessivem Erbgang nach Kreuzung
von Anlage-träge rn, sporadisch auftretend, Albinismus oder
albinotische Fleckung oder die Erbanlagen von Krankheiten;
epileptische oder sechsfingerige oder diabetische Neger
oder Mongolen oder Europäer sind selbstverständlich durch
VIELHEIT DER RASSENENTSTE/iU NG.
263
die betreffenden Gene nicht miteinander (genealogisch) „ver-
wandt" i
Für eines unter den zahlreichen sog. Rasscnmerkmalcn
kann man die verschiedene genetische Entstehung der äußer-
lich ganz gleichen Bildung bei geographisch voneinander weit
entfernten Rassen einwandfrei beweisen. Und dieser Beweis ist
dann eine unzweideutige Stütze für die gleiche Erklärung der
anderen Merkmale, wie ich sie eben gab.
Es handelt sich um die sog. Mongolenfalte. Wie oben
(S. 199) gezeigt wurde, ist die schräge Augenfalte der Chinesen
und Japaner in der Kreuzung mit Europäern dominant (s. Taf.
13, Abb. 73, 7S u - 78). Bei diesen Mongolen, ist also diese Falte
auf Grund eines dominanten Gens herausmutiert. Der Form
nach genau dieselbe Falte ist (wie oben erwähnt) bei den. Hot-
tentotten vorhanden, sie verhält sich aber in Kreuzung mit
Europäern rezessiv (s. Taf. ir, Abb. 61, 62). Bei dieser
Rasse ist also die Falte auf Grund eines rezessiven, neuen Gens
herausmutiert. Der Vorgang war also ein selbständiger. End-
lich haben die Eskimo dieselbe Falte. Auch bei ihnen vererbt
sie sich in Kreuzung rezessiv. Sie ist also bei den Eskimo nicht
im Zusammenhang mit den Mongoliden entstanden sondern
selbständig. Die Wichtigkeit dieser Tatsachen für unsere Auf-
fassung von. der Entstehung und gegenseitigen Stellung der
Rassen kann gar nicht genug betont werden 1 ).
Eine Folge dieser „polyphyletischen", also vielfachen, viel-
stämmigen Entstehung der Rassen ist die Notwendigkeit, viele
uns gewohnt und lieb gewordene Vorstellungen über verwandt-
schaftliche Beziehungen mancher Rassen aufzugeben. Auf die-
sem Gebiet muß das meiste neu überprüft und erforscht wer-
den. Darstellungen wie die in dem großzügigen und sehr ver-
dienstvollen Werk v. Eickstedts über Zusammenhänge und
Massenwanderungen unter bestimmt gerichtetem Bevölkerungs-
druck halte ich für verfrüht und nicht für haltbar. Rassenge-
schichte setzt später ein, vorher brauchen wir Rassennaturge-
schichte, d. h. Biologie, deren wichtigste Erscheinung die Ver-
erbungserscheinungen sind.
*) Es ist der Parallclfall z. B. zu der von St and fuß und Gold-
schnitt! t gemachten Feststellung, daß der Schmetterling Callimorpha
clominula in Deutschland und in Italien je eine gelbe Lokalform (bzw. Mu-
tante) hat, die in der Erscheinung völlig gleich sind, aber auf ganz ver-
schiedener genetischer Unterlage beruhen. — Es gibt solcher Beispiele
mehr. (Goldschraidl, Die Naturwissensch. 23. Jg. 1935. S. 170.)
264 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Neben den labileren Genen mutierten offenbar auch sta-
bilere. So kommt es, daß einige wenige, gruppenweise vorkom-
mende Mutationen, d. h. Rasseneigenschaften, nur ganz ver-
einzelt oder nur an einer einzigen Steile auftreten. Die Mu-
tation „Fettsteiß" kommt unter allen Haustieren nur beim Schaf
vor und unter allen menschlichen Rassen (übrigens eine schöne
Parallele und damit ein schöner Reweis meiner Vorstellungen
Abb. 57. Fettstciß-Schai. Aufn. Zoologischer Garten Berlin.
■'S -
■A
Abb. 58. FeUstciß der Hottentottin (Steatopygie) nach L. Schul
VIELHEIT DER RASSEN ENTSTEHUNG.
265
von der Domestikationswirkung) nur als Hottentottensteiß bei
dieser Gruppe (Abb. 57 u. 58). Auch das Fil-Fii-Haar der
Buschmänner, die Bartform derWedda u. a. wären hier als ein-
zigartig zu nennen.
Es bedarf keines Wortes, daß unter die mutierenden Gene
auch solche für geistige Anlagen gehören. Auch liier sind zwei-
fellos verschiedenste Mutationen aufgetreten und einzelne im
Kampf ums Dasein ausgelesen worden. Auch hier dürfte es
Parallelen geben, die keine nähere Verwandtschaft einschließen
und andererseits seltene, sei es selten entstandene oder nur
durch ganz besondere seltene Umstände gezüchtete, Mutationen,
wie etwa die außergewöhnlich hohe Begabung der nordischen
Kasse oder die sicher von ihr völlig selbständig entstandene,
hohe, aber andersartige Begabung gewisser Ostasiaten.
Alle diese Tatsachen und Vorstellungen von der Entstehung
der Rasseneigenschaften und Rassen führen unbedingt zu einer
besonders starken Betonung des realen und beweisbaren Be-
stehens einzelner, voneinander deutlich unterschiedener Rassen.
Aus der Darstellung ihrer Entstehung könnte sich der irrige
Eindruck bilden, daß nun der Mensch sozusagen fortwährend
mutiere. Das ist sicher nicht der Fall. Die Mutationsprozessc,
die die Rassenbiklung bewirkten, vollzogen sich in den unge-
heuren Zeiträumen der letzten Zwischeneiszeit, Eiszeit und
Nacheiszeit. Das waren also viele Jahrzehntausende und Zeiten
unerhört en, wiederholten Klimawechsels, Zeiten, wo die junge
Menschheit unendliche, vorher niemals von Menschen betre-
tene Räume beschritt, Zeiten, wo sie erst im Beginn ihrer gei-
stigen Entwicklung war und damit ihrer geistigen Überlegen-
heit über die Tierwelt und die Naturgewalten. Wir können uns
die Schärfe von Auslese und Ausmerze in diesen Zeiten und
die Größe der Opfer an Erblinien, die diese Entwicklung der
Menschheit gekostet hat, gar nicht groß genug vorstellen.
Wenn die letzte Eiszeit samt ihren Ausklängen vorbei ist, sehen
wir die Menschheit sozusagen in Stämme und Völker konsoli-
diert. Neolifhische Völker sitzen in Europa, neolithische Mon-
golen in Ostasien und Neger in Afrika. Da sind die heutigen
Rassenverteilungen gegeben. Die Bildung der Rassen erfolgte
also ausschließlich vorher. Die Mutabilität mit der Entstehung
normaler morphologischer und physiologischer Mutationen ist
stark geschwunden, sei es, daß jetzt die früheren Reize fehlen,
sei es, daß die Möglichkeiten lebensgeeigneter Mutationen er-
schöpft, oder Auslesevorgänge ausgeschaltet sind. Mutationen,
266 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
die auftreten, sind meist solche krankhafter Art. Die ungeheure
Zahl menschlicher Erblcidcn ist der Ausdruck davon.
So ist Rasse, wenn wir von den einzelnen Ausnahmen der
Mutation absehen, ein konstantes Erbbild. Wie alle
Erbeigenschaften sind die Rasseneigenschaften unveränderlich
und unbeeinflußbar von den durch die Umwelt bedingten Ver-
änderungen des Körpers. Änderung eines Merkmales am Kör-
per bedingt niemals und unter keinen Umständen eine entspre-
chende Änderung der Erbanlagen. Rasse ist erblich gegeben
und kann willkürlich vom Menschen nicht beeinflußt werden,
es sei denn durch Kreuzung oder durch Ausrottung, worüber
im nächsten Abschnitt gehandelt wird.
Die geschilderten Vorgänge der Rassenentstchung haben
also die ursprünglich einheitliche Menschheit in deutlich und
scharf voneinander verschiedene Rassen zerlegt. Die einzelnen
derart gewordenen Rassen, gefestigt und einheitlich geworden
in sich durch Inzucht innerhalb der Gruppe und schärfste über
Jahrzehntausende gehende Auslese, sind körperlich und geistig
deutlich voneinander unterschieden. Biologisch war jede an den
Ort und die Zeit ihrer Entstehung sehr weitgehend angepaßt
und damit optimal erhaltungsfähig. Die nicht angepaßten sind
untergegangen. Von unserem kulturellen Standpunkt aus kön-
nen und müssen wir anders werten, eben nach unserer eigenen
kulturellen Leistungsfähigkeit. Ihr gegenüber gibt es Abstu-
fungen höchster geistiger und körperlicher Leistungsfähigkeit
bis zur ausgesprochenen Minderwertigkeit.
Die Abgeschlossenheit und Rassereinheit der ursprüng-
lichen Rassen ist erst im Lauf der Zeiten dadurch geändert
worden, daß sich nun wandernde Menschengruppen verschie-
dener Rassen begegneten und kreuzten. Dieser Vorgang hat
dann später, als größere Stämme und richtige Völker entstan-
den waren, ungeheuer zugenommen. Völkerwanderungen, Er-
oberungen, Überschichtung und damit Rassenkreuzung fand in
großem Umfang statt. Jetzt erst trittEcvölkerungsdi'uck (v.Eich-
stedt) auf, und bestimmte Druck- und Zugrichtungen sind
immer wieder wahrnehmbar. Jetzt kommt zur „Wanderung"
auch echte Ausbreitung im Siccllungsraum und über den ersten
solchen hinaus. Wie daraus die heutigen Völker wurden, und wie
weit man später nach den fremden Einschlägen und Kreuzungen
noch von Rasse sprechen kann, wird unten erörtert werden.
Die letzten, paar Jahrtausende Menschheitsentwicklung ha-
ben es also fertiggebracht, daß man von den ursprünglichen
TRENNUNG DER RASSEN.
267
Rassen nur an wenigen Stellen Reste in ihren reinen ursprüng-
lichen Formen findet. Es sei hierfür etwa auf Buschmänner,
Wedcla, Australier, Eskimo und ähnliche, man kann schon
sagen, — Reste hingewiesen. Zahlreiche andere sind nicht nur
durch die erwähnte Rassenkreuzung, Überschichtung und dau-
ernde Verschiebung geändert worden, sondern auch durch die
ausschließlich nur beim Menschen in dieser Art einsetzenden
Vorgänge der immer zunehmenden Ausschaltung jeder natür-
lichen Ausmerze und der sich steigernden Einführung natur-
widriger einseitiger und verkehrter Auslese.
Daraus ergibt sich, daß nur die angedeuteten isolierten
Reste der Australier usw. noch heute als Rassen den Rassen
der Tiere, auch der Haustiere, teilweise auch den freilebenden
Lokalrassen verglichen werden dürfen ; mit Recht spricht von
ihnen Sarasin als von Varietäten. Alle anderen lassen sich
mit irgendwelchen Varietäten oder Rasscnbildungen der Tiere
überhaupt nicht völlig vergleichen. Man kann, wie es Lenz- 1 )
tut, von der geographischen Verteilung der Erbanlagen undErb-
linien sprechen, aber mit den geographischen freilebenden Tier-
rassen hat das meiner Meinung nach nichts zu tun. Die Be-
standteile waren einmal durch weite leere Zwischenräume von-
einander getrennte Rassen, und der heutige Zustand ist durch
Vorgänge, wie angedeutet, entstanden, die spezifisch kulturell,
menschlicher Art sind und im Tierreich niemals vorkommen.
(Auch nicht beim Haustier in dieser Form, weil hier dauernd
zielbewußte Zucht und Auslese stattfindet.)
Man muß das aus jahrtausendelanger Kreuzung einander
relativ naher Rassen entstehende Gemisch, in dem die Erb-
linien der Bestandteile untrennbar verwoben sind, als etwas
Neues auffassen. Aichel nennt es sekundäre Rasse. Ichhalte
das nicht für gut — jedenfalls muß man sich des biologisch
anderen Charakters bewußt bleiben.
Es wäre nun aber falsch anzunehmen, daß nun die ande-
ren Rassen — es sind die wichtigsten und leistungsfähigsten
der Menschheit -- wirklich verschwunden, und daß ihre Rassen-
cigenschaften untergegangen wären. Im Gegenteil I Wie vor-
hin angedeutet, haben einzelne, den anderen stark überlegene
Rassen ihren Bestand gewaltig vermehrt, so z. B. die euro-
piden, aber auch viele mongoliden. Da wuchsen also große
Volkskörper heran, ursprünglich reinrassig, die nun für ihre
wachsende Menge und vermöge ihrer rassenmäßigen Eroberer-
l ) L e n z , a. S. 27 i, u. O.
268 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPEREICHEN ERBANLÄGEN.
VERTEILUNG DER ERBANLAGEN.
269
natur, Aktivität und ihres Ausdehnungsdrangs neue Räume
suchten. Wohl die aktivste derartige war die „nordische Rasse".
Ihre Eroberungen und Übcrschichtungen haben von der frühen
jungen Steinzeit an über einige Jahrtausend die europäischen
Völker bilden helfen. Dabei ging sie Kreuzungen ein mit den
anderen Rassen Europas, und insofern ist es berechtigt zu
sagen, es gibt liier keine reinen Rassen mehr 1 ). Alle europäi-
schen Völker bestehen aus der Kreuzung nach solchen Über-
schichtungen (nur mit anderen europäischen Rassen). Die ger-
manischen Völker haben dabei den stärksten Restandteil jener
nordischen Rasse gewahrt. Da die Kreuzung selbstverständlich
nie eine über ein ganzes Volk weg so gleichmäßige und für
beide Kreuzungsteile zahlengleiche war, wie wir es im künst-
lichen Kreuzungsversuch mit Tier und Pflanze durchführen,
blieben selbstverständlich in allen diesen Völkern massenhaft
Bevölkerungsteile mit nur wenig Einschlag' je des betreffenden
fremden Bestandteiles, sozusagen Horste der alten Rasse. Ger-
manische Völker haben nachweisbar viel und teilweise fast ge-
schlossen sitzende Reste der nordischen Rasse, romanische ent-
sprechende Anteile der mediterranen.
Und erst recht sind die einzelnen Rasseneigcnschaften der
ursprünglich reinen Rasse nicht verloren gegangen. Die Erb-
anlagen, körperliche und geistige sind alle noch da. Sie kom-
binieren sich nur mit irgendwelchen anderen. Deswegen kann
man nach der Strenge der Definition, die homozygote Eigen-
schaften verlangt, nicht von wirklicher Reinrassigke.it sprechen.
Aber dem ganzen Gepräge eines Volkes verleiht diese Haupt-
rasse ihre Sonderheit, man vergleiche etwa Schweden mit
Spanien. Die Rasseneigenschaften der ursprünglichen Rassen
sind also in Tausenden von Erblinien vorhanden und wirksam.
So eigenartig, fast widersinnig es klingen mag, die Mensch-
heitsgeschichte hat es fertig gebracht, daß die paar zoologisch
als reine Restrassen zu bezeichnenden Grüppehen, die es in
ihrer Passivität nur zu dürftigem Leben in Rückzugsgebieten
gebracht haben, in der Menschheit überhaupt keine Rolle spie-
len, daß aber „ Rasse" die größte Rolle spielt, nämlich das un-
verbrauchte und erhaltene Rassenerbe bestimmter Rassen
vor allem der nordischen — als Unterlage leistungsfähiger
Völker. Es ist die Menge und Qualität dieser bestimmten Ras-
l ) Hier ist nur von Kreuzungen in Europa die Rede
Negern haben gänzlich andere Folgen.
solche etwa mit
senbestandteile, deren Leistung die eigentliche Unterlage der
kulturellen Entwicklung der Menschheit ist.
Betrachtet man dieses Aufgehen ursprünglich reiner Ras-
sen, eben kraft ihrer Leistung und ihres Herrentums, in Völker,
so kann man feststellen, daß in der Mehrzahl der Fälle später,
wie auch heutzutage, die kulturellen Einrichtungen (Auslese-
hemmung, verkehrte Auslese usw.) das leistungsfähige Ras-
senclcment verringern oder zerstören (siehe Rand II dieses
Werkes). 'Aber daraus folgt auch, daß diese selbe ,, Kultur", wenn
sie, wie heutzutage endlich unsere eigene, Einsicht und festen
Willen hat, durch entgegengesetzte Maßregeln, d. h. Rassen-
hygiene und Revölkerungspoiitik, die Schäden ausschalten und
positiv die Rasse pflegen, wieder heben und im Ganzen oder
ein Rassenelement zur Vermehrung bringen („züchten") kann 1 -).
c) Verteilung der rassenmäßigen Erbanlagen
Allgemeines
Nach den obigen Ausführungen über die vielfache, selb-
ständige Entstehung einzelner Rasseneigcnschaften (Mutatio-
nen) bei verschiedenen menschlichen Gruppen ergibt sich die
schon oben erwähnte Unmöglichkeit, die menschlichen Rassen
einfach nach einzelnen Merkmalen genealogisch anzuordnen.
Aber es wäre falsch, anzunehmen, daß nun jede Einteilung un-
möglich geworden ist. Sic muß nur von der Zugrundelegung
einzelner, rein deskriptiver Merkmale absehen, sich vielmehr
auf Eigenschaften stützen, deren erbliche Unterlage nachge-
wiesen ist, und ihre Entstehungsmöglichkeiten berücksich-
tigen. Den Nachweis kann nur Beobachtung des Erbganges
bei der Kreuzung erbringen. Außer den einzelnen Rassen hat
mau schon lange einige größere Gruppen unterschieden, die
dann erst in sich wieder in Rassen zerfallen. Auch einer Gen-
analyse erscheinen diese größeren „Zweige" grundsätzlich als
Rassen. Sie setzen sich aus einzelnen Rassen zusammen
mit je besonderen Erbeigenschaften, aber alle diese haben
eine Reihe gleicher Eigenschaften, die den Zweig als sol-
chen kennzeichnen. Auch die Eigenschaften dieser Zweige
1 ) Die dem widersprechenden Ausführungen am Schluß des B ;i u r -
sehen Teiles gehen von der irrigen Voraussetzung aus, daß die Kulturvölker
gleichmäßig durchgekreuzte Gemische seien. Baur hätte den Irrtum
sicher richtiggestellt, eine letzte Überprüfung war ihm nicht mehr vergönnt.
t
270 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
müssen natürlich durch. Mutationen entstanden sein. Diese Muta-
tionen ergaben die eigentümliche Gesamtkombination von Eigen-
schaften, die dem Zweig eigen ist. So sicher nun ein und die-
selbe Mutation an vielen Stellen der Menschheit aufgetreten
ist und auftritt, so unwahrscheinlich ist es, daß eine ganze
Reihe von gleichen Mutationen ingenau derselben
Kombination mehr als einmal entstanden ist 1 ). Je größer
die Zahl mutierter Erbeigenschaften ist, die in einer bestimm-
ten Kombination dauernd zum Erbbild eines solchen Zweiges
durch den Prozeß der Auslese zusammengeschlossen sind, desto
größer ist die Sicherheit für die Annahme, daß solch ein Zweig
genetisch eine Einheit und einmalig ist. in diesen Fällen müssen
wir uns also vorstellen, daß zunächst auf dem früher angegebe-
nen Wege der Mutationen, Isolierung und Auslese eine Rasse ent-
standen ist. Diese behielt nun eine bestimmte Menge der sie
kennzeichnenden Eigenschaften bei, während andere innerhalb
ihres Schoßes bald so, bald so mutierten. Damit sondert sich
also nun die ursprüngliche „Rasse" in mehrere Unterrassen,
die durch neuaufgetretene Mutationen sich voneinander unter-
scheiden, aber vom ursprünglichen Erbbestand noch eine Reihe
Gemeinsamkeiten bewahrten. Die ursprüngliche „Rasse" nen-
nen wir jetzt „Zweig", die daraus entstandenen Bildungen kurz-
weg Rassen. Dieses ist sicher das Verhältnis bei drei großen
Gruppen, die wir als curopiden, negriden und mongoliden Zweig
bezeichnen. Über das gegenseitige Verhältnis bei der Entste-
hung läßt sich heute noch nichts aussagen. Ob neben diesen
großen Zweigen auf dieselbe Weise noch mehrere andere
Zweige oder gleichzeitig mit ihnen einzelne Rassen, d. h.
Gruppen, die sich nicht mehr in Unterabteilungen sonderten, ent-
standen sind, ist schwer zu sagen. Ich möchte annehmen, daß
lange wirkende und scharfe Auslese eine erste Teilung der
Menschheit in drei Gruppen bewirkt hat, die sich dann je durch
1 ) Hier unterscheide ich mich stark von den Auffassungen Montan-
d o n s , mit denen ich sonst in vielen Punkten einig gehe. Er hält es für
wahrscheinlich, daß genau die gleichen Rassen — - also ganze Rassen, d. h.
deren gesamte komplizierte Erbanlagcnkombination.cn — gleichzeitig und
genau gleichartig an vielen Stellen entstehen! So sollen z. B. die Eskimo
überall an der ganzen arktischen und subarktischen Oberfläche, der nördlichen
Erdhalbkugel entstanden sein. Andere Rassen werden ähnlich abgeleitet.
Dagegen stimme ich in vielen Punkten mit M o n t a n d o n s Gedanken
einer ,,Hologenesc" über ein, daß vielfach, durch Spaltung neue Rassen,
eine aus der andern, entstehen. Eine Einzelerörterung muß hier wegbleiben.
Seine beiden sehr interessanten Werke sind: Montandon, G. L'ologe-
nesc humaine. Paris 1928, und La rare, les races. Paris 1933.
DIE MUTATIONEN.
271
besonderen Genbestand unterschieden. Der einen davon, der
europiden, steht aber offensichtlich ein weiterer Zweig sehr
nahe, ob als selbständig aufzufassen oder mit dem europiden
zwei Unterzweige bildend, muß offen bleiben; es ist der austra-
lide Zweig. Das Verhältnis zwischen den. beiden wird sich ein-
mal aufklären lassen, wenn wir von den Beziehungen des Nean-
dertalers einerseits zu den spätpaläolithischen Rassen und an-
dererseits zum heutigen Australier mehr wissen, und wenn wir
die Erbanlagen der Australier in Kreuzungen mit anderen
Rassen mehr verfolgt haben, werden.
Die Entstehung der einzelnen Mutationen muß man sich
etwa folgendermaßen vorstellen. Der Ausgang ist der in seinen
Eigenschaften noch einheitliche Urmensch mit einem bestimm-
ten Gensatz. Für die Form des Skelettes dürfen wir etwa den
Neandertaler zugrunde legen und eine ziemlieh geringe Kör-
pergröße von etwa 1,60 bis 1,63 m, eine Langschäcleligkeit mit
dem mittleren Index von 75, ein niederes, massiges Gesicht
und fliehendes Kinn annehmen. Aus den Erbeigenschaften der
heute als die primitivsten angesehenen Rassen und als Erbe
von den anthropoiden Stadien her dürfen wir schlichtes bis
weitwelliges Haar, schwarzbraune Haarfarbe, dunkle Augen
und mittelbraune Elautfarbe annehmen. An dem Gensatz, der
diese (und natürlich die allgemein menschlichen, heute allen
Rassen gemeinsamen) Erbeigenschaften bedingt, vollzogen sich
nun die Mutationen. Wie ausgeführt, ein und dieselben an meh-
reren Stellen. Es soll daher hier zunächst eine kurze Betrach-
tung dieser einzelnen Mutationen- und dann eine solche der gan-
zen Rassenzweige erfolgen 1 ) (s. für das Folgende die Abb. auf
S. 276, 277).
v ) Ausführliche Darstellung in Einzelheiten und Begründung der An-
nahmen behalte ich mir an andrer Stelle vor. Dort möchte ich mich auch
mit ähnlichen oder entgegengesetzten Meinungen anderer Autoren auseinan-
dersetzen. Vorliegende Darstellung legte ich im Auszug zuerst 1:931 in
einem Vortrag in Rom vor (Atti del congr. int. per gli studi s. popolazione.
Roma 1933). Ich halte ins Einzelne gehende Erörterung des einschlägigen
Schrifttums hier im Rahmen des Lehrbuches nicht für angezeigt. Ich nenne
aber folgende Schriften:
Rensch, B. Das Prinzip geographischer Rassenkreise und das Pro-
blem der Artbildung. Berlin 1929.
Dcrs. Zoologische Systematik und Artbildungsproblcm. Leipzig 1933.
Ders. Umwelt und Rasscnbildung bei warmblütigen Wirbeltieren. Arch.
Anthr. N. F. 23. 1935.
Lenz. Über Rassen und Rassenbildtmg. Unlerrichtsbl. (. Math, und
Nat. 40. 1934.
272 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
D e r K r a u s h a a r - F aktor (s. S, 158) ist einmal aufge-
treten bei der Entstehung des gesamten negriden Zweiges, so
daß dieser ausnahmslos kraushaarige Gruppcen hat. Innerhalb
des Zweiges dürfte ein zweiter ähnlicher Faktor, ,,Fil-Fil", für
die Buschmänner-Hottentotten dazugekommen sein. Innerhalb
des australiden Zweiges nehme ich dreimal vollkommen selb-
ständiges Auftreten dieses Faktors an. Einmal geschah es bei
der Entstehung der Negrito-Gruppe (Scmang, Andamancn
usw.), dann bei der Abspaltung der Papua-Melanesier, deren
Kraushaarigkeit ich also gegenüber der der Neger für völlig
selbständig halte. Und endlich halte ich die Tasmanier durch
diesen Faktor für abgetrennt von den Australiern. Im Euro-
piclenstamm ist der Kraushaar-Faktor als gruppenbildend nicht
aufgetreten. Wohl aber möchte ich annehmen, daß diese Mu-
tation ab und zu in einzelnen Erb Linien spontan auftrat bzw.
auftritt, woraus stärkere Lockung oder Kraushaarigkeit in ein-
zelnen europäischen Familien erklärt würden, van Bemme-
1. e 11 hat deren Vererbung verfolgt. (Manche Kraushaarigkeit
bei Europäern ist natürlich auch das Wiederauf treten weit
zurückliegender, eingekreuzter, echt negrider Erbanlagen.) Im
mongoliden S tamm endlich ist dieser Faktor nirgends nach-
weisbar, was wohl damit erklärt ist, daß beim Mongolenhaar
ein geradezu entgegengesetzter Faktor, der für Straffhaarig-
keit, rassebildend auftrat. Er ist dominant. Ein Mutieren zur
Kraushaarigkeit müßte hier sozusagen drei Mutationsschritte
machen. Einer davon, nämlich ein Rückwärtsmutieren von
der Straffheit zur Schlichtheit, kommt sporadisch und ohne
Gruppenbildung bei den Mongoliden vor.
Der P y g m äen- F akto r ist keinesfalls ein einfach spal-
tendes Genpaar Groß-Klein, so daß man natürlich nicht die
ziffernmäßige Grenze des Systematikers für ,, Pygmäen" als
eine Art Bestimmung eines Erbmcrkmales annehmen darf.
Man muß vielmehr sog. Pygmäen, sog. Pygmoiclc und alle
Kleinwüchsigen auffassen als Gruppen, die durch Minus-Muta-
tionen der Gene für mittlere Körpergröße entstanden sind.
Wir sehen solche mindestens zweimal im negriden Zweig
(Koisan und übrige Afrika-Pygmäen), weiter mindestens zwei-
mal im australiden Zweig (Wedda-Ncgrito und Neu-Guinea-
Pygmäen). Im mongoliden Zweig sind es die Lappen und wohl
noch andere Kleinwüchsige, im europiclen die kleinwüchsigsten
M.editerranen und, falls wirklich vorhanden, die von Koll-
mann angenommenen neolithischen Kleinwüchsigen.
DIE EINZELNEN RASSEN-ERBANLAGEN
273
Ein Großwüchsigkeitsfaktor-Gen ist in allen Zweigen an
einzelnen Stellen deutlich sichtbar.
B rachy z eph alie-F ak t o ren müssen wir als Muta-
tionen der dolichoiden ursprünglichen Schädelform in brachy-
zephale annehmen, und zwar in allen Zweigen je selbständig,
bei der Schwierigkeit der Frage der Vererbung der Schädel-
form offenbar verschiedenartige. Am ausgiebigsten und, wie ich
annehmen möchte, am frühesten, trat der Faktor im mongo-
liden Zweig auf, der in seiner Gesamtheit brachyzeplial wurde.
Nur che Eskimorasse dürfte, sich vorher abgespalten haben. Im
europiden Zweig halte ich die Brachyzephalie-Gene der al-
pinen Rasse, der dinarischen Rasse und der ostbaltischcn Rasse
je für selbständig aufgetreten. Es liegt kein Grund vor, diese
Rassen nur wegen der Gleichheit des Längenbreitenindex als
zusammengehörig aufzufassen, während Körpergrößen, Nasen-
formen, Gesichtsformen und Farben jeweils stark voneinander
abweichen. Auch die Schädel dürften nur den Index, nicht die
Einzelgestaltung der Schädelknochen übereinstimmend haben.
Diese letztere aber hängt von besonderen Genen ab. Innerhalb
des australiden Zweiges trat ein selbständiges Brachyzephalie-
Gen der Papua-Melanesier auf. Und endlich finden wir im ne-
griden Zweig ein solches Gen bei den Koisan, bei den zentral-
afrikanischen Pygmäen, aber auch mehrfach deutlich bei echten
Negergruppen (einzelnen Negerstämmen).
Nasenform-Faktoren : Daß die sog. australoide und ne-
groide Nasenform, wie sie außer Australiern und Negern auch
den weddideo, den breitnasigen Papua, den afrikanischen Pyg-
mäen und anderen zukommen, eine primitive Ausgangsform
(Formen?) darstellen, kann als gesichert gelten. Der erste Mu-
tationsschritt bringt wohl eine etwas erhobene, geraderückige
Nase hervor, ein weiterer Schritt von dieser aus die konvexe,
vielleicht noch ein solcher die sehr stark vorspringende Plaken-
nase. Die Erbverhältnisse sind noch nicht in allen Punkten klar
(s. obenS. 195). Es ist nun sehr deutlich, daß gerade und kon-
vexe Nasenformen innerhalb der Menschheit in fast allen Zwei-
gen herausmutiert sind. Im negriden Zweig fehlt diese Mutation
völlig. Im australiden führte sie zu den schmalen konvexen Na-
sen gewisser (Papua-)Melanesier. Im europiclen Stamm dürfte
das Gen für gerade Nase ziemlich an der Wurzel aufgetreten
sein (wobei die Frage der Nasenform der alpinen Rasse und
derAino genetisch noch besonderer Erforschung bedarf). Einen
deutlichen weiteren Mutationsschritt bedeutet wohl die Entste-
Baur -Fischer - 1, e 11 z, I.
274 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN.
hung der Hakennase für die vorderasiatische und dinarische
Rasse. Wie ich glaube, ist selbständig davon und in etwas an-
derer Form— und das spricht gerade für die Selbständigkeit
der Mutation — bei der orientalischen Rasse die gebogene Nase
entstanden. Endlich dürften manche sog. Adlernasen in der
nordischen Rasse als Neumutationen und deren Vererbung auf-
zufassen sein, soweit nicht die Folge dinarischer Einkreuzung
vorliegt. Im mongoliden Stamm endlich kommen diese Fak-
toren ebenfalls zur Ausprägung. Gerade oder leicht konvexe
Nasenrücken sieht man im feinen japanischen Rassentyp (B alz),
wobei wohl wegen der etwas verschiedenen Ausgangsform das
Ergebnis dieser Mutation der geraden Nase des Europäers nicht
genau gleicht. Diese Dinge bedürfen dringend der Erforschung
ihres Erbgangs, eine sehr lohnende Aufgabe für die Forscher
im Fernen Osten. In sehr viel größerem Ausmaß führte die
Alutation in diesem Zweig zur Geradnasigkeit bei vielen mittel-
und südamerikanischen Indianergruppen und, als letzter Mu-
tationsschritt, zur Adlernase einerseits bei nordamerikanischen
Indianern wie andererseits in Asien etwa bei gewissen Kirgisen
und anderen.
Pigmentfaktoren treten im Sinne einer Pigment-
steigerung wie vor allem auch eines Pigmentschwundes in
allen Zweigen auf. Eine besondere Rolle dürfte der Gelbfaktor
spielen. Daß Mongolen einen dominanten, Neger einen rezes-
siven Gelbfaktor haben, zeigt die Selbständigkeit der betreffen-
den Mutationen. Daß ein Gelbfaktor den Australiern fehlt,
macht die Selbständigkeit der Braunfaktoren bei ihnen und
Negern mindestens wahrscheinlich.
Unbekannt ist uns noch, ob die Faktoren der sog.
Blutgruppen ebenfalls mehrfach selbständig durch Muta-
tion entstanden sind. Daß sie in grundsätzlich derselben Form
und Verschiedenheit bei anthropoiden Affen vorkommen, wider-
legt die Ansicht derer, die glauben, daß die verschiedenen Blut-
gruppen ursprünglich Rassenunterschiede in dem Sinne waren,
daß die einzelnen Zweige oder bestimmte Rassen innerhalb
derselben je einer einzigen Blutgruppe angehören. Dieses Ge-
biet enthält noch sehr viele ungeklärte Rätsel. Dasselbe gilt
auch einstweilen für die Entstehung der Gene für die Tastleisten,
deren rassenmäßig verschiedene Häufigkeit auffallend genug
ist, und für viele andere Erbeigenschaften.
Schließlich sei noch einmal betont, daß andere Mutatio-
nen, im Gegensatz zu den bisher angeführten, innerhalb der
DIE EINZELNEN RASSEN-ERBANLAGEN
275
ganzen Menschheit nur ganz selten oder auch nur ein einziges
Mal gruppenbildend aufgetreten sind. Unter ersteren wurde die
mediale Augenfalte, sog. Mongolenfalte, schon erwähnt (S. 263).
Es wären besondere Schmalgesichtigkeit, Verstärkung der ur-
sprünglichen Dolichozephalie, Verstärkung oder Verlust des
männlichen Bartes und manches andere als weitere Mutatio-
nen zu nennen. Zu einmalig auftretenden rechne ich den Ver-
lust des Sakralfleckes im europiden Zweig, den Hottentotten-
steiß, den Weddabart. Man darf wohl auch bestimmte geistige
Anlagen der nordischen Rasse und andere einzelner anderer
Rassen hierher rechnen.
Ich bin mir bewußt, daß diese Darstellung ein. erster Ver-
such ist, und daß manche Einzelheiten noch herausgearbeitet
werden müssen. Aber gerade deshalb hielt ich die Darstellung
auch in diesem Lehrbuch für berechtigt und notwendig, auch
weil sie die Mitarbeit alier Forschenden hervorrufen soll.
Faßt man nun das Ergebnis der Betrachtung der einzelnen
Gene zusammen, so erhält man etwa folgendes Bild davon, wie
der menschliche Erbstrom mit seinen unveränderten und durch
Mutation veränderten Genen in die einzelnen Zweige und Ras-
sen geflossen ist. In den folgenden Abbildungen sind die
mutierten Gene durch einzelne Zeichen bei allen Zweigen auf
gleiche Weise dargestellt. Man vergleiche die einzelnen Ver-
zweigungen, die zu den Rassen führten. Es sei besonders be-
tont, daß die Führung der einzelnen Zweigchen im Bild nach
oben oder unten keinerlei Wertung bedeutet. Ebenso möchte
ich mich mit den Bildern bezüglich des verwandtschaftlichen
Nebeneinander s oder Fernerstehens der einzelnen Rassen auf
keine Weise festlegen. Ebensowenig soll eine zeitliche Reihen-
folge der Entstehung gegeben sein. Das Schema soll aus-
schließlich das Auftreten der Mutationen, vor allen Stücken
das selbständige Auftreten, gleicher Mutationen an vielen Stel-
len dartun. Viele einzelne Mutationen sind weggelassen, so z.B.
alle an Erbanlagen für geistige Leistungen. Daß im selben
Zweig sehr verschiedenartige und einander heute sehr fremd
gegenüberstehende Rassen vorkommen, vor allem auch geistig
sehr verschiedene, kann nicht verwundern, wenn man die Mu-
tationsmöglichkeiten im Tier- und Pflanzenreich kennt. Es ist
interessant zu sehen, daß in einzelnen Zweigen neben geistig
zurückgebliebenen sehr hoch entwickelte Rassen stehen, z. B.
im europiden die nordische und die Aino, im mongoliden die
Chinesen-Japaner und gewisse nordsibirische Jägerstämme.
xs*
276 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN.
.ZWERGWUCHS
) BRACHyKEPH '/// PIMENT -
j PIGMENT- ®@ VERLUST f?Sl SPIRAL HAAR
I VEHNEHHUNG @ DES
SACRAL FLECKS
BART
GERADE
NASE
CONVEXE
NASE
Abb. 59. Australidcr Zweig.
HOCHWUUHS D P1GM.VERIUST ggt BRACHyKEPH. vL; schXdei-
■//, PIGMENT- W ^ u.HIRN-
ZVER&WUCH5 ^VERMINDERUNG n SCHMALGESICHT MUTATIONEN
SAKfiftECKVEmuST LLi HELLBLOND ü f BART
GERADI
NA5£
C0NVES1
HASE
Abb. 60. Europidcr Zweig.
Abb. 59 bis 62. Die wichtigsten Mutationen in den vier hauptsächlichsten
Rasse zweigen.
Ich glaube, nach' den Ausführungen der vorigen Seiten
brauchen die obigen Bilder keine besondere Erklärung mehr;
auf viele Einzelheiten wird im folgenden Abschnitt eingegangen.
Es ist klar, daß die dargelegten Vorstellungen von der
Entstehung der Rassen, die ganz folgerichtig auf der Erblehre
aufgebaut sind, viele rein auf äußerlicher Beschreibung von
DIE RASSENZWEIGE,
277
CS) SPISAtHAAP
HOCHWUCHS
ÜPPEN
Abb. 61. Negridcr Zweig.
PIGMENT -
VEPMEHRUNG
BRACHyKEPH
^5 HOTT.5TEI5S
W BRACHV"
.ZWERGWUCHS g 5CHMALGE5(CHT
V
BAPT-
VERU5T
SCHMALE
NA5E
CONVEXE
NASE
Abb. 62. Mongolider Zweig.
Merkmalen beruhende Vorstellungen umwerfen. Zugleich stel-
len sie ein Programm wichtiger Forschung dar. Noch schneller
als die Reste primitivster Rassen in Rückzugsgebieten, zentral-
afrikanische Pygmäen oder Andamanen, Wedda usw., dem Aus-
sterben entgegengehen, schwindet die Möglichkeit, Kreuzungen
ersten Grades zwischen allen möglichen Rassen zu beobachten
und dadurch die rassenbildenden Gene zu analysieren. .Denn Mi-
schung und Kreuzung geht mit dem heutigen, unerhört gestei-
gerten Aufschluß der unwegsamsten Gebiete ebenso schnell.
278 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERDANLAGEN.
Die Anthropologie hat Jahrzehnte lang beschrieben und gemessen.
Ein ungeheurer Vorrat, gewiß auch wissenswerter, morphologi-
scher Tatsachen liegen vor. Es hat heute keinen Sinn mehr,
Einzelbeobachtungen über den Längenbreitenindex etwa an
Schädclscrien zu vermehren, solange wir nicht wissen, wie im
einzelnen Form und Größe des Kopfes erblich oder umwelt-
bedingt sind. Das gilt ebenso für zahllose andere Merkmale.
Dagegen ist jede einzelne Verfolgung von Merkmalen im Erb-
gang, vor allen Stücken bei Kreuzung deutlich verschiedener
Rassen, von allei'größter Bedeutung.
Auf dieser neuen Grundlage wird dann eine neue Eintei-
lungsmöglichkeit erstehen, die uns auch erlaubt, innerhalb der
Zweige die einzelnen Rassen genealogisch anzuordnen. Heute
halte ich das nur hier und da für möglich. Ich möchte dabei
nicht verhehlen, daß manche der alten Forscher, Blumen-
bach, Broca u. a. mit bemerkenswert sicherem Blick heute
als erblich erkannte Zusammenhänge gesehen haben. Sie wa-
ren eben biologisch denkende, vorzügliche Morphoiogen, nicht
messende Statistiker.
Eine Vergleichung der verschiedenen bisherigen Einteilun-
gen zu geben, hätte nur geschichtlichen Wert; es kann hier
darauf verzichtet werden. Und da ich, wie gesagt, eine genea-
logische Einteilung aller einzelnen Rassen innerhalb der gro-
ßen Zweige für verfrüht halte, beschränke ich mich auf ganz
kurze Andeutung des Erbbestandes der wichtigsten Einzel-
rassen hintereinander.
Übersicht über die einzelnen Rassen
Das vorliegende Buch ist eine Erblehre, keine systematische
Rassenlehre. Zur systematischen Darstellung der Rassen des
Menschen gehört mehr als nur die Erblehre. Die Rassenlehre
umfaßt auch die Vorgeschichte und Geschichte der Rassen, ihr
Schicksal innerhalb von Völkern, ihre Beeinflussung durch
Natur und Kultur. Weiter wird die eigentliche Rassenbeschrei-
bung außer den Erbeigenschaften auch die Umweltwirkungen
im einzelnen verfolgen müssen. Dies alles geht über den Rah-
men dieses Lehrbuches weit hinaus. Es muß sich daher inner-
halb der Darstellung der sog. rassenmäßigen Erbanlagen des
Menschen darauf beschränken, die im Erscheinungsbild der
wichtigsten Rassen sich jeweils zusammen findenden Erbeigen-
schaften ganz kurz zu zeichnen und durch eine Anzahl Abbil-
dungen zu belegen (Taf. I — 13). Die Beschränkung dürfte auch
DIE RASSENZWEIGE: DER EUROPIDE,
279
insofern keine empfindliche Lücke bedeuten, als wir in den vor-
züglichen Darstellungen H. F. K. Günthers eine ausgezeichnete
„Rassenkunde des deutschen Volkes" und in dem großzügigen
Werk v. Eickstedts eine „Rassenkunde und Rassengeschichte
der Menschheit" besitzen, auf welche Werke hier ausdrücklich
verwiesen sei. Einige kleinere Bücher, die die Rassenkunde
darstellen, sind im Schriftenverzeichnis aufgeführt 1 ). Selbst-
verständlich kann auf das ganz ungeheure Einzelschrifttum
überhaupt nicht eingegangen werden, es sei auch diesbezüglich
auf die eben genannten Werke verwiesen.
Euro pi der Zweig
Die zahllosen vorgeschichtlichen und geschichtlichen, teilweise
ungeheuer ausgedehnten Völkerwanderungen, die in Europa und
über Europa hinweg stattgefunden haben, haben das Rassenbild
Europas zu einem außerordentlich schwer zu enträtselnden ge-
macht. So ist die Rekonstruktion der ursprünglichen Rassen aus
der heute Europa bewohnenden Gesamtbevölkerung besonders
schwer. Bei jenen Wanderungen, Eroberungen, Überschichtun-
gen und Verschmelzungen, die die Entstehungsgeschichte aller
Völker und Staaten Europas umschließen, handelt es sich in der
Hauptsache um gegenseitige Kreuzung der europäischen Rassen
untereinander, wobei die aktive Beteiligung der einzelnen an
Wanderung, Einkreuzung und Staatenbildung außerordentlich
verschieden war, am stärksten bei der nordischen Rasse. Ge-
genüber diesen Beziehungen der europäischen Rassen unter-
einander ist der Einschlag europafremder (nicht curopider)
Rassen außerordentlich gering, unvergleichlich geringer als
auf allen anderen Erdteilen. Höchstens Asien nördlich des Hi-
malaja hat ebensowenig ihm rassenfremde Einwanderung.
Trotz dieser Schwierigkeiten ist es möglich, eine verhält-
nismäßig deutliche Vorstellung von den ursprünglichen Rassen
zu erhalten; das Bild ist für deren einzelne recht verschieden.
Die Möglichkeit dazu ergibt sich einmal aus der Tatsache, daß
zahlreiche Rasseneigenschaften noch heute in geographisch ge-
sonderten Räumen in verhältnismäßig großer Menge auftreten,
in anderen nur selten oder gar nicht. Man kann die einzelnen,
etwa ihrer Verbreitung nach in Landkarten eingetragen, kom-
binieren (nicht etwa die individuellen Träger bestimmter Merk -
*) Eine allgemeine Kenntnis des Erscheinungsbildes der die europäische
Bevölkerung zusammensetzenden Rassen kann heute bereits vorausgesetzt
werden. — Die nicht-europiden Äste sollen nur ganz kurz angedeutet werden.
280 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN
malskombinationen, s. S. 309). Derartige Untersuchungen hat
zuerst in größerem Maß und für ganz Europa Deniker vor-
genommen, worauf unsere neuen Erkenntnisse von den euro-
päischen Rassen (übrigens auch deren Benennung) zurück-
gehen. Wir können heute solche Ergebnisse dadurch erst voll
und ganz — und jeder Kritik standhaltend — ausnützen,
daß wir bei der Auswertung von Vorkommen und Häufigkeit
von Erbeigenschaften deren Erbgang — rezessives oder do-
minantes Verhalten — als wichtigsten Punkt mit in Rechnung
stellen. Aber als noch viel wichtigere Quelle unserer Kennt-
nisse geben uns Vorgeschichte und Geschichte Kunde vom
Aussehen der verschiedenen europäischen Gruppen aus den
verschiedensten zurückliegenden Zeiten. Weitaus am reichsten
fließen diese Quellen für die nordische und die mediterrane
Rasse. Es handelt sich um körperliche Reste (der Haupt-
sache nach Skelette aus allen Zeiten der Vergangenheit von
der ersten diluvialen Besiedehmg Europas an), dann um bild-
liche Darstellungen und geschichtliche, schriftliche Nachrichten.
Es ist dabei für uns besonders erfreulich, daß, wie gesagt, die
verschiedensten Quellen gerade für die nordische Rasse am
alle rreichs ten fließen. So ist z. B. der weitaus bestbekannte Typ
von Schädel- und Skelettform, den wir aus der gesamten Vergan-
genheit überhaupt kennen, und zugleich derjenige, der sich mit
völliger Sicherheit als Träger ganz bestimmter Kultur erweist,
der schon 1865 von Alexander Ecker aufgestellte Reihen-
gräbertypus, die Schädel- und Skelettform der Germanen der
Völkerwanderungszeit, also nordische Rasse. Gegen sämtliche
sonst als Typen oder Rassen aufgefaßte Formen und Funde ist
gelegentlich Widerspruch und Ablehnung erfolgt; viele erwie-
sen sich als irrig gedeutet, andere als kulturell falsch bezogen,
alle aber umstritten. Jener Typus ist bis heute allgemein aner-
kannt.
Aus allen vorliegenden Untersuchungen geht hervor, daß
einmal Zeiten in Europa waren, etwa im Abklingen der letzten
Eiszeit, also dem späten Paläolithikum, dann im Meso- und im
beginnenden Neolithikum, wo sich die europiden Rassen teils
auf europäischem, teils auf benachbartem asiatischem und be-
sonders auch 110 rcl afrikanischem Boden gebildet haben. Wie
oben ausgeführt, gehörte dazu Isolierung. Diese nehme ich ge-
rade für die werdenden europiden Rassen in jenen eis- und
zwischeneiszeitlichen Verhältnissen in reinem Maße an, sie
war anthropologisch (Wanderung) und klimatisch-geographisch
DER EUROPIDE ZWEIG.
281
bedingt. Da bildeten sich die Rassen, deren Erblinien wir heute
in so starker Mischung sehen. Ich nehme also an, daß sie ein-
mal als einzelne, reine Rassen bestanden. Die Reinheit wird für
die einzelnen Eigenschaften je nach deren Wert für die natür-
liche Züchtung und den Mutationsverhältnissen nicht ganz
gleich gewesen sein, aber ich stelle sie mir im ganzen doch
außerordentlich weitgehend vor, so wie man sie für weit aus-
einander wohnende, geographische (lokale) Varietäten einer
Säugetierart findet oder etwa für die Wedda, Australier, Busch-
männer usw. In diesen letzteren haben wir tatsächlich solche
isolierte Rassen. Das gibt uns die volle Berechtigung, auch für
die europäischen in jener fernen Vergangenheit einen solchen
Zustand anzunehmen. Damals gab es meiner Meinung nach
wirklich eine nordische, eine mediterrane Rasse. Aber schon
bei der Bildung vollneolithischer Kulturen und Völker begann
mit Eroberung und Überschichtung die Kreuzung und damit
die Zerstörung der alten reinen Rassenbeständc. Daß sie in
Anbetracht der ungeheuren geschichtlichen Umwälzungen und
Entwicklungen Europas in den seitdem verflossenen 7—8 Jahr-'
tausenden nicht viel weiterging, sondern ganz erstaunlich große
Reste wenigstens relativ reinen Rassentums übrig gelassen hat,
zeigt die schier unzerstörbare Widerstandsfähigkeit, aber wohl
auch die ursprüngliche Reinheit und den großen Umfang der
durch Auslese angepaßten Rassen.
Wenn man den europiden Zweig in seiner Gesamtheit be-
trachtet, findet man zunächst eine Reihe von Erbeigenschaften,
die seine Zusammengehörigkeit deutlich erweisen und ihn in
dieser Kombination eigenartiger Gene von den anderen Zwei-
gen der Menschheit deutlich trennen. (Vgl. die Tafeln.)
Mit dem australiden hat er die Anlagen für die Haarform, für den Bart
und in seinen ältesten und primitivsten uns bekannten Formen (Schädel
von Corabe capclle, Prdmost u. a.) gewisse Anklänge der Schädelform ge-
Der Zweig erlebte im Verlaufe seiner Entstehung ziemlich
zahlreiche Mutationen. Für dengesamten Zweig trat eine starke
Aufhellung des Haut- und eine ebensolche des Haar- und Iris-
pigmentes ein. Diese Verlustmutationen erfolgten innerhalb des
Zweiges in sehr verschiedenem Grade. Kein anderer mensch-
licher Zweig zeigt so geringe Stufen der Pigmentfaktoren
(s. S. 120). Auch im mongoliden Zweig gibt es als Verlust-
mutationen Anlagen für sehr geringe Pigmentation, wie ge-
wisse recht hellhäutige Ostasiaten zeigen (vom Gelbfaktor ab-
282 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN.
DER EUROPIDE ZWEIG.
283
gesellen). Aber die Aufhellung beschränkt sich auf die Haut
und erreicht auch hier die Stufen etwa der nordischen Rasse
niemals, der alpinen vielleicht gerade noch. Die Pigmentfak-
toren für Haar- und Augenfarben bleiben aber im mongoliden
Zweig unverändert, ich glaube, ganz unveränderte bestehen
auch innerhalb des europiden Zweiges noch bei der mediter-
ranen ( ?), der indiclen, der polynesischen und der Ainorasse.
Bei anderen, wie der alpinen •und teilweise der dinarischen, tritt
eine erste Stufe der Aufhellung, bei nordischer, fälischer und
ostbaltischer dagegen vollige Aufhellung auf, so daß die be-
kannten blauen, grauen und hellgrünÜchen Irisfarben entstehen.
Auch die Gene für den Sakralfleck mutierten und schwanden
völlig bei der nordischen, teilweise bei den anderen Rassen
Europas. Weiter besaß wohl in seinen ältesten Ausgestaltungen
der europide Zweig noch verhältnismäßig wenig veränderte An-
lagen für die Nasenform, wenn auch die alte, australoide Form
in vollem Ausmaß wohl schon ummutiert war. Solche älteren
Formen zeigen noch die Aino und wohl auch die Polynesier. Bei
allen anderen sind dagegen Mutationen vollzogen worden, die
teilweise in mehreren Schritten zu einer stärker erhobenen und
schmäleren, eben der „europäischen" Nase, dann hier und da
zur gebogenen führten. Ich verweise auf das oben S. 273 Ge-
sagte. Wie ebenfalls schon ausgeführt, traten in mehreren Ein-
zelzweigen höhere Allelenstufen der Gene für Flöhenwachstum
auf. So haben wir die großwüchsige nordische, fälische und
dinarischc und, Ihnen wohl nicht ganz gleichkommend, die ost-
baltische, andererseits die hochwüchsige polynesische Rasse.
Über das Auftreten der Brachyzephaliefaktoren vergleiche man
oben S. 273. (Vergleiche die Abbildungen der Tafeln.)
Auf zahlreiche, einzelne Erbanlagen, die den übrigen mor-
phologischen, z. B. physiognomischen, vielen physiologischen
und den psychologischen Eigenschaften zugrunde liegen, kann
hier im einzelnen nicht eingegangen werden. Hier gab es die
folgenschwersten Änderungen, vor allem innerhalb des euro-
piden Zweiges, jene, die zu der Bildung des körperlichen und
geistigen Erbgutes der nordischen Rasse führten. So ist die
große Mannigfaltigkeit des europiden Stammes entstanden.
Über den Weg, der dahin führte, sind wir erst geringen Gra-
des aufgeklärt. Nur über gewisse Einzelheiten der Schädel- und
Gesichtsbildung und über Körpergröße geben uns einzelne fos-
sile Funde Auskunft. So dürfen wir mit Sicherheit die fälische
Rasse auf die eiszeitliche Cro-Magnon-Rasse zurückführen. Und
andererseits dürfte die nordische durch Erwerb von Genen
giazilen Körperbaus, Schmalgesichtigkeit und sonstiger physio-
gnomlscher Einzelheiten, von den geistigen Eigenschaften ganz
abgesehen, aus derselben Stammrasse entstanden sein. Die
mediterrane Rasse mag die späteiszeitliche Brünnrasse zum
Ahnen haben, und Formen mit dem Brachyzephaliefaktor der
alpinen Rasse 1 ) haben wir in den spät- und nacheiszeitlichen
Rundkopfrassen in Zentral- und bis Südwesteuropa. Für einen
Zusammenhang mit dem. mongoliden Zweig, etwa nur der
Brachyzcphalie und der etwas kleineren Nase wegen, erkennt
der Genetiker keinen Grund und daher keine Berechtigung.
Arno und deutliche, europide Reste in gewissen nordsibirischen
und zentralasiatischen Stämmen und Völkerresten, sicher auch
in den Lappen, weisen auf die Zeit des Erwerbs der europiden
Sondergene zurück. Aber, wie gesagt, es kann hier weder ins
einzelne gehende Rassenbeschreibung noch Rassenvorgeschichte
und Geschichte gegeben werden.
Es sei noch einmal auf Tafel 1 bis 9 verwiesen.
Vergleicht man im einzelnen den Genbestand der einzelnen
Rassen des ganzen europiden Zweiges, findet man deutlich
einander näher und einander ferner gerückte Einzelzweige,
d h. solche mit größerem oder mit geringerem Besitz jeweils
der gleichen Gene. Dabei muß aber betont werden, daß wir
la nur eine gewisse Anzahl und Art der Gene kennen und über-
sehen. Von all denen, die den geistigen Begabungen zugrunde
liegen, wissen wir nicht soviel, daß wir sie einzeln in Rechnung
stellen und in unser Schema eintragen könnten. Sie sind aber
sicher großenteils zahlreicher und tiefgreifend und biologisch'
und kulturell unendlich viel bedeutungsvoller als die anderen !
Ihre Unterschiede merken wir aus der Verschiedenheit der gei-
stigen Leistungsfähigkeit der einzelnen Rassen. Nach clcn uns
bekannten Erbanlagen stehen nordische und fälische Rassen
einander am nächsten. Auf der anderen Seite sind sich im Be-
sitz körperlicher Anlagen mediterrane und orientalische nahe,
im Besitz gewisser seelischer scheint es mir erheblich weniger.
Der anzunehmenden, gemeinschaftlichen .Wurzel der beiden steht
in ihrem Gensatz vermutlich die indide Rasse nahe. Die dina-
1 ) Günther nennt diese Rasse ostisch (nicht östliche, wie er aus-
diucklich betont) und fügt oft „(alpin)" dazu — aber zu zahlreichen Miß-
verständnissen eines näheren Zusammenhanges mit Ostasien hat es doch ge-
fuhrt — der Name alpin ist besser, übrigens auch historisch bevorrechtigt
(Dcniker).
284 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
lisch e hängt ganz sicher irgendwie zusammen mit der vorder-
asiatischen, soweit wir aus Erbanlagen körperlicher Rasse-
eigenschaften schließen dürfen. Aber ich bin überzeugt, daß
die Anlagen für geistig-seelische Fähigkeiten sich zwischen bei-
den sehr stark differenziert haben. Daß ich die drei europäi-
schen Kurzkopfrassen für je vollkommen selbständige Muta-
tionen innerhalb des europiden Zweiges halte, ist schon erwähnt.
Ich neige auch nicht dazu, die ostbaltische wegen der Blond-
mutation der nordischen besonders nahe zu stellen. Am wenig-
sten mutiert, vor allen Stücken auch bezüglich der primitiveren
psychischen Erbanlagen, scheinen die Aino, ebenso die ange-
deuteten alten, unter der heutigen asiatischen Bevölkerung fast
verschwundenen Reste (einschließlich der Lappen). Alle diese
zeigen vor einem kulturellen Wertmesser keinen Vorzug gegen-
über zahlreichen Rassen der anderen menschlichen Rassen-
zweige. Um so auffälliger und wichtiger aber sind die zahl-
reichen anzunehmenden Mutationen, die die Gesamtleistungs-
fähigkeit der europäischen Rassen bedingt und diese Gruppe
geistig zur höchsten Entwicklung geführt haben, die in der
Menschheit überhaupt beobachtet wird. Unter ihnen ragt ein-
zigartig, weil im höchsten Grade schöpferisch ausgestattet, die
nordische Rasse besonders hervor. Aber die Schilderung der
Erblichkeit der geistigen Begabung ist Abschnitt 5 vorbehal-
ten; ich möchte über die kleinen Grenzüberschreitungen meiner
obigen Darstellung nicht weiter hinausgehen.
Es muß schließlich noch betont werden, daß nach dem
Erbgut, körperlichem und geistigem, das wir kennen, die eigent-
lichen europäischen Rassen einander sehr viel näher stehen als
irgendwelchen außereuropäischen. Die Zahl der verschieden
gerichteten Mutationen scheint mir bei diesen sehr viel größer
und die Mutationsschritte sehr viel weiter gehend als innerhalb
des europäischen Zweiges. Aber mir scheint ebenfalls die imi-
tative Entfernung der ihm zugehörigen Rassen, soweit sie ihre
letzte Entwicklung nicht mehr auf europäischem Boden erlebt
haben, erheblich größer zu sein als die der binneneuropäischen.
Das betrifft also dann die orientalische, besonders stark die
vorderasiatische Rasse und ebenso die Aino, vielleicht nicht
weniger stark die indide,
Schließlich kann hier, als zur Rassenge s chi cht e ge-
hörig, die Verteilung der einzelnen Rassen des europiden Astes
auf die verschiedenen Völker nicht im einzelnen geschildert
werden. Es mag der Hinweis genügen, daß die Beteiligung der
DER EUROPIDE ~ DER AÖ ST RÄUDE ZWEIG.
285
einzelnen Rassen an deren Zusammensetzung ihre kulturelle
Leistungsfähigkeit und ihr geschichtliches Schicksal grund-
legend und ausschlaggebend bedingen.
Australider Zweig
Im australiden Zweig haben sich unter allen Zweigen wohl
am meisten Erbanlagen erhalten aus der Zeit, da die Mensch-
heit noch einheitlich war. Nach dem gewöhnlichen anthropo-
logischen Sprachgebrauch bezeichnet man die entsprechenden
Merkmale als primitive. Es sei an das Erscheinungsbild der
Australier selbst, der Wedda, gewisser Negrito, der Tasmanien
gewisser Papua erinnert. Da der europide Zweig von allen, so-
weit wir es übersehen können, die unmittelbarsten Beziehungen
zum Neandertalmenschen hat, etwa über die Pfdmostform, den
Aurignac-Menschen u. a., wobei ich auf die Frage der unmittel-
baren Abstammungsfolge und der örtlichen Verhältnisse gar
nicht eingehen will, und da andererseits der Australier noch
heute am Schädel die größte Neandertalähnlichkeit, d. h.
Bestand an entsprechenden Erbanlagen aufweist, muß man
wohl den europiden und australiden Zweig für einander in
tiefer Wurzel etwas näher stehend halten als den anderen bei-
den. Auch haben negrider und mongolider Zweig eine Anzahl
Mutationen, jeder nach seiner Seite, erlebt, wie Haarform,
Farben, mediale Äugenfalte u. a., die sie abermals mehr von
jenen getrennt haben. Um so auffälliger und für die ganze
Menschheit schicksalsschwerer sind dann aber die Unterschiede
zwischen den stehen gebliebenen Australiden und einzelnen
ummutierten europiden Zweigen — Mutationen geistiger An-
lagen ! — geworden. Auf die einzelnen Mutationen des austra-
liden Zweiges und ihre Verteilung in ihm einzugehen, liegt nicht
im Zweck dieses Buches. Es sei als genügende Übersicht auf
Abb. 59 und das dort Gesagte über das selbständige Auftreten
von Mutationen verwiesen.
Negrider Zweig
Die Erbanlagen des negriden Zweiges interessieren inso-
fern rein praktisch, als sie mit solchen des europiden, wie schon
oben angedeutet, auf weiten Gebieten in Kreuzung gekommen
sind. Die gesamten Hamitenvölker haben diese Unterlage. Das
wird vor allem für die Beurteilung ihrer geistigen, also kul-
turellen, Leistungen und die vergleichende Untersuchung der
Negerleistung oder der Leistung der Negermischlinge Arne-
286 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
rikas in Betracht kommen. Im Abschnitt d. wird darüber aus-
führlich berichtet. Daß die Frage der Erbanlagen des negriden
Zweiges auch in Europa eine Rolle, und zwar selbstverständ-
lich eine verhängnisvolle spielt, läßt der Daueraufenthalt schwar-
zer Truppen in Frankreich (leider auch die vorübergehende
farbige Besatzung deutscher Gebiete) deutlich erkennen. Die
Gefahr der sicher kommenden, rassenmäßigen Verschlechterung
besteht nicht nur für Frankreich, wenn auch für dieses zuerst
und weitaus am meisten !
Der Genbestand des negriden Zweiges ist im Verhältnis
zu dem der anderen Zweige, nachdem er sich gebildet hatte,
offenbar weniger häufig durch sekundäre Mutationen abge-
ändert. Die verschiedenen Mutationen gehen aus der Übersicht
der Abb. 6t, S. 277 und der Tafel 10 hervor.
Mongolider Zweig
Innerhalb dieses Zweiges haben Mutationen jener Erb-
anlagen, die wir für unsere geistigen Leistungen haben, eine
zwar andersartige und eigenartige, aber, wie die einzelner Euro-
piclen, zu sehr hohen Leistungen befähigende Ausgestaltung er-
fahren. Der gesamte Zweig ist an Kopfzahl und Verbreitung
der größte. Auch seine ihn bezeichnenden Sondergene dürften
an Häufigkeit und Vielfältigkeit den europiclen mindestens
gleichkommen. Aber auch hier muß sich unsere Darstellung,
will sie sich nicht zu einer förmlichen Rassenkunde und Ras-
sengeschichte ausdehnen, auf die Übersicht in Abb. 62 be-
schränken. Es sei daher nur noch angemerkt, daß darin be-
züglich der Stellung der Eskimo zum gesamten Zweig nichts
festgelegt sein soll (vgl. meine angeführten Zweifel S. 200).
Aber auch die Anfügung des Zweiges der Indianer an den
Hauptast entspricht nur bisherigen Gepflogenheiten, genetische
Prüfung zur Berechtigung dieser Ansichten fehlt noch. Auf
Abb. yi und 72 auf Taf. 12 und (die Rasse in Kreuzung)
Taf. 1 3 sei verwiesen.
d) Allgemeine Lebenserscheinungen der Rassen
(Rassenbiologie)
Die menschlichen Gruppen, die sich durch bestimmten
homozygoten Genbestand abgrenzen, die wir also Rassen nen-
nen, zeigen als solche selbstverständlich bestimmte Lebens-
erscheinungen. Es sind einmal rein biologische, d. h. die rein
natürlichen Erscheinungen, die an diesen Fortpflanzungsge-
DER NEGRIDE — DER MONGOLIDE ZWEIG.
287
meinschaften auftreten. Aber es sind andererseits auch die
Wechselwirkungen zwischen ihnen als Gesamtheit von Erb-
innen und den sozialen Verbänden mit ihren kulturellen Er-
scheinungen, in die sie eingegangen sind und deren Träger sie
sind. Diese höchst verwickelten Verhältnisse der Wechselwir-
kung von Erbanlagen, also auch Rasse und Kultur, einfachste
wie höchst entfaltete, geschichtliche wie gegenwärtige, unter-
sucht die „Sozialanthropologie", und die Ergebnisse sind eine
Hauptunterlage der Rassenhygiene. Sie finden, soweit nötig,
in diesem Zusammenhang ihre Darstellung im zweiten Band
(Lenz). Hier beschränken wir uns auf die vorhin zuerst ge-
nannten Erscheinungen, auf die Untersuchung der rein natur-
wissenschaftlich erfaßbaren Lebenserscheinungen der Rassen,
selbst, das andere kann nur angedeutet werden.
Wie beim Einzelindividuum ist auch für die Rasse als Gan-
zes die uns am meisten interessierende Erscheinung die der
Erblichkeit aller in ihr zusammengeschlossenen Eigenschaften
und die Ausgestaltung von deren Wirkungen durch die Umwelt.
Gerade die Untersuchung der Rassen gibt für die Erforschung
der normalen menschlichen Erbanlagen, wie oben schon ein-
mal erwähnt, die allergrößten Möglichkeiten. Das Vorhanden-
sein aller mehr oder weniger gruppenweise auftretender nicht
krankhafter Erbanlagen und die Beeinflussung ihrer Wirkung
durch die Umwelt läßt sich nur nachweisen durch Beobach-
tung von Kreuzungen von Individuen je zweier solcher ver-
schiedener Gruppen und deren Nachkommen. So ist die Ras-
senkreuzung für uns die anziehendste und wichtigste Erschei-
nung im Leben der Rassen. Daß für den Ablauf der Kulturen
und dann für Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik ebenfalls
die Rassenkreuzungen von Bedeutung sind, negativer und posi-
tiver, sei hier nur nebenbei erwähnt, es wird unten noch er-
örtert werden.
aa) Umfang und Verbreitung der Rassenkreuzung
Über den Umfang der Kreuzung einander ferner stehender
Rassen, etwa der Gesamteuropiden mit anderen, machten jüngst
D avenport 1 ), dann Davenport und Fischer 2 ) einige
Angaben, auch auf Lundborg sei hingewiesen. Reines Kreu-
v ) Davenport. Preliminary report of the comiüee 011 race crossing.
Conf. Int. Fcd. of Eug. Org. Rom 1929.
2 ) Davenport und Fischer. Untersuchungen über Rassenkreu-
zungen beim Menschen. Rep. 9. Conf. intern. Union. Pop. Probl. Dorset 1930.
288 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
zungsgebiet zwischen Europiden (mediterrane und orientalische
Rasse) und Negriden (Neger und Pygmäen) sind das gesamte
Nordafrika, die gesamte afrikanische Ostküste und weite Ge-
biete des mittleren westlichen, ja zum Teil sogar südlichen
Afrika (Hamitenvölker, viele Sudanvölker u. a.). Ein fast eben-
so großes Kreuzungsgebiet, diesmal zwischen Europiden und
Mongoliden, reicht vom östlichen Europa (Slaven) über das
ganze russische Reich bis weit nach Asien hinein. Die ehe-
malige und heutige Lappenverbreitung in Skandinavien ist
ebenfalls Kreuzungsgebiet. Ganz Vorderasien ist Kreuzungs-
gebiet vorderasiatischer-orientalischer und mehrerer anderer
Rassen. Ein weiteres Gebiet stellt der gesamte Malaiische Ar-
chipel dar, einschließlich vorder- und hinterindischem Fest-
land. (Mongoliden mit Weddaisch-negritischer-mclanider Ur-
schicht; vielfach noch Europide dazu.) Jüngere riesige Kreu-
zungsgebiete sind Süd- und Mittelamerika (mongolide In-
dianer, Europide und Negride), in geringerem Grad Gebiete
von Nordamerika. Man sieht, es bleiben wenige Gebiete auf
der Erde, die von derartigen, großenteils unmittelbar nach-
weisbaren Mischungen zwischen den großen menschlichen Ras-
senzweigen frei sind, und in diesen mischen sich dann in teil-
weise wieder unmittelbar geschichtlich verfolgbaren Wande-
rungen die Einzelrasscn. Es sei auf die sog. Völkerwanderung
Europas hingewiesen, die Ausbreitung der Indogermanen und
Germanen, Kreuzung etwa aller europäischen Rassen. Es sei
ferner hingewiesen auf die Züge der Mandschu und anderer
Mongolen (Turkvölker usw.), auf die arabische Bewegung, auf
die Einwanderung der Japaner in ihr heutiges Gebiet, auf die
Wanderungen der Polynesier, auf die zahllosen Wanderungen
von Negerstämmen (im weitesten Sinn dieses Wortes) Mas-
sai, Zulu, Haussa, Fulla usw. Und schließlich gehören hierher
all die Wanderungen, die sich seit mehr als hundert Jahren in
den Büros der großen Schiffahrtslinien organisieren.
Gegenüber der ungeheuren Größe dieses Problems ist es
geradezu auffällig, wie wenig Bearbeitung seine Einzelheiten
gefunden haben, vor allen Stücken, wie wenig grundsätzliche
Untersuchungen der eigentlichen Unterlagen vorliegen im Ge-
gensatz zu Spekulationen über Wirkungen und Folgen.
Eingehende biologisch-anthropologische Bearbeitung des Kreuzungs-
vorganges stark differierender Rassen gibt es bisher nur folgende: Eugen
Fischer hat 1908 die Rehobothcr Bastards, Mischlinge zwischen Buren-
männern und Hottentottenfrauen, "untersucht und darüber eine wohl als Un-
terlage unserer gesamten Bastardierungskenn Inisse anzusehende Monogra-
UMFANG DER RASSENKREUZUNG.
289
phie vorgelegt (ic.i3).'Es dürfte keine Bastardbevölkerung geben, die gleich
günstige Verhältnisse darbietet. Dann folgte Rodenwaldt (1927) mit
einer prächtigen, umfangreichen Untersuchung über die Mestizen von Kisar,
Kreuzungen zwischen Europäern und Malaien. Diese beiden Werke sind die
einzigen, wo die erbbiologische Untersuchung einer Gesamtbevölkerung an
einzelnen, genealogisch bekannten, also stammbaummäßig nach Art und
Grad der Rassenmischung bestimmten Familien möglich war. Die anderen
nehmen „Mischlinge" und „Elternrasscn" aus dem betreffenden Mischge-
bict. Es sind folgende: Davcnport and Steggerda, „Race cros-
sing in Jamaica" (1929) untersuchten Mischlinge zwischen Europäern und
Negern. Weiter zu nennen ist Dünn (1928) über Rassenk rcuzimgen zwischen
Polyncsiern, Europäern und Chinesen auf Hawai, dann Lotsy and God-
dij n (1928) über Kreuzungen verschiedener Grade zwischen Negern, Euro-
päern, Hottentotten und Indern in Südafrika, weiter Hcrskovits (1930)
über Neger und Negermischlinge in den Vereinigten Staaten, endlich Wil-
liams (1931) über Rassenkreuzung zwischen Indianern und Europäern in
Mexiko, und Tao (1935) über Chinesen-Europäermischlinge. Zu diesen
wenigen monographischen Darstellungen kommen eine verhältnismäßig ge-
ringe Zahl von Einzelbearbeitungen bestimmter Merkmale oder einzelner
Fälle, z. B. Goldschmidt (1928), Gates (1929) u. a. Die vollstän-
digste Zusammenstellung (bis 1929) gibt E. Fischer in seiner „Genana-
lyse" (s. oben); Lundborg (1931) stellt Gesamtergebnisse dar 1 ).
!) Fischer, Eugen. Die Rchobother Bastards und das Bastardie-
rungsproblem beim Menschen. Jena 1 9 1 3 (Lit.).
Rodenwaldt. Die Mestizen auf Kisar. 2 Bde. Weltevrcdcn (Java)
1927.
Davcnport and Steggerd a. Race crossing in Jamaica. Washing-
ton 1929.
D 11 n 11. An anthropometric study of Hawaiians of pure and mixed
blood. (Pap. Peab. Mus. 11.) Cambridge (Mass.) 1923.
Lotsy and G o d d i j n. The human hybrids (. . . . South Afrika).
Genetica 10. 192S.
H e r s k o v i t s. The anthropometry of the American negro. (Columb.
Univ. Contrib. to Anthr. XI.) New York 1930.
Williams. Maya-spanish crosses in Yucatan. (Pap. Peab. Mus. 13.)
Cambridge (Mass.) 1931.
Lundborg. Die Rassenmischung beim Menschen. Bibl. genet. S.
1931. (Großes Lit.-Verz. — s. auch Lit.-Vcrz. bei Fischer, Genanalyse, Z.
induet. Abst. Vererb. 54. 1930.)
Tao. Chinesen-Europäcrinnenkreuzung. Z. Morph. Anthr. 33. 1935.
Gates, R. R. A pedigry study of Amerindian crosses in Canada. I.
R. Anthr. Inst. 58. 1928.
Goldschmidt. Die Nachkommen der alten Siedler auf den Bonin-
inseln. Mitt. D. Ges. Nat.- und Völkerkunde Ostasiens. 22. B. 1928. (W a-
genscil hat seitdem diese Bevölkerung untersucht, Veröffentlichung steht
n,och aus.)
Fischer, E. Europäer-PoIynesierTCreuzung. Z. Morph. Anthr. 28
{1930).
Leb zeit er. Über Khoisanmischlinge in Südwestafrika. Z. Morph.
Anthr. (Fischer, Feslb.) 34. 1934.
B a u r - F i s c h e r - 1, e 11 z , I. 19
290 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Nur noch geschichtliches Interesse hat der größte Teil der sehr zahl-
reichen Benennungen der verschiedenen Mischlinge, wie sie vor allen Stücken
in Latein-Amerika sich entwickelt haben. Mulatte wird vielfach für alle Grade
von Mischlingen zwischen Weißen und Negern gebraucht, ursprünglich war
es die Bezeichnung für den Nachkommen eines Weißen mit einer Negerin.
Mit einer Mulattin erzeugte dann ein Weißer den Terzeron (d. h. a / 4 weiß),
Weiße und Terzeron erzeugen dann Quarteronen, dann entsprechend Quin-
teronen usw. bis Oktavonen. Darnach sollten die Kinder wieder als reine
Weiße gelten. (Biologisch natürlich unhaltbar.) Mulatte mit Mulatte ergibt
Kasko, Mulatte mit Neger Sambo, Neger mit Mulattin Griffe, Weißer mit
Quarteronen Mameluco. Es gibt noch zahlreiche Mischlingsnamen, Caboclc,
Cafuso, Cholo usw. Mischlinge zwischen Portugiesen und Farbigen werden
häufig als Metis, solche mit überwiegend Negerblut als Mestize be-
zeichnet. Mestize im allgemeinen nennt man aber oft die Mischlinge zwi-
schen Weißen und Indianern. Die Mischlinge in Südafrika heißen Cap-
People, die zwischen Buren- und Hottentotten Bastards. Nachkommen
von Europäern mit Inderinnen heißen häufig Eurasier oder einfach
Halfcast, solche von Javaninnen gelegentlich Liplap. Die Benennungen
hatten in Amerika zum Teil politisch rechtliche Bedeutung. Jedenfalls
zeigt diese Übersicht, wie groß und vielartig diese Rassenkreuzungen
waren und sind.
Gegenüber den genannten Kreuzungsgebieten sei aber nun
besonders betont, daß umgekehrt große Rassengebiete von
Kreuzungen einander ferner stehender Rassen so gut wie frei
geblieben sind; es sei auf weite Gebiete Zentral- und Ostasiens,
Zentral- und Westafrikas, vor allem aber Nordwest- und
Zentraleuropas hingewiesen. Das sind dann Stellen, von denen
umgekehrt Bevölkerungswellen ausgegangen sind, die ihrer-
seits ihr Blut zu anderen getragen haben. Was das für die Kul-
tur bedeutet, wird weiter unten erörtert. In diesen Gebieten
sind dagegen die Kreuzungen zwischen einander sehr viel näher
stehenden Rassen von besonderer Bedeutung. Ihr Grad hängt
großenteils ab von der Expansionskraft einzelner Rassen. Es
sei z. B. daran erinnert, wie die nordische Rasse in einer lan-
gen Reihe von Schüben ganz Europa und außereuropäische
Bezirke besiedelt und dort ihr Blut mit den anderen europäi-
schen Rassen, der mediterranen, alpinen usw. gekreuzt hat; sie
ist die Rasse Europas mit der weitaus stärksten Expansions-
kraft.
Grundsätzlich sehen wir Kreuzung in diesem engeren Sinne
im eigenen Volk täglich vor unseren Augen. Das Durchein-
ander von blond und dunkel, schmal- und breitnasig, klein
und groß, usw. deutet nicht nur als solches auf umfangreich
weitergehende Rassenkreuzung hin, sondern kann auch histo-
risch als solche erwiesen werden. Es muß liier offen gesagt
werden, daß wir die Erforschung dieses naturwissenschaftlich
BAST ARDFRUCHTBARKEIT.
291
wie für Kultur und Geistesleben unendlich wichtigen Vorgan-
ges noch nicht annähernd in dem Umfang auch nur angefan-
gen haben, den sie wirklich verdient. Auch diejenige Kreuzung,
die uns hier in Europa heute am meisten interessiert, die mit
Juden, ist nach ihrer erbbiologischen Seite noch nicht nennens-
wert Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit geworden. Wir ha-
ben z.B. im Jahre 1923 nach Markuse 2004 christlich
jüdische Mischehen in Deutschland gehabt, worunter natürlich
nur die gezählt sind, bei denen zweierlei religöses Bekenntnis
angegeben wurde. Alle, bei denen der eine Teil zur Religion
des anderen übertrat, kamen nicht in diese Zählung. Seitdem
sind, vor allen Stücken rassenmäßig betrachtet, noch ganz
andere Zahlen solcher Mischehen Wirklichkeit geworden. Und
außer den paar Beobachtungen von Leicher (a. a. O.) über
die Vererbung der Nase und einigen noch kleineren solchen
von anderen Seiten (Salaman) haben wir keine erbbiologi-
schen Einzeluntersuchungen über diesen Kreuzungsvorgang 1 ).
Es muß hier die dringliche Forderung ausgesprochen werden,
daß über sämtliche Rassenkreuzungen, die sich vor unseren
Augen vollziehen, gründliche Beobachtungen in ganz großem
Maße durchgeführt werden 2 ). Das Ergebnis, fast muß man
heute bei manchen erst sagen das Ziel der Bastarduntersuchung
ist eine Darstellung der Biologie der Bastarde, deren Grund-
züge im folgenden kurz gezeichnet sind.
bb) Biologie der Bastardbevölkerung
Die Fruchtbarkeit
Es steht wohl fest, daß alle Rassen untereinander unbe-
schränkt und unvermindert fruchtbar sind. Über Durchschnitts-
zahlen von rassenungleichen Paaren gibt es nur wenige, die
sozialen und andere Einflüsse ausschließende, einwandfreie
Angaben. Buren-Hottentotten-Mischung hat y,y Kinder auf
die Ehe im Durchschnitt (Fischer). — Weiter steht wohl
fest, daß alle Mischlinge mit ihren beiden elterlichen und mit
beliebigen anderen Rassen fruchtbar sind. Es gibt Mischlinge,
die drei und vier stark voneinander abweichende Ahnenrassen
haben, z. B. Neger-Europäer-Indianer (Amerika) oder Polyne-
sier-Europäer-Chinesen (Hawai) oder Europäer-Neger-Mikro-
!) Über das Aussehen von Mischlingen sind gute Angaben bei Gün-
ther, Rassenkunde des jüdischen Volkes u. a.
2 ) Fische r. Fragebogen über Rassenkreuzung beim Menschen. Boll.
del Comit. internaz. per l'unific. dei metodi etc. (S.A. S.) I. Bologna 1934.
292 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
nesier- Japaner (Bonin-Inseln) (Taf. 13, Abb. 73, 74; Taf. 12,
Abb. 67, 68). Auch auf die Dauer zeigen Bastards, ingezüchtet,
in manchen Fällen sicher keine Beeinträchtigung der Frucht-
barkeit, dagegen ist vielleicht in anderen Fällen, z. B. Nord-
europäer-Neger-Mischung, auf die Dauer Minderfruchtbarkeit
eingetreten (Wie th- Knudsen, Fehlinge r u. a. vgl. bei
Fischer, Rehobother Bastards und Scheidt, Allgemeine
Rassenkundc) . Hier fehlen Untersuchungen, die soziale und
klimatische Einwirkungen von den biologischen Erscheinungen
trennen.
Diese ganze Erscheinung der Fruchtbarkeit darf zweifel-
los für die Frage der Abstammung und Einheitlichkeit der
Menschheit verwertet werden. Sie spricht dafür, daß die
Menschheit nachträglich in Rassen zerfallen ist, nicht aber aus
verschiedenen tierischen Wurzeln mehrfach entstanden.
Das Geschlechts Verhältnis von Bastardgeburten ist bei den
südafrikanischen Bastards nicht abweichend von dem gewöhn-
lichen (Fischer), genauere Angaben über andere Fälle fehlen.
Das Erscheinungsbild
Das Ergebnis der Kreuzung zweier Rassen ist das Auf-
spalten der Eigenschaften. Wir kennen keine Ausnahme von
den Mendelschen Gesetzen. Man kann also für alle Eigenschaf-
ten in den verschiedenen Kreuzungen dominanten oder rezes-
siven oder intermediären Erbgang feststellen. In sehr vielen
Fällen handelt es sich um Allelenreihen (s. Haar, Blutgruppen,
Körpergröße usw.). Davon ist dann das Aussehen einer be-
stimmten Bastardbevölkerung abhängig. (Ich sehe dabei einst-
weilen von Ausleseverhältnissen ab.) Diese Erkenntnisse lassen
uns ältere Vorstellungen als irrig ablehnen. Sog. Präpotenz
einer Rasse als solcher, wie man etwa früher dachte, einer
kräftigen, wilden Urrasse gegenüber dem kultivierten Euro-
päer, gibt es nicht. Eine besondere Durchschlagskraft einer
Rasse als solcher gibt es ebenfalls nicht. Aber trotzdem wird
nach der Kreuzung bestimmter Rassen in den Nachkommen
etwa die eine mit ihren Eigenschaften stärker und häufiger in
die Erscheinung treten als die andere. Das hängt ab von der
Verteilung der ihrem Erbgang nach dominanten Eigenschaften
auf che beiden Elternrassen. Bei der Kreuzung von Europäern
mit Negern vererben sich Haar form, starke Pigmentierung,
Lippenform, Form der Backenknochen und einige andere Dinge
der Negerrasse dominant. Infolgedessen treten diese Eigen-
ERSCHEINUNGSBILD VON MISCHLINGEN.
293
schaften in der ersten Bastardsgeneration allein herrschend
und in den folgenden zahlenmäßig die Gegenteile überwiegend
in die Erscheinung (s. Taf. 9, Abb. 53 und 10, Abb. 55—60).
Daher die Behauptung, die Negerrasse schlage stärker durch.
Die Erbgesetze lehren uns also hier den wahren Sachverhalt.
Als weiteres Beispiel in genau demselben Sinn sei auf die Kreu-
zung von Juden in Mittel- und Nordeuropa hingewiesen, wo die
Dominanz der vorderasiatisch-orientalischen Nase, des sehr
dunklen Flaares und einer Reihe physiognomischer Eigenschaf-
ten, alle diese Merkmale in den späteren Mischlingsgeneratio-
nen so auffällig in die Erscheinung treten lassen; auch in Kreu-
zung mit Neger und Mongolen ist das der Fall (s. Taf. 9, Abb.
53 und 54).
Das Aufspalten der einzelnen Eigenschaften aus den Ba-
starden bedingt also dann eine recht große Vielgestaltigkeit
der späteren Generationen. Die von der einzelnen Elternrasse
kommenden Eigenschaften haben keinen festeren gegenseiti-
gen Zusammenhalt als die gekreuzten. Die Eigenschaften erben
völlig unabhängig voneinander. Bei wirklicher, völliger Durch-
kreuzung einer Bastardbevölkerung (also ohne Auslesevor-
gänge) muß sich eine Verteilung der einzelnen Erbanlagen
nach Dominanz und Rezessivität nach dem Mendelschen Zah-
lenverhältnis herausstellen. Die Verteilung auf die Einzelindivi-
duen erfolgt nach der mathematischen Wahrscheinlichkeit.
Darnach treten die zahllosen einzelnen Kombinationen in be-
stimmten Mengenverhältnissen auf (s. z. B. Taf. ro, Abb. 55
bis 60 und Taf. 11, Abb. 61—66). Das Erscheinungsbild einer
Bastardbevölkerung ist also ein sehr buntes. Es ist hier natür-
lich unmöglich, die Ergebnisse der verschiedensten Arten von
Rassekreuzungen auch nur andeutungsweise zu schildern. Es
kann nur auf einiges Grundsätzliche hingewiesen werden.
Die F 1 -Generation kann verhältnismäßig einheitlich sein.
Bei allen Individuen dieser Generation treten natürlich die
dominanten Eigenschaften der beiden Elternrassen einheitlich
auf. In einzelnen Fällen beherrschen sie fast ausschließlich das
Bild, was dann eine äußerliche Einheitlichkeit bedingt. (Aber
nur für diese Generation !) In den meisten Fällen aber handelt
es sich nicht um reine Dominanz im Erbgang, sondern um
multiple Allelie. Auch einfach' intermediäre Vererbung kommt in
Betracht. Dann wird schon die F 1 -Generation im Erscheinungs-
bild ungleichmäßig. So zeigen die echten Mulatten, also Misch-
linge ersten Grades von Weißen und Negern, einheitlich das
294 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
dominant sich vererbende Kraushaar, im allgemeinen gleich-
mäßig braune Haut (die höheren [je über die folgenden do-
minanten] Stufen der Pigmentfaktoren) eine noch als negroid
zu bezeichnende Nasenform, dagegen eine Reihe von anderen
Eigenschaften der Physiognomie usw. stärker schwankend
(Taf. 10, Abb. 56). Sehr viel bunter aber wird das Bild in den
folgenden Generationen. Diese sind sich bei gleichmäßiger
Kreuzung und Ausschaltung aller Auslesevorgänge immer
gleich (s. Absch. 1). Die Buntheit dieses Erscheinungshildes
von F x - Bastarden ist vor allen Stücken dadurch bedingt, daß
sämtliche rezessiven Eigenschaften neben den intermediären
und dominanten theoretisch zu 250/0 in die Erscheinung treten.
Da nun etwa die rezessive Eigenschaft a, die bei 250/0 der
Individuen tatsächlich vorhanden ist, sich nicht bei denselben
Individuen befindet, die die rezessive Eigenschaft b tragen und
weiter die Eigenschaften c, d usw. immer wieder bei anderen
Individuen oder nur einzeln und zufällig einmal auch bei den-
selben auftreten, kann man sich die Vielgestaltigkeit des Bil-
des leicht vorstellen. Erst unter Millionen Individuen wird ein-
mal eines auftreten können, das, soweit übersehbar, ausschließ-
lich die Eigenschaften der einen Elternrasse wieder rein ver-
einigt. So kommt es, daß in einer solchen Bevölkerung auch
Bastarde gleicher Blutmischung, also gleichen Grades, selbst
Geschwister sehr ungleich aussehen (5. Taf. 12, Abb. 67 u. 68).
Tritt bei solcher Bastardierung ganz unregelmäßig auch
wieder Rückkreuzung von Bastarden mit bald der einen, bald
der anderen Elternrasse auf, wird das Erscheinungsbild noch
scheckiger. Und sind gar noch Einkreuzungen von mehr als
zwei Rassen zu verzeichnen, wechselt es noch stärker.
Die Erbgänge der einzelnen Eigenschaften können hier
nicht noch einmal gesondert verfolgt werden. Es sei auf ihre
einzelne frühere Behandlung verwiesen, vor allem aber auch
auf die Tafeln, insbesondere Tafel 10 bis 13. Hier sieht man an
den vorgeführten Beispielen vor allen Stücken die Mannigfal-
tigkeit von Bastarden späterer Generationen. Man kann aus
F -Bastarden bestimmter Rassen ohne weiteres Individuen in
Reihen stellen, die sozusagen ein Abklingen der Merkmale der
einen Elternrasse und bei einer anderen Reihe der anderen
Eltcrnrasse vor Augen führen. Man vergleiche z. B. Tafel 11.
Ebenso ist etwa an dem Beispiel Tafel 11, Abb. 62, Tafel 12,
Abb. 67 und Tafel 13, Abb. 73 und 74 das starke Auftreten
der elterlichen Rasse zu sehen, durch die eine Rückkreuzung
ERSCHEINUNGSBILD VON MISCHLINGEN.
295
erfolgt ist. Das Herausmendeln rezessiver Eigenschaften bei
einzelnen Individuen der Fx -Generation zeigt als Beispiel der
Somali, Tafel 12, Abb. 69, bei dem das eigentümlich wellige
Haar nach Kreuzung von schlicht und kraus wieder hervor-
getreten ist. Dieselbe Erscheinung zeigt Tafel n, Abb. 66,
ganz anderer Rassenherkunft.
Wie verschieden stark die einzelnen europiden Rassen (ein-
schließlich derer auf vorderasiatischem Boden) sich in Kreu-
zung mit der mongoliden in ihren einzelnen Eigenschaften im
Erscheinungsbild durchsetzen, zeigt sehr lehrhaft ein Vergleich
zwischen der chinesisch-jüdischen Kreuzung (Tafel 11, Abb, 54)
und der chinesisch- englischen (Tafel 13, Abb. 76).
Die Dominanz des Negerhaares gegenüber schlichtem
Europäerhaar wird in zahlreichen Fallen deutlich, so z. B.
Tafel 10, Abb. 60, erwartungsgemäß nach dem übrigen Er-
scheinungsbild noch mehr Tafel r o, Abb . 5 7 und 58. D er
Knabe, Abb. 56 derselben Tafel, hat sein Kraushaar künst-
lich etwas gestreckt.) Auch in der Mehrfachkreuzung von
Inder, Europäer und Neger, Tafel 12, Abb. 67 und 68, zeigt
sich die Dominanz dieser Haarform, und zwar bei den beiden
Brüdern offensichtlich genetisch ungleich (wohl heterozygot
und homozygot).
Von Erscheinungen der Rassenkreuzung innerhalb der
Rassen Europas zeigen die Typentafeln nur sehr wenig, weil
die Typen eigens nach Individuen ausgesucht sind, die je mög-
lichst viele Erbeigenschaften einer einzigen Rasse zeigen, der-
jenigen, che sie eben bezeichnend darstellen sollen. Immerhin
ließen sich einzelne Fälle mit Verbindung eines oder des an-
deren Rassemerkmals einer anderen als der für die Darstel-
lung gewünschten Rasse nicht ganz vermeiden. Es sei auf
Tafel 2, Abb. 3, verwiesen, wo die Form des Nasenrückens
entweder dinarische Rasse oder eine in der betreffenden Erb-
linie weitergegebene Mutation der nordischen Nasenform an-
zeigt. Auf derselben Tafel hat der junge Mann, Abb. n, eine
Haarfarbe, die am wahrscheinlichsten alpiner Rassenherkunft
ist. Auf mehreren anderen Abbildungen sind ähnliche Dinge
festzustellen und in deren Unterschrift angedeutet. Es sei aber
auch auf die zahllosen Abbildungen von Rassetypen verwiesen,
die sich in den verschiedensten Rassewerken befinden, Gün-
ther, v. Eickstedt u. a., wo fast immer der Verfasser
einzelne Züge verschiedener Rassenherkunft innerhalb der euro-
päischen Rassen vermuten muß. Das zeigt eben die ungeheuer
296 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
VERTEILUNG VON ERBANLAGEN.
297
starke Durchkreuzung der europäischen Rassen innerhalb der
einzelnen Bevölkerungsgruppen. Die Erkennung der rassischen
Herkunft ist wirklich nicht immer leicht. Selbstverständlich ist
die Schwierigkeit einer Diagnose bei Mischlingen aus Rassen,
deren jede eine größere Anzahl der der anderen fe Menden Gene
besitzt, also einander fernstehender Rassen, im Erscheinungs-
bild sehr viel leichter als bei einander nahestehenden Rassen.
Es sei noch einmal auf die Abbildungen verwiesen und hierbei
noch besonders betont, daß es sich bei dem rassischen Auf-
bau der europäischen Volker nicht um eine regelmäßige F x -
Bevölkerung handelt. Wie eine solche aussehen würde, und
zwar unter der Voraussetzung, daß keinerlei Auslesevorgang
eingegriffen hat, und daß keine Zufuhr von Blut der einen
Rasse nachträglich dazu gekommen ist, das schildert an Bei-
spielen aus dem Tierreich der Abschnitt 3, S. 81. Bei der
Bevölkerung der europäischen Staaten sind
aber diese Voraussetzungen nicht gegeben. We-
der ist die Kreuzung je eine gleichmäßige gewesen, noch sind
Auslese und Siebungsvorgänge unbeteiligt. So kommt es,
daß in manchen Bevölkerungsteilen eine sehr starke Durch-
kreuzung von nordisch, ostbaltisch, alpin, dinarisch vorliegt,
so daß man ein ungeheuer buntes Bild der Einzelindividuen er-
blickt. In anderen Teilen der Bevölkerung aber besteht der
Hauptsache nach noch ein starker Kern einer bestimmten
Rasse, etwa der nordischen, z. B. in gewisser fest ansässiger
Bauernschaft, und die Eigenschaften der anderen genannten
Rassen kommen einzeln und ausgestreut, die einen an diesem,
die anderen an jenem Individuum zum Vorschein. Daß eine
zielbewußte Bevölkerungspolitik den Bestand solcher Rasse
heben, diese also gegenüber den anderen vermehren könnte —
züchten — scheint mir zweifellos; selbstverständlich nicht ein-
fach nach einzelnen äußerlichen Merkmalen, sondern aus den
alten Beständen heraus (5. Anm. S. 269).
Über die Zahl und Verteilung jener Erbanlagen macht man sich zu-
meist ein durchaus falsches Bild. Es muß leider auch gesagt werden, daß
die vielfach in jüngster Zeit erschienenen Rassenkarten nicht geeignet sind,
das Bild richtig zu stellen. Wohl bilden sie ein nicht unwichtiges Mittel
zur Verliefung der allgemeinen Kenntnisse vom Vorhandensein der Rassen
und ihrer Hauptbeteiligung an den Völkern. Aber alle Farbgrenzen, auch
wenn die Farben strichweise weiter gezogen sind, erwecken viel zu sehr die
Vorstellung von irgendwie im Raum verlaufenden wirklichen Grenzen. Solche
Grenzen etwa innerhalb des deutschen Volkes gibt es nicht. Es gibt nur
Landstriche und größere oder kleinere Räume, wo Erblinien mit bestimmten
Rasseneigenschaften in erdrückender Masse beieinander sitzen, andere, wo
sie weniger häufig, aber Immer noch in der Mehrzahl der Bevölkerung und
andere, wo sie seltener oder endlich nur noch ganz vereinzelt anzutreffen
sind. Das laßt sich in Kartenform vollkommen richtig überhaupt nicht dar-
stellen 1 ).
Um ein Beispiel der verwickelten Verhältnisse zu geben,
sei auf folgende Verteilung einiger Erbanlagen in Deutschland
und Europa hingewiesen. Innerhalb Deutschlands sind be-
kanntlich die meisten Blonden im Norden und Nordwesten.
Nach der Vir cho w sehen Schulkinderuntersuchung (der Ein-
fluß des Nachdunkeins ist berücksichtigt) sind die meisten
Blonden in Friesland und Oldenburg, dann Pommern, Meck-
lenburg, Braunschweig, Hannover. Die geringste Zahl Blonder
ist in Ostbayern und im Oberelsaß. So hat z. B. das Amt Wil-
deshausen in Oldenburg rund 50 0/0 rein Blonder und Roding in
der Bayrischen Oberpfalz nur 90/0 rein Blonder. Und umge-
kehrt hat dasselbe Wildeshausen nur 40/0 Schwarzbraune,
Schlettstadt im Oberelsaß deren 3i (| /o. Aber man hat sich noch
selten klar gemacht, daß, wenn in Roding 90/0 Blondheit hn
Erscheinungsbild vorhanden ist, dann nach einer bekannten
Berechnung bei 470/0 der Bevölkerung rein blonde Erban-
lagen verborgen vorhanden sind 2 ). Dagegen stellen die 31%
Schwarzbraun in Schlettstadt alle solchen Erbanlagen restlos
dar, verborgene gibt es nicht noch daneben. Dagegen stecken
in den 69 übrigen Prozenten dieses Bezirkes, unter denen ver-
mutlich nur ein kleiner Hundertsatz wirklich Blonder ist, eine
ganz große Zahl verborgener blonder Erbanlagen unter den
Hellbraunen, Mittelbraunen und einem Teil jener 31 0/0 Schwarz-
brauner. Erblinien für blond sind es also außerordentlich viel
mehr, als eine einfache Auszählung der Haarfarben uns zu-
nächst zu zeigen scheint. Noch ein Beispiel aus Baden (aus
Animo ns Werk) soll die Verhältnisse beleuchten. Während
es unter den badischen Wehrpflichtigen 43 0/0 Blonde, 39 0/0
: ) Die zweite Auflage dieses Buches brachte wohl einen der ersten Ver-
suche einer solchen Rassenkarte. Heute, wo uns der unerhört verwickelte
Aufbau des Erbgutes eines ganzen Volkes noch klarer geworden ist, möchten
wir vorläufig auf eine Karte ganz verzichten. Wohl aber läßt sich sehr gut
die verschiedene Häufigkeit der einzelnen Merkmale auf Karten wieder-
geben, wie es die Denikerschen Karten für den Schädelindex, die Körper-
größe usw. taten. Solche, auf genauen Aufnahmen beruhende Karten sollten
wir für möglichst viele Merkmale haben.
2 ) Dabei wird einmal Blond einfach als rezessiver Faktor aufgefaßt;
— in Wirklichkeit sind die Verhältnisse viel verwickelter, die Zahl der ver-
borgenen Anlagen noch viel größer.
298 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
VERTEILUNG VON ERBANLAGEN.
299
Braune und 180/0 Schwarzbraune gab, kamen rein helle Ge-
samttypen, also die Verbindung von blondem Haar, rosiger
Haut und ganz hellen Augen, nur bei 25 0/0 und rein dunkle Ge-
samttypen nur bei 2°/ vor. Auch hier kann man die Ziffern
nur richtig würdigen, wenn man sich überlegt, daß unter den
genannten 39 o/ Braunen und 180/0 Schwarzbraunen eine ganz
große Zahl verborgener Blondanlagen .heterozygot vorhanden
sein müssen. Die Hundert satzzahlen der genannten reinen
Typen zeigen ein ungeheures Abweichen von dem Zahlenver-
hältnis, das eintreten würde, wenn Helle und Dunkle in glei-
cher Anzahl in die ursprüngliche Kreuzung bei Bildung des
Volkes eingetreten wären. Dann müßten die rein dunklen
Typen die hellen ganz erheblich an Zahl übertreffen, helle
würden es weniger sein, sogar als es jetzt dunkle sind. Die nor-
dischen Erblinien sind also auch hier in der Südwestecke des
Reichs noch in gewaltiger Überzahl in der Bevölkerung. Die
in vielen Schriften zutage tretende Vorstellung (auch auf
Rassekarten vielfach vorhanden) von dem sehr starken Ge-
schwundensein und Fehlen der nordischen Rassenanlagen in
Süddeutschland bedarf einer sehr starken Verbesserung. Sie
dürfte verursacht sein durch das ebenfalls auf manchen Kar-
ten, z. B. Indexkarte, gezeichnete Bild von der Verteilung lan-
ger und runder Schädel. Die Vorstellungen von der Verteilung
des Schädelindex, der, als auf exakter Messung beruhend, den
Eindruck besonderer Wissenschaf tlichkeit in weiten Kreisen
hervorruft, beeinflußten unser Vorstellungsbild von der Ver-
breitung der nordischen Erbanlagen in Deutschland beson-
ders stark und ganz gewiß falsch. Von keinem Erscheinungs-
bild eines Merkmals wissen wir über Erb- und Umweltanteil
so wenig wie gerade von der Schädelform. Hatten war statt
Karten der Verbreitung des Schädelindex in Deutschland
solche von der Verbreitung der Nasenformen, der Gesichts-
form, der hellen Farben 1 ), würden die landläufigen Vorstel-
lungen von der Mächtigkeit des Vorhandenseins nordrassischer
Erblinien in unserem Volle sehr viel besser der Wirklichkeit
entsprechen.
Endlich sei noch auf ein Beispiel der Verteilung der Erb-
linien außerhalb Deutschlands hingewiesen. Wie ich einer älte-
ren, aber im ganzen noch völlig zutreffenden Statistik ent-
L ) W. Abel hat in seiner Lichtbildrcihe (Nat. Werbedienst, Reihe 29.
Berlin 1935) erstmals eine Karte der Verteilung des hellen Typus in Mit-
teleuropa nach Virchows Erhebung gebracht.
nehme, gibt es in Skandinavien rund nur 0,8 o/ Schwarzbraune,
220/0 Braune und 770/0 Blonde. Umgekehrt sind in Süditalien
80/0 und in Portugal 20/0 Blonde. Man muß wiederum stark
betonen, wieviele verborgene Blondanlagen bei diesen Zahlen-
verhältnisscn des Erscheinungsbildes für Blond vorhanden sein
müssen. Aber auch der Block der Schwarzbraunen ist in Süd-
italien nur noch in 310/0, in Portugal in 200/0 erhalten. Die
übrigen (61 o/ bzw. 780/0) sind Braune. Das Vorkommen von
Erblinien für Blond ist also bis Süditalien und Portugal hin-
unter unendlich viel häufiger als das für Schwarzbraun im
Norden. Dasselbe gilt für Augenfarbe und Hautfarbe. Wenn
man im „dunkelsten Italien", der Provinz Kalabrien, noch 25 0/0
Colorito roseo, also helle Haut findet, läßt das ahnen, wie-
viele Erbanlagen für hell hier in die Gesamtbevölkerung Süd-
europas gebracht worden sind.
Die Beispiele sollen nur einprägsam zeigen, daß eine ein-
fache Beschreibung und Statistik uns die wirklichen Verhält-
nisse der rassenmäßigen Erbanlagen nicht erschließen.
Noch einige allgemeine Bemerkungen lassen sich hier bei-
fügen. Man kann also bald hier, bald dort die einzelne Rassen-
eigenschaft als solche feststellen, d. h. man kann etwa Neger-
haar als solches ansprechen und den Schluß ziehen, daß unter
den Ahnen des betreffenden Individuums einmal ein Neger
war. Oder man wird blondes PI aar an einem Individuum mit
Recht zurückführen dürfen auf Erblinien aus den Blondrassen
Europas. Man darf dabei aber nicht vergessen, daß wir in einer
rassengekreuzten Bevölkerung (jetzt bloß die europäischen Ras-
sen berücksichtigend) nur für einige wenige Merkmale des Er-
scheinungsbildes die Herkunft von bestimmter Rassenscite an-
geben können. Was das betreffende Individuum an rezessiven
Ras5eneigen5C.haften besitzt, können wir überhaupt nicht fest-
stellen, und ebensowenig sind wir in der Lage, zahlreiche auch
im Erscheinungsbild hervortretende Einzelheiten, z. B. manche
physiognomische, manche des Wuchses und der Maß verhältnisse
usw. rassenmäßig nach ihrer Herkunft zu unterscheiden. Diese
Lücken in unseren Diagnosemöglichkeiten werden heute sehr
vielfach vollkommen verkannt. Man ist auf Grund zweier oder
dreier auffälliger Merkmale sehr häufig mit einer Rassendia-
gnose fertig, in anderen Fällen mit der Diagnose eines Ein-
schlages der einen oder anderen weiteren Rasse. Es muß in
diesem Zusammenhang noch mit allem Nachdruck darauf hin-
gewiesen werden, daß, wie an mehreren Stellen schon aufge-
300 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
führt. (S. 293), die Eigenschaften unabhängig voneinander im
Erbgang übertragen sind. Man kann also vom Vorhandensein
einer Erbeigenschaft, die wir einer bestimmten Rassenherkunft
zuschreiben dürfen, z. B. Blondhaar, nicht darauf schließen,
daß dieses Individuum irgendweiche anderen Erbeigenschaften
derselben Rassenherkunft haben muß. Besondere Wichtigkeit
erhält dieser Hinweis bezüglich der geistigen Eigenschaften.
Ein blondhaariges Individuum kann auf geistigem Gebiet ganz
erheblich weniger Erbanlagen von der nordischen Rasse haben
als ein schwarzhaariges. (Dieses kann ja außerdem wenigstens
von einer Seite her eine Blondanlage rezessiv besitzen.) Selbst-
verständlich können wir bei einem Individuum, das sehr viele
körperliche Erbeigenschaften nordischer Rassenherkunft erken-
nen läßt, mit viel größerer Wahrscheinlichkeit auch das Vor-
handensein von solchen gleicher Herkunft auf geistigem Ge-
biet vermuten, und für eine große Anzahl von derartigen In-
dividuen wird im Durchschnitt die Vermutung richtig sein.
Aber, wie gesagt, der einzelne Fall oder gar nur das eine oder
andere körperliche Merkmal erlauben schlechterdings keinen
Schluß. Gegen diese Erkenntnis wird sehr viel gesündigt.
Nur angedeutet sei endlich, daß bei den vielfachen Ras-
sendiagnosen aus einigen wenigen Eigenschaften des Erschei-
nungsbildes in diesem eine große Anzahl Erbeigenschaften und
Umweltwirkungen völlig verkannt oder übersehen werden, die
mit Rasse nichts zu tun haben, Wirkungen geringerer oder
größerer Störungen des inneren Drüsenapparates (der das
Wachstum regelt), Umweltwirkungen auf Wachstums- und Reife-
vorgänge, zahlreiche individuelle Besonderheiten erblicher Art,
was alles höchstens der auf diesem Gebiet erfahrene Forscher
analysieren kann. Und gerade dieser wird bei vielen Punkten
die Grenzen seines Wissens enge sehen.
Bei der ungeheuren praktischen Bedeutung der Erschei-
nung der Kreuzungen in einem Volk ist es nötig, noch einige
Ausführungen anzufügen über jene Fälle von Kreuzung, bei
denen nicht gleiche Anteile zweier Elternrassen und dann
gleichmäßige Weiterkreuzung der Bastarde und die Entste-
hung eines richtigen Bastardvolkes in Betracht kommen, sondern
einmalige oder auch von Zeit zu Zeit immer einmal sich wie-
derholende, bald geringere, bald größere, gelegentliche Ein-
kreuzung einzelner rassefremder Individuen in eine rassen-
mäßig geschlossene Bevölkerung. Das wären also die Fälle,
daß einzelne Neger in ein europäisches Volk eingekreuzt wer-
VERTEILUNG VON ERBANLAGEN.
301
den oder ein Europäer etwa in das japanische Volle oder Juden
in die europäischen Völker und viele andere. Biologisch wirken
natürlich dieselben Gesetze wie bei der Kreuzung im großen.
Beim Mischung ersten Grades zeigen sich, wie oben erwähnt,
die dominanten oder auch intermediären Eigenschaften. Die
nächste Generation aber entsteht nun aus Rückkreuzung mit
der einen Elternrasse und die folgenden immer wieder ebenso
mit derselben. Beim Urenkel sind es also 7 Urgroßeltern der
betreffenden einheimischen und 1 Urgroßelterntcil der frem-
den Rasse. Man spricht sowohl in der Tierzucht wie häufig
auch beim Menschen von 1 / S; 7 lß , i/ 32 usw. „Blut". Erbbio-
logisch heißt das aber nicht, daß ein solcher Urenkel von
jeder einzelnen Eigenschaft jedes seiner Großeltern je 1 / 8 An-
teil besitzt sondern von allen Eigenschaften zusammenge-
nommen, durchschnittlich Vs- Durch das Spalten und die
gegenseitige Unabhängigkeit der Erbanlagen teilen sich diese
ganz verschieden auf. Man wird von jedem seiner Urgroßeltern
entsprechendes Erbe besitzen, aber es können bcispielshalber
die sichtbaren sog. Rasseneigenschaften, etwa Haarfarbe, Na-
senform, Körpergröße, physiognomische Einzelheiten ganz von
diesem oder jenem und gar nicht von einem anderen aus
der Urgroß- oder weiteren Ahnenreihe stammen. Das gilt auch
für die geistigen Eigenschaften. Nach Kreuzung mit Juden
kann daher ein Ururenkel von dem einen jüdischen Ahnen ge-
rade von den Eigenschaften, die wir an Leib und Seele erken-
nen können, zufällig viele oder verschwindend wenige haben.
Eine Berechnung nach Bruchteilen ist dabei für die einzelnen
Eigenschaften unmöglich. Er wird außerdem welche haben, die
wir nicht erkennen, oder die uns belanglos erscheinen. Und end-
lich werden noch von allen oder einzelnen dieser Ahnen her rezes-
sive Anlagen da sein, die also am Träger überhaupt nicht in
die Erscheinung treten können, die aber im Erbe weitergetra-
gen werden. Diese letztere Tatsache erklärt es, daß nach Gene-
rationen einmal wieder fremde Rasseneigenschaften auftreten,
wenn in zurückliegender Zeit eine solche fremde Einkreuzung
stattgefunden hat. Es trafen sich dann zufällig zwei Träger
dieser selben, etwa in der Gesamtbevölkerung nur ganz selte-
nen, rezessiven, fremdrassigen Erbanlagen. Am seltensten tritt
ein solches Merkmal in das Erscheinungsbild, wenn zu seiner
Manifestation zwei oder mehr Faktoren zusammenwirken müs-
sen, so daß die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich aus verschie-
denen Erblinien treffen, besonders gering wird. Auf dem Zu-
302 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
sammen treffen seltener, rezessiver Erbanlagen beruht also dann
das plötzliche und scheinbar unvererbte Auftreten gewisser
negrider oder vorderasiatisch-orientalischer (jüdischer) Eigen-
schaften. Genau wie bei krankhaften rezessiven Eigenschaften
wird auch bei solchen sog. rassenmäßigen die Wahrscheinlich-
keit des Zusammentreffens in Inzuchtskreisen größer. Wenn
einzelne Fälle von Einkreuzung einer fremden Rasse sich un-
gefähr gleichmäßig über ein Millionenvolk verteilen, wird
selbstverständlich die Wahrscheinlichkeit, daß sich nach eini-
gen Generationen Erblinien mit den gleichen fremden Erb-
anlagen treffen, sehr viel geringer sein, als wenn eine Anzahl
solcher Kreuzungen in einer bestimmten sozialen Schicht und
an bestimmten Orten (z.B. bestimmten Städten) stattfindet. Das
ist von wesentlicher Bedeutung für die Beurteilung der Ein-
kreuzung von Juden und anderen fremden Rassen. Wie gesagt,
gilt das Angeführte auch für die Erbanlagen unserer geistigen
Eigenschaften. Und hier wird bei verhältnismäßiger Beschrän-
kung der Einkreuzung auf bestimmte, etwa führende soziale
Schichten die Wirkung auf deren geistige Leistung und gei-
stige Richtung eine verhältnismäßig sehr starke sein können.
Diese für eine nationale Bevölkerungspolitik jeder Nation
wichtige Tatsache sei hier schon betont, ich komme S. 319
darauf zurück. Die genauere Darstellung der Vererbung gei-
stiger Eigenschaften ist Abschnitt 5 vorbehalten.
Sogenanntes Luxurieren
Es ist unsicher, ob die Erscheinung des Luxurierens über-
haupt beim Menschen vorkommt. Es gibt bei Pflanzen und
vielleicht auch bei der Kreuzung von Tierarten Fälle, wo
Wuchs und Gedeihen von Bastarden über die betreffenden
Eigenschaften beider Elternrassen mehr oder anders hinaus-
gehen, als es die sich kreuzenden Anlagen der betreffenden
Eigenschaften nach unseren Kenntnissen bedingen würden. Ob
aber bei eigentlichen Rassekreuzungen an Säugetieren eine
solche Erscheinung auftritt, scheint sehr zweifelhaft. Auch für
den Menschen ist sie kcinenfalls festgestellt. Ich selbst habe
in meinem Bastardbuch die Erscheinung, daß bei den südwest-
afrikanischen Bastards die Körpergröße, teilweise wohl auch
Kräftigkeit und Fülle des Körperbaues im Durchschnitt beide
Stammrassen übertreffen, als Luxurieren bezeichnet. Die viel
früher angestellte Beobachtung von Boas, daß europäisch-
indianisches Halbblut an Körpergröße beide Elternrassen über-
SOGENANNTES LUXURIEREN.
303
traf, habe ich als Stütze beigezogen. Selbstverständlich wird
man diese Erscheinung nicht bei Rassenkreuzungen anderer
Rassen auch ohne weiteres erwarten dürfen, sie hängt eben,
soweit genetisch bedingt, von der Natur der sich kreuzenden
Genkombinationen ab. So fand Davenport ein Überschrei-
ten der elterlichen Körpergröße bei manchen Gruppen von
Mulatten auf Jamaika. Dagegen konnte umgekehrt R Oden-
wald t den Nachweis erbringen, daß die Mestizen auf Kisar
(Europäer-Malaien-Bastarde) kleiner und von grazilerem Kör-
perbau sind als beide Elternrassen. Ich nannte diese Erschei-
nung im Gegensatz zur ersteren Paupcrieren. Aber vielleicht
sind alle beide Erscheinungen von ganz anderen Ursachen ab-
hängig. Mit Recht betont R Odenwald t die Schwierigkeit
der Beurteilung dieser Erscheinung, die Tatsache, daß wir nur
ganz selten die verschiedenartigsten Umweltwirkungen auf
Elternrassen und Bastarde einwandfrei beurteilen und in Rech-
nung stellen können. Ein wirklicher Nachweis von Luxurieren,
so wie er für zahlreiche Pflanzen, z. B. viele unserer schönsten
Gartenblumen erbracht ist, besteht also für den Men-
schen nicht 1 ) Bei diesser Sachlage bedarf es wohl keines
Wortes darüber, daß wir keinenfalls ein etwaiges sog, Luxu-
rieren irgendwelcher anderer Erbanlagen etwa physiologischer
oder gar psychologischer Art erwarten dürfen. Kern Kenner
auch nur der einfachsten erbbiologischen Tatsachen wird
das tun.
Im Anschluß daran sei erwähnt, daß auch andere Kör-
perteile bei Rassekreuzung in bestimmten Fällen die elterlichen
Größenmaße überschreiten. So beobachtete man bei Malaien-
Indier (Tamilen) - Mischlingen, ebenso bei Chinesen -Malaien-,
bei Indianer-Europäer- und bei Europäer-Hottentotten-Misch-
lingen eine deutliche, oft sogar recht starke Verlängerung des
Gesichtes. Die Mischlinge sind häufig lang- und schm algesich-
tiger als beide Elternrassen. Man will Ähnliches in Europa bei
der Kreuzung von Nordeuropäern mit Südeuropäern, mit Zi-
geunern und mit Lappen und auch bei Kreuzung jener mit
Juden beobachtet haben. Für all diese Behauptungen fehlt
noch ein einwandfreies, mit zuverlässigen Ziffern belegtes um-
fangreiches Material. Die Erscheinung ist interessant genug,
sie sollte gründlich geprüft werden. Einstweilen muß man hier
gleichfalls an die oben genannten Spaltungsvorgänge denken,
] ) Wie ich schon in der Genanalyse sagte (1930).
304 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
vielleicht auch an hormonale Störungen; auch an unmittelbare
Umweltwirkungen auf in neue Umwelt versetzte Einzelindivi-
duen ist zu denken.
Sogenannte Disharmonien
Während alles etwaige Luxurieren uns praktisch über-
haupt wenig interessiert, sind eine Reihe von Erscheinungen,
die man mangels genauerer Einzelkenntnisse wohl oder übel
gelegentlich als Pauperieren (Fischer) bezeichnet hat, von
sehr großer, allgemeiner und praktischer Bedeutung. Es han-
delt sich um die Frage, ob Kreuzung zweier Rassen, vielleicht
am stärksten, Kreuzung einander sehr ferne stehender Rassen
oder vielleicht Kreuzung zweier irgendwie besonders „schlecht"
zueinander passender Rassen als solche eine Schädigung,
Schwäche, Hinfälligkeit oder Widerstandsunfähigkeit der Misch-
ling'e erzeugen können. Man spricht dann von deren Disharmo-
nie auf körperlichem und geistigem Gebiet. Hierher zu rech-
nende Erscheinungen wurden schon vor langen Jahren be-
obachtet.
Tillinghast wies z. B. darauf hin, daß Mulatten im
Sezessionskrieg weniger leistungs- und gegen Blutverluste und
Krankheiten weniger widerstandsfähig waren als die reinen
Rassen. Dabei soll der Blendling von Engländern (Nordische
Rasse) und Negerin (z. B. in Jamaika) hinfälliger sein als der
von Spaniern oder Portugiesen (mediterrane Rasse) mit der-
selben Negerin (etwa in Haiti, Kuba, Portoriko). Lund-
borg 1 ) undM j o een 2 ) haben auf die Schwächung von Misch-
lingen zwischen Lappen und Schweden-Norwegern aufmerk-
sam gemacht. Mjoeen 2 ) versucht, die Erscheinung auf fal-
sches Zusammenwirken der auf rassenverschiedenen Erban-
lagen entstandenen, innersekretorischen D rüsen zurückzuführen.
Er findet gehäuftes Vorkommen von Diabetes bei solchen Ba-
starden etwa auf Grund von. Störungen der Pankreas anlagen.
Er und Lundborg glauben auch eine geringere Wider-
standsfähigkeit dieser Mischlinge gegen Tuberkulose gegen-
über beiden Elternrassen bemerkt zuhaben. Mjoeen 2 ) zeigt
!) Lundborg. Hereditas Bd. 2. 1921 und Rassenmischung. Bibl.
genet. 8. 193 1.
2 ) M j o e e n. Harmonische und unharmonische Kreuzungen. Zeit. Ethn.
52. 1921.
Derselbe. Rassenmischung beim Menschen. C. R. III Sess. Inst., intern.
d'Anthr. Amsterdam 1927.
Derselbe. Rassenkreuzung beim Menschen. Volk und Rasse. 4. 1929.
SOGENANNTE DISHARMONIEN.
305
weiter, daß die Lungenkapazität dieser Mischlinge geringer ist
als die beider Elternseiten. Auch Davenport 1 ) nimmt bei
manchen Kreuzungen Disharmonien an, etwa für Zähne und
Kiefer (s. auch S. 179). Er glaubt, ebenfalls hormonale Stö-
rungen annehmen zu müssen, z. B. „pituitary disturbance". Bei
allen derartigen Ausführungen bleiben aber große Zweifel be-
stehen. Das Material ist weder groß genug, noch von anderen
Seiten nachgeprüft, noch schließt es alle Fehlerquellen aus.
Aber keinenfalls kann man umgekehrt die betreffenden Erklä-
rungen als falsch erweisen. Viel schwieriger wird die Frage,
wenn es sich um die Kreuzung der einzelnen Erblinien inner-
halb der einzelnen europäischen Völker oder gar Gaue handelt.
Man hat schon daran gedacht, die größere Neigung zu Krebs
und anderen bösartigen Neubildungen, die Verbreitung man-
cher Stoffwechselstörungen, aber auch gröbere organische Stö-
rungen, zu geringe Herzgröße, Insuffizienz der Nieren oder
gar des Gehirns auf ein „Rassenchaos" zurückzuführen. Hilde-
brandt hat eine förmliche Theorie dafür aufgestellt. Alle diese
Dinge sind zum allermindesten völlig unbewiesen. Es ist sehr
leichtfertig, mit diesen Dingen etwa gar schon in der Praxis
arbeiten zu wollen, Aber sie 'seien hier erwähnt, um auf die Not-
wendigkeit einwandfreier und umfangreicher Beobachtungen
und Unterweisungen hinzudeuten.
Besonders wichtig ist auf diesem Gebiet die Frage der
Disharmonie geistiger Eigenschaften. In fast allen Kolonial-
ländern gelten Bastarde nach Charakter und wohl auch son-
stigen geistigen Anlagen für schlechter als beide Elternrassen.
Es ist kein Zweifel, daß sie es in vielen Fällen sind. Aber
sicher ist das häufig nicht eine biologische Folge der Kreu-
zung als solcher sondern eine Folge sozialer Verhältnisse.
Wenn es sich um Bastarde von Weißen mit Farbigen han-
delt, ist die durchschnittlich ganz erhebliche Minderheit der ge-
samten geistigen Veranlagung der Mischlinge gegenüber dem
Weißen ohne weiteres sichtbar, was hier keines besonderen
Nachweises bedarf (für die Südwest afrikanischen Bastards ver-
weise ich für diesen Punkt auf mein Buch). Aber gegenüber der
farbigen Stammrasse scheinen mir Bastarde im Durchschnitt
geistig überlegen, so daß sie im allgemeinen in ihrer Leistungs-
fähigkeit zwischen weißer und farbiger Stammrasse stehen.
1 ) Davenport. Race crossing in Man. C. R. III. Sess. Inst, intern.
d'Anthr. Amsterdam 1927.
Baur-l*isclier-I,eiiz,I. 20
306 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Davenport hat das für Mulatten gezeigt. Die geistigen
Führer der heutigen Negerbewegung in den Vereinigten Staa-
ten, die Gründer der Neger-Universitäten, deren Lehrer usw.
sind keine reinen Neger sondern haben auch europäische Erb-
anlagen (vgl. Lenzens Ausführungen über Prüfungen von
„farbigen" Gruppen Absch. 5). Diese Mittelstellung zwischen
weißer und farbiger Stammrasse bezüglich der geistigen Lei-
stungsfähigkeit, die wir als Regel annehmen dürfen, schließt
in sich, daß einzelne Individuen nach beiden Seiten in den Be-
reich der Leistungsfähigkeit der Stammrassen hineinragen. So
erklärt sich das Vorkommen einzelner solcher Mischlinge mit
auffällig hoher Begabung. Es sind gegenüber der Masse der
übrigen verschwindende Ausnahmen. Wenn irgendwo, wird
gerade hier durch die Ausnahme die Regel bestätigt. Es ist
einfach lächerlich oder aber bewußte Irreführung, wenn diese
verschwindenden Ausnahmen als Beweis für die höhere Lei-
stungsfähigkeit solcher Mischlingsbevölkerungen angeführt wer-
den. Sie sind nur berühmt geworden, weil sie eben derartig auf-
fällige Ausnahmen sind. Hierher gehört der russische Dichter
Puschkin, dessen Mutter von einem Abessinier abstammt, man
soll dem Dichter das Negererbe deutlich angesehen haben.
Auch der französische Romanschriftsteller Alexander Dumas,
der ältere, ist Mischling gewesen, seine Großmutter väter-
licherseits war Negerin. Negermischlinge sind auch die Führer
der geistigen Negerbewegung in den Vereinigten Staaten, Boo-
ker Washington, Dubois u. a.
Nach der anderen Seite, also an Leistungsfähigkeit noch
unter der durchschnittlichen der farbigen Stammrasse ste-
hend, kommen ganz sicher erheblich mehr Fälle vor. Besonders
dann, wenn wir hier nicht Intelligenz oder Fähigkeit zur Aus-
übung allerlei einfachster Berufe sondern Charakter und Le-
bensführung bewerten. Jenes Urteil von der Minderwertigkeit
der Bastarde aber und die oft zu beobachtende Verkommenheit
gewisser Bastardbevölkerungen beruht auf ihrer Umwelt. In
Hafen- und Minenstädten der Übersee, am Rand überseeischer
Großstadtsiedelungcn entstanden und entstehen die Tausende
von Mischlingen aller Hautschattierungen und Rassen, die jene
Behauptung entstehen ließen. Ohne Kenntnis ihres Vaters, aus-
gestoßen von der weißen Seite, in Gesellschaft aller Elemente,
die auch die untere Schicht der Weißen von sich gestoßen hat,
sogar von reinen Farbigen ausgeschlossen, die jene illegitimen
Verhältnisse mit oft feinem Empfinden verachten, so wächst
SOG. DISHARMONIEN — BERECHNUNGSVERSUCHE. 307
jenes Bastardgesindel auf. Dieses ist wirklich schlechter als
beide Elternrassen.
Der durchschnittliche Bastard, in normalen Verhältnissen
zwischen zwei Rassen aufgewachsen, hält, wie gesagt, ungefähr
die Mitte. Aber die Natur seiner Entstehung bedingt doch
offensichtlich eine starke Disharmonie. Es ist eine doppelte.
Einmal sind disharmonisch die Einflüsse von außen; das Halb-
blut, etwa in Indien, in Südafrika usw. bekommt von Anfang
an in der Erziehung, im Umgang mit den Menschen beider
Rassen die Eindrücke, daß es zu keiner von beiden ganz ge-
hört. Das muß unbedingt geistig entsprechende Wirkungen
haben. Rodenwaldt 1 ) hat in einer ausgezeichneten kleinen
Betrachtung aus seiner reichen Erfahrung heraus darauf hin-
gewiesen und die Wichtigkeit dieser Wirkung betont. Aber zu
ihr kommt auch die Uneinheitlichkcit, der starke Wechsel der
ererbten geistigen Anlagen. Es kombinieren sich in der wech-
selndsten Form bei den einzelnen Mischlingen die verschie-
denen beidelterlichen Anlagen. Und beides trifft sicher nicht
nur zu für sog. Halbblut in Übersee sondern auch für Misch-
linge aus der Kreuzung der vorderasiatisch-orientalischen Rasse
(Juden) mit den europäischen Rassen, vor allen Stücken der
nordischen. Das Bestehen disharmonischer Umwelteinflüsse
auf solche Individuen bedarf keines besonderen Beweises. Aber
ganz offensichtlich besitzen viele solche auch sehr deutlich dis-
harmonische psychische Anlagen, wie man gelegentlich ge-
sagt hat, zwei Seelen in einer Brust. Es sind eben die erb-
mäßigen Rassenanlagen des Psychisch-Seelischen in mannig-
facher Kombination von zwei darin recht verschiedenen Rassen
gekreuzt. Es werden alle möglichen Kombinationen auftreten.
Natürlicherweise nicht nur disharmonische, aber doch in fast
allen Fällen deren mehr oder weniger. Für alle Einzelheiten
sei auf Abschnitt 5 verwiesen.
Berechnungsversuche der Variabilität.
Aus dem Gesagten war zu erwarten, aber der Nachweis
an meinem Rehobother Bastardvolk war mir seiner Zeit doch
recht überraschend, daß man die Vielgestaltigkeit und noch
weniger die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der Merk-
male weder durch Variationskurven noch durch Variations-
koeffizienten und Korrelations rechnung nachweisen kann. Die
!) Rodenwaldt. Vom Seelenkonflikt des Mischlings. Z. Morph.
Anthr. (Festband Fischer) 34. 1934.
308 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLÄGEN.
Einzclmerkmale jener Bastardbevölkerung glichen in den an-
gegebenen Punkten anthropologischen Serien, die wir für ganz
rassenreine halten. Auch Herskovits*) findet das für Mu-
latten. Rechnerisch ist die Variabilität der Merkmale bei die-
sen nicht größer als bei reinen westafrikanischen Negern oder
„old Americans" (Hrdlicka) oder Delaware-Indianern u. a.
Auch Todd 2 ) findet dasselbe. Herskovits schließt irriger-
weise daraus, der Variationskoeffizient zeige zwar nicht Rassen-
reinheit oder Rassenmischung an, aber „Homogenität" oder
„Heterogenität" des Typus einer Gruppe. Man kann doch eine
Gruppe nicht homogen nennen, in der Herskovits selbst
nach Augenmaß und Schätzung ungemischte Neger, Neger
mit Indianereinschlag, mehr Neger als Weißer und andere Stu-
fen unterscheidet. Von Homogenität einer Bastardbevölkerung
kann gar keine Rede sein. Der richtige Schluß aus den rech-
nerischen Ergebnissen jener Bastarduntersuchungen ist der,
daß jene mathematischen Mittel für diese Zwecke unbrauchbar
sind. Daß ab und zu, z.B. bei Davcnport, für einzelne
Merkmale die Mischlinge auch nach Variationskoeffizienten-
oder Standardabweichung stärkere Variabilität zeigen, wider-
spricht dem grundsätzlich nicht. Nur wenn man ganz bestimmte
Merkmale, in denen die Elternrassen sehr stark voneinander
abweichen, und die zugleich in jeder Elternrasse eine sehr ge-
ringe^ Variabilität zeigen, herausnimmt und daran Variations-
koeffizienten berechnet, wird dieser jenen gegenüber bei Ba-
starden besonders auffällig sein. Wagner 3 ) bringt darüber
einzelne Nachweise. Früher hat sich schon Scheidt 4 ) mit
den betreffenden Irrtümern auseinandergesetzt und gute Kri-
tik geübt. Dasselbe gilt für Korrelationsrechnungen. Fear-
son fand in der englischen Bevölkerung keine Korrelation
zwischen Kopfform, Körpergröße, Haar- und Augenfarbe. Auch
A. Schreiner findet bei Norwegerinnen keine Korrelation
zwischen starker Langköpf igkeit und hellen Augen, wohl aber
für Rundköpfigkeit und dunkles Haar. Korrelationsrechnung
.ist für solche Rassenfragen unbrauchbar. Einfach nach der
Häuf igkeit vorkommender Korrelationen eine Rasse A und B
!) Herskovits a.a.O. und Variability and racial Mixture. Amer.
Natural. 6l. 1927.
3 ) Todd. Entrenched negro physical features. Iium. BioL 1. 1929.
3 ) Wagner. The variability of hybrid popuiations. Am. J. phys.
Anthr. 16. 1932.
4 ) S c h e i d t. Annahme und Nachweis von Rassenmischung Z Morph
Anthr. 27. 1928.
BERECHNUNGSVERSUCHE DER VARIABILITÄT
309
und C usw. als Ausgangsrassen für eine ras seilgekreuzte Be-
völkerung anzunehmen, ist vollkommen unberechtigt und wert-
los. Das kann man mit jedem einfachen Kreuzungsprodukt von
Löwenmäulchen oder Drosophila ohne weiteres beweisen. Lenz
hat mehrfach auf jene Annahmen als auf einen „viel verbrei-
teten Irrtum" hingewiesen. Leider unterlagen dem auch eine
Reihe anthropologischer Forscher. Lenz betont mit vollem
Recht, daß man in einer „Bevölkerung von F„- Charakter mit
keinen Mitteln die Ausgangsrassen feststellen" kann; dabei
meint er erbstatistische Mittel (Korrelationsrechnungen s. Ab-
schnitt Methoden) und bezieht sich ausdrücklich auf eine Be-
völkerung von durchgemischtem F n -Charakter. Haben wir da-
gegen für die Herkunft einer stark rassegekreuzten Bevölke-
rung die Möglichkeit, urgeschichtliche und geschichtliche Be-
lege zu erbringen, hat die Bevölkerung stellenweise noch kei-
nen vollen F „-Charakter, d. h. bestehen in ihr, örtlich oder
sozial gesondert, minder- oder fast ungekreuzte Bestandteile
der Bevölkerung aus der früheren Zeit, dann wird man sehr
wohl zu einer Analyse der Ausgangsbestandteile kommen kön-
nen. Bei der biologischen Untersuchung hat die Berücksich-
tigung der Rezessivität oder Dominanz der zahlenmäßig fest-
gestellten Eigenschaften für die Beurteilung des Verhältnisses
der ursprünglichen Rassen eine viel größere Bedeutung als
die wertlosen, schematisch errechneten Korrelationen.
cc) Biologisches Endergebnis von Rassenkreuzung
An der Untersuchung des Rehobothcr Bastardvolkes konnte
erstmals an einer nachgewiesenermaßen nur aus Rassenkreu-
zung, und zwar solcher voneinander sehr verschiedener Ras-
sen, entstandenen Bevölkerung gezeigt werden, daß durch die
Kreuzung selbst keine neue Rasse entsteht. Die einzelnen Eigen-
schaften der beiden Elternrassen vererben sich, unabhängig von-
einander, wodurch eine ganz ungeheure Zahl von Kombinatio-
nen entstehen muß. Der rezessive Erbgang vieler Eigen-
schaften bedingt es, daß bei fast jedem Individuum, deren
einzelne vorhanden sind, die also an ihm nicht in Erscheinung
treten, aber unter seinen Nachkommen wieder zum Vorschein
kommen. Immer vorausgesetzt, daß alle Auslesevorgänge aus-
geschaltet wären, entsteht dadurch eine um so größere, gleich-
bleibende, mosaikartige Buntheit einer solchen Bastardpopula-
tion, je zahlreicher die Erbeigenschaften sind, durch die sich
die beiden Elternrassen unterscheiden. Gleiche Ausgangsmen-
310 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
gen der Elternrassen und, wie gesagt, Fehlen aller Auslesevor-
gänge vorausgesetzt, wird dauernd dieses geschilderte Erschei-
nungsbild bestehen bleiben. Eine neue Rasse ist das also nicht
geworden, denn in einer solchen sind eben eine bestimmte An-
zahl Rasseneigenschaften homozygot, also bei allen Individuen
nicht nur anlagenmäßig sondern auch 1 im Erscheinungsbild
vorhanden.
Den eben angenommenen theoretischen Fall, daß jeglicher
Auslesevorgang fehle, wird man in Wirklichkeit kaum je sicher
finden. Treten aber solche auf, so wird natürlich das biolo-
gische Endergebnis der Kreuzung ganz anders aussehen. Je
nach dem Grad der ausmerzenden Vorgänge oder auch einer
positiven Auslese, aber auch je nach der Art der in die Kreu-
zung eingebrachten Erbeigenschaften und dem Zahlenverhält-
nis der Elternrassen wird ein ganz verschiedenes Endergebnis
der Kreuzung entstehen. Beide Elternrassen können Eigen-
schaften mitbringen, die biologisch für den betreffenden Le-
bensraum besonders günstig oder besonders ungünstig sind. Je
nach Umständen kann geringe, aber auch allerschärf ste Aus-
lese einsetzen. Durch sie können z.B. dominant sich vererbende,
biologisch ungünstige Eigenschaften beider Rassen ausgemerzt
werden. Für rezessiv sich vererbende ist ein solcher Vorgang
erheblich langsamer und bietet unseren Vorstellungen bezüglich
durchgreif ender Wirksamkeit große Schwierigkeiten ( s . Absch. i ) .
Durch derartige Ausmerzung bestimmter dominanter Eigen-
schaften nach Kreuzungen kann offensichtlich für bestimmte
andere in einer vorher nicht vorhandenen neuen Kombination
Homogenität entstehen, weil eben auch die heterozygoten In-
dividuen die Eigenschaft wirklich tragen und daher der Aus-
merze unterhegen. Tatsächliche Erfahrungen über solche Vor-
gänge haben wir nicht. An den Rehobother Bastards oder an
den Mestizen auf Kisar ließen sich keine nachweisen. Die Zeit
seit Beginn der betreffenden Kreuzungen ist aber auch in die-
sen Fällen zu kurz, als daß man tiefgreifende biologische Wir-
kungen erwarten könnte, die sich in der Natur erst an sehr
langen Reihen von Generationen abzuspielen pflegen.
Aber es gibt noch einen anderen Vorgang der Wechsel-
wirkung von Kreuzung und Auslese, der offensichtlich der an
Umfang und kulturhistorischer Bedeutung wichtigste ist, ja das
geschichtliche Leben der Menschheit geradezu beherrscht.
Keine Bildung eigentlicher Völker oder gar Staaten ist abge-
laufen ohne Überschichtung nach Eroberung auf fremdem
ENDERGEBNIS DER RASSEN KREUZUNG,
311
Volksboden und ohne Mischung ursprünglich getrennter Ele-
mente. Immer hat es dabei Rassenmischung, meist Rassenkreu-
zung gegeben, deren Ausmaße ungeheuer verschieden gewesen
sind. Wenn ein Volk — d.h. also auch die rassenmäßigen Träger
dieses Volkstums — in sehr andersartige neue Umwelt kommt,
und wenn es sich gegen viele Umwelteinflüsse ungeschützt
findet (z. B. Seuchen, Tropenklima usw.), werden stärkste Aus-
lese- und Ausmerzevorgänge einsetzen. Sie sind wohl um so ein-
greifender, je einfacher die Kulturen und je andersartiger die
neue Umweit gegen die alte. Sie treffen die Rasse der An-
kömmlinge stärker als die von ihnen schon lange betroffenen
Ansässigen. Das sind also rein „biologische" Vorgänge im Sinne
von Tierbiologie. Aber sie werden wohl ausnahmslos abge-
ändert, vermischt, verbunden mit anderen, mit sozialen, also
mit all den tausend Vorgängen der geschichtlichen Entwick-
lung des neuen Volkes (Schichtung, Siebung, soziale Auslese
usw.). Auf sie soll unten eingegangen werden. — Wenn nun
jene biologische (und auch die soziale) Auslese den einen Ras-
senbestandteil einer solchen in Mischung und Kreuzung be-
griffenen Bevölkerung ausmerzt, ist eben das Endergebnis die
Wiederherstellung des alten Zustandes (abgesehen von Resten
nicht ausgetilgter Erbanlagen). Im anderen Fall folgt auf die
Mischung tatsächlich immer eine Kreuzung. Umfang und zeit-
licher Ablauf sind sehr verschieden. In vielen Fällen aber ist
es zu einer ungeheuren Durchkreuzung (meist einander nahe-
stehender Rassen) gekommen, so bei fast allen Völkern Euro-
pas; bei den Kulturvölkern Asiens und Nordafrikas wird es
nicht anders sein. So entstand das ungemein bunte Bild der
unübersehbar zahlreichen Kombinationen von Erbeigenschaf-
ten, das diese Völker bieten. Es sind alles Heterozygoten —
eine neue Rasse im Sinne meiner Definition und im Sinne der
Reste tatsächlich bestehender Rassen, bei denen wir keine
Kreuzung nachweisen können, ist es also dann, wie gesagt, nicht.
Es ist eine reine Frage der Benennung oder Namengebung, also rein
willkürlich, wenn man auch Gruppen Rassen nennen will, bei denen die Zu-
sammengehörigkeit durch eine bestimmte Anzahl homozygot und hetero-
zygot dauernd variierender Eigenschatten bedingt ist. Auch solche Kom-
binationsbilder werden sich naturlich von anderen Kombinationsbildern, die
aus anderen Elternrassen durch Kreuzung entstanden sind, unterscheiden.
Aichel wollte sie sekundäre Rassen nennen. Das Rehobother Bastardvölk-
chen ist sicher eine biologisch bestimmte, charakterisierte ,, Population",
eine Gruppe, die sich rassenmäßig von „reinen" Hottentotten, „reinen" Wei-
ßen oder erst recht Negern unterscheidet. Wir haben keine treffende Be-
nennung für eine solche Gruppe. (Daß in diesem Fall die Rassemmter-
312 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
RASSE UND VOLK.
313
schiede der Elternrassen viel größer und ganz anders zu bewerten sind als
bei den Rassenzusammensetzungen europäischer Völker, spielt für die grund-
sätzliche Auffassung keine Rolle.) Jedenfalls muß man biologisch zwischen
Rasse im Sinne meiner Definition und dem, was man etwa mit Aichel als
Sekundärrasse bezeichnen wollte, scharf scheiden. Man müßte dann doch
mindestens auch jenes erstere Primärrassc nennen. Hier sind wohl noch wei-
tere Auseinandersetzungen der verschiedenen Meinungen nötig (vgl. oben
S. 267).
Gewiß sind oft die sozialen Vorgänge auf das Endergeb-
nis von Rassenkreuzung im großen von. viel stärkerer Be-
deutung als die anderen, sie stellen das „biologisch" Entschei-
dende für die Kulturmenschheit dar! Daher sollen sie hier
noch ganz kurz erwähnt werden; sie finden ihre eigentliche Be-
handlung im Abschnitt 5 und im zweiten Band des Werkes.
Rasse und Volk
Für die Biologie der Rasse, ja man kann sagen, für ihr
Leben und Sterben und damit für die Menschheit ist die wich-
tigste und eingreifendste Erscheinung ihr Verhältnis zu Volk
und Staat. Es gibt keine menschlichen Rassen, die unter rein
„natürlichen" Verhältnissen leben, dies im Sinne der natür-
lichen Lebensverhältnisse frei lebender Tiere und Pflanzen auf-
gefaßt, Alle Rassen, Rassenmischungen und Rassenkreuzungen
leben zusammengeschlossen je zu einem Volkstum, sei es die
Stammesorganisation sog. kulturarmer Stufen, seien es Völker
im engeren Sinne und Staaten. Die Frage ist, wie diese kul-
turell beeinflußte Lebensform der Rasse in diesen sozialen Ver-
bänden sie selbst biologisch beeinflußt und wie umgekehrt die
Rasse an der Sonderheit der Ausbildung je ihres Volkstums
beteiligt und dafür verantwortlich ist.
Begrifflich sind Rasse und Volk scharf zu trennen. Auf die
gegebene Definition von Rasse als Fortpflanzungsgemeinschaft,
von homozygot eine Anzahl gleicher Erbanlagen besitzender
Menschen, sei verwiesen (S. 246). Ein Volk ist im Gegensatz
dazu eine in gemeinsamer Fortpflanzung lebende Gruppe von
Menschen, die gemeinsames Kulturgut besitzt. Das wichtigste
davon ist die Sprache. Es gehört aber hierher alles das, was
die betreffende Gruppe als ihr „Volkstum" geschaffen oder er-
worben hat, Sitte und Brauch und Recht, Glaube und Aber-
glaube, Kunst und alle die materiellen Kulturerzeugnisse, Ge-
schichte und Überlief erungsinhalt. Darnach ist der Gegensatz
der Begriffe Rasse und Volk deutlich. Die Rasseeigenschaften
sind gegeben, -sie ändern sich durch Einflüsse von außen nicht,
einzelne können einmal mutieren, aber, wie oben gezeigt wurde,
sind sie sonst über Jahrtausende unveränderlich. Nur dadurch,
daß Erblinien aussterben, ausgetilgt werden, kann die Gesamt-
heit der Rassccigenschaften geändert werden. Das Volkstum
dagegen wird erworben, es ändert sich, es nimmt neue Ele-
mente auf, schafft altes um. Auch jeder einzelne kann fremdes
Volkstum erwerben. Man denke sich beispielshalber ein neu-
geborenes Kind italienischer Eltern zu niederdeutschen Bauern
gebracht und vielleicht ohne Ahnung seiner Herkunft dort auf-
gezogen. Es wird deutsch als Muttersprache empfinden, in
fremde Kultur hineinwachsen und sich für zum deutschen Volle
gehörig ansehen. Seine etwaige dunkle Haarfarbe aber, seine
Bewegungen, sein Gesichtsausdruck, sein Temperament, kurz-
um seine ererbten Rasseneigenschaften werden nicht verändert
werden und ebensowenig sein eigentliches, inneres Denken
und Fühlen. Es ist Bestandteil eines Volkes geworden, aber
rassisch geblieben, was es war, Begrifflich bestehen also scharfe
Grenzen, ja Gegensätze zwischen Rasse und Volk, im Raum
aber, wo sich die Dinge stoßen, gibt es kein Volk, dessen In-
dividuen nicht bestimmter Rasse oder Rassenmischungen und
Kreuzungen angehören und, wie gesagt, keine Rasse, die
nicht Teil wäre eines Volksganzen. Wenn nun die gesamte Kul-
tur eines Volkstums, sein ganzes geistiges Leben über die Jahr-
tausende hinweg von Menschen bestimmter Rassen geschaffen
wird, muß selbstverständlich die Art des Geschaffenen von den
geistigen Fähigkeiten der Schaffenden abhängen. Diese aber
beruhen auf den rassenmäßig verschiedenen, erblichen Anlagen
für die geistige Begabung des Menschen. Wir sehen die kul-
turellen Leistungen, das gesamte Volkstum der einzelnen Völ-
ker (Völker im weitesten Sinne, vom sog. primitivsten Volks-
stamm bis zum höchsten Kulturvolk) ganz außerordentlich
verschieden. Und wir sehen ebenso verschieden das Erbgut,
körperliches und geistiges, der jene Völker zusammensetzenden
Rassen. Die Entwicklung jeder völkischen Kultur hängt —
selbstverständlich neben anderen Faktoren — von der rassen-
mäßigen Begabung ihrer Schöpfer und Träger ab. Die Art
jedes Volkstums ist also rassenmäßig bedingt. (Die übrigen, ihre
Ausgestaltung manchmal vielleicht recht stark beeinflussenden
Faktoren, geographische, historische usw. werden dabei keines-
wegs verkannt, können aber hier, wo es sich um Rasse handelt,
nicht im einzelnen betrachtet werden.) Nicht nur die tiefgrei-
fenden Rassenunterschiede etwa zwischen uns Europäern und
314 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
den Negriden oder Mongoliden bewirken die Verschiedenheit
von Inhalt und Entwicklung der betreffenden Kulturen. Auch
schon die Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen
Rassen und die Unterschiede im Grad der Mischung und Kreu-
zung einzelner europäischer Rassen unter sich bei den ver-
schiedenen Völkern Europas sind der letzte und eigentliche
Grund für die Unterschiede der Einzelkulturen und des ver-
schiedenen Geisteslebens der europäischen Völker, ja sogar der
einzelnen Volksstämme innerhalb jeden einzelnen Volkes. Das
deutsche Geistesleben etwa, wie es sich im Spiegel seiner Kul-
tur- und Kunstgeschichte wie der übrigen Geschichte zeigt, hat
in allen seinen Äußerungen besondere Eigentümlichkeiten, die
es etwa vom französischen deutlich unterscheidet. Das ist ganz
sicher nicht etwa nur eine Folge des verschiedenen „Milieus",
sondern eine solche der verschiedenen rassenmäßigen Zusam-
mensetzung beider Völker. Wenn wir aber beide Gruppen zu-
sammennehmen und sie etwa vergleichen mit der chinesischen,
ägyptischen oder altperuanischen Geisteswelt, so werden wir die
beiden etwa, als abendländisch zusammengehörig empfinden
gegenüber den genannten fremden. Die Ähnlichkeit der Ras-
senzusammensetzung von Deutschen und Franzosen trotz der
starken Unterschiede im Mengenverhältnis der in ihnen ge-
kreuzten europäischen Einzelrassen steht der Verschiedenheit
der Rassen des chinesischen, ägyptischen oder altperuanischen
Volkes genau so gegenüber, wie es gegenseitig die Kulturen
tun. Es ist unbedingt falsch und einseitig, für alle jene kultu-
rellen Unterschiede nur immer Zeit und Raum und äußere Ein-
flüsse verantwortlich zu machen, weitaus che tiefgreifendste und
stärkste Ursache sind die Rassenunterschiede. Es wäre leicht,
die Vergleiche in zahllosen Fällen durchzuführen. Selbst inner-
halb eines Volkes, z. B. des deutschen, wäre es lohnend zu
zeigen, wie die kleineren Rassenunterschiede, die verschieden
starke Beteiligung von nordisch, alpin, dinarisch usw., die die
einzelnen deutschen Stämme, Schwaben, Niedersachsen, Bayern
usw. besitzen, ihrer verschiedenen geistigen Art und Leistung
entsprechen, auch wenn wir die Zusammenhänge heute noch
nicht in ihren Einzelheiten bestimmt erfassen können. Darnach
ist also die Ausgestaltung aller Kulturen, alles Volkstums von
den erblichen Anlagen der betreffenden Rassen abhängig.
Selbstverständlich besteht also dann eine solche Abhängigkeit
auch für den ganzen Ablauf der Geschichte jedes Volkes. Die
führenden Männer, und „Männer machen die Geschichte", wie
RASSE UND VOLK.
315
Treitschke sagt, haben ihre geistigen Anlagen eben ausschließ-
lich aus dem Rassegut des Volkes, dem sie entstammen. Für
den wirtschaftlichen, künstlerischen und politischen Aufschwung
eines Volkes wird es darauf ankommen, daß es jederzeit in
genügender Menge jene (rassenmäßigen) Anlagen enthält, die
für die Träger der betreffenden Leistungen notwendig sind,
und noch mehr, daß es jederzeit einzelne wenige Begabungen
birgt, die als Führer und Leiter auf wirtschaftlichem, künstleri-
schem und politischem Gebiet dienen können. Dabei müssen
ganz offenbar die Begabungen dieser Führer Steigerungen sol-
cher oder mindestens teilweise solcher Eigenschaften sein, die
auch im Volke vielfach vertreten sind, sonst verstehen sich
beide nicht. Der Führer muß eine seinen Gedankenflug ver-
stehende Gefolgschaft haben.
So besteht also die engste Verbindung zwischen Rasse und
Volk, und so deutlich getrennt rein begriffsmäßig die beiden
sind, so eng und unlösbar hängen sie in Wirklichkeit zusam-
men. Man betont so oft, der Mensch unterscheide sich vom
Tier durch Gedanken und Sprechen; aber am eingreifendsten
für den Ablauf der Lebenserscheinungen an der Menschheit
und am stärksten abweichend von tierischem Leben ist der Um-
stand, daß sie Völker und Staaten gebildet hat. Der Ablauf
der sog. Weltgeschichte, sagen wir der Geschichte der Kultur-
völker der letzten rund viertausend Jahre, ist zugleich Rassen-
geschichte, und die Staaten- und Völkerbildungen wie deren
Untergänge sind Erscheinungen der Rassenbiologie. Gerade in
dieser Geschichte zeigen sich die rassenmäßigen Unterschiede
der Begabung und der Fähigkeit, Kulturen zu schaffen. Erb-
liche geistige Anlagen, d. h. Rassenanlagen sind es, die die
eine menschliche Gruppe nicht über gewisse Stufen kultu-
reller Entwicklung hinauskommen lassen und andere zu uner-
hörten Kulturschöpfern machen. Auf beide wirken aber neben
den der historischen Erklärung zugänglichen Faktoren die
biologischen der Auslese und Ausmerze. Die einen Gruppen
lassen sozusagen passiv die Ausmerze über sich ergehen. Sie
erreichen dabei — wie wir es auch im Tierreich sehen — eine
außerordentliche Anpassung an ihre Umwelt. So entstanden
die kulturarmen Stämme und Völker in ungünstigsten Gebie-
ten, Kümmerrassen in Rückzugsgebicten oder gewisse Noma-
den in außerordentlicher Anpassung an Steppe und Wüste.
Andere aber erlebten sozusagen mehr aktive Auslese, Rassen
mit Erbanlagen, die durch Zucht steigerungsfällig waren, Ras-
316 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
sen 3 deren Anlagen von Energie, Charakter, Phantasie, Intelli-
genz darnach waren, daß sich die Gruppen ungünstiger Um-
welt erwehrten, vor allem aber sich selbst günstigere suchten.
Es war sicher eine Auslese schärfster Art — aber an einem
dafür günstig mutierten Material! Das sind jene Rassen, die
eine teilweise ungeheure Expansion aufweisen. Auswanderung,
Eroberung, Staatengründung war die Folge. Das uns nächst-
liegende, aber gleichzeitig überhaupt das glänzendste Beispiel
bietet die Nordische Rasse 1 ), gezüchtet in schärfster Auslese
unter jenen einzigartig schwierigen Verhältnissen des eiszeit-
lichen Europa — dann aber an Ausdehnungskraft und Leistungs-
fähigkeit ohnegleichen. Die Nordische Rasse ist es gewesen, die
die Indogermanenkultur nicht nur geschaffen, sondern dann
über die halbe Welt ausgebreitet hat. Dieser Rasse verdankt
Griechenland seine Blüte, diese Rasse schuf Rom, sie gab den
Grund zur Hochkultur Indiens und Persiens, auf sie geht die
Blüte der sog. Renaissance, ihr verdankt die Welt die deutsche
Kulturleistung. Ich lege Wert darauf, hierbei die Worte zu ge-
brauchen, die ich 1922 prägte (Kultur der Gegenwart, Leip-
zig und Berlin, 1923), die ich auch heute nicht besser aus-
drücken kann : „Die nordische Rasse hat jene eigenartige Be-
gabung gehabt, die sie dazu befähigte. An vielen Orten ist von
dieser Grundlage aus keine große weitere Entwicklung gewor-
den, an anderen aber, wo sie hinkam, eine glänzende und an
keiner Stelle, wo sie nicht hinkam in Europa, irgendeine!
Die Mischung der nordischen Einwanderer mit gewissen an-
deren Komponenten muß ein äußerst begabtes, kulturfähiges,
produktives, ja stellenweise geradezu glänzendes Menschen-
material geschaffen haben — nur da wurde in Europa noch
heute bewertetes Kulturgut geschaffen. Und jeweils, wenn an
solchen Stellen die nordische Komponente ausgetilgt war, ging
die Kultur zurück. Noch heute ist ganz zweifellos der Ein-
schlag nordischer Rasse in den Völkern Europas das, was sie
zu Kulturträgern, zu Denkern, Erfindern, Künstlern macht.
Wer all dies nicht einsieht, ist blind oder schließt absichtlich
die Augen — aber, ebenso blind ist, wer nun verallgemeinert
und sagt, was hier nachweisbar, muß überall gelten, die ganze
Kultur Vorderasiens und Ägyptens oder gar noch fernere ist
ebenfalls nur Inclogermanenschöpfung I Man ist Schwärmer,
wenn man Dinge sieht, die nicht sind — um einer Liebe wil-
l ) Hier im weiteren Sinne, in ihrer Verschmelzung mit der fälischen.
RASSE UND KULTUR.
$17
len, aber auch, wenn man Dinge nicht sieht, die sind — , um
eines Hasses willen."
Ausführungen von Einzelheiten muß ich mir versagen.
Ehre umfassende Darstellung des Verhältnisses von Rasse und
Geschichte ist noch Zukunftsmusik. Für die Einzelheiten
sei auf Abschnitt 5 und den zweiten Band (Lenz) verwiesen.
Aus dem Vorhergesagten geht schon hervor, daß mit jeder
Eroberung und darnach folgenden Staatenbildung Rassen-
mischung und Kreuzung verbunden sind, und insofern gehört
die ganze Erscheinung in den Bereich der Rassenbiologie. Die
rein natürlichen Vorgänge der Kreuzung spielen sich ebendann
hier während dieser geschichtlichen Entwicklung ab, wie oben
schon angedeutet wurde. Historische oder kulturelle Einflüsse
aber bedingen den Umfang und den zeitlichen Ablauf der Kreu-
zung. Aber umgekehrt wird die kulturelle Leistungsfähigkeit
eben von diesen Kreuzungen wieder abhängen. Es kommt auf
die rassenmäßigen Anlagen der beiden sich kreuzenden Rassen
an, der der Eroberer und der der Unterschicht. Als Beispiel
sei auf die Kreuzung einwandernder Mongoliden mit den wecl-
diden, negritiden, melaniden und anderen Rassen des Sunda-
archipels verwiesen, aus der dann die malaiischen Völker (sog.
Deuteromalaien) entstanden sind. Ihre wechselnde Kulturhöhe
dürfte von Umfang und Art der Kreuzung abhängen. Oder
noch einmal zur Nordischen Rasse zurückkehrend, möchte ich
andeuten, daß ihre Kreuzung als Eroberer mit stark mongolid
durchsetzten Bevölkerungen im Osten keine kulturelle Leistung
zeitigte, ihre Kreuzung mit der ihr sehr viel näher stehenden
mediterranen Rasse dagegen jene Blüten der Kultur hervor-
brachte, die vorhin erwähnt wurden, ihre Kreuzung mit der ihr
ebenfalls im europiden Zweig nahe stehenden alpinen die Kul-
tur Zentraleuropas. Es sei dabei noch einmal betont, daß das
nordische Rassenelemcnt dabei das ausschlaggebende, führende,
schöpferische ist.
Aber nicht nur die Bildung der Völker und der Aufstieg
der Kulturen hat ein Rassenproblem und Rassenkreuzungs-
problem zur Unterlage, sondern ebenso sehr ihr Abstieg und
Untergang. Völker mögen altern, wie es der Geschichtsforscher
darzustellen pflegt. Rassen altern nicht. Für den biologischen
Betrachter ist jenes Altern der Vorgang der Ausmerzung eines
leistungsfähigen Rassenelementes und seine Ersetzung durch
ein minderwertiges oder seine Verschlechterung durch minder-
wertige Einkreuzung. Auf die Vorgänge selbst, die verwickelten
318 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
Wechselwirkungen von Auslese, Gegenauslese, Hemmung
von Auslese usw., die durch die Kulturen geschaffen werden,
geht der zweite Band unseres Werkes (Lenz) ausführlich ein.
Hier sei nur grundsätzlich auf zwei biologische Vorgänge hin-
gewiesen, die Niedergänge von Kulturen bedingen. Einmal
kann man verfolgen, wie eine bestimmte Rasse mit hohen gei-
stig seelischen Anlagen, die höchste Kulturleistungen bedingt
haben, durch Aufnahme eingekreuzter minderwertiger Rassen
ihre Leistungsfähigkeit einbüßt. Hier wären etwa anzuführen
die Vorgänge von „Vernegerung" verschiedener Volker medi-
terraner oder orientalischer Rasse Nordafrikas, aber mehr
fesseln uns dieselben Vorgänge in Lateinamerika und ander-
wärts. An der Leistungsunfähigkeit jener Bevölkerungsschich-
ten, die mehr oder weniger Negerblut aufgenommen haben,
an der Leistungsunfähigkeit der Mulatten-Bevölkerung Ame-
rikas kann kein Zweifel sein. Die Ausnahmen bestätigen ja
nur die Regel, wie oben Seite 306 dargelegt wurde. Das „Ras-
senchaos" des niedergehenden Rom ist ein weiteres Beispiel,
Es kann für den Erb- und Rasseforscher als Folgerung aus
allem, was er nach Einkreuzung von Farbigen, bei denen die
Unterlegenheit ihrer erblichen, geistigen Eigenschaften erwie-
sen ist, beobachten kann, nur den Standpunkt der Rassen-
hygiene, d. h. der restlosen Ablehnung solchen fremden Ein-
schlages geben. Auch hier lege ich den größten Wert darauf,
dieses mein Urteil aus früherer Zeit zu belegen und führe des-
halb aus meinem Bastardbuch von 19 13 folgende Stelle an:
„[Aber] das wissen wir ganz sicher: ausnahmslos jedes euro-
päische Volk (einschließlich der Tochtervölker Europas), das
Blut minderwertiger Rassen aufgenommen hat — und daß
Neger, Hottentotten und viele andere minderwertig sind, kön-
nen nur Schwärmer leugnen — hat diese Aufnahme minder-
wertiger Elemente durch geistigen, kulturellen Niedergang ge-
büßt eine Verbesserung unserer Rasse ist durch solche
Kreuzung unmöglich, eine Verschlechterung, im günstigsten
Falle nur durch disharmonische Anlagen, sicher zu gewärtigen.
Aber wenn auch nur die Wahrscheinlichkeit, ja
die bloße Möglichkeit bestände, daß Bastardblut unsere
Rasse schädigt, ohne daß dem auf der anderen Seite eine gute
Chance gegenüberstände, daß es uns verbessere, muß jede
Aufnahme verhindert werden. Ich halte diese Sachlage für
so absolut klar, daß ich einen anderen Standpunkt eben nur als
den vollkommenster biologischer Unkenntnis ansehen kann.
KULTUR UND RASSENKREUZUNG.
319
Auf die ethische Seite, auf die rechtliche Seite der Frage,
wie das im einzelnen zu regeln ist, brauche ich hier nicht ein-
zugehen — liier handelt es sich geradezu um den Bestand —
ich sage das in vollem Bewußtsein — unserer Rasse, das muß
in jeder Beziehung der oberste Gesichtspunkt sein, da haben
sich eben ethische und rechtliche Normen darnach zu richten
— oder aber — falls man das als Unrecht gGgen die farbige
Bevölkerung empfindet — weg mit der ganzen Kolonisation,
denn die ist natürlich von einem ewigen Friedens- und Gleich-
heitsstandpunkt aus Unrecht, glücklicherweise herrscht nicht
dieser, sondern eine gesunde Expansionskraft des Stärkeren."
Dieser Standpunkt der Ablehnung fremder Einkreuzung
gilt grundsätzlich auch für solche Rassen, die man nicht an
sich als minderwertig, aber als der eigenen gegenüber fremd
und andersartig bezeichnen muß. Das Volkstum mit der ganzen
Kultur eines jeden Volkes ist, wie oben gesagt, so geworden,
wie es ward, nur auf Grund der ganz bestimmten rassenmäßi-
gen Zusammensetzung eben dieses Volkes. Nur die seiner Ras-
senzusammensetzung gemäßen Erblinien konnten geistig das
schaffen, was eben dieses Volkstum eigenartig und einzigartig
schuf. Die Einkreuzung einer mit anderen geistigen Erban-
lagen versehenen Rasse ändert unter allen Umständen die gei-
stige Gesamtveranlagung und die Richtung der geistigen, kul-
turellen Weiterentwicklung und Weiterbildung. Ein auf sein
Volkstum und seine originale Kultur stolzes Volk muß daher
jeden Rasseeinschlag eben schon allein wegen dessen Anders-
artigkeit grundsätzlich ablehnen. Es muß seine reine eigene
Art für die bessere halten. Dieses ist die erbbiologische Unter-
lage einer auf Rassenreinheit gerichteten Bevölkerungspolitik,
bei uns in Deutschland die biologische Rechtfertigung der
Ablehnung jeder Einkreuzung jüdischer und sonstiger fremd-
rassiger Erbinnen. Diese bewußte Bevölkerungspolitik muß
alles fremde Blut ablehnen — daß sie es gegenüber dem
jüdischen am leidenschaftlichsten tut, ist die Folge der Größe
des Zustromes gerade dieses. Daß unsere Kultur nicht nur
in Gefahr war, in ihrem tiefsten deutschen Wesen durch jüdi-
schen Geisteseinfluß geändert zu werden — man vergleiche
Literatur und Kunst, aber auch andere geistige Seiten unseres
Lebens — sondern schon deutlich erste Änderungen erlebt hat,
kann nicht geleugnet werden. — So führt hier Betrachtung der
Biologie der Rassen unerbittlich zu einer bewußten, folge-
richtigen Bevölkerungspolitik. Zu einer solchen kamen übri-
Tafel /
320 EUGEN FISCHER, DIE KÖRPERLICHEN ERBANLAGEN.
gens z. B. die Vereinigten Staaten, nur mit etwas anderer
Front, schon lange !
Der zweite biologische Vorgang der Rassenänderung beim
Niedergang eines Volkes ist geschichtlich wohl noch bedeut-
samer, vor allen Stücken, weil er ungleich umfangreicher ist
und nicht so leicht, wie der erste, ausgeschaltet werden kann.
Es ist die Ausmerzung der leistungsfähigen Erblinien durch
unbeabsichtigte Wirkung eben der Kultur, die sie selbst ge-
schaffen hat. Das sind recht eigentlich die Vorgänge, deren Ab-
wehr die Rassenhygiene unternimmt. Es ist das Ausgetilgtwerden
der leistungsfähigen Erblinien durch stärkeren Verbrauch der
Männer (Kriege, Verbannungen, Ächtungen, gegenseitige Be-
kämpfungen usw.), vor allem aber— und weitaus am wirksam-
sten — die Erscheinung des Geburtenrückganges bei sozialem
Aufstieg. Das ist der eigentliche Mord, den Kultur an Rasse
übt. Wie mehrfach gesagt, behandelt der zweite Band diese
wichtigste Frage der heutigen Menschheit, die Frage, wie dem
Aussterben der begabten Linien in unserer Kultur Einhalt ge-
boten und unser Volk gerettet werde vor dem Schicksal an-
derer untergegangener Kulturvölker. Es ist zugleich die Ent-
scheidungsfrage für die Nordische Rasse.
1 ^tr- s-PM k
Aus Nieder Jeulschland, Merkmale der nordischen Rasse. K. W. 1. Anthr.
Aus Hessen, Merkmale der nordischen Rasse. Aula. Dr. I)r. Richter (k W I. Anüir.)
■ w ■-
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V
Aus Baden, Merk irdischen Rasse
K. W. T. Anthr.
Aus Flandern, Merkmale der nordischen Rasse
Aufu. F. I,eii£
Tafel, 2
Tafel 3
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Aus Niedermachst), Merkmale der nordischen Rasse Aus Ilaml uifi Maiamle dti nur Indien k i-.=e
Aufn. K. W. I. Anthr.
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«fehjÜ, J^ '
\us nbrrhi.=scii Mcikinalf dir f ihs. heu Rasse Ans Oberhessen, Merkmale der Mischen Rasse
(Ilaai rtnas dunkel) \ufn. Dr. Er. Richter (K.W. r, Anthr.)
AusNorddcutschland, Merkmale der nordischen Rasse
Aufn. C, Ruf, Freiburg
Vi
■j? V' St.""
Aus Ilhnn iLi Mirkimlc kl iurdiM.l)ui Raa>*
Aui NoirtiM_!n Rt; (uktpfi.
Aii=. iNicdirins^tii Miikmalc ili_r filiithea Rasse Aus Nicrlcihc^si-n Mc.il milr 1 r i ifi ch n 1 is e
Aufn. Perret (K.W. T. Antlu ) {iliai e \sis 1 kl )
Aus Norddeulsehlaud, Merkmale der nordischen Kasse Aus Ingland Merkmih dci nnidisclien Rasse (Fnn.i
(Haarfarbe nicht nordisch). Aufn. C, Ruf. Freiburg des Nasenruckt ua nicht nurdisih) \ns ,(,< ip«s jm.iyiiuni'
\ni MedtrliLWca Merknnlr der f ilisclicn Rasse. (Haar etwas dunkler). Aufn. Perret (K."\V. I. Anthr.)
Tafel 4
Tafel 5
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Aus !NiL(lrihrt;s( ii, ftlerkm lr ilci f ih'-rhi h Kasse
Aufn. Ferret (K. W. I. Anüir.)
Alts Teneriffa, Merkmale der Cro-Magnoii~(füliSL'!ieti) I
Kasse, Farbe der medilcrr. Rasse. Aufn, 15. Fisdier f-
\us der Hamburger Gegend, Merkmale der ostbal tischen Rasse (das Haar ist chuikclrot) K. W. I. Anl.hr.
Aus Teneriffa, Merkmale der Cro-Magnon- [täuschen)
Kasse, Farben der mediterranen Rasse.
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Desgl., Gesichtszüge z. T. mediterrane Rasse, <
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kmale der ostbal tischen Kasse
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Aus Lettland, Merkmale der ostbaltischen Rasse. Auf«. F. I,eiiz
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Franzose aus den Seealpen, Merkmale der alpinen Rasse. Aufm F. I,cuz
Tafel 6
Tafel 7
Ans Mitteldeutschland, Merkmale der alpinen Rasse Aufn K W ! Antlir
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Aus Mitteldeutschland, Merkmale der alpinen, auch
etwas der nordischen Kasse. (Sammlg. K. W. I. An Ihr.]
Alis dem Sdmaivwald, Meiktualc dei itpinen Ras-*
(Farben der nordischen K,.tv>e] Aufn C Rut, I n lhurfi
(Sammlung h. T\ I inlhi )
Aus dem Schwarzwald, Merkmale der alpinen Rasse
(Sammlung K. "W. f. Antlir.) Aufn. Ruf, Krbg.
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Aus Siidfrankreich, Merkmale der mediterranen Rasse
Aus Günther „Rassenktmdc"
Aus portugiesischer Familie Mnknnlc der mediterranen
Rasse, Aufn. v. EickstcdL
Italiener aus Fiemun t, Merkmale der mediterranen
Rasse. Auf!?. K. W. I. Auihr.
Vus ()t>erhf satn Mtikmilr d< i -ilruiicii k is=c
Aufn ]>r l'i Ruhtet (K W I inlhi )
Vus Schlesien. Merkmale der diuarischcn Rasse
Aufn. Dr Abel (K. W. I. Antlir.)
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Franzose aus den Ostpyreuaen,
mediterranen Rasse, Aufn I
Aus Tirol, Merkmale der diuarischcn, und etwas der
nordischen Rasse, Aufn. Antlir. Inst. Univ. Wien
Tafel S
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Aus Südbaden, Mcikma'c iiri dmanschrii Rasse
Auf ii. Malten!, Hcidcllicisj (Sammle ls. "U 1 Authr.)
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Aus Bcssarabieij, Merkmale der vorderasiatischen Rasse. Aufn, F. Lenz
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K.W.I. Anthr.
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Derselbe.
Jüdin aus Belgien, Merkmale der orientalischen
und etwas der vorderasiatischen Rasse. Aufu. C. Huf
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tun pcl, Merkmale der orientalischen,
und negrideu Rassen. Aufn. Stiehl
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haupl sächlich der uegridcu Rasse. Aufn. K. W. I. Aul '
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Aufn. IJ. Fischer Hassen
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Mischling aus Südafrika, \ mdisdn i Mulrvmmt rianer,
i\l: Mulattin aus suiiotiiscliLin \-itei null ihutomutter
69
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Bruder von Abb. 67
Aus I,otsy and Goddijn
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Nordsomali, Merkmale der mediterranen und negriden Hassen. Auf», l'uceioiil.
Archiv für Rasse nbildcr
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Uasciikire. Audi. Wasti. Ardüv f. Rasscnbiklet
Vornehmer [apauci Auf« C Ruf
Merkmale der mongolklen Rasse
M.iddicn miu den Bonm luschi (\ Tapaufi, M: Mischling aus europäisch ein, polynesischem und negridem Blut}
Auf». Wagenscil
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Misclmiis {F,) p V Chinese, M rianzcwin
Mischling {!'',), V Sii(3chiui_bf M Lutdnnderiu
Auln Dr. Tao (K. \V. I. Anthr.)
Ruckkieu/uui; Sohn -von Ni 7h und deutscher Mutter Mehrfach -Mi schling, "V: Anatnese, M: Mulattin aus
Aufn Pr Tao Neger und Europäerin, Aufn. Dr. Abel (K . W, I. Anthr.)
Dritter Abschnitt
Die krankhaften Erbanlagen.
Von
Professor Dr. Fritz Lenz.
Da bei der Fülle der Neuerscheinungen einzelne Arbeiten sonst leicht über-
sehen werden könnten, bitte ich die Verfasser einschlägiger Arbeiten mir
Sonderdrucke zugchen zu lassen.
F. Lenz
Beiiin-Zehlendorf, Forststr, 45,.
Es ist kennzeichnend für lebende Wesen, daß sie sowohl in
ihrer Bauart als auch in ihren Reaktionsweisen im allge-
meinen an ihre gewöhnliche Umwelt angepaßt sind; und wir
nennen ein Lebewesen angepaßt an seine Umwelt, wenn seine
Bauart und die davon abhängigen Lebensäußerungen in dieser
(Jmwelt die Erhaltung des Lebens gewährleisten.
Nicht selten begegnen uns aber auch Lebewesen, die
diese Anpassung, sei es infolge äußerer Einwirkungen, sei es in-
folge der Bauart des Lebewesens selber, mehr oder weniger ver-
missen lassen, bei denen also die Erhaltung des Lebens beein-
trächtigt ist. Den Zustand eines Lebewesens, das an den Gren-
zen seiner Anpassungsfähigkeit lebt, bezeichnen wir als krank.
Es gibt also alle Übergänge zwischen voller Gesundheit und
schwerster Krankheit. Einen biologischen Wesensunterschied
zwischen Gesundheit und Krankheit gibt es nicht.
Volle Gesundheit bezeichnet den Zustand der vollen Anpas-
sung, und ein Lebewesen ist in um so höherem Maße krankhaft,
je stärker seine Anpassung, beeinträchtigt ist. Wird es durch
innere oder äußere Ursachen über die Grenze seiner Anpas-
sungsfähigkeit hinausgedrängt, so tritt der Tod ein. Der tote
Körper zeigt keine Anpassungsreaktionen mehr; das unterschei-
det ihn vom lebenden. Unter Krankheit verstehen wir dem-
gemäß den Zustand eines Organismus an den Gren-
zen seiner Anpassungsfähigkeit.
Leichtere Abweichungen vom Zustande voller Anpassung
bezeichnen wir noch nicht als Krankheit. Eine Schwäche des
Farbensinnes z. E. ist keine Krankheit, sondern eine Anoma-
lie. Unter Anomalien verstehen wir dauernde Abweichungen
vom Zustande voller Anpassung, die zwar eine gewisse Be-
einträchtigung der Erhaltungsfähigkeit bedeuten, aber keine so
schwere, daß davon das Leben unmittelbar bedroht wäre, die
also von den Grenzen der Anpassungsfähigkeit des Organismus
noch ziemlich weit entfernt sind. Viele Anomalien stellen zu-
gleich Dispositionen zu Krankheiten dar, z. B. die sogenannten
Diathesen (Anfälligkeiten), von denen noch zu reden sein wird.
Damit behaftete Organismen können durch äußere Schädlich-
324 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
fceiteii leichter als normale den Grenzen ihrer Erhaltungsfähig-
keit genähert, also krank gemacht werden 1 ).
Man hat sich lange Zeit vorgestellt, daß jeder Art von Lebewesen
eine bestimmte „normale Variationsbreite" zukomme und daß Abweichun-
gen vom mittleren Typus innerhalb eines gewissen Spielraumes als normal
anzusehen seien, Abweichungen, die diese „normale Variationsbreite"
überschritten, dagegen als krankhaft. Eine solche Grenze kann es indessen
nicht geben; denn vor die Frage nach den Grenzen der „normalen
Variationsbreite' ' gestellt, kann man doch nicht antworten, daß sie da
aufhöre, wo das Krankhafte anfange.
Es ist auch ganz unzweckmäßig, einfach den Durchschnittstypus einer
Bevölkerung als Maß des Normalen anzusehen. Der Durchschnitt braucht
durchaus nicht immer die größte Anpassung zu haben. Aus demselben
Grunde eignet sich auch der häufigste Typus nicht als Maßstab des Nor-
malen. Auch in einer Bevölkerung, deren meiste Mitglieder einen Kropf
haben, wird man den Kropf nicht als normal bezeichnen wollen 3 ). Alle
Versuche, „für diio Norm in einheitlicher Weise Grenzwerte zu be-
stimmen" (Rautmann) sind verfehlt. Es ist ein Vorurteil, daß es einen
bestimmten Normaltypus oder ,,Normotypus" geben müsse. Die Frage nach
der Abgrenzung des Normbegriffs ist keine Frage der inhaltlichen Er-
kenntnis, sondern eine solche der Definition. „Den Kern seines Wesens
zu erkennen' ', kann man nur versuchen, wenn man das nicht merkt.
Definitionen sind frei; andererseits aber auch nicht vogelfrei. Man muß
sich ihre Konsequenzen klarmachen und auf den Sprachgebrauch Rücksicht
nehmen. Beiden Forderungen entspricht meine Definition, welche als be-
grifflichen Gradmesser die Lebenstüchtigkeit nimmt. Nach dieser Auffassung
ist es durchaus nicht nötig, daß es nur einen normalen Typus in einer
Bevölkerung gebe. Mehrere recht verschiedene Typen dürften vielmehr gleich
erhaltungsgemäß sein. Besonders im Hinblick auf menschliche Völker muß
dabei die Arbeitsteilung berücksichtigt werden. Für die Gesamtleistung eines
Volkes sind sehr verschiedene Begabungen nötig. Ein Volk, in dem nur ein
einziger Typus vertreten wäre, würde im Daseinskampf unterliegen. Das gilt
übrigens auch von Bienen-, Ameisen- und Termitenvölkern.
I ) A. Fischer hat behauptet, ich hätte die Definition von Krankheit
und Gesundheit nach Maßgabe der Anpassungsfähigkeit erst im Jahre 1921
gegeben, und zwar hätte ich meine Anschauungen in dieser Hinsicht von
dem Freiburger Pathologen Aschoff übernommen (A. Fischer, „Der
Begriff Gesundheit". Sozialhygienische Mitteilungen, Jg. 16, H. 3, 1932.)
Beides ist unzutreffend. Ich habe meine Krankheitsdefinition schon im Jahre
1912 in meiner Schrift „Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes",
Jena, Fischer) gegeben; und ich habe den Krankheitsbegrilf in bewußtem
Gegensatz zu meinem verehrten Lehrer Aschoff entwickelt, der die von
mir gewählte Orientierung an dem Anpassungsbegriff damals tadelte und
ablehnte.
s ) Daher können auch die Versuche von Rautmann, J. Bauer
u. a. nicht befriedigen.
Rautmann, H. Untersuchungen über die Norm. Jena, Fischer,
1921.
Bauer, J. Vorlesungen über allgemeine Konstitutions- und Ver-
erbungslehre. Berlin, Springer 1923.
KRANKHEIT, GESUNDHEIT UND NORM.
325
Die Mittelmäßigkeit darf nicht zur Norm erhoben
werden. Ist das schon auf körperlichem Gebiet bedenklich, so ist ein
solches Ideal auf geistigem Gebiet geradezu verhängnisvoll. Freilich bestehen
gewisse Beziehungen zwischen Norm und Durchschnitt. Die am häufig-
sten vorkommenden mittleren Typen werden im allgemeinen auch lebens-
tüchtig sein, weil im Kampf ums Dasein unter gewöhnlichen Bedingungen
eben diese am häufigsten überleben. Starke Abweichungen vom Durch-
schnitt werden meist krankhaft sein; aber ausnahmslos gilt das keineswegs;
und zur Bestimmung des Normbegriffs ist diese Beziehung daher nicht
geeignet.
Die Definition der Begriffe Krankheit und Gesundheit wird
zweckmäßig letzten Endes nicht auf die Erhaltung des Indivi-
duums, sondern auf die der Rasse bezogen. Unfruchtbarkeit z.B.
wird allgemein als krankhaft angesehen, obwohl dadurch die Er-
haltung des Individuums nicht gefährdet wird. Andererseits brin-
gen Geburt und Wochenbett unvermeidlich gewisse Gefahren für
die Mutter mit sich ; und doch rechnen wir Geburt und Wochen-
bett nicht zu den Krankheiten, obwohl die Frau daran ähnlich
darniederlegt wie an einer Krankheit. Diese Vorgänge sind eben
notwendig zur Erhaltung der Rasse und darum sind sie normal.
Das Greisenalter wie das Säuglingsalter rechnen wir nicht zu den
Anomalien, obwohl die individuelle Anpassungsfähigkeit gerin-
ger ist als in mittleren Jahren, Der Alterstod der Individuen ist
normal, weil er die Erhaltung der Rasse nicht beeinträchtigtund
die Erneuerung der Individuen durch die Geburt notwendig zur
Erhaltung der Rasse ist. jene Anpassung, an der wir die Be-
griffe Gesundheit und Krankheit scheiden, ist also letzten
Endes nicht auf die Erhaltung des Individuums, sondern auf
die der Rasse gerichtet. Die Erhaltung der Individuen ist
nur ein Mittel dazu. Auch seelische Anlagen, die zur Aufopfe-
rung der Individuen führen (z.B. im Kriege), sind nicht krank-
haft, sondern normal, insoweit als sie der Erhaltung der Rasse
dienen.
Eine absolute Anpassung gibt es nicht; angepaßt ist ein
Lebewesen immer nur an eine bestimmte Umwelt. Wenn ein
Neger im tropischen Afrika mit der .geringen Widerstandsfähig-
keit des Nordeuropäers gegen Hitze geboren würde, so wäre er
nicht normal, sondern krankhaft, und ebenso ein Nordeuropäer
mit der Kälteempfindlichkeit des Negers. Wir nehmen daher als
Maßstab des Normalen die Anpassung an die Umwelt der
Rasse, und die Maßstäbe des Normalen sind für die verschie-
denen Rassen verschieden.
326
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
tememe
In der Regel sind die Ursachen einer Krankheit nicht aus-
schließlich entweder in Einflüssen der Umwelt oder in den
Erbanlagen zu suchen, sondern gewöhnlich wirken beide Grup-
pen von Krankheitsursachen zusammen. Nur verhältnismäßig
selten kommt dabei allerdings beiden Gruppen die gleiche Be-
deutung zu; in der Regel pflegt vielmehr entweder die eine
oder die andere praktisch ausschlaggebend zu sein. So liegt
bei gewissen Infektionskrankheiten die entscheidende Ursache
in dem Eindringen besonderer Kleinlebewesen in den Kör-
per und ihrer Vermehrung auf seine Kosten. Als erbliche
Krankheiten bezeichnen wir dagegen solche, bei deren Zu-
standekommen krankhafte Erbanlagen die entscheidende Rolle
spielen.
'Die Ursache einer erblichen Krankheit liegt demgemäß in der Erb-
masse, insofern als man die Krankheit des Individuums ins Auge faßt, oder
in der krankhaften Mutation bzw. Idiokinese, sofern man die Krankheit auf
die betroffene Sippe bezieht. Die Erbpathologie hat -demgemäß der erste
und grundlegende Teil der ätiologischen Pathologie zu sein und gleichbe-
rechtigt neben die Erforschung der aus der Umwelt stammenden Krankheits-
ursachen zu treten.
Bei der Benennung der Krankheiten hat man vielfach die binäre No-
menklatur Linnes nachgeahmt; bei den Bezeichnungen Typhus abdominalis
und Typhus exanthematicus ist das Wort Typhus gewissermaßen als Gat-
tungsname, die Worte abdominalis und exanthematicus als Artnamen ge-
dacht. Entsprechend hat man von Asthenia universalis gesprochen. Das
ist indessen nur scheinbar biologisch gedacht; man kann die Krankheiten
nicht in Gattungen und Arten einteilen. Die biologische Einteilung der durch
Kleinlebewesen verursachten Krankheiten muß sich vielmehr nach der dieser
Lebewesen richten. Die durch den Typhusbazillus verursachte Krankheit hat
mit dem durch ein Protozoon verursachten Fleckfieber („Typhus exan-
thematicus") keine biologische Verwandtschaft Bei den erblichen Krankhei-
ten andererseits handelt es sich um Varietäten des Menschen; so könnte
man von einem Homo sapiens var. asthenicus sprechen.
Die krankhaften Erbanlagen folgen in ihrer Erblichkeit
grundsätzlich derselben Gesetzlichkeit wie die normalen. Für
den, der eingesehen hat, daß zwischen Krankheit und Gesund-
heit kein biologischer Wesensunterschied besteht, ist das eigent-
lich selbstverständlich. Die Erfahrung an den experimentel-
ler Forschung zugänglichen Lebewesen, besonders an den in
dieser Beziehung am besten bekannten, der Obstfliege (Droso-
KRANKHAFTE ERBANLAGEN.
327
phila) und dem Löwenmaul (Antirrhinum) hat einerseits gezeigt,
daß die allermeisten von den zahlreichen Mutationen, die man
schon kennt, in geringerem oder höherem Grade krankhaft sind,
andererseits, daß man diese krankhaften Mutanten so gut wie
alle als einfach dominant oder rezessiv erblich einordnen kann.
Entsprechendes ist von vornherein auch für die beim Menschen
vorkommenden krankhaftenErbanlagen zu erwarten ; und die tat-
sächliche Erfahrung entspricht dem durchaus. Andererseits zeigt
die experimentelle Erfahrung bei der Kreuzung in der freien
Natur vorkommender (nicht krankhafter) Rassen und Arten,
daß deren Unterschiede in der Regel nicht nur durch einzelne
Erbeinheiten (monomer), sondern durch viele (polymer) bedingt
sind. In gleichem Sinne sprechen auch die Erfahrungen
über die Kreuzung normaler menschlicher Rassen bzw. über
die Erblichkeit normaler menschlicher Anlagen. Wir können
daher die Regel aufstellen: krankhafte erbliche Zu-
stände sin dm eist durch einzelne Erbanlage n (mo-
nomer), normale Eigenschaften durch viele (po-
lymer) bedingt. Dieses Verhalten erscheint leicht verständ-
lich, wenn man folgendes bedenkt : Wenn eine bestimmte Erb-
einheit eine so starke Abweichung ihres Trägers vom Durch-
schnitt bewirkt, daß man ihn daran ohne weiteres von anderen
Individuen unterscheiden kann — und darin besteht ja das
Wesen monomerer Merkmale — , so wird eine derartige Ab-
weichung meist eine Störung der Erhaltungstüchtigkeit, d. h.
einen krankhaften Zustand, bedingen. Erbeinheiten, die für sich
allein ihren Trägern nicht ein bestimmtes Merkmal aufzuprägen
vermögen, sondern irgendeine Eigenschaft nur ein wenig beein-
flussen und die erst in Mehrzahl stärkere Abweichungen be-
dingen, werden meist keine pathologische Bedeutung haben,
sondern nur Unterschiede innerhalb der sogenannten Breite des
Normalen bedingen.
Weil manche krankhaften Anlagen ihre Träger besonders
deutlich von der übrigen Bevölkerung unterscheiden, hat man
ihren Erbgang sogar besonders gut verfolgen können. So kommt
es, daß man gerade an krankhaften Anlagen am besten die Gül-
tigkeit des Mendelschen Gesetzes für den Menschen hat zeigen
können. Verführt durch die besondere Augenfälligkeit der Erb-
lichkeit gerade krankhafter Anlagen hat man wohl gelegent-
lich in der Vererbung als solcher ein Verhängnis zu sehen ver-
meint. Davon kann aber gar keine Rede sein. Die Vererbung
normaler und krankhafter Anlagen geschieht mit genau der-
328 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLÄGEN.
selben Treue. Man darf nie vergessen, daß der Grundstock
jedes Lebewesens sich' aus seiner Erbmasse aufbaut und daß
die Einflüsse der Umwelt nur bei der Ausgestaltung der An-
lagen im einzelnen mitwirken.
b) Erbliche Augenleiden.
In diesem und den folgenden Kapiteln sollen nur Krank-
heiten und Anomalien, die entweder wesentliche Bedeutung für
das praktische Leben haben oder die für die menschliche Erb-
lehre theoretisch bedeutsam sind, besprochen werden. Eine voll-
ständige Darstellung, die auch alle seltenen Zustände, von denen
Erblichkeit berichtet worden ist, umfassen würde, ist nicht an-
gestrebt. Da das Buch sich nicht nur an Ärzte, sondern an einen
weiteren Kreis von Gebildeten wendet, habe ich die einzelnen
Krankheiten mit wenigen Worten zu kennzeichnen gesucht, was
der Natur der Sache nach nur unvollkommen gelingen kann.
Einige Seltenheiten, die nur für ärztliche Leser Interesse haben,
wurden nur mit ihrer fachmäßigen Bezeichnung kurz in klei-
nem Druck erwähnt. Vollständigkeit anstrebende Listen erb-
licher Krankheiten und Anomalien sind irreführend, weil darin
schwere und leichte, häufige und seltene Zustände scheinbar
gleichwertig nebeneinander stehen und weil daraus von Laien
leicht der falsche Schluß gezogen wird, daß bei andern Leiden
die Erblichkeit keine Rolle spiele.
Eine Darstellung erblich bedingter Krankheiten und Ano-
malien beginnt zweckmäßig mit denen des Auges. Bei kei-
nem andern Organ ist so viel über krankhafte Erbanlagen be-
kannt wie bei dem Sehorgan, und das ist kein Zufall. Das Auge
ist das komplizierteste und wichtigste unserer Sinnesorgane;
verhältnismäßig geringe anatomische Abweichungen im Bau des
Auges haben schon beträchtliche Störungen der Leistung zur
Folge. Dazu kommt, daß das Auge besonders übersichtlich und
der ärztlichen Untersuchung zugänglich ist.
Wieviel über erbliche Augenleiden bekannt ist, zeigt die
umfassende Darstellung des holländischen Augenarztes Waar-
denburg 1 ), die 631 Druckseiten umfaßt. Dieses vorbildliche
Werk war mir für die Neubearbeitung des .Kapitels über erb-
liche Augenleiden eine große Hilfe. Es wäre sehr zu wünschen,
daß auch Vertreter anderer klinischer Spezialfächer die ent-
sagungsvolle Arbeit auf sich nehmen würden, die erbpatholo-
!) S. Literaturverzeichnis.
ÄUGENLEIDEN.
329
gische Literatur ihres Gebietes zu sammeln und kritisch zu
sichten.
Die Erblichkeit der Augenfarbe (Irisfarbe), soweit sie keine
krankhafte Bedeutung hat, ist schon in dem Abschnitt von
Fischer besprochen worden. Ausgesprochen krankhaft ist
aber der hochgradige Farbstoffmangel des Auges, der einer-
seits als Teilerscheinung des allgemeinen Albinismus, anderer-
seits auch als auf das Auge beschränkte Anomalie vorkommt.
Da die krankhaften Störungen bei dem allgemeinen Albi-
ni s m u s in erster Linie vom Auge ausgehen, möge er hier unter
den Augenleiden besprochen werden.
Bei diesem Zustand sind die Haare infolge Farbstoffman-
gels von Jugend auf schneeweiß bis gelblichweiß. Die Haut
ist rosig-weiß von durchscheinendem Blut. Auch die Regen-
bogenhaut (Iris) sieht von dem durchschimmernden Blut der
Blutgefäße rötlich aus; und die Pupillen leuchten eigentüm-
lich rötlich auf, weil einfallendes Licht von der Aderhaut, der
das normale dunkle Pigment fehlt, zurückgeworfen wird. In-
folge schmerzhafter Blendung durch Tageslicht halten albino-
tische Personen in hellem Licht die Augen fast ganz geschlos-
sen und den Kopf gesenkt. Diese Lichtscheu hat ihnen im Volks-
mund den Namen „Kakerlaken" eingetragen, der ursprünglich
die lichtscheuen Küchenschaben bezeichnet. Neben dem Pig-
mentmangel als solchem besteht bei albinotischen Augen eine
Hemmungsmißbildung der Fovea centralis der Netzhaut, die
normalerweise die Stelle des deutlichstens Tagessehens ist. Da-
durch wird Schwachsichtigkeit bedingt, die also nicht nur die
Folge von Blendung ist. Mit der Schwachsichtigkeit gehen
eigentümliche rhythmische Zuckungen der Augen (Nystagmus)
einher.
Die Erblichkeit des Albinismus ist in mehreren eingehenden
Arbeiten untersucht worden, so von Pearson, Nettlesh'ip
und Usher 1 ) sowie von Seyfarth 2 ). Im ganzen sind gegen
700 Sippentafeln über Albinismus veröffentlicht worden. Aus
diesen geht hervor, daß der allgemeine Albinismus sich ein-
fach rezessiv vererbt oder, anders ausgedrückt, daß die nor-
male Pigmentierung sich gegenüber dem Albinismus dominant
*) P. e a r s o n , K., Nettleship, E„ and Usher, C. H. A mono-
graph on albinism in man. 3 Bde. London 1911. Dulan,
s ) Seyfarth, C. Beiträge zum totalen Albinismus. Virchows
Archiv Bd. 228 (1920).
330 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
verhält. Eine Sippentafel nach Tertsch*), die zugleich für
den Erbgang rezessiver Anlagen überhaupt lehrreich ist, sei
hier wiedergegeben.
Wir sehen in dieser Sippenlafel links eine Ehe zwischen Onkel und
Nichte dargestellt, aus der vier albinotische und zwei normale Kinder
hervorgehen. Die albinotische Mutter ist als homozygot 2 ) aufzufassen, der
Vater als heterozygot. Durch die Verwandtenehe ist die rezessive Anlage
zum Albinismus von beiden Seiten zusammengeführt worden. In der Mitte
der Sippentafel sehen wir aus einer Vetternheirat ein albinolisches und zwei
cf
~f~ ,
CT O"
rrgr^p £ ^ c ^7 f ^ cf cf
<_. — ^ —
Fig. 63. ■
Allgemeiner Albinismus nach T e r t s c h.
normale Kinder hervorgehen. Da beide Eltern gesund sind, so sind beide
als heterozygot anzusehen. Daß die Anlage nicht dominant ist, folgt daraus,
daß In drei Ehen albinotischc Kinder von beiderseits gesunden Eltern
stammen. Der allgemeine Albinismus ist vielmehr rezessiv und scheint auch
beim Menschen auf dem Felden einer Erbeinheit zu beruhen, die weiter oben
auf S. 86 bei Kaninchen mit A bezeichnet wurde. Die Sippentafel ist ein Bei-
spiel für die Bedeutung der Verwandtenehe für das Manifestwerden rezessiver
Leiden. Ein großer Teil aller albinotischen Personen (ein Fünftel bis ein
Drittel) stammt von blutsverwandten Eltern, während sonst die Häufigkeit
näherer Verwand tenelicn rund 1 0/0 beträgt. Recht lehrreich sind auch einige
Fälle, wo albinotische Individuen aus Inzest hervorgegangen sind. Zwei
solcher Fälle sind in Fig. 64 und 65 dargestellt. Bei diesen geschlechtlichen
Verbindungen engster Blutsverwandter ist die Gefahr des Zusammentreffens
zweier krankhafter Erbanlagen natürlich ganz besonders groß.
Mit dem rezessiven Erbgang hängt es zusammen, daß der allgemeine
Albinismus in gewissen Inzuchtgebieten relativ häufiger als sonst beobachtet
1 ) Tertsch. Albino mit bemerkenswertem Stammbaum. Zeitschrift
für Augenheilkunde. Bd. 25. S. 107. 191 1.
a ) Sprachlich richtiger würde man statt homozygot und hetero-
zygot eigentlich homogametisch und h e t e r o g a m e t i s c h sagen,
da nicht Gleichheit von Zygoten, sondern Gleichheit von Gameten, aus
denen eine Zygote hervorgeht, bezeichnet werden soll. Ich habe daher in den
früheren Auflagen diese korrekteren Ausdrücke gebraucht, sehe nun aber
doch davon ab, da die Worte homozygot bzw. heterozygot einmal einge-
bürgert sind und die Worte homogametisch bzw. hetero gametisch nur für den
Spezialfall der Geschlechtschromosomc gebräuchlich sind. .
AUGENLEIDEN,
331
wird. So hat Hanhart auf der Insel .Veglia an der dalmatinischen Küste
mehrere albino tische Individuen angetroffen, während sonst erst auf 10- bis
20 000 Einwohner ein Albino zu kommen pflegt.
Drei Familien sind bekannt geworden, in denen beide Eltern und sämt-
liche Kinder albinotisch waren; das entspricht der Erwartung bei einfach
rezessivem Erbgang. Es wäre aber nicht notwendig, daß die Kinder zweier
albinotischcr Eltern in jedem Fall albinotisch waren. Vielmehr wäre es theo-
9
cf-
cT^)
Fig. 64.
Albinismus nach Bemiss 1 )
Albinismus nach P e a r s o 11
retisch möglich, daß es verschiedene Arten rezessiven Albinismus gäbe,
ßateson und P u u 11 e t s ) habe'n eine weiße Rasse des Bantamhuhns und
eine weiße Seidenhuhnrasse gefunden, deren jede gegenüber gefärbten Hüh-
nerrassen sich einfach rezessiv verhielt, die aber bei Kreuzung untereinander
nicht weiße, sondern gefärbte F r Nachkommen gaben. In F g trat eine Spal-
tung im Verhältnis von 9 farbig zu 7 weiß auf. Es handelte sich also um
zwei verschiedene rezessive Weißanlagen, die nicht einander allel waren,
deren jede vielmehr durch das normale Allel der anderen Rasse über-
deckt wurde.
B a t e s o n hat auch eine Beobachtung von S t e d m a n aus dem Jahre
1806 in Erinnerung gebracht, nach der ein Europäer eine albinotische Nege-
rin heiratete und von ihr nur dunkle Mulattenkinder bekam. Offenbar war
die Albinoanlage der Negerin durch die allele Anlage des Europäers über-
deckt worden, so daß nun die übrigen Farbanlagen zur Wirkung kommen
konnten. Das normale „Weiß" der europäischen Haut ist eben etwas ganz
anderes als das Weiß der Albinohaut.
Außer dem vollständigen Albinismus gibt es eine weniger hochgradige
Form, bei der die Augen nicht rötlich, sondern blaugrau bis grünlichgrau
sind und die Haare im Alter des Heranwachsens bis zu einem gewissen Grade
nachdunkeln. Schwachsichtigkeit und Lichtscheu besteht auch bei diesem
„Albinoidismus", jedoch kein Nystagmus. Nach den wenigen, nicht sehr sorg-
fältig untersuchten Sippen, die bekannt geworden sind, scheint es sich um
eine dominante bzw. intermediäre Erbanlage zu handeln. Es wäre möglich,
daß die Anlage homozygot einen viel schwereren Albinismus bedingen
würde, vorausgesetzt, daß solche Individuen überhaupt lebensfähig wären.
!) Bemiss, S. M. Report on influence of marriages of consanguinity
upon offspring. Transactions of the American Medkal Association. Bd. 11.
Philadelphia 1858.
2 ) Bateson, VV. Mendels Vererbungstheorien S. ) 00 — 101 (s. Lite-
raturverzeichnis).
332 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Mit dem allgemeinen Albinismus haben wir eine Erbanlage
kennen gelernt, die sich nicht nur in einem Organ, sondern in
mehreren (Auge, Haut, Haar) auswirkt und die zugleich so
verschiedene Eigenschaften wie Farbstoffmangel, Schwachsich-
tigkeit und Augenzittern bewirkt. Man nennt derartige Erban-
lagen, die sich auf mehrere Organe bzw. Eigenschaften erstrek-
ken, nach Siemens polyphän. Auf derartigen polyphänen
Erbanlagen beruht zum größten Teil die Korrelation (s. u.)
von Eigenschaften.
Während der allgemeine Albinismus sich auf verschiedene
Organe erstreckt, betrifft der isolierte Albin ismus des
Auges nur das Sehorgan. Haut- und Haarfarbe sind in die-
sem Falle normal; die krankhaften Erscheinungen am Auge
sind aber dieselben, wie sie soeben geschildert wurden. Die
Träger dieses Leidens sind regelmäßig Männer. Frauen mit iso-
liertem Albinismus des Auges sind bisher nicht bekannt ge-
worden. Gesunde Frauen können aber vom Vater her die An-
lage auf ihre Söhne übertragen, und zwar, wie aus der Theorie
folgt, im Durchschnitt auf die Hälfte der Söhne; die Töchter
bleiben verschont; doch kann das Leiden in weiblicher Linie
durch zwei, drei und noch mehr Generationen latent weiterge-
geben werden, bis es sich irgendwann einmal gelegentlich in
männlichen Nachkommen äußert. Männer können das Leiden
niemals auf ihre Söhne übertragen, wohl aber indirekt durch
Töchter auf männliche Enkel. Diesen Erbgang nennen wir
rezessiv geschlechtsgebunden: Wie bei gewöhnli-
chem rezessiven Erbgang sind auch hier die Eltern kranker
Individuen in der Regel äußerlich normal. Dazu kommt aber
die geschilderte eigentümliche Bindung an das Geschlecht ; diese
erklärt sich daraus, daß, die krankhafte Anlage auf dem; Defekt
einer Erbeinheit beruht, die normalerweise im Geschlechts-
chromosom vorhanden ist (vgl. S. 62 ff.). Da der Mann nur ein
Geschlechts Chromosom enthält, so äußert sich ein derartiger
Defekt ohne weiteres; im weiblichen Geschlecht, das zwei
Geschlechtschromosome enthält, wird der Defekt eines Ge-
schlechtschromosoms durch die entsprechende normale Erbein-
heit im andern Geschlechtschromosom überdeckt. Zur Veran-
schaulichung dieses Erbganges diene folgende Sippentafel:
Die 14 befallenen Männer in dieser Sippe müssen ihr Leiden alle in
weiblicher Linie von der gesunden Stammutter in der ersten gezeichneten
Generation geerbt haben; denn wenn es von deren Mann stammen würde,
so müßte dieser selbst krank sein. Die beiden kranken Männer der letzten
Generationen haben seit mindestens vier Generationen nur gesunde (d. h.
AUGENLEIDEN.
333
von dem Leiden freie) Vorfahren; die Anlage ist also durch mindestens
vier Generationen verborgen weitervererbt worden. In der ganzen Sippe
findet sich kein kranker Maxin, der das Leiden weiter vererbt hätte, was
9" 9
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Fig. 66.
Albinismus des Auges mit Augenzittern (Nystagmus). Nach Vogt 1 ).
sich daraus erklärt, daß kranke Männer nur selten zur Ehe und Fortpflan-
zung gelangen. Immerhin ist auch Vererbung des Leidens von einem kran-
ken Mann durch gesunde Töchter auf Enkel und Urenkel beobachtet wor-
den, wie folgende ältere Sippentafel zeigt.
S
9 9 ö" 9 9.9 er 9 o" o
cf <f
9
9
9 9
Fig. 67.
Albinismus des Auges mit Nystagmus (Augenzittern), Nach M an s -
field (gekürzt, es sind die Nachkommen einiger Frauen der 2. Generation
weggelassen).
Da der isolierte Albinismus des Auges auf einer im Geschlechtschromo-
som lokalisierten Anlage beruht, ist er sicher nicht allel mit dem allgemeinen
Albinismus, obwohl auch dieser sich vorzugsweise am Auge äußert.
Jener partielle Albinismus, der in einer Weißscheckung der Haut be-
steht, wird unter den erblichen Anomalien der Haut besprochen.
Unter den Farbstoffanomalien des Auges sind die Heterochro-
mien erwähnenswert, bei denen die beiden Augen verschieden gefärbt sind,
J ) Vogt, A. Über Maculalosigkeit bei isoliertem Bulbusalbinismus als
geschlechtsgebunden-rezessives Merkmal. Archiv der Julius-Klaus-Stiftung
Bd. i, S. i ig, 1925.
334 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
z. B. das eine braun, das andere blau. Die Heterochromia simple*, bei der
das anomale Auge gleichmäßig hell gefärbt ist, ist gelegentlich mehrfach
m derselben Sippe beobachtet worden. Die meisten Fälle einfacher Hetero-
chromie scheinen nach Waardenburg indessen nicht erbbedingt zu
sein. In einem Fall von Fuchs zeigte die eine von zwei eineiigen Zwillings-
schwestern braune Irisfarbe rechts und blaue links. Einen entsprechendeil
fall hat auch Koby berichtet. Die sog. „Sympathikushelcrochromie" bzw
die „Heterochromia complicata" scheint ein Teilsymptom einer dysraphi-
schen Entwicklungsstörung des Rückenmarks zu sein*). Man vergleiche das
über Syringomyclie Gesagte.
In einem Fall von Gossage 2 ) konnte Braunfleckung (Ti^erung)
des einen Auges durch 5 Generationen verfolgt werden; und zwar handelte
es sich bei allen 9 befallenen Mitgliedern der Sippe um das linke Auge
Die Grundfarbe dieses Auges war blaugrau, ebenso vermutlich die Farbe
des rechten Auges, was aus der Mitteilung nicht deutlich hervorgeht. Pas-
so w 8 ) hat eine Sippe bekanntgegeben, in der fünf Mitglieder einen braunen
Sektor m der Regenbogenhaut des linken Auges hatten, während die Augen-
farbe im übrigen grünlichgrau war. Diese Sippentafeln haben theoretisches
Interesse, weil sie mit großer Wahrscheinlichkeit zeigen, daß es einseitige
Anomalien gibt, die mit Einhaltung der Seite erblich sind. Ich gebe die
Sippentafeln daher wieder.
9
c?
'ÖÖiÖÖmÖÖ
o ö
Ötf<
Fig. 6g.
Braunfleckung (Tigerung)
der Iris des linken Auges.
Nach Gossage.
9 9 9 d d
Fig. 69.
Braunfleckungderlris des
linken Auges in Form eines
großen braunen Flecks.
Nach P a s s o w.
Wahrend m den Sippentafeln von Gossage und Passow die
Heckung der Ins anscheinend dominant erblich ist, berichtet Waarden-
burg, daß nach seinen Erfahrungen die Iris bicolor, d. h. die sektoren-
iormige braunfleckung, überwiegend nichterblicher Natur sei. Bei mehreren
Paaren eineiiger Zwillinge war nur eines der 4 Augen befallen. Bei Hunden
™l_K™hen kommen Flecken der Iris als Teilerscheinung erblicher
x ) Passow, A. Hornersyndrom, Heterochromie und Status dysra-
phicus ein Symptomenkomplex. Archiv f. Augenheilk. Bd. 107 S 1 10»
)Gossa ge , A. M. The inheritance of certain human abnormalities
Quarterly Journal of Medicine. Bd. 1, S. 304. Oxford 1907.
3 ) Passow, A. Über gleichseitige Vererbung von sektorenfÖnmVer
Inspigmcnüerung. AR.GB. Bd. 26. H. 4. S. 417. 1932.
AUGENLEIDEN.
335
^9 99
&
o
1 U ' u,
Fig. 70.
Mikrophthalmie in einer
Geschwister reihe, deren
Eltern blutsverwandt sind.
Nach Waardenburg.
Scheckung vor; die Scheckung der Iris zeigt dort das unregelmäßige Ver-
halten, das für die erbliche Scheckung überhaupt kennzeichnend ist. Die
sektorenförmig'e Scheckung sowie die Tigerung der Iris .scheinen in das
Gebiet der Muttermäler oder Naevi zu gehören, von deren Erblichkeit unter
den Anomalien der Haut berichtet wird.
Abnorme Kleinheit der
Augen (M i k r o p h t h a 1 m i e), wird
nicht ganz selten bei mehreren Ge-
schwistern beobachtet. Die Eltern ha-
ben in der Regel normale Augen, sind
aber in einem erheblichen Hundertsatz
blutsverwandt, worauf besonders Waar-
denburg hingewiesen und den Nach-
weis rezessiven Erbgangs gestützt hat.
Auch völliges Fehlen der Augen
( A n o p h t h a 1 m i e 1 ) ) ist mehrfach bei
Geschwistern beobachtet worden. Beide
Mißbildungen kommen gelegentlich in
derselben Geschwisterreihe vor ; auch
kann bei derselben Person auf der einen
Seite das Auge abnorm klein sein, auf
der andern ganz fehlen. Mikrophthalmie und Anophthalmie
sind also mindestens zum Teil von denselben rezessiven Erb-
anlagen abhängig.
In einer von Ash 2 ) beschriebenen Familie vererbte sich Mikrophthal-
mie durch 3 Generationen rezessiv geschlechtsgebunden. U s h e r 3 ) hat über
eine Familie berichtet, in der Mikrophthalmie in dominantem (bzw. inter-
mediärem) Erbgang durch 4 Generationen verfolgt werden konnte. Wäh-
rend Mikrophthalmie gewöhnlich mit Hyperopie einhergeht, war sie in dieser
mit Myopie verbunden. Es gibt also offenbar mehrere genetisch verschiedene
Arten von Mikrophthalmie; auch die einfach rezessiven Formen sind vermut-
lich nicht alle genetisch gleich.
Abnorm große Hornhaut (M e g a 1 o c o r n e a), infolge deren
das Auge sehr groß erscheint, ist in mehreren Familien als rezessiv-ge-
schlechtsgebunden erblich beobachtet worden. Krankhafte Bedeutung hat
diese Anomalie indessen kaum.
Fehlen der Regenbogenhaut (Aniridie oder Iride-
r e m i e) kommt als dominant erbliches Leiden vor. S p a I t b i 1 d u 11 g der
*) Die Augenärzte bezeichnen angeborenes Fehlen der Augen als
j.Anophthalmus", d. h. wörtlich ein Auge, das nicht da ist, ein Nichtauge.
Ich spreche lieber von Anophthalmie und entsprechend auch von Mikro-
phthalmie, Hydrophthahnic usw.
2 ) Ash, W. H. Hcreditary microphthalmia. British medical Journal.
1922. S. 558.
3 ) Usher, C. H. A pedigree of microphthalmia with myopia and
corectopia. British Journal of ophthalmology. 1921. S. 3S9.
336 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Regenbogenhaut (Kolobom), ein Zustand, bei dem die Pupille
an einer Steile (meist unten) bis zum Rande der Iris reicht, ist in ziemlich
zahlreichen Sippen durch mehrere Generationen verfolgt worden, was auf
dominanten bzw. intermediären Erbgang schließen läßt. Vielfach sind die
Anlageträger nur einseitig mit Kolobom behaftet. Da es Familien gibt,
in denen neben Aniridie auch Kolobom; und andere, in denen nur Kolobom
vorkommt, so scheint es in verschiedenen Familien verschiedene Erbanlagen
zu geben, die sich in ihrer Wirksamkeit quantitativ unterscheiden. Ob es
neben den dominanten auch rezessive Anlagen für Kolobom gibt, ist nicht
sicher bekannt. Die meisten Kolobomfälle scheinen überhaupt nicht ent-
scheidend durch die Erbanlage bedingt zu sein, sondern auf anderweitiger
Entwicklungshemmung zu beruhen. Mehrfaches Vorkommen in derselben
Familie ist jedenfalls nicht die Regel.
Angeborene Verlagerung der Linse (Ektopia lentis)
ist öfter durch mehrere Generationen verfolgt worden. Neben dieser domi-
nanten Form gibt es auch eine rezessive, die mit Verlagerung der 1 Pupille
einher geht. In einer von Strebel 1 ) beschriebenen Sippe war dominante
(vielleicht geschlechtsgebundene) Ektopie der Linse mit der Anlage zu
rheumatischen Herzfehlern verbunden, ein eigenartiges Beispiel für poly-
phäne Äußerung einer Erbanlage. Merkwürdig ist auch die Korrelation
von Linscncktopie mit Arachnodaktylie (s. d.). Vogt 2 ) hat eine Sippe
beschrieben, in der in dominantem Erbgang bei 18 Mitgliedern erst im
erwachsenen Alter Verlagerung der Linse (Linsenluxation) auftrat. Als ana-
tomische Grundlage hat er einen Schwund des Aufhängebandes (der Zonula
lentis) gefunden.
Die erblichen Trübungen der Linse (Star oder
Katarakt) sind einerseits wegen der Schwere der durch sie
bedingten Sehstörung, andererseits wegen ihrer Häufigkeit
wichtig. Den gewöhnlichen sogenannten Altersstar, der erst im
vorgerückten Alter aufzutreten pflegt, sah man bis in die neueste
Zeit oft ausschließlich als Folge des Alters an. Es gibt aber
nicht wenige Leute von 80 Jahren und darüber, die keinen Star
bekommen, während er bei andern schon im mittleren Alter
auftritt. Dabei können äußere Einflüsse wie strahlende Hitze
bei Feuerarbeiten die Starbildung begünstigen; aber die gleiche
Schädlichkeit wirkt bei dem einen viel schneller und verderb-
licher als bei dem andern. Unter den Augenärzten haben be-
sonders Nettleship 3 ) und Vogt 4 ) die ErbbedingÜieit des
Altersstars aufgezeigt.
*) Strebel, J. Korrelation der Vererbung von Augenleiden usw.
Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie Bd. 10 (1913), H. 4.
3 ) Vogt, A. Dislocatio lentis spontanea als erbliche Krankheit. Zeit-
schrift für Augenheilkunde. Bd. 14 (1905).
3 ) Nettleship, E. Ort heredity in the various forms of cataract.
Royal London ophthalmological hospital reports. Bd. 16, S. 179. 1905.
4 ) Vogt, A. Der Altersstar, seine Heredität usw. Zeitschr. f. Augen-
heilkunde. Bd. 40, S. 123. 1918.
AUGENLEIDEN.
337
Daß diese erst verhältnismäßig so spät zu allgemeiner Anerkennung ge-
langt ist, liegt vermutlich daran, daß die meisten Menschen mit der Anlage
zu Altersstar die Entwicklung des Leidens nicht erleben. Nach Vogt
scheinen die ersten Anfänge eines Altersstars meist schon um die Pubertät
aufzutreten: da die Trübungen sich zunächst auf die Peripherie der
Linse beschränken, machen sie aber auf Jahrzehnte hinaus keine Seh-
störungen.
Am augenfälligsten ist die Erblichkeit bei den angeborenen
Starformen. Meist ist dabei die Linse nicht vollständig, son-
dern nur teilweise getrübt, z. B. nur der innerste Kern („Zen-
tralstar") oder nur eine Zone um den Kern („Schichtstar").
Die angeborenen Starformen verhalten sich in der Regel do-
minant.
Ö* G* 9
1 r r
9 r <§r 9 # , o'9 990*
Fig. 71.
Angeborener Zentralstar. Nach Nettleship (Ausschnitt).
6
L.
T
cTc?c?.
'c?
In einer Starfamilie machen sich die Sehstörungen bei den
mit der Anlage behafteten Mitgliedern in der Regel im gleichen
Lebensalter bemerkbar. Ro'w'an und Wilson 1 ) haben eine
Sippe beschrieben, in der 20
Mitglieder in 4 Generationen
im Pubertätsalter an Star er-
krankten. Auch hier war der
Erbgang dominant.
Neben Starfamijien, in denen die
Entwicklung des Leidens in ein be-
stimmtes Lebensalter fiel, sind einige
andere beschrieben worden, in denen
seniler, präseniler und juveniler Star
neben- und nacheinander vorkamen.
Von einer ganzen Anzahl von Autoren
ist dabei eine sogenannte Antizipa-
tion berichtet worden, d. h., daß in
den späteren Generalionen das Leiden
in einem jüngeren Lebensalter zur Be-
obachtung kam als in den früheren.
1 1 1 i
9 Ö 9
&
1 — r
T 1 T T
Fig. 72.
Starbildung im Alter von 50 bis 60
Jahren (präsenile Katarakt).
Nach Nettleship (Ausschnitt).
>) Rowan, J. und Wilson, J. A. Hereditary cataract. British
Journal of opbthalmology. Bd. 5, S. 64. 1921.
Baur-FiscIicr-I,etiK I.
22
338 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
So soll in einer von Norri c 1 ) beschriebenen Slarfamilie in der ersten Ge-
neration das Leiden im Grciscnalter, in der zweiten um das 40. Lebensjahr,
in der dritten um das 30., in der vierten um das 7. Jahr und in der fünften
bald nach der Geburt aufgetreten sein.
Ich möchte der Lehre von der „Antizipation" mit Zweifel begegnen.
Auf Grund unserer allgemeinen biologischen Vorstellungen halte ich ihr
Vorkommen für unwahrscheinlich. Mindestens zu einem Teil handelt es sich
bei der Erscheinung der „Antizipation" um ein statistisches Trugbild 2 ).
Da Blinde oder in ihrem Sehvermögen stark Beeinträchtigte selten zur
Eheschließung kommen, so haben hauptsächlich nur solche Personen mit
Staranlagc Kinder, bei denen aus irgendeinem Grunde das Leiden erst im
vorgerückten Alter ausbrach. Die kranken Stammeltern stellen also eine
Auslese nach spätem Krankheitsausbruch dar, und in der lebenden Gene-
ration werden umgekehrt gerade solche Personen als krank befunden, bei
denen das Leiden schon früh ausbrach, während jene Geschwister, die erst
später erkrankten oder die starben, ohne ihren Star zu erleben, noch ge-
sund befunden werden. So entsteht in vielen Fällen das Bild einer ,, Anti-
zipation", ohne daß dem irgendeine biologische Grundlage zu entspre-
chen braucht.
Eine Antizipation in dem Ausmaße, wie sie von Norrie angegeben
worden ist, läßt sich aber so nicht erklären. Eine Nachprüfung seines Falles
wird ja wohl nicht mehr möglich sein. Dagegen sollten möglichst alle Fälle,
wo eine ähnliche Antizipation beobachtet wird, in Zukunft genau ver-
öffentlicht werden. Immerhin ist es bemerkenswert, daß seit der Zeit, wo
die moderne Erblichkeitswissenschaft aligemeiner bekannt geworden ist,
solche Fälle extremer Antizipation nicht mehr beschrieben worden sind.
Wenn Fälle wie der von Norrie öfter beobachtet werden sollten, so
könnte man zur Erklärung wohl daran denken, daß eine Staranlage, die
heterozygot Altersstar bedingt, homozygot schon Star in der Jugend zur
Folge haben könnte. Von rezessiven Leiden (z. B. erblicher Ataxie) ist es
bekannt, daß eine Erbanlage generationenlang heterozygot weitergegeben
werden und in späteren Generationen dann bei mehreren Familienmitgliedern
homozygot auftreten kann. Etwas Entsprechendes dürfte auch bei dominan-
ten Leiden vorkommen; und hier würde die Erscheinung starker Antizi-
pation die Folge sein können.
Ob es neben dominanten Staranlagen auch rezessive gibt, ist bisher
nicht klargestellt. Wa a r d e n b u r g hat auf gewisse Anhaltspunkte dafür
aufmerksam gemacht. In einer von Stieren 3 ) beschriebenen Sippe ist
angeborener Star in drei Generationen bei 17 männlichen Personen, die in
weiblicher Linie verwandt waren, vorgekommen, also auf Grund einer rezes-
siven geschlechtsgebundenen Anlage. Von N e 1 1 1 e s h i p ist angegeben
worden, daß Frauen etwas häufiger an Star erkranken als Männer und daß
er auch häufiger in weiblicher Linie vererbt werde. Das könnte möglicher-
: ) Norrie, G. Arvelighed of grau Star. Ugeskrift for laeger. Kjöben-
havn 1S96.
2 ) Das scheint zuerst Weinberg gesehen zu haben: Weinberg,
W. Auslesewirkungen bei biologisch-statistischen Problemen. Archiv für Ras-
senbiologie. Bd. 10. H. 4 und 5. 1914.
3 ) Stieren, E. A Study in atavistic descent of congenital cataract
through four generations. Ophthalmological Record. Bd. 16, S. 234. 1907.
AUGENLEIDEN.
339
weise durch dominante geschlechtsgebundene Anlagen bedingt sein. Die
Sippentafel Fig. 72 würde zu diesem Erbgang passen.
Jedenfalls gibt es nicht nur eine, sondern vielerlei erbliche Staranlagen,
die sich nicht nur in verschiedenem Alter äußern, sondern die auch verschie-
dene Formen der Linsentrübung zur Folge haben, wie besonders Vogt be-
tont hat.
Star kann weiter eine Teilerscheinung allgemeiner Augen ml Bbil düng,
z.B. der Mikrophthalmie, sein. Auch bei der myotonischen Dystrophie (s.d.)
kommt es in der Regel zur Starbildung. Schließlich ist erwähnenswert, daß
Star auch die Folge von Vergiftungen, z. B. Naphthalinvergiftung der
Frucht und anscheinend auch von nichtcrblichcn Stoffwechselstörungcn
sein kann.
Angeborener Star ist eine der hauptsächlichsten Ursachen
angeborener Blindheit. Unter 1300 Blinden wurde nirnal an-
geborener Star als Blindheitsursache festgestellt, also in fast
ioo/o (nach Czellitzer 1 ). An zweiter Stelle kommt Anophthal-
mie bzw. Mikrophthalmie in Betracht. Von den jugendlichen
Blinden ist etwa ein Viertel blind geboren ; und die angebo-
rene B lindheit ist fast immer durch die Erbmasse bedingt.
Bei der erworbenen Blindheit dagegen überwiegen äußere Ur-
sachen (gonorrhoische Infektion der Augen bei der Geburt,
Verletzungen u. a.). Im ganzen gibt es in Deutschland rund
33000 Blinde; und bei rund 40 0/0 = 13000 ist nach v. Ver-
schuer 3 ) die Blindheit erbbedingt.
Erbliche Hornhauttrübung ist von Fleischer und an-
deren Augenärzten in einigen Sippen beobachtet worden. Bei der Geburt
sind die Augen noch klar, im Laufe der Entwicklungsjahre treten Trübungen
auf, die allmählich immer dichter werden, bis schließlich das Sehvermögen
fast aufgehoben ist. In verschiedenen Sippen ist die Form der Trübung
verschieden (entweder knötchenförmig, oder gittrig oder fleckig), in der-
selben Sippe aber gleich. Es scheint sich um mehrere dominante Ano-
malien zu handeln. Vier mit einem solchen Leiden behaftete Sippen konnte
Fleischer auf einen gemeinsamen Urahn in der 7. Generation zurück-
verfolgen.
Fleischer 3 ) hat die erbliche Hornhauttrübung zuerst als , .familiäre
Hornhautentartung" bezeichnet. Das Wort „Entartung" ist hier nicht im
Sinne der Genetik, sondern in dem der Pathologie gebraucht, wo gewisse
Organveränderungen, auch wenn sie mit Erbanlagen nichts zu tun haben,
„Entartung" genannt werden. Da aber der Pathologe auch mit der Ent-
artung im genetischen Sinne zu tun hat, ist es besser, den Begriff der Ent-
artung nur im Sinne der Neuentstehung und der Zunahme krankhafter Erb-
anlagen zu gebrauchen. Auch von einer „erworbenen" Hornhautentartung
1 ) Czellitzer, A. Augenfehler. Im Handwörterbuch der So-
zialen Hygiene von Grotjahn und Kaup., Leipzig. Vogel 1912.
2 ) v. Verscbuer, O. Vom Umfang der erblichen Belastung im
deutschen Volke. ARGB. Bd. 24. S. 238. 1930.
3 ) Fleischer, B. Über familiäre Homhautentartung. Zentralblatt für
Augenheilkunde. Bd. 53 (1905).
340 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLÄGEN.
zu sprechen, wie Waardenburg es bei der sich allmählich entwickeln-
den im Unterschied von der angeborenen tut, halte ich nicht für gut. Wenn
ein Leiden auf Grund erblicher Anlage sich herausbildet, so ist es nicht
eigentlich ,, erworben". Erworben im eigentlichen Sinne kann etwas nur aus
der Umwelt werden; „erworben" ist also der Gegensatz zu ,, ererbt", nicht
zu „angeboren''.
Die Entstehung der B re chungs fehle r (Refrak-
tionsanomalien) des Auges ist bis in die neueste
Zeit lebhaft umstritten worden. Die Lichtbrechung im Auge
ist von dem Zusammenwirken mehrerer Organteile abhängig,
von der Länge des Augapfels, der Krümmung der Hornhaut 1 ),
der Wölbung der Linse usw. Wenn das Auge auf nahe Gegen-
stände eingestellt werden soll, so ist eine Krümmungsanstren-
gung der Linse nötig, weil sonst das Bild naher Gegenstände
hinter die lichtempfindliche Netzhaut fallen würde. Die Augen
eines nicht unbeträchtlichen Teiles aller Menschen sind schon
in der Ruhe auf die Nähe eingestellt. Man spricht dann von
Kurzsichtigkeit oder Myopie. Ferne Gegenstände kön-
nen von diesen Augen nicht scharf eingestellt werden. Es
gibt sehr verschieden schwere Grade von Kurzsichtigkeit; die
geringen Grade bedingen keine große Störung des Sehens, zu-
mal die Einstellung leicht durch geeignete Brillen verbessert
werden kann.
Früher herrschte ziemlich allgemein die Ansicht, daß
Kurzsichtig keit durch angestrengte und fortgesetzte Nah-
arbeit entstände. Da gerade im Schulalter oft eine starke Zu-
nahme der Kurzsichtigkeit beobachtet wird, so sprach man von
„Schulmyopie". Diese Lehre ist durch umfangreiche Unter-
suchungen und scharfsinnige Überlegungen des Züricher Augen-
arztes Steiger 2 ) erschüttert worden. Die Zunahme der Kurz-
sichtigkeit im Jugendalter erfolgt im wesentlichen aus inneren
Gründen. Die statistischen Belege* die man für das Vorkommen
einer durch Schule oder Berufsarbeit erworbenen Kurzsichtig-
keit beizubringen versucht hat, sind alle nicht stichhaltig.
Die Vorstellung, daß die Kurzsichtigkeit gewissermaßen eine
erstarrte Anpassung an die Naharbeit sei, muß aufgegeben
werden. Es ist auch nicht angängig, die erste Entstehung der
r ) Die Hornhaut als solche ist an der Brechung eigentlich nicht be-
teiligt; sie bildet nur die vordere Grenze des Kammerwassers, das infolge
seiner konvex-konkaven Begrenzung (vorn konvex durch die Hornhaut, hin-
ten konkav durch die Linse) im optischen Sinne eine vor die eigentliche
Linse vorgeschaltete zweite Linse darstellt.
2 ) Steiger, A. Die Entstehung der sphärischen Refraktionen. Ber-
lin i 9 13.
AUGENLEIDEN.
341
erblichen Anlage zu Kurzsichtigkeit auf eine derartige angeb-
lich individuell erworbene Anpassung zurückzuführen. Der-
artige Vorstellungen sind mit den Ergebnissen der Erblichkeits-
forschung unvereinbar.
Ohne entsprechende erbliche Veranlagung entstellt keine
Kurzsichtigkeit. Bei gegebener Veranlagung kann leichte wie
schwere Kurzsichtigkeit auch ohne jede Naharbeit entstehen.
Ob Naharbeit zur Entwicklung
einer vorhandenen Anlage zu
Kurzsichtigkeit beitragen könne,
ist mindestens fraglich.
Der Erbgang der Kurzsich-
tigkeit ist nicht in allen Sippen
der gleiche ; oder anders ausge-
drückt : das klinische Bild der
Kurzsichtigkeit kann in verschie-
o* 9 C^ 9
o ?
$ °* &
?
9
Fig. 73.
Kurzsichtigkeit nach Clausen.
denen Sippen durch verschie-
dene pathogene Erbeinheiten bedingt sein. Der Augenkliniker
Clausen 1 ) in Halle hat Hunderte von Myopiestammbäumen
aufgenommen und ist auf Grund dieses Materials zu der An-
sicht gekommen, daß die Kurzsichtigkeit sich rezessiv ver-
halte. Eine dieser Sippentafeln ist in Fig. 73 wiedergegeben.
Für rezessiven Erbgang spricht der Umstand, daß kurzsichtige
Menschen oft von normalsichtigen Eltern stammen und daß
zwei kurzsichtige Eltern ausschließlich kurzsichtige Kinder zu
9
6* i if
~i
<?
cfcfo'a'f jefef (f f & f cf
<f
Fig. 74-
K u r z s i c h t i g k e i t nach Jablonski.
haben pflegen. Für rezessiven Erbgang der Kurzsichtigkeit ist
auch Jablonski 2 ) eingetreten. Andererseits hat der Züricher
1 ) S. Literaturverzeichnis.
2 ) Jablonski, W. Zur Vererbung der Myopie. Klinische Monats-
blätter für Augenheilkunde. Bd. 68. (1922).
342 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
AUGENLEIDEN.
343
Augenkliniker Vogt 1 ) darauf aufmerksam gemacht, daß hoch-
gradige Kurzsichtigkeit sich so häufig bei den Kindern Kurz-
sichtiger wiederfinde, daß man mit der Annahme rezessiven
Erbgangs nicht auskomme. Eine Sippentafel, in der sich Kurz-
sichtigkeit ununterbrochen durch vier Generationen beider Eh
tcrnlinien zurückverfolgcn läßt, gibt Fig. 74 nach Jablonski
wieder. Nun ist es ja gewiß richtig, daß solche Bilder ausnahms-
weise auch bei rezessivem Erbgang entstehen können, nämlich
dann, wenn der normale Elter ebenfalls die Erbanlage zu Kurz-
sichtigkeit überdeckt enthält. Da die Kurzsichtigkeit eine recht
häufige Anomalie ist, könnte das sehr wohl gelegentlich auch
durch mehrere Generationen hintereinander vorkommen. Wenn
man annimmt, daß ioo/ aller Menschen in höherem Grade kurz-
sichtig sind, so würde bei einfach rezessivem Erbgang daraus
folgen, daß über 500/0 der Normalsichtigcn die Erbanlage zu
Kurzsichtigkeit überdeckt enthielten 2 ). Die Häufigkeit, mit der
sich Kurzsichtigkeit durch mehrere Generationen verfolgen läßt,
scheint mir aber doch dafür zu sprechen, daß neben rezessiven
auch dominante E rbanlagen zu Kurzsichtigkeit vorkommen.
Steiger konnte unter 95 Fällen von Kurzsichtigkeit, in denen
die Familiengeschichte genau bekannt war, in 70 auch bei den
Eltern Kurzsichtigkeit finden. Viele Sippentafeln über Kurz-
sichtigkeit, z. B. mehrere der von Fleischer 3 ) in einem
württembergischen Dorfe erforschten, bieten ein Bild, wie es
dem Erbgang unregelmäßig dominanter Anlagen entspricht,
d. h. von Erbanlagen, die sich in der Regel zwar schon bei ein-
fachem Vorhandensein äußern, die aber doch öfter entweder
durch andere Erbanlagen oder durch äußere Umstände an der
Äußerung gehindert werden. Natürlich könnten dann gelegent-
lich auch dominante und rezessive Erbanlagen beim Zustande-
kommen von Kurzsichtigkeit zusammenwirken.
Eine wesentliche Förderung der Einsicht in die Entstehung der Kurz-
sichtigkeit hat die 2 w i 11 i n g s f o r s c h u n g gebracht. Eineiige Zwillinge
stimmen in der Refraktion ihrer Augen in der Regel nahe überein, zwei-
1 ) Vogt, A. Über Vererbung von Augenleiden. Schweizerische medi-
zinische Wochenschrift. 1923. Nr. 7 und S.
2 ) Wenn die Häufigkeit eines rezessiven Merkmals Yio * st J so ] ' st die
.1
der rezessiven Erbanlage -7=-. Heterozygote Träger der Anlage wären folglich
1 1
mit der Häufigkeit -77= -f- --~^:-
V 10 V 10
1
10
0,53 anzunehmen.
eiige dagegen viel weniger, Jablonski hat durch Untersuchung von 28
eineiigen und 24 zweieiigen Zwillingspaaren die Modifikationsbreitc der Re-
fraktion zu bestimmen gesucht und gefunden, daß eineiige Zwillinge sich
nur ausnahmsweise in ihrer Refraktion um mehr als zwei Dioptrien unter-
scheiden. (Eine Dioptrie ist die gebräuchliche Einheit der Refraktion; sie
entspricht der Brechkraft einer Linse von 1 m Brennweite.) Wenn es auch
nicht wohl möglich ist, die maximale Modifikationsbreite auf diese Weise zu
bestimmen, so kann man doch sagen, daß Kurzsichtigkeiten von mehr als
zwei Dioptrien ziemlich sicher erbbedingt sein werden. Natürlich schließt
das nicht aus, daß auch geringe Kurzsichtigkeiten im Betrage von einer
halben oder einer Dioptrie erblich sein können. Wenn wie in einem Stamm-
baum Clausens in einer Geschwisterreihe eine Kurzsichtigkeit von SD.
neben einer solchen von 1,5 D. vorkommt, so wird man beide wohl nicht
als genetisch gleichartig ansehen dürfen. Es könnte aber sein, daß eine be-
stimmte Erbanlage für sich allein nur leichte Kurzsichtigkeit, mit einer
andern zusammen oder auch mit ihresgleichen zusammen, d. h. homozygot,
schwere Kurzsichtigkeit bedingen würde. Die Modifikationsbreite einer An-
\S ff-
Hochgradige Kurzsichtigkeit nach Waardenburg.
Die Zahlen zu beiden Seiten der Personenzeichen
geben den Grad der Kurzsichtigkeit der betreffen-
den Augen in Dioptrien an. '
2
SO'IS ä'O TS S S §5 6,5
Fig. 75.
läge zu hochgradiger Kurzsichtigkeit ist anscheinend viel größer als die
normaler Refraktionsanlagen. Dafür spricht der Umstand, daß die beiden
Augen derselben Person nicht selten einen recht verschiedenen Grad von
Kurzsichtigkeit aufweisen, z. B. in folgender von Waardenburg be-
schriebenen Sippe.
Waardenburg hat bei eineiigen Zwillingen Unterschiede der Re-
fraktion von 1,9 und 2,25 Dioptrien gefunden, bei zweieiigen bis zu 9 Diop-
trien. Im Hinblick auf die zwischen den beiden Augen der gleichen kurz-
sichtigen Person vorkommenden Unterschiede ist zu vermuten, daß bei hoch-
gradig kurzsichtigen eineiigen Zwillingen auch Unterschiede im Betrage von
mehreren Dioptrien (vielleicht bis zu 8 oder 10) vorkommen können. Über
den durchschnittlichen Unterschied der Refraktion eineiiger Zwil-
linge liegen leider keine Zahlen vor; er beträgt vermutlich nur einen kleinen
Bruchteil einer Dioptrie. Auch aus den bisherigen Zwillingsbefunden darf
man schließen, daß die gewöhnlichen Umwelteinflüsse nur einen ganz ge-
ringen Einfluß auf die Refraktion haben.
Ein Berliner Augenarzt namens Levinsohn 1 ) hat die Ansicht ver-
fochten, die Kurzsichtigkeit werde durch die „Schwerkraft" ausgelöst. Er
meint, daß bei gebeugter Haltung die Augäpfel durch ihr eigenes Gewicht
schließlich in die Länge gezogen würden, und hat diese Ansicht auch durch
Versuche an jungen Affen, die er monatelang zu gebeugter Haltung zwang,
zu belegen gesucht. Marclusani, der diese Versuche nachgeprüft hat,
hat indessen zeigen können, daß sie nicht geeignet sind, die Ansicht Le-
3 ) Fleischer, B. Über Vererbung von Kurzsichtigkeit. Bericht über
die 34. Versammlung der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft. 1907.
x ) Levinsohn, G. Die Entstehung der Kurzsichtigkeit. Berlin 191 2.
Karger.
344 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
vinsohns zu stützen 1 ). Die „Schwerkraft" als Krankheitsursache in An-
spruch zu nehmen, ist etwa so, als wenn ein Kind, das gefallen ist und sich
eine schmerzhafte Beule geschlagen hat, die „Schwerkraft" anschuldigen
würde. Auch die Enteroptose, ein krankhafter Zustand, der in einem Herab-
hängen der Eingeweide besteht, wird ja nicht entscheidend durch die
„Schwerkraft" verursacht, sondern durch eine anlagemäßig begründete Bin-
degewebsschwäche bestimmter Art.
Waardenburg hat meines Erachtens sehr mit Recht aus dem schub-
weisen Fortschreiten der Kurzsichtigkeit im Entwicklungsalter auf einen
Zusammenhang mit andern konstitutionellen Anlagen, vielleicht hormonaler
Art geschlossen. Ich hatte mir ähnliche Vorstellungen schon vor dem Er-
scheinen von Waardenburgs Buch gebildet. Soweit die Asthenie um-
weltbedingt ist, so weit könnte es auch die Myopie sein. Auf einem solchen
indirekten Zusammenhange könnte es auch wenigstens zum Teil beruhen,
daß unter Studenten einerseits die Asthenie und andererseits die Myopie
überdurchschnittlich häufig ist.
Da bei Neugeborenen und kleinen Kindern Übersichtigkeit die Regel
ist und diese normalerweise erst im Laufe des Lebens in Emmetropie über-
geht, haben manche Augenärzte ein „Emmetropisationsprinzip" annehmen
zu müssen geglaubt, dem eine teleologische Wirkung im Sinne der Er-
reichung optimaler Funktion zugeschrieben wurde. Die Entwicklung nor-
maler Anlagen in einer normalen Umwelt geht freilich in der Richtung auf
größtmögliche Funktionstüchtigkeit. Aber die Annahme eines teleologischen
Prinzips erklärt bei der Refraktion des Auges ebensowenig, als wenn man das
Heranwachsen des Gesamtkörpers durch ein „Normalgrößenprinzip" erklären
wollte. Die Abweichungen vom Normalen, die Asthenie einerseits, die Myopie
andererseits würden dadurch nur unerklärlicher werden. Es ist ja ge-
rade die Aufgabe, die Ursachen der Anomalien zu finden. Hinter der
Vorstellung eines „Emmetropisationsprimips" verbirgt sich im Grunde die
Vorstellung, daß eigentlich alle Menschen zu normaler Refraktion veran-
lagt wären, daß bei einzelnen aber durch irgendwelche Umwelteinflüsse die
normale Entwicklung gestört würde.
Es sind einige Myopiestammbäume veröffentlicht worden, die das Bild
rezessiven geschlechtsgebundenen Erbganges zeigen, so von Worth 2 ) und
Oswald 3 ); doch ist dieser Erbgang bei Myopie eine Ausnahme. Rezessiv
geschlechtsgebunden ist auch eine besondere Art der Myopie, die mit Heme-
ralopie verbunden ist und die mit dieser Anomalie zusammen weiter unten
besprochen werden soll. Aus der Klinik Vogts ist auch ein Stammbaum,
der rezessive Erblichkeit hochgradiger Myopie in Verbindung mit hochgra-
diger Hemeralopie zeigt, beschrieben worden*).
Besondere Erwähnung verdient die Netzhaut ablösung,
die bei hochgradiger Myopie eintreten kann. Während sonst
1 ) Marchesani,0. Untersuchungen über die Myopiegenese. Archiv
für Augenheilkunde, Bd. 104. S. 177. 1 93 1 .
3 ) Worth, C. Hereditary influence in myopia. Transactions of the
ophthalmological society. Bd. 26. S. 141. 1906.
3 ) Oswald, Hereditary tendency to defective sight in males only of
a family. British Medical Journal. Bd. ig. 191 1.
4 ) Gassler, V. J. Archiv der Julius-Klaus-Stiftung. Bd. 1. H. 314.
1925 (vgl. S. 360).
AUGENLEIDEN.
345
bei kurzsichtiger Veranlagung das Längenwachstum des Aug-
apfels mit dem Körperwachstum zum Stillstand zu kommen
pflegt, geht es in einigen Fällen in verhängnisvoller Weise wei-
ter; die Netzhaut löst sich ganz oder teilweise ab, und mehr
oder weniger vollständige Blindheit ist die Folge. In einer von
Bogatsch 1 ) beschriebenen Sippe erkrankten von 11 hoch-
gradig kurzsichtigen Mitgliedern 7 an Netzhautablösung auf
einem oder auf beiden Augen. Es handelt sich vermutlich um
eine genetisch besondere Art der Anlage zu Myopie.
Das Gegenstück zur Kurzsichtigkeit ist die Übersich-
tig k e i t oder Hypcropie (Hypermetropie) ; sie besteht
Cr
9
9 9
o*
9
cf
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0*$ § f o*
o w ö
Fig. 7 6.
Übersichtigkeit nach Jablonski.
darin, daß im Ruhe-
stand des Auges auch
das Bild entfernter Ge-
genstände hinter die
Netzhaut fällt. Um klar
zu sehen, müssen die
Übersichtigen daher
schon beim Sehen in
die Ferne eine Akkomo-
dationsanstrengung
machen, erst recht beim
Sehen in die Nähe, was
bei höheren Graden mit erheblichen Beschwerden verbunden
ist. In den meisten Fällen scheint sich Hyperopie gegenüber
dem normalen Zustand dominant oder unregelmäßig domi-
nant zu verhalten.
Hochgradige Hyperopie kommt als Teilerscheinung der Mikrophthal-
mie (s. d.) vor und ist mit dieser rezessiv erblich.
Als Astigmatismus werden Brechungsanomalien be-
zeichnet, bei denen die Hornhaut in einer Richtung stärker ge-
krümmt ist als in einer anderen und bei denen infolgedessen
alle Gegenstände undeutlich gesehen werden. In der Regel
scheint Astigmatismus dominant erblich zu sein; doch meint
Waardenbur g, daß es auch rezessive Formen gibt. Speng-
ler 3 ) hat in einer Sippe Astigmatismus ununterbrochen durch
fünf Generationen verfolgen können ; und zwar wurde auch die
Achsenstellung und der Grad des Astigmatismus festgehalten.
=■) Bogatsch, Vererbung bei Myopie. Klinische Monatsblätter für
Augenheilkunde. Bd. 60. S. 155. 191 1.
2 ) Spengler, E. Ist Hornhautastigmatismus vererblich? Klinische
Monatsblätter für Augenheilkunde, Bd. 42. H. 1. S. 164. 1904.
346 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Natürlich darf man nicht meinen, daß nur die krankhaften
Abweichungen vom normalen Brechungszustande erblich seien;
vielmehr ist dieser selbstverständlich selber auch erbbedingt,
und zwar durch das Zusammenwirken einer großen Zahl von
Erbeinheiten. Wenn irgendeine dieser Erbeinheiten eine Ände-
rung (Mutation) erleidet, so entsteht eine erbliche Brechungs-
anomalie; und es ist daher von vornherein zu erwarten, daß es
viele verschiedene Arten von solchen gibt.
Man kann die Erblichkeit des Längenbrcitenverhältnisses des Auges
der des Kopfes und auch der des Körpers im ganzen vergleichen. Auch
dort gibt es erbliche Unterschiede der Form, die nicht einfach entweder
als dominant oder als rezessiv angesprochen werden können. Im Bereich
der nicht krankhaften Unterschiede ist das auch gar nicht zu erwarten
(vgl. S. 327). Gleichwohl aber kann es krankhafte Erbanlagen von einfachem
Erbgang geben, die sich auch in der Kopf- und Körperform stark äußern. So
gibt es einen rezessiv erblichen krankhaften Zwergwuchs. Diesem kann man
die rezessiv erbliche starke Kurzsichtigkeit vergleichen. Geringere Unter-
schiede des Refraktionszustandes dagegen können ebenso wie geringere
Unterschiede der Kopf- und Körperform polymer sein.
Wie die Kopf- und die Körperform, so zeigt auch die Form
des Augapfels geographische Unterschiede. In den angelsächsischen Län-
dern ist Kurzsichtigkeit erheblich seltener als im kontinentalen Europa.
Nach Czellitzer fanden sich vor dem Kriege in Schleswig-Holstein
unter den einjährig-freiwilligen Rekruten 24,5% Kurzsichtige, in Süd-
bayern dagegen 41,80/0. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß in
Nordwest curopa sich hauptsächlich nur langköpfige Rassen miteinander
vermischt haben, in Mitteleuropa dagegen langköpfige mit kurzköpfigen.
Das heißt, 'es ist zu vermuten, daß leichte Brechungsanomalien des Auges
auch durch Rassenmischung entstehen können. Eine bestimmte Hornhaut-
krümmung, die bei bestimmter Achsenlänge des Auges Normalsichtigkeit
bedingt, kann bei dem Zusammentreffen mit einer größeren Achsenlänge
leichte Kurzsichtigkeit zur Folge haben; und die in diesem Falle Kurzsichüg-
keit mitbedingende Achsenlänge kann mit einer anderen Hornhautkrümmung
zusammen wieder normales Sehvermögen ergeben. Leichte Unterschiede der
Körperform haben im allgemeinen keine krankhafte Bedeutung; beim Auge,
wo es auf genaue Einstellung der Bilder ankommt, bedingt aber schon eine
geringe Verlängerung der Achse eine Störung im Sinne der Kurzsichtigkeit.
Eine geringe Verkürzung der Augenachse hat dagegen keine krankhafte Be-
deutung. Ein wenig scheint das Bild ferner Gegenstände in der Ruhestel-
lung des Auges sogar bei den meisten Menschen hinter die Netzhaut zu
fallen. Da eine ganz leichte Krümmung der Linse (Akkomodation) genügt, um
die richtige Einstellung herbeizuführen, so ist leichte Übersichtigkeit im
Unterschied von der leichten Kurzsichtigkeit nicht als krankhaft anzusehen.
Als Schielen („Strabismus") werden Sehstörungen be-
zeichnet, bei denen die Blickachsen beider Augen nicht auf
denselben Punkt gerichtet sind. Die häufigste Art des Schie-
lens ist das sogenannte Begleitschielcn („Strabismus convergens
concomitans"), das in Korrelation mit Übersichtigkeit auftritt.
AUGENLEIDEN.
347
Die Einstellung auf die Nähe geht ja auch normalerweise mit
einer Einwärtsbewegung der Augen einher. Da nun bei starker
Übersichtigkeit die Einstellungsanstrengung besonders groß ist,
so ist es verständlich, daß dabei die Augenachsen zu stark nach
innen gekehrt werden können. Indessen sind durchaus nicht
alle Fälle von Übersichtigkeit von Schielen begleitet. Außer
der Brechungsanomalie wirkt vielmehr auch eine Schwäche
in der Fähigkeit der Verschmelzung des Bildes beider Augen
(„Fusion") sowie eine Schwäche der Augenmuskeln bzw. ihrer
Innervation beim Zustandekommen des Schielens mit. Es ist
daher nicht ein monomerer Erbgang beim Schielen zu erwar-
ten, wie besonders C lausen dargelegt hat. Hauptsächlich
scheinen rezessive Erbanlagen das Schielen zu bedingen,
wie C lau sen 1 ) und Czellitzer 2 ) auf Grund zahlreicher
Sippentafeln übereinstimmend gefunden haben.
•Mit dem Heranwachsen heilt ein großer Teil der Schiel-
fälle von selbst, wie ja auch die Übersichtigkeit im Kindesalter
am größten ist und später zurückzugehen pflegt. In andern
Fällen kann das Schielen durch Operation beseitigt werden.
Von Schulkindern schielen über 20/0, von den Erwachsenen nur
ca. 10/0. Beide Geschlechter sind ungefähr gleich häufig be-
troffen.
Czellitzer hat auf Grund eines Materials von 306 Familien gefun-
den, daß schielende Kinder gesunder Eltern 14,0 -f_i,2°/o schielende Ge-
schwister hatten; wenn auch einer der Eltern schielte, betrug der Prozentsatz
der schielenden Geschwister 29,5 +_ 4,9. Einwärts schielende Kinder gesun-
der Eltern hatten 15,1+ 1,7% schielende Geschwister; wenn einer der
Eltern schielte, 40,0 H^ 6,70/0. Auswärts schielende Kinder gesunder Eltern
7,2 +2,00/0; wenn einer der Eltern schielte, 11,0 +_ 7,00/0. Nähere Bluts-
verwandtschaft der Eltern fand sich bei 6 + 1,5% gegenüber einer allge-
meinen Häufigkeit von 0,62% in der Berliner Bevölkerung, aus der Czel-
litzers Material meist stammte.
Fig. 77 zeigt eine Sippcntafel nach Vogt 3 ), die zu rezes-
sivem, allenfalls aber auch zu unregelmäßig dominantem Erb-
gangpassen würde. Offenbar sind nicht alle Fälle von Schielen
in gleicher Weise erbbedingt. Fig. 78 zeigt eine Sippentafel
nach C lausen und Bauer, die stark für dominanten Erb-
J-) C 1 a u s e n , W. und Bauer, J. Beiträge und Gedanken zur Lehre
von der Vererbung des Strabismus concomitans. Zcitschr. für Augenheil-
kunde Bd. 50. H. 5/6 (1923).
2) C z elli tze r, A. Wie vererbt sich Schielen? ARGB. Bd. 14. H. 4
(1923).
3 ) V o g t , A. Über Vererbung von Augenleiden. Schweizerische mediz.
Wochenschr. 1923. H. 7 und S.
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
gang spricht. Da Übersichtigkeit sich meist dominant zu ver-
halten pflegt, so liegt es nahe anzunehmen, daß bei dem sie be-
gleitenden Schielen dominante Erbanlagen beteiligt sind, wenn
auch lange nicht alle Fälle von Übersichtigkeit mit Schielen
einhergehen.
Fig. 77.
Einwärtsschielen bei Übersichtigkeit. Nach Vogt.
Es gibt Schielende, die immer nur mit demselben, und andere, die mit
beiden Augen abwechselnd fixieren; doch scheint dieser Unterschied wenig-
stens in der Regel nicht erbbedingt zu sein. Das abweichende Auge bei ein-
seitigen Schielern wird meist mehr oder weniger schwachsichtig. Es ist nun
die Frage, ob es auch Fälle primärer 'erblicher Schwachsichtigkcit eines
d
Q
o f
<f
TT U "I.
q cf d 1 ö c?
Fig.
Einwärtsschielen bei Übersichügiceit nach Clausen und Bauer.
Auges gebe, die ihrerseits Schielen zur Folge habe. Peters 1 ) hat einen
solchen Stammbaum mitteilen zu können geglaubt. Waardenburg da-
gegen erklärt das Vorkommen einer primären erblichen einseitigen Schwach-
J ) Peters. Über die Bedeutung der Erblichkeit des Schielens. Klini-
sche Monatsblätter für Augenheilkunde. Bd. 68 (1922).
AUGENLEIDEN.
349
sichtigkeit, die sekundär Schielen zur Folge habe, für unwahrscheinlich,
weil in denselben Sippen keine doppelseitige Schwachsichtigkcit vorzukom-
men pflegt und weil er schielende eineiige Zwillinge fand, bei denen nur
eines von den vier Augen schwachsichtig war.
Von theoretischem Interesse ist eine von v. Sicherer 1 ) mitgeteilte
SippentafeJ, in der 8 männliche Mitglieder in 4 Generationen links schielten
und auf dem linken Auge weit- und schwachsichtig waren. Nur bei einem
Sippenmitglied war auch das rechte Auge weitsichtig. Eine Frau zeigte die
Anomalie in schwächerem Grade. Diese Sippentafcl spricht ebenso wie einige
bei der Besprechung der Heterochromie erwähnte dafür, daß es gewisse
krankhafte Erbanlagen gibt, die sich nur auf einer Seite (liier der linken)
äußern, vergleichbar jenen normalen Erbanlagen, die die Ausbildung des
Herzens in der linken Körperseite bedingen.
Außer dem häufigen Begleitschielen, bei dem das schielende Auge für
sich nach allen Seiten bewegungsfähig ist, gibt es seltene Fälle von Schielen,
die auf mangelnder Funktionsfähigkeit der Augenmuskeln oder ihrer Nerven
beruhen. Funktionsunfähigkeit des Außenwenders und ein dadurch bedingtes
Schielen ist mehrfach als dominant erbliche Anomalie beschrieben worden.
Angeborene Unfähigkeit, das Oberlid zu heben (Ptosis) ist in meh-
reren Sippen mit offenbar dominantem Erbgang beobachtet worden. Die
mit dieser Anomalie Behafteten können die Augen nicht richtig aufmachen
und nur mühsam durch Infaltenziehen der Stirn die Lidspalte ein wenig
öffnen.
Häufiger als für sich allein kommt Ptosis des Oberlids in Verbindung
mit Enge der Lidspalte und einer faltigen Verbindung zwischen Ober- und
Unterlid, die sich über den inneren Augenwinkel zieht, sog. Epicanthtis,
vor. Auch derartige Sippentafeln .zeigen dominanten Erbgang. Auch Epi-
canthus für sich allein kommt als "dominantes Merkmal vor. In den meisten
Fällen ist Epicanthus nur in der frühen Kindheit deutlich.
Ptosis des Oberlids ist in einigen Sippen mit Funktionsunfähigkeit
der äußeren Augenmuskeln, die die Blickrichtung einstellen, verbunden
(Ophthalmoplegie 2 ). Nach Waardenburg gibt esin verschie-
denen Sippen nach Form und Grad verschiedene Arien dieses Leidens. Neben
Sippen mit dominantem Erbgang kommen auch solche mit rezessivem vor.
Schließlich sind auch einige Sippen bekannt geworden, in denen bei
mehreren Mitgliedern Funktionsunfähigkeit der Augenmuskeln, in erster
Linie Ptosis des Oberlides, erst im Laufe des Lebens auftrat. Diese Leiden
können den erblichen Muskelatrophien an die Seite gestellt werden.
Rhythmische Zuckungen des Auges (Augenzittern, Nystag-
mus) kommen bei verschiedenen Nerven- und Augenleiden, besonders bei
Schwachsichtigkeit vor. Es gibt aber auch ein erbliches Augenzittern ohne
wesentliche sonstige krankhafte Erscheinungen. In einem Teil der damit
behafteten Sippen zeigt der Nystagmus rezessiven geschlechtsgebundenen
*) v.Sicherer, Vererbung des Schielens. Münch. med. VVochenschr.
1907. S. 1231.
v. Sicherer hat noch eine zweite ähnliche Sippe mitgeteilt: Wei-
terer Beitrag zur Vererbung des Schielcns. Münch. med. Wochenschr. 1909.
Nr. 52. S. 2707.
2 ) Von Augenmuskellähmung, wie es gewöhnlich geschieht, könnte man
eigentlich nur sprechen, wenn die Muskeln vorher funktionsfähig waren.
350 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
AUGENLEIDEN.
351
Erbgang'); in anderen Sippen dagegen sind auch zahlreiche Frauen, die
die Anlage übertragen, selbsl damit behaftet. In diesen Sippen ist der Erb-
gang anscheinend unregelmäßig dominant geschlechtsgebunden, unregel-
mäßig insofern, als nur ein Teil der Anlageträgerinnen das Leiden auf-
weist 3 ). Vermutlich stehen beide Formen im Verhältnis der Allelie; d. h.
die beiden krankhaften Erbanlagen sind durch Mutation derselben geschlechts-
gebundenen Erbeinheit entstanden zu denken. Der dominante Nystagmus
ist als eine weilergehende Mutation aufzufassen, da die betreffende Erbanlage
9 ? f
ch r-'TL L r
9
"i — lTT
?
#9 o 9 $ $
Fig. 79.
Erbliches Augenzittern nach N o d o p. Rezessiver geschlechtsgebundener
Erbgang.
sich auch schon in heterozygotem Zustand im weiblichen Geschlecht äußern
kann. Diese Form des erblichen Augenzitterns ist auch meist mit Kopf-
wackeln verbunden und dadurch als eine schwerere krankhafte Anomalie
gekennzeichnet. Ein drittes Glied in dieser Reihe multipler Allele ist ver-
mutlich jener erbliche Nystagmus, der mit Albinismus des Auges einher-
geht (vgl. S. 332 f.). Des theoretischen Interesses halber stelle ich zwei
Stammbäume über erbliches Augenzittern, den einen mit rezessivem ge-
cf
5
y 1 *
T-r-, 1 1 1 1 1 r-r~r-\ 1— r-m
$9^9^999 f99^ f99^
Fig. 80.
Erbliches Augenzittern nach Dubois. (Unregelmäßig) dominanter ge-
schlechtsgebundener Erbgang.
1 ) Iicmmes, G. D. Over hereditairen nystagmus. Wageningen 1924.
2 ) Lenz, F. Die Geschlechtsgebundenheit des erblichen Augen-
zitterns. ARGB. Bd. 26. H. 2. 1932.
schlechtsgebundenen, den andern mit unregelmäßig dominantem geschlechts-
gebundenen Erbgang, hier untereinander.
Bei dem dominanten geschlechtsgebundenen Erbgang geht ebenso wie
bei dem rezessiven die betreffende Anlage niemals vom Vater auf den Sohn
Über. Da sie von Männern aber auf ihre Tochter übertragen wird, ist
oft das Bild eines eigentümlichen Abwechseins der Geschlechter in den
aufeinanderfolgenden Generationen die Folge, wie es Fig. 80 zeigt. In der
ersten Generation ist eine Frau befallen, In der zweiten nur Männer, in
der dritten nur Frauen, in der vierten wieder nur Männer und in der fünften
überwiegend Frauen. Daß in dieser auch ein Mann befallen ist, erklärt
sich daraus, daß die Anlage in diesem Falle durch zwei Generationen in
i ■ weiblicher Linie weitergegeben wurde, was bei geschlechtsgebundenem Erb-
gang ja öfter vorkommt.
Abnorme Enge und auch völliger Verschluß des Tränenkanals, der
die Tränenflüssigkeit zur Nase ableitet, ist in einigen Sippen in anscheinend
unregelmäßig dominantem Erbgang beobachtet worden. Das ist auch meist
die Grundlage der sippenweise gehäuften Tränensackeiterung.
Auch chronische Entzündung der Lidränder (Blepharitis cilia-
r i s) und chronische Bindehautentzündungen, z. B. der sog.
Frühjahrskatarrh, kommen in manchen Sippen gehäuft vor. Über den Erb-
gang ist nichts Näheres bekannt.
Das Glaukom (der „grüne Star"), eine nicht seltene Ur-
sache der Erblindung im mittleren und höheren Alter, beruht
auf einer krankhaften Drucksteigerung im Auge, durch die die
Netzhaut zur Verödung gebracht wird. Offenbar ist der Abfluß
t9
1 l I r
Ö* f Q Cf Q
1 — ,— — i ■- 1 1 1-
• Cf € CT • €
-n —
c?
9
Fig. 81.
Entzündliches Glaukom. Nach H o w e.
der Flüssigkeit, die dauernd im Auge abgesondert wird, irgend-
wie behindert (durch Verschluß des Schlemmschen Kanals?).
Man unterscheidet ein „akutes" oder „entzündliches" Glaukom,
bei welchem unter starken Schmerzen das Sehvermögen in
wenigen Tagen erlöschen kann, von einem „chronischen" oder
„einfachen", bei welchem unter geringeren oder nur gelegent-
lichen Schmerzen das Augenlicht im Laufe der Zeit erlischt.
Bei Mitgliedern derselben Sippe ist der Verlauf im allgemei-
nen ganz ähnlich.
In den meisten Fällen von Glaukom im vorgerückten Alter
finden sich keine Anhaltspunkte für Erbbedingtheit. Eine Min-
352 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
dcrlieit der Fälle zeigt aber ausgesprochen dominanten Erb-
gang. Die Regel ist das bei dem in jugendlichem Alter auftre-
tenden Glaukom, Eine Sippentafel von Frank-ICamenetzki 1 )
zeigt rezessiven geschlechtsgebundenen Erbgang.
Auch vom Glaukom ist die Erscheinung der „Antizipation" berichtet
worden. So hat v. Graefe 3 ) angegeben, daß in gewissen Familien die
Eltern oder Großeltern im sechsten Jahrzehnt erkrankten, die Kinder aber
schon im vierten. In diesem Umfange kann jedoch die „Antizipation" durch
eine unbeabsichtigte statistische Auslese in dem auf S. 338 dargelegten Sinne,
erklärt werden.
Da Glaukom mehrfach nur bei Geschwistern beobachtet worden ist, ist
zu vermuten, daß es auch rezessive Erbanlagen zu Glaukom geben möge.
Über die Häufigkeit der Verwandtenehe bei den Eltern von Glaukom kranken
liegen nicht genügend Angaben vor. In der jüdischen Bevölkerung ist Glau-
kom häufiger als in der nicht jüdischen. Das Glaukom, besonders das ent-
zündliche, findet sich Verhältnis mäßig häufig bei psychopaihischen Per-
sonen. Es gibt Familien, in denen es regelmäßig mit konstitutioneller Ver-
stimmung und Herzangst zusammen vorkommt, ein Beispiel, wie von einer
Erbeinheit verschiedene körperliche und seelische Störungen abhängig sein
können.
Unter den Juden Preußens gab es im Jahre 1905 71 Blinde auf
10 000 gegenüber einem Landesdurchschnitt von 56 auf 10 000. Dieser
Überschuß zuungunsten der Juden dürfte wohl ganz durch krankhafte
Erbanlagen verursacht sein, zumal wenn man bedenkt, daß die Juden an
Berufen, die Verletzungen der Augen ausgesetzt sind, verhältnismäßig wenig
beteiligt sind. Ob die größere Häufigkeit der erblichen Blindheit bei den
Juden allein auf die größere Pläufigkeit der Verwandtenehe zurückzuführen
ist oder ob gewisse Erbanlagen zu Blindheit in der jüdischen Bevölkerung
tatsächlich stärker verbreitet sind, läßt sich einstweilen nicht entscheiden.
Die H y d r o p h t h almie („Wasseräugigkeit"), eine Ursache von
Blindheit bei Neugeborenen und Kindern beruht auf einer Drucksteigerung
im Auge zu einer Zeit, in der die Hüllen des Auges noch nachgiebig sind,
so daß der Augapfel stark aufgetrieben wird. Dieses infantile Glaukom
scheint in der Regel auf einem Fehlen des Schlemmschen Kanals, durch
den die innere Augenflüssigkeit normalerweise ihren Abfluß findet, zu be-
ruhen. Nach einer Zusammenstellung von Paula Werth scheint es sich
in den meisten Fällen um rezessive Erbanlagen zu handeln. Bei den familiär
gehäuften Fällen fand sie in fast 50% Blutsverwandtschaft der Eltern. Die
als Dissertation bei Prof. v. Szily in Freiburg 1922 verfaßte Arbeit
scheint leider nicht im Druck erschienen zu sein.
Auch Waardenburg, der ebenfalls einen überdurchschnittlich
hohen Hundertsatz von Blutsverwandtschaft der Eltern fand, hat sich für
rezessiven Erbgang der erblichen Plydrophthalmie ausgesprochen. Außer-
dem gibt es anscheinend auch nichterbliche Fälle. Im ganzen kommen
1 ) F r an k-K a men e t z k i, S. G. Eine eigenartige hereditäre Glau-
komform mit Mangel des Irisstromas und geschlechtsgebundener Ver-
erbung. Klinische Monatsblättcr für Augenheilkunde. Bd. 74. S. 133. 1925.
s ) v. Graefe, A. Beiträge zur Pathologie und Therapie des Glau-
koms. Archiv für Ophthalmologie. Bd. r5 (1869).
AUGENLEIDEN.
353
rund 5 männliche auf 3 weibliche Fälle. Wie sich die größere Pläufigkeit
im männlichen Geschlecht erklärt, ist nicht bekannt.
Die erbliche S ehnerv Verödung („Neuritis optica",
Opticusatrophie) zeigt in der Regel rezessiven geschlechtsge-
bundenen Erbgang. Demgemäß werden davon ganz überwie-
gend Männer befallen. Das Leiden setzt gewöhnlich im zwei-
ten bis vierten Jahrzehnt ein. Unter entzündlichen Erscheinungen
am Sehnerven können beide Augen im Verlaufe von wenigen
Tagen gerade in der Mitte des Gesichtsfeldes, wo sonst das
Sehen am deutlichsten ist, ihre Sehkraft verlieren. Nicht selten
aber ist der Verlauf langsamer. In den äußeren Teilen des Ge-
sichtsfeldes bleibt regelmäßig ein Rest des Sehvermögens er-
halten. In derselben Familie pflegt der Verlauf der Sehnerv-
verödung ziemlich der gleiche zu sein.
CT
ö* q
r— I—,
l 1
9
I
9
9 9 9 9 9 9
t — t — 1 r
o* cf
er 9 #9 9 c?9 & c? 9
Fig. 82.
Sehnervverödung. Nach PI e n s e n.
Die allermeisten bekannt gewordenen Sippschaftstafeln zei-
gen das typische Bild des rezessiven geschlechtsgebundenen Erb-
gangs. In einigen wenigen Sippen sind auch kranke Frauen be-
obachtet worden und zwar in Fällen, wo der Vater gesund
war, wo es sich also nicht um homozygot kranke Frauen han-
deln kann, wie solche ja auch bei völlig rezessiven geschlechts-
gebundenen Leiden vorkommen können. Ein besonders schöner
Stammbaum, in dem neben 16 Männern auch zwei Frauen an
Sehnervverödung erkrankt sind, ist von Waardenburg 1 )
veröffentlicht worden. Da die erkrankten Frauen gesunde Väter
und (neben kranken) auch gesunde Söhne hatten, können sie
nicht wohl als homozygot krank aufgefaßt werden. Seitdem
sind auch von anderen Autoren mehrere Frauen beschrieben
worden, die bei offenbar heterozygoter Veranlagung an Seh-
') Waardenburg, P. I. Beitrag zur Vererbung der familiären
Sehnervenatrophie. Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde. Bd. 73.
S. 619. 1924.
Baur-Fischer-Lenzl. 23
;-
354 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
nerv Verödung erkrankten, meist freilich leichter als Männer.
Das heiBt, die geschlechtsgebundene Anlage zu Sehnervver-
Ödung ist (mindestens in einigen Sippen) nicht vollständig
rezessiv; sie kann sich vielmehr unter besonderen Umständen
auch heterozygot im weiblichen Geschlecht .äußern. Sie ver-
hält sich also unvollständig bzw. unregelmäßig rezessiv ge-
schlechtsgebunden. Dieses Verhalten stellt eine Art von Über-
gang zu dem dominanten geschlechtsgebundenen dar, steht aber
dem rezessiven geschlechtsgebundenen immerhin viel näher.
Außer der besprochenen geschlechtsgebundenen Form erblicher Seh-
nerwerödung gibt es — viel seltener — eine einfach rezessive, die schon in
frühem Kindesalter beobachtet wird und vermutlich angeboren ist. Bei dieser
Form kommen Erscheinungen von Ataxie (s. d.) vor (ob regelmäßig?).
Als Begleiterscheinung kommt Sehnervverödung auch bei der im späteren
Leben auftretenden erblichen Ataxie (s. d.) vor, übrigens auch bei der durch
Syphiits verursachten nichterblichen Ataxie (Tabes). Ein Stammbaum ange-
borener Sehnervverödung zeigte dominanten Erbgang. Es gibt also mehrere
Biotypen. Wenn es auch bei geschlechtsgebundenem Erbgang Sippen mit
leichterem und solche mit schwererem Verlauf der Sehnervverödung geben
sollte und wenn kranke Frauen in einigen Sippen gar nicht, in andern regel-
mäßig gefunden werden, wie Mcycr-Ricmsloh angegeben hat, so müßle
man an das Vorkommen mehrerer Allele wie im Falle des erblichen Nystag-
mus denken.
Ein erheblicher Teil aller Fälle von Erblindung beruht auf
erblich bedingter Netz hautverö düng, die herkömmlicher-
weise als „Retinitis pigmentosa" bezeichnet wird, tref-
fender jedoch Dystrophia retinae pigmentosa zu rsen-
q neu wäre (nach Waarden-
1 — | — -* bürg). Das Leiden beginnt
meist in früher Jugend mit zu-
nehmender Nachtblindheit und
Einengung des Gesichtsfeldes,
bis einschließlich nach vielen
Jahren das Sehvermögen auch
in der Mitte des Gesichtsfeldes
zugrundegeht. Es gibt mehrere
Arten dieses nach den klini-
schen Erscheinungen zusam-
mengefaßten Krankheits bilde s,
die sich zum Teil durch den ärztlichen Befund und den Ver-
lauf, zum Teil aber auch nur durch den Erbgang unterscheiden.
Am häufigsten ist eine rezessive Form. Mit dem rezessiven
Erbgange hängt es zusammen, daß die an Netzhautverödung
Leidenden auffallend häufig aus Verwandtenehen stammen,
i — i ,
9 9
9_9
CT
<gf «r er 9 9
Fig. 3 3 .
Rezessive N e t z h a u t v e r ö d u n j
Nach Boeh in.
AUGENLEIDEN.
355
nämlich zu fast einem Drittel. In dem abgebildeten Stamm-
baum von 33 oehm sehen wir, wie aus den Ehen zweier Brüder
mit zwei Schwestern, die ihre Basen sind, je ein Netzhautlei-
dender hervorgeht. In dieser Sippe war die Netzhauterkran-
kung mit Verödung der Aderhaut verbunden. Dasselbe ist auch
in einigen anderen Sippen beobachtet worden. Es gibt an-
scheinend mehrere idiotypisch verschiedene Arten rezessiver
Netzhautverödung.
O* Cf
9 «r cf #9
cf
9
Fig. 84.
Dominante Netzhautverodung. Nach Nettleship (Ausschnitt).
Außerdem sind aber auch Sippen beobachtet worden, in denen eine
dominante Anlage zu Netzhautverodung vorkommt. Eine solche Sippe zeigt
Fii?. 84.
2 O*
CT
9 9 9
9
o" 9 9®" f |T ^ Cfcp
er
Fig. 8 5 .
Rezessive geschlechtsgebundene Netzhautverodung.
Nach Nettleship (Ausschnitt).
Schließlich kommt auch eine rezessive geschlechtsgebundene Art der
Netzhautverodung vor, wie Fig. 85 zeigt.
In den Niederlanden beträgt die Gesamtzahl der Fälle von Netzhaut-
verodung nach de Wilde etwa 200; das entspricht einer Häufigkeit von
ca. 1:20000, Männliche Personen sollen im Verhältnis von 3:2 häufiger als
weibliche befallen sein. Dieser Überschuß an männlichen Kranken dürfte auf
die rezessive geschlechtsgebundene Form zu beziehen sein. Von allen Er-
blindungsfällen sind fast 40/0 durch die erbliche Netzhautverodung bedingt
(nach C rzclli t z er). In der jüdischen Bevölkerung ist Netzhautverodung
mehrfach häufiger als in der nicht] irdischen, was sich zwanglos aus der
größeren Häufigkeit der Verwand tenelien bei den Juden erklärt.
Netzhautverodung kommt auch als Teilerscheinung der juvenilen amau-
rotischen Idiotie (s. d.) vor, sodann auch als Tcilerscheinung des sog.
Bicdl-Bardctschen Syndroms, bei dem Fettsucht in der Form der Dystrophia
adiposogenitalis, Vielfingrigkeit und Netzhautverodung vereinigt sind und
23*
356 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
AUGENLEIDEN.
357
zwar öfter bei mehreren Geschwistern, also wohl durch eine rezessive Erb-
anlage bedingt, die sich in so verschiedenen krankhaften Erscheinungen
äußern kann.
Während bei der gewöhnlichen Netzhautverödung; die Stelle des
deutlichsten Sehens am längsten erhalten bleibt, gibt es auch erbliche Lei-
den, bei denen gerade diese, der sogenannte gelbe Fleck oder die Macula
lutea, zugrundegeht. Von dieser Makuhverödung sind in verschie-
denen Sippen verschiedene Formen beobachtet worden, die sich nach dem
verschiedenen Zeitpunkt des Auftreteins und zum Teil auch nach dem Erbgang
unterscheiden, die sich aber innerhalb derselben Sippe ,,in fast photogra-
phischer Treue" wiederholen (B ehr). Es gibt Sippen, in denen das Leiden
in früher Kindheit, andere, in denen es um die Zeit der eintretenden Ge-
schlechtsreife, wieder andere, in denen es im dritten Jahrzehnt und schließ-
lich solche, in denen es erst im sechsten Jahrzehnt zum Ausbruch, kommt.
Verhältnismäßig am häufigsten sind auch hier rezessive Formen. Dominanter
Erbgang ist nur in wenigen Sippen beobachtet worden.
Zu der Gruppe der Makula Verödungen kann man die mit Erblindung
einhergehenden Verblödungen („amaurotische Idiotie") rechnen, von denen
bei Besprechung der Geisteskrankheiten berichtet wird.
Angeborene Schwachsichtigkeit (Amblyopie), auf einem Feh-
len der Macula lutea beruhend, ist in einigen wenigen Sippen mit anschei-
nend rezessivem Erbgang beobachtet worden, einmal auch anscheinend rezes-
siv geschlechtsgebunden (Vogt). Außerdem kommt Maculalosigkeit vor
bei Albinismus, Aniridie, Mikrophthalmie und anderen erblichen Mißbildun-
gen des Auges (s. d.).
Die Nachtblindheit oder Hemeralopie ist eine
Anomalie, bei der ein abnormer Bau der Netzhaut nur aus dem
Ausfall der Fähigkeit des Sehens in der Dämmerung erschlos-
sen werden kann. Die damit behafteten Personen können sich
bei stärkerer Dämmerung nicht zurechtfinden, während sie bei
Tage ebenso gut sehen wie andere. Durch den englischen
Augenarzt Nettleship ist eine große Sippentafel über Nacht-
blindheit bekannt geworden, die sich über neun Generationen
erstreckt und 21 16 Personen umfaßt, von denen 135 nacht-
blind sind. Es ist die größte Sippentafel, die bisher über ein
erbliches Leiden bekannt geworden ist. Von jeder dieser nacht-
blinden Personen läßt sich die krankhafte Anlage in ununter-
brochener Reihe zu rück verfolgen bis auf den i. J. 1637 in Ven-
demian bei Montpellier geborenen nachtblinden Metzger Nou-
garet. Jedes nachtblinde Mitglied dieses Verwandtschaftskrei-
ses hat also mindestens einen nachtblinden Elter; in einem
Falle waren auch beide Eitern nachtblind und hatten zwei
nachtblinde Töchter. Wenn keiner der Eltern nachtblind war,
so waren ausnahmslos auch die Kinder frei von dem Leiden.
Die Anlage ist also dominant. Zur Veranschaulichung gebe
ich einige Ausschnitte aus der Sippentafel Nougaret.
In dem ersten der hier wiedergegebenen Teile der Sippentafel sehen
wir die Mehrzahl der Mitglieder von dem Leiden befallen, in dem zweiten
nur eine Minderheit. Darin kommt aber kein biologisch bedingter Unter-
schied zum Ausdruck. Nach dem Mendelschcn Gesetz wäre zu erwarten, daß
im großen Durchschnitt die Hälfte der Kinder nachtblind und die Hälfte
normal seien. Ein einzelnes Kind hat also die Wahrscheinlichkeit 1 j 2 , nacht-
blind zu werden, und jedes seiner Geschwister hat unabhängig davon die-
selbe Wahrscheinlichkeit. Folglich sind nach den Gesetzen der Wahrschein-
cf cT cf
9 cT
(5
9 ^9
ö* 9 9°"
1 r
Fig. 86 u. 87.
D o m i 11 a n t e N a c h t b 1 i n dlt e i t. Ausschnitte aus der Sippentafel
Nougaret, nach Nettleship.
lichkeit in einer so ausgedehnten Verwandtschaft neben Zweigen mit vielen
befallenen Mitgliedern auch solche mit wenigen zu erwarten. Die beiden
Sippenausschnittc wurden mit Absicht so ausgewählt, um zu zeigen, daß
unter den Nachkommen eines Elternpaares die Mendelschcn Zahlenverhält-
nisse nicht zu stimmen brauchen, obwohl die Verteilung der betreffenden
Anlage im ganzen doch durchaus dem Mendelschen Gesetze folgt.
Schließlich gebe ich' in Fig. 88 noch einen Ausschnitt aus
der Sippentafel Nougaret, die den ununterbrochenen Erbgang
der Nachtblindheit durch neun Generationen zeigt. Dominante
Nachtblindheit ist sonst nur noch in wenigen Sippen beob-
achtet worden, von denen noch dazu ein Teil vermutlich mit
der Nougaret-Sippe zusammenhängt.
Außer dieser dominanten Nachtblindheit gibt es eine andere
Art, die im Unterschied von jener regelmäßig mit Kurzsichtig-
keit verbunden ist. Von dieser Form sind mehrere Sippen be-
kannt, welche zeigen, daß sie rezessiv geschlechtsgebunden ist.
Besonders sorgfältig erforschte Sippen dieser Art sind von
Kleiner und Varel mann beschrieben worden.
358 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
je eine Sippe von Rambusch und von Snell sind mir nach
Waa r den bürg s Bericht verdächtig auf dominanten geschlechtsgebun-
denen Erbgang (Übertragung von Vätern auf Tochter und von Müttern auf
Söhne, vgl. das über Nystagmus Gesagte S. 350).
Diese Sippe kann zugleich zur Veranschaulichung dienen, daß es auch
eine rezessive geschlechtsgebundene Anlage zu Kurzsichtigkeit gibt.
Eine dritte Art von Nacht-
blindheit, die mit hochgradiger
Kurzsichtigkeit verbunden ist und
einfach rezessiven Erbgang zeigt,
hat Vogt in der Schweiz aufge-
funden. Eine Sippentafel, dieGaß-
1 e r, ein Schüler Vogts, ver-
öffentlicht hat, ist in Fig. 90 wie-
dergegeben; sie ist für den Erb-
gang rezessiver Anlagen überhaupt
lehrreich. Auch sonst sind einige
Sippen mit dieser Art rezessiver
Nachtblindheit beschrieben worden.
In Japan kommt eine rezessive Nacht-
blindheit vor, die nicht mit Kurzsichtig-
keit einhergeht und die durch eine eigen-
tümliche Färbung des Augenhintergrun-
des gekennzeichnet ist, die Oguchische
Krankheit. In Europa ist bisher nur ein
einziger Fall von Oguchischer Krankheit
beobachtet worden und zwar von Schee-
rer in Tübingen.
Das Sehen in tiefer Dämme-
rung geschieht mit Hilfe anderer
Netzhautelemente als das Sehen
bei Tage. Dem Tagessehen dienen
die sogenannten Zäpfchen der
Netzhaut, die zugleich die Farben-
empfindungen vermitteln. Dem Sehen in der Dämmerung da-
gegen dienen die sogenannten Stäbchen der Netzhaut, die
fahle farblose Bilder, wie wir sie von Mondscheinlandschaftcn
kennen, vermitteln. Die farbempfindlichen Zäpfchen bedürfen
zu ihrer Tätigkeit einer größeren Lichtstärke; sie sind daher
in der Dunkelheit ausgeschaltet.
Es gibt nun ein erbliches Leiden, bei dem im Gegensatz
zur Nachtblindheit gerade die Funktion des Zäpfchenapparates
ausgefallen ist. Die betreffenden Personen verfügen also nur
über jenen Teil des Gesichtssinnes, mittels dessen wir uns z.B.
AUGENLEIDEN.
359
Fig. 88.
Dominante Nachtblindheit.
Ausschnitt aus der Sippen ta fei
Nougaret nach N e 1 1 1 e s h i p.
im Mondschein zurechtfinden, der aber bei hellem Tageslicht
durch Blendung ausgeschaltet ist. Man nennt dieses Leiden da-
her in England Tagblindheit oder bei uns (weniger tref-
fend) totale Farbenblindheit, weil mit der Zäpfchenfunktion
auch jede Farbempfindung ausfällt. Das Leiden ist rezessiv.
Fig. 89.
Nachtblindheit mit Kurzsichtigkeit. Nach Varelman n (Ausschnitt)
Wir sehen an dieser Sippentafel, wie aus einer Vetternelle, die ja das
Zusammentreffen gleicher rezessiver Anlagen erleichtert, drei tagblinde Kin-
der hervorgehen. Natürlich ist es ein verhältnismäßig seltener Zufall, daß
unter 4 Kindern hier 3 Kranke sind, weil bei rezessiven Leiden die Wahr-
scheinlichkeit zu erkranken bei Heterozygotic beider Eltern für jedes Kind
nur 1 / i beträgt. Wir dürfen uns daher auch nicht wundern, daß in manchen
Familien unter einer größeren Zahl von Geschwistern nur ein einziges mit
einer rezessiven Erbkrankheit behaftet ist, wie das z. B. Sippentafel
Fig. 92 zeigt.
Ohne sonstige Erfahrungen über Tagblindheit und ohne eine gewisse
Kenntnis der Theorie der Vererbung würde man wohl kaum auf den Gedan-
ken kommen, daß ein derartig vereinzelter Fall in einer Familie erblich be-
dingt sei. Manche Ärzte pflegen in Fällen wie diesem, wo sowohl die Eltern
als auch die Großeltern als auch sämtliche 8 Geschwister des Leidenden
gesund sind, selbst heute noch zu schließen, daß „Heredität" nicht vorliege.
Es ist lehrreich, die Wahrscheinlichkeiten des Auftretens von Ge-
schwisterreihen dieser Art zu berechnen. Wenn die Wahrscheinlichkeit
krank zu sein für ein Kind 1 / i ist, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß von
9 Geschwistern keines krank ist (74) 9==0 >°75 und die Wahrscheinlichkeit,
daß unter 9 Geschwistern nur eines krank ist ( 3 / 4 ) 8 ■ 1 / i - 9 = 0,225. Man
360
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
AUGENLEIDEN.
361
erhält die Zahlen durch Auflösen des Binoms (^/ i -\- 1 / i ) d . Wenn beide
Eltern heterozygote Träger einer bestimmten rezessiven. Erbanlage sind,
ist also in reichlich einem Fünftel (22,50/0) aller Familien mit je 9 Kindern
nur ein krankes zu erwarten und in einem Drcizehntel (7,5%) aller derartigen
Familien gar keines. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß unter 4 Geschwi-
stern drei kranke sindj wie es die Sippentaf cl nach H e ß b e r g zeigt, bc-
Fig. 90.
Hochgradige Nachtblindheit mit hochgradiger Kurzsichtigkeit.
Nach Vogt und G a ß 1 e r. Bei dem mit X bezeichneten nachtblinden Mann
trat ausnahmsweise keine Kurzsichtigkeit in Erscheinung.
trägt (V-i) 3 - 3 /* ■ 4 ~ Vg4 — '"und 0,05 und die Wahrscheinlichkeit, daß
alle 4 krank sind, (V^)* = 1 /g 5G = rund 0,004.
Viel größere praktische Bedeutung als die seltene völlige
Farbenblindheit hat wegen ihrer großen Häufigkeit die teil-
weise Farbenblindheit oder Rotgrünblindheit. Der
farbenempfindende Zäpfchenapparat des Auges, der bei der
Tagblindheit völlig funktionsuntüchtig ist, hat bei der Rotgrün-
blindheit seine Funktion nur teilweise eingebüßt. Die Wahr-
nehmung von Gelb und Blau wird durch andere Elemente bzw.
andere Stoffe der Netzhaut vermittelt als die von Rot und Grün.
Während beträchtlichere Störungen des Gelbblausinnes kaum
vorkommen, sind solche des Rotgrünsinnes recht häufig. Rund
40/0 aller Männer sind ausgesprochen rotgrünblind und rund
0,40/0 aller Frauen. Mindestens ebenso häufig ist aber leichtere
Schwäche des Rotgrünsinnes. Schiötz hat in Norwegen bei
rund ro 0/0 aller Knaben Störungen des Rotgrünsinncs gefun-
den und bei fast 1 0/0 aller Mädchen.
Die Schwelle der Wahrnehmbarkeit von Rot und Grün liegt
für Rotgrünschwache bei einer größeren Sättigung bzw. flächen-
haften Ausdehnung der Farbe als für
Normalsichtige. Andererseits sind auch
die als rotgrünblind angesehenen Per-
CT
1
5 £9
9
Fig. 91.
Tagblindheit („totale
Farbenblindheit").
Nach Hessberg.
£
0^9
9
9 9 9
cf
c? c? 9
Fig. 92.
Tagblindheit. Nach Lutz.
sonen in Wahrheit meist nicht völlig unempfindlich für den Un-
terschied roten und grünen Lichtes; eine gewisse Rotgrünemp-
findlichkeit pflegt vielmehr auch bei ihnen vorhanden zu sein.
In vielen Lagen des Lebens (z. B. im Eisenbahndienst) sind
diese Leute praktisch allerdings farbenblind. Trotzdem aber
haben sie einen Rest des Rotgrünsinnes, der es ihnen in andern
Lagen gestattet, Farben von genügender Sättigung und flä-
chenhafter Ausdehnung durchaus richtig zu erkennen. Wirk-
lich absolute Rotgriinblindheit, falls sie überhaupt vorkommt,
scheint jedenfalls sehr selten zu sein.
Als ich mich im Jahre 1919 dem Münchener Ophthalmologen v. H eß
auf sein Ersuchen für seine Forschungen über Rotgriinblindheit zur Ver-
fügung stellte, sprach er mir zunächst jede spezifische Rot- und Grün-
empfindung ab; er meinte damals noch, daß völlige Rotgrünblindheit die
häufigste Form sei; und es gelang mir erst nach wiederholten und hart-
näckigen Diskussionen, ihn davon zu überzeugen, daß ich spezifische Emp-
findungen für Rot und Grün habe. Nachdem der Bann einmal gebrochen
war, hat er dann bald auch bei anderen „Rotgrünblinden" Reste des Rotgrün-
sinnes festgestellt.
Die gewöhnlichen von den Augenärzten angewandten Methoden ge-
statten zwar den praktisch wichtigen ;N achweis einer Schwäche des Rot-
grünsinnes, nicht aber den seiner Reste. Ich hatte jahrelang die Absicht,
Untersuchungen über den Nachweis solcher Reste des Farbensinns anzu-
stellen, bin dann aber doch nicht dazu gekommen. Daher möchte ich hier
kurz das Prinzip meiner Methode angeben. Man färbe mit einem mög-
lichst reinen Rot 20 Wollproben, derart, daß diese je nach dem Grad der
Verdünnung um ein Rot von mittlerer Helligkeit schwanken. Entsprechend
färbe man 20 Wollproben mit einem möglichst reinen Grün derart, daß die
Mittelglieder beider Reihen ungefähr gleich hell sind. Schließlich färbe man
362 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLÄGEN.
20 Wollproben grau in derselben Helligkeit unter Zusatz von ein wenig
Geib bzw. Blau, so daß eine Reihe von leicht gelblich Grau bis leicht bläu-
lich Grau entsteht. Die drei Gruppen der Wollproben, die roten, grünen und
grauen, sind für einen Farbentüchtigen natürlich stark verschieden. Ein
wirklieh vollständig Rotgrünblinder aber würde die Gruppen aus der Mi-
schung nicht wieder sondern können. Der Möglichkeit, daß die roten und
grünen Proben an einem verschiedenen Gehalt an Gelb oder Blau erkannt
werden könnten, ist dadurch vorgebeugt, daß die Graureihe auch etwas
gelbliche und etwas bläuliche Proben enthält. Tatsächlich wird es kaum
einen „Rotgrünblinden" geben, der die drei Gruppen nicht sicher sondern
kann. Daraus folgt, daß mindestens die allermeisten sogenannten Rotgrün-
blinden Reste echter Rot- und Grünempfindlichkeit haben.
Der Normalsichtige kann sich die verschiedenen Grade der
Farbenschwäche bzw. Farbenblindheit an seinem eigenen Far-
bensehen in der Dämmerung veranschaulichen. Er sieht bei
nicht zu tiefer Dämmerung die Farben etwa so wie der Rot-
grünschwache bei Tageslicht. Zuerst leidet die Wahrnehmung
von Rot und Grün, während die von Gelb und Blau zunächst
noch voll erhalten bleibt. Mit fortschreitender Dämmerung ver-
hert auch der Normalsichtige die Fähigkeit der Unterscheidung
von Rot und Grün und bei noch tieferer Dämmerung schließ-
lich auch der von Gelb und Blau. Im Mondlicht sieht er wie
der total Farbenblinde.
Q d
^9
9
c?
tf 9?2
p
t^ — f
6* cf
9 99
cf
Fig. 93.
RotgriinbUndheit. Nach Groenou w.
Sämtliche Sippentafeln über Störungen des Rotgrünsinnes
zeigen geschlechtsgebundenen Erbgang; und zwar verhält sich
die Anomalie regelmäßig rezessiv gegenüber dem normalen
Zustand. Als Beispiel für den rezessiven geschlechtsgebunde-
nen Erbgang der Rotgrünblindheit gebe ich eine Sippentafel
nach G r o e n o u w. Gemäß der Theorie des geschlechtsgebun-
denen Erbgangs können im weiblichen Geschlecht zwei gleich-
artige Anlagen zu Rotgrünblindheit (von väterlicher und müt-
terlicher Seite her) homozygot zusammentreffen; solche Frauen
AUGENLEIDEN.
363
müssen dann rotgrünblind sein. Beispiele dafür zeigen die Sip-
pentafeln nach Nagel und Dort, welch letztere schon im
Jahre 1778 veröffentlicht worden, ist.
9
9 ?_§
9.
9
Fig 94.
Eine Sippe, in der rotgrünblindc
Frauen vorkommen. Nach Nagel.
Fig. 95-
Eine Sippe mit einer rotgrün
blinden Frau. Nach Lort.
Fig. 96.
Rotgrünblindheit
nach Vogt.
Gemäß der Theorie ist anzunehmen, daß die Mütter rot-
grünblinder Frauen regelmäßig Träger der Anlage sind. Wenn
ein rotgrünblinder Mann eine Anlageträ- W" g
gerin zur Frau hat, so hat sowohl von l____Ii
den männlichen als auch von den weib- ' ! ^ ~~m,
liehen Kindern jedes die Wahrscheinlich- $ • ?
keit 1 / 2} rotgrünblind zu werden. Die Söhne
einer homozygot rotgrünblinden Frau müs-
sen alle ebenfalls rotgrünblind sein. Wemi
beide Eltern rotgrünblind sind, so sind
es auch sämtliche Kinder. Derartige Familien sind von Vogt
und Göthlin beschrieben worden.
Es ist von geschichtlichem Interesse, daß der Ophthalmologe Vogt 1 )
(damals Professor der Augenheilkunde in Basel, jetzt in Zürich) die be-
treffende Familie im Verlauf systematischer Untersuchungen, die der Prü-
fung der Theorie des geschlechtsgebundenen Erbgangs dienten, gefunden
hat. Er untersuchte mehrere Tausend Schulmädchen in Basel auf ihren
Farbensinn und fand unter ihnen mehrere rotgründblinde. Das Vorkommen
der Rotgrünblindheit in den Familien dieser Mädchen entsprach durchaus
dem, was auf Grund der Theorie zu erwarten war. Insbesondere die Auffin-
dung jener Familie, in der zwei rotgrünblinde Eltern drei ebensolche Kin-
der, darunter zwei Mädchen, hatten, konnte im Jahre 1921 als der Schluß-
stein der Feststellung des rezessiven geschlechtsgebundenen Erbgangs für
die Rotgrünblindheit gelten.
Innerhalb der Gruppe der Rotgrünblindheitcn gibt es nicht nur ver-
schiedene Grade der Schwäche des Farbensinns, sondern auch qualitative
1 ) Vogt, A. Über geschlechtsgebundene Vererbung von Augenleiden.
Schweiz, mediz. Wochenschr. 1921. Nr. 4.
364 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
OH REN LEI DEN.
365
Unterschiede. Man unterscheidet eine Rotblindheit oder Protanopie
und eine Grünblindheit oder Deuteranopie. Bei beiden ist der Farb-
wert sowohl für Rot als auch für Grün herabgesetzt; vor die Aulgabe ge-
stellt, aus Rot und Grün eine Mischung zu machen, die weder rötlich
noch grünlich ist, nimmt der Rotblinde aber mehr Rot, der Grünblinde
mehr Grün. Der Rotblinde bzw. Rotschwache ist also relativ empfindlicher
für Grün, der Grünblinde bzw. Grünschwach c für Rot. Grünblindheit ist
häufiger als Rotblindheit.
Rotblindheit und Grünblindheit vererben sich jede für sich rezessiv
geschlechtsgebunden. Der Grad der Farbenstörung kann in derselben Sippe
etwas verschieden sein; es kann also z 1 . B. dieselbe Anlage bei einigen
Sippenmitgliedern geringere, bei anderen stärkere Grünschwäche bedingen,
nicht aber einmal Grünschwäche und ein andermal Rotschwäche. In ver-
schiedenen Sippen gibt es quantitativ verschiedene Grade der Farben-
schwache. Leichte Grünschwäche kann x. B. als solche vererbt werden im
Unterschied von der hochgradigen Grünschwäche oder Grünblindheit. Beim
Zusammentreffen einer Anlage zu Farbenblindheit mit der gleichsinnigen
Anlage zu Farbenschwäche, was ja nur im weiblichen Geschlecht möglich
ist, verhält sich die hohergradige Störung (unregelmäßig) rezessiv gegen-
über der geringergradigen, also Grünblindheit rezessiv gegenüber Grün-
schwäche wie diese rezessiv gegenüber dem normalen Farbensinn. Wenn
eine Anlage zu Grünblindheit mit einer zu Rotblindheit zusammentrifft,
so ist die betreffende Frau weder grünblind noch rotblind, sondern nur
in geringem, praktisch unwesentlichen Grade farbenschwach. Die Söhne
einer derartigen Frau sind teils grünblind und teils rotblind, niemals aber
farbentüchtig (nach Befunden von G Ö t h 1 i n und Waaler). Daraus folgt,
daß nicht nur Grünblindheit und Grünschwäche einerseits, Rotblindheit und
Rotschwäche andererseits im Verhältnis der Allelie stehen, sondern auch
diese beiden Gruppen miteinander.
Die Darstellung bei Waardenburg, die auf Waaler zurück-
geht, daß es sich um zwei Reihen von Allelen handle, die an verschiedenen
Stellen des Geschlechtschromosoms lägen, halte ich für nicht ganz zutref-
fend. Die Tatsache, daß eine Anlage zu Grünblindheit oder Rotblindheit sich
im männlichen Geschlecht regelmäßig äußert, zeigt, daß ein zweites gleich-
sinniges (nicht allelcs) Gen nicht vorhanden ist; denn sonst würde dieses die
anomale Anlage überdecken. Auch müßten dann in derselben Geschwister-
reihe grünblinde, rotblinde und normalsichtige Brüder vorkommen können,
was nicht der Fall ist. Grünblindheit und Rotblindheit beruhen also auf De-
Fig. 97.
Schematische Darstellung der Gene für Farbensinn: a bei einer farben-
tüchtigen Frau, b bei einer rotblinden, c bei einer grünblinden Frau, d bei
einer Frau, die die Erbanlagen für Rotblindheit und Grünblindheit neben-
einander enthält, dabei aber praktisch farbentüchtig ist Die Starke bzw.
Schwäche des Farbensinns ist durch die Vertikalausdehnung der Säulenpaare
versinnbildlicht.
*
fekten derselben Gensorte im Geschlechtschromosom, aber auf Defekten an
verschiedener Stelle dieses Gens. Grünblindheit konnte, bildlich gesprochen,
auf einem Defekt an dem einen Ende des Gens für Farbensinn, Rot-
blindheit auf einem Defekt am anderen Ende beruhen. Ich möchte das an
einem Schema klarmachen (Fig. 97)-
Siemens hat einen Fall mitgeteilt, wo eine grünblinde Frau einen
farbentüchtigen Sohn hatte. In diesem Falle müßte sich also entgegen der
Regel eine heterozygote Anlage im weiblichen Geschlecht geäußert haben,
wie das häufiger bei der ebenfalls geschlechtsgebundenen Sehnervverödung
vorkommt (vgl. S. 353). Zur Erklärung dieser Regelwidrigkeit käme allen-
falls auch noch eine andere Möglichkeit in Betracht: Wie Goldschmidt
gezeigt hat, kommt bei einem Schmetterling, dem Schwammspinner,
eine Geschlcchtsumwandlung auf Grund abnormer Genkombination vor. Bei
Schmetterlingen hat das weibliche Geschlecht normalerweise ein X-Chromo-
som, das männliche zwei: Bei gewissen Kreuzungen entstehen jedoch auch
Männchen mit nur einem X-Chromosom. Beim Menschen, wo die Dinge
umgekehrt Hegen, könnte es entsprechend ausnahmsweise Frauen mit nur
einem X-Chromosom geben; und bei solchen würde eine rezessive ge-
schlechtsgebundene Erbanlage ohne weiteres in die Erscheinung treten.
c) Erbliche Ohrenleiden.
Über die erblichen Ohrenleiden liegt eine wertvolle zu-
sammenfassende Arbeit von Albrecht 1 ) vor.
Die Erblichkeit der Taubstummheit hat seit langer
Zeit das Interesse der Forscher auf sich gezogen. A. G.Bell 3 ),
der Erfinder des Fernsprechers, hati. J. 1883 über Taubstumm-
heit als Familieneigentümlichkeit berichtet. Er hat auch bereits
richtig erkannt, daß die Erbanlagen zu Taubstummheit von an-
dern Rassenanlagen nicht wesensverschieden sind. Auf den von
Bell geschaffenen Grundlagen weiterbauend, hat der Sprach-
forscher E. A. Fay 3 } ein riesiges Material über 4471 Ehen von
Taubstummen gesammelt, das hauptsächlich auf dem Wege
schriftlicher Umfragen gewonnen wurde. Wenn auch dieses
Material großenteils natürlich wenig zuverlässig war, so konnte
doch der schwedische Rassenbiologe H. Lundborg 4 ) durch
kritische Sichtung und Verarbeitung der von Bell und Fay
gesammelten Sippentafeln in hohem Grade wahrscheinlich ma-
*) Albrecht, VV. Über Konstitutionsproblcme in der Pathogenese
der FI als-, Nasen- und Ohrenkrankheiten. Zeitschr. f. Ilals-, Nasen- und
Ohrenheilkunde. Bd. 29, H. 1, 1931.
2 ) Bell, A. G. lipon the formation of a deaf variety of the human
race. Memoirs of the National Academy of Sciences. Washington 1883.
a ) Fay, E. A. Marriages of the deaf in America. Washington 1898.
4 ) Lundborg, H. Über die Erblichkeitsverhältnisse der konstitu-
tioneilen (hereditären) Taubstummheit. ARGB. Bd. 9. H. 2 (1912).
366
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
cheix, daß die erbliche Taubstummheit sich einfach rezessiv ver-
hält. Im Jahre 1923 hat dann der Tübinger Professor der
Ohrenheilkunde W. Alb recht 1 ) ein Material von 15 Sippen-
tafeln vorgelegt, das wirklich fachmännisch untersucht ist und
das den einfach rezessiven Erbgang der Taubstummheit be-
stätigt.
Aber nicht alle Fälle von Taubstummheit haben ihre ent-
scheidende Ursache in krankhaften Erbanlagen. Taubstumm-
heit kann auch die Folge von Infektionskrankheiten, z. B. Menin-
gitis (Genickstarre) und Scharlach, sein, die im frühen Kindes-
altcrdas innere Ohr befallen und zerstören können. Angeborene
Taubstummheit ist nicht selten durch Syphilis verursacht. Ver-
hältnismäßig häufig kommt Taubstummheit auch zusammen
mit Kretinismus in Kropfgegenden aus bisher nicht bekannten
Ursachen vor.
Anatomisch liegt der erblichen Taubstummheit ein Man-
gel des Hörnerven und seiner Kerne im Gehirn zugrunde. Das
Labyrinth, das bei der noch zu besprechenden Innenohrschwer-
hörigkeit mißbildet ist, zeigt bei der gewöhnlichen Taubstumm-
heit keine Mißbildung.
Im Deutschen Reich wurden i. J. 1900 gegen 50000 Taub-
stumme gezählt, bei der Reichsgebrechlichenzählung vom Jahre
1925 rund 45000 Taubstumme und Ertaubte. Auf 1000 Ein-
wohner kamen im Durchschnitt 6 bis 7 Taubstumme. Nach der
Statistik der Taubstummenanstalten 1902— 1905 war das Leiden
in rund der Hälfte der Fälle angeboren 2 ). Unter diesen ange-
borenen Fällen dürften nur wenige nichterbliche sein. Anderer-
seits dürften auch von den als .„erworben" angesehenen Fällen
manche in Wahrheit erbbedingt sein. Man darf daher wohl
schätzen, daß die Llälfte der 45 000 Taubstummen ihr Gebre-
chen krankhaften Erbanlagen verdankt. Das macht für das
Reich mindestens 20000 Fälle.
Die Arbeit von Dahlberg 3 ), der sich zu zeigen bemüht hat, daß
sein früherer Lehrer Lundborg mit der Annahme des einfach rezessiven
Erbganges der Taubstummheit im Unrecht sei, daß diese vielmehr durch
„mindestens drei dominante" Faktoren bedingt sei, ist methodologisch
*-) A 1 b r e c h t , W. Über die Vererbung der konsliaiÜQncll spora-
dischen Taubstummheit, der hereditären Labyrinthschwerhörigkeit und der
Otosklerosc. Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. 110. H. 1 (1923).
2 ) v. Verschucr, O. Vom Umfang der erblichen Belastung im
deutschen Volke. ARGB. Bd. 24. S. 238.
3 ) Dahlberg, G. Eine statistische Untersuchung über die Vererbung
der Taubstummheit. Ztschr. f. KonsUtutionslehrc. Bd. 15, S. 492. 1930.
OH REN LEI DEN.
367
9
cf
9
^ $ $ •* 9
cf cf
cf 5
o» 2
Cf
cf
cf
er
unklar. Im Widerspruch zu seiner eigenen These nimmt Dahlberg übrigens
in derselben Arbeit an, „daß die Taubstummheit durch mehrere allclomorphe
Anlagen bedingt sei". Er verwechselt also Polymerie und multiple All'elie.
Fig. 98 zeigt eine Sippentafel nach Alb recht, die den
rezessiven Erbgang der Taubstummheit veranschaulicht. Zwei
von den drei Geschwisterreihen, in denen Taubstummheit vor-
kam, sind aus Verwandtenehen hervorgegangen. Im ganzen
finden sich in den Sip-
pentafeln Alb rechts 30 cf 7 Q
Geschwisterreihen mit min- I | i
des tens einem taubstum-
men Kind. Davon waren
10 (= ca. 33°/ö) aus Ver-
wandtenehen hervorgegan-
gen, aus Vetternehen ersten
Grades 5 (= ca. i7°/o).
Wenn man alle Linien be-
liebig weit zurückverfolgen
könnte, so würde sich die
Zahl der Verwandtenehen
vermutlich noch vermehren.
Mygind 1 ) fand, daß 90/0
der Taubstummenund 230/0
der taubstumm Geborenen
aus Verwandteliehen hervorgegangen waren; S chÖnlank 2 )
fand 20/0 Verwandtenehen; FI am m e r s c li 1 a g 3 ) fand ca.
70/0 bei allen Taubstummen und 30 bis 400/0 bei den Taubge-
borenen. Da sonst nur ca. 1 o/ jener Generation aus näheren
Verwandtenehcn stammen, ist diese Häufung der Verwand ten-
chen unter den Eltern der Taubstummen ein weiterer Beleg
für den rezessiven Erbgang.
Wenn zwei Personen mit derselben Art erblicher Taub-
stummheit einander heiraten, so ist gemäß der Theorie des re-
zessiven Erbgangs zu erwarten, daß alle aus einer solchen Ehe
hervorgehenden Kinder taubstumm sind. Unter den Sippen-
tafeln Alb rechts findet sich ein solcher Fall, der hier wie-
dergegeben sein möge :
*) Mygind, IL Die angeborene Taubheit. Berlin 1890. Hirschwald.
2 ) Schönlank, Ergebnisse einer zweiten Untersuchungsreihe von
Taubstummen in Zürich. Schweizer Rundschau für Medizin 1920.
3 ) H a m m c r 5 c h 1 a g , V. Über die Beziehungen zwischen hereditär-
degenerativer Taubstummheit und der Konsanguinität der Erzeuger. Zeit-
schrift für Ohrenheilkunde. Jg. 47 (1904).
Fig. 98.
Taubstummheit nach Albrecht.
Im ersten Lebensjahr verstorbene Kinder
sind weggelassen.
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Hier sind alle 3 Kinder ans der Ehe zweier Taubstummen wieder taub-
stumm. Im linken Teil der Sippen tafcl dagegen sehen wir zwei normal'hö-
rende Töchter aus der Ehe zweier taubstummer Eltern hervorgehen; das er-
klärt sich daraus, daß in diesem Falle die Mutter infolge Scharlach, also einer
äußeren Ursache, taubstumm geworden ist, und eine solche erworbene Taub-
stummheit ist natürlich nicht erblich. Auch in dem Material F a y s finden
sich Familien, in denen Taubstummheit in Reinzucht auftritt. Zwei solcher
SippentafeJ.11 sind in Fig. 100 und 101 wiedergegeben. In Fig. 100 findet
sich eine Familie, wo beide Eltern taubstumm, alle 4 Kinder aber hörend
sind. In diesem Falle wa t r der Vater infolge fieberhafter Krankheit ertaubt.
Auch Orth v ) hat über
0*0 C? Q
9
9
o*
Fig. 99.
Taubstummheit nach A 1 b r e c h t.
!X
f 9
OOO
zwei Familien berichtet, in denen
beide Eltern und sämtliche Kin-
der (je 5) taubstumm waren.
Von der genannten Regel
macht eine von Mü hl mann 2 )
mitgeteilte Sippe eine Ausnah-
me insofern, als darin aus der
Ehe zweier Taubstummer zwei
normale Söhne stammen. Sowohl
der Vater als die Mutter sind
aus einer Verwandtenelic liervor-
gegangen, und beide haben noch
je ein taubstummes Geschwi-
ster; für äußere Ursachen der
bei beiden Eltern angeborenen
Taubstummheit liegen keine An-
-, haltspunkte vor. Diese ist da-
O her mit größter Wahrscheinlich-
keit als erbbedingt anzusehen.
Wenn gleichwohl die beiden aus
der Ehe hervorgegangenen Söhne
Fig. 100.
Taubstummki t. Nach F a y.
X == angeblich im 2. Jahr infolge Masern normal hören, so muß man wohl
ertaubt, annehmen, daß es sich bei den
J- = im 2. Jahr infolge fieberhafter Eltern um zwei verschiedene
Krankheit ertaubt. Erbanlagen rezessiver Taub-
stummheit handelt, die einander
nicht allel sind, so daß die beiden Anlagen bei den Söhnen in heterozygotem
Zustand von den entsprechenden normalen Anlagen überdeckt werden kön-
nen. Der Fall ist also wie die von Bateson und Punnct mitgeteilte
Kreuzung zweier verschiedener albinotischer Hühnerrassen aufzufassen, die
in F L lauter farbige Nachkommen ergibt (vgl. S. 331).
Mit dem rezessiven Erbgang der Taubstummheit hängt es zusammen,
daß sie relativ häufig in Inzuclitgebicten, isolierten Tälern usw. auftritt,
worauf besonders Hanhart 3 ) hingewiesen hat. Vorher hatte sclion Al-
*) Orth, Ii. Zum Erbgang der konstitutionellen Taubstummheit.
Archiv für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfheilkunde. Bd. in. S. S4. 1923.
H ) Mühlmann, W. E. Ein ungewöhnlicher Stammbaum über Taub-
stummheit. ARGB. Bd. 22. S. 181. 1930.
3 ) II a n h a r t , E. Über die Bedeutung der Erforschung von In-
zuchtsgebieten. Schweizerische Mediz. Wochenschr. 1924. Nr. 50.
OHRENLEIDEN.
369
brecht bemerkt, daß die Taubstummheit in Württemberg sieh haupt-
sächlich in umschriebenen Bezirken finde, in denen Verwandtenehen beson-
ders häufig seien, z. B. in katholischen Enklaven, die rings von evange-
lischer Bevölkerung umgeben sind. F in kb einer 1 ) konnte auf Grund
der Volkszählung von 1870 zeigen, daß in der Schweiz in Orten mit
weniger als 100 Einwohnern 9,2°/ 00 Taubstumme sich fanden, in Orten mit
100 bis 200 Einwohnern 5,7 u /on> in Orten von 200 bis 300 4,1;, in Orten
über 300 3,4 / 00 . In Nordostdeutschland, zumal in Ostpreußen, ist die rela-
tive Häufigkeit der Taubstummheit fast doppelt so groß wie im Reichs-
. durchschnitt, was sich daraus erklärt, daß in jenen Gebieten die Bevölke-
rung zu einem überdurchschnittlich großen Teil in Ideinen Orten lebt.
Ii an ha r t fand in Ayent, einem kleinen Ort des Kantons Wallis, unter 2100
Einwohnern 42 Taubstumme, das sind 2%. Er konnte den einfach rezessi-
ven Erbgang durch mehrere große Sippentafeln bestätigen.
Die Abnahme der Häufigkeit der Taubstummheit in den letzten Jahr-
zehnten {y,2, auf 10000 im Jahre 1925 gegenüber 8,4 im Jahre 1900) erklärt
sich aus der Abnalimc der Verwandtenehen. Ob daneben auch die äußeren
Ursachen der Taubstummheit abgenommen haben, ist mir zweifelhaft.
Die Häufigkeit rezessiver Erbanlagen zu Taubstummheit bezogen auf
die allelen normalen Erbanlagen schätze ich auf ungefähr 1:60; demnach
würde rund jeder 30. Mensch Träger einer verdeckten Erbanlage zu Taub-
stummheit sein. Wenn alle Erbanlagen zu Taubstummheit einander allel
wären, würde das bei rein zufälliger Paarung eine Häufigkeit der erblichen
Taubstummheit von rund 1:3600 erwarten lassen. Wenn die Häufigkeit
tatsächlich doch etwas größer sein sollte (vielleicht 1:3000), so dürfte
das durch Verwandten eben bedingt sein.
Fig. 101.
Taubstummki t. Nach F a y. ? = nicht sicher bekannt, ob taub.
Wegen der größeren Häufigkeit der Verwandtenehen unter den Ju-
den ist auch die Taubstummheit in der jüdischen Bevölkerung häufiger
als in der nichtjüdischen. Im Jahre 1925 kamen auf 10 000 Juden 8,3
Taubstumme, auf 10 000 Katholiken 5,8 und auf 10 000 Evangelische 5,4 3 ).
Da nicht anzunehmen ist, daß Taubstummheit infolge äußerer Krankheit bei
den Juden häufiger sei als bei den NichtJuden, bleibt nur übrig, daß
der weitaus größte Teil der Taubstummheit bei den Juden erblicher
1 ) F in k b ein er , E. Die kreünische Entartung. Berlin 1923.
Springer.
2 ) Nach v, Vcrschuer a. a. O.
Baur-Fisclier-Lenzl. ?4
370
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Natur ist. Da zur Erklärung dieser Häufung aber die größere Häufig-
keit der Verwandtenehen genügt, besteht kein Grund, eine besondere „Ras-
sendisposition" dafür anzunehmen.
Ein erheblicher Teil aller Taubstummen ist gleichzeitig schwachsinnig').
Auch Blindheit wird bei Taubstummen und unter Geschwistern von Taub-
stummen mehrfach häufiger angetroffen als sonst, zumal in der Form der
Netzhautverödung (Retinitis pigmentosa). Albrecht hat die Ansicht aus-
gesprochen, daß dieses Zusammentreffen auf die Verwandtenehe zurück-
zuführen sei, durch die nicht nur die Anlagen zu Taubstummheit, sondern
auch die zu andern rezessiven Erbleiden manifest gemacht werden können.
Diese Erklärung dürfte mindestens für einen großen Teil der Fälle zu-
treffen. Ob es außerdem auch gewisse Erbanlagen gebe, die zugleich Taub-
stummheit und Netzhautverödung bedingen, ist einstweilen nicht sicher be-
kannt; möglich ist es immerhin.
Die erbliche I n n e n o h r s c li w e r h Ö r i g k e i t oder L a -
byrinth Schwerhörigkeit entwickelt sich auf dem B öden
einer Mißbildung des inneren Ohrs. Das Leiden macht sich
meist erst vom 40. Lebensjahr ab störend bemerkbar; das
Gehör pflegt dann in einigen Fällen rasch, in anderen langsamer
abzunehmen. Schließlich kann es zu völliger Taubheit kom-
men. Alb recht hat 10 Sip-
u ™ pentafeln mitgeteilt, die für
, i ...., ' dominanten Erbgang spre-
chen. Da anatomisch zwei
verschiedene Formen vonMiß-
biklung des inneren Ohres
beobachtet worden sind, gibt
es vielleicht mehrere Bio-
typen erblicher Innenohr-
schwerhörigkeit. Im gleichen
Sinne spricht die Erfahrung,
daß es sehr verschieden
schwere Grade des Leidens
gibt. In einer schweren Form kann es als „angeborene" oder
in frühem Kindesalter „erworbene" Taubstummheit in die Er-
scheinung treten und äußerlich von der rezessiven Taubstumm-
heit schwer oder gar nicht zu unterscheiden sein. Wie die do-
minante Anlage zu Innenohrschwerhörigkeit sich homozygot
äußert, ist unbekannt.
O
j*
T- 1
d*
<aT
o
Fig. 102.
O*
1 n 11 e n o h r s c h w e r h ö r i g k c i t.
Nach Albrecht.
1 ) Ich hatte in der vorigen Auflage, landläufigen Angaben folgend,
300/0 geschätzt. Herr Prof. S c h m i d t - K e h 1 , Würzburg, hat mich in-
dessen darauf aufmerksam gemacht, daß diese Zahl nur dann zutreffen
könnte, wenn man die Kretinen einrechnet. Von den sonstigen Taubstummen
ist wohl ein wesentlich kleinerer Teil schwachsinnig.
OH REN LEIDEN.
371
Übrigens kann der Hörnerv auch durch äußere Einflüsse geschädigt
werden, z ; B. durch Syphilis, Scharlach, Grippe, durch Arteriosklerose, so-
dann durch Gifte (Chinin), schließlich auch durch dauernde Einwirkung
lauter Geräusche. Da aber lange nicht alle Kesselschmiede oder Artilleristen
schwerhörig werden, so spielt auch dabei anscheinend eine erbliche Anfäl-
ligkeit mit. Auch die sogenannte Altersschwerhörigkeit scheint
familiär aufzutreten und durch die erbliche Veranlagung wesentlich mitbe-
dingt zu werden. Es handelt sich anscheinend' um eine spät einsetzende Form
der Labyrinthschwerhörigkeit.
Von der Innenohr Schwerhörigkeit verschieden ist eine an-
dere Form zunehmender Schwerhörigkeit, die Otosklerose.
Diese beginnt gewöhnlich schon im Entwicklungsalter; das
Gehör nimmt langsam ab, bis schließlich nur noch geringe
Reste erhalten bleiben; zu völliger Taubheit pflegt es bei Oto-
sklerose nicht zu kommen. Sehr lästig ist das regelmäßig auf-
tretende Ohrensausen. Anatomisch finden sich gewisse Ver-
änderungen in den Knochenwänden des inneren Ohres. Physio-
logisch handelt es sich um eine Störung des Kalkstoffwechsels ;
demgemäß pflegt bei otosklerotischen Frauen das Leiden durch
Schwangerschaft verschlimmert zu werden. Auf die besondere
Geschlechtskonstitution der Frau ist vermutlich auch das häu-
figere Befallensein des weiblichen Geschlechts zurückzuführen.
Davenport 1 ) fand fast doppelt so viele otosklcrotische Frauen
als Männer. In einigen Sippen wurde dominanter Erbgang der
Otosklerose beobachtet. Eine solche Sippentafel zeigt Fig. 103.
Eine Sippentafel von Haike 2 ) zeigt unregelmäßig dominan-
ten Erbgang. Man kann sich die Sachlage so vorstellen, daß
die Knochenveränderungen sich nicht immer an Stellen ent-
wickeln, wo sie das Gehör stören. Otosklerose kommt auch als
Begleiterscheinung der noch zu besprechenden dominant erb-
lichen Knochenbrüchigkeit vor. Im übrigen beruhen sicher
nicht alle Fälle von Otosklerose auf dominanten Erbanlagen.
Nur in einem Drittel bis der Hälfte der Fälle haben Otosklero-
tiker schwerhörige Verwandte. Haike hat mehrere Sippen-
tafeln von Otosklerose mitgeteilt, die anscheinend rezessiven
Erbgang zeigen.
Von Interesse ist die verschiedene geographische Verteilung der erb-
lichen Ertaubungen. Während Albrecht in der Tübinger Gegend haupt-
sächlich dominante Labyrinthschwerhörigkeit fand und daneben wesentlich
seltener dominante Otosklerose, war in Haikes Berliner Material rezessive
•933-
1928.
1 ) Davenport, C. B. The genetic factor in otosclerosis. Chicago
2 ) Haike. Zum Erbgang der Otosklerose. ARGE. Bd. 20. S. [55.
24*
372 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Otosklerose relativ am häufigsten. Nach Davenport sind rund 0,2% der
weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten otosklerotisch.
J. Bauer und C. Stein 1 ) haben dafür plädiert, daß Taubstumm-
heit, labyrinthäre Schwerhörigkeit und Otosklerose durch dieselben Erban-
lagen bedingt seien; doch leidet ihre Publikation an unzulänglicher Metho-
dik. Die biologische Verschiedenheit dieser drei Leiden ist völlig sicher-
gestellt. Daran ändern auch die wortreichen Publikationen von Ham-
merschlag nichts. Dieser wirft alle die verschiedenen erblichen Ohren-
leiden in einen Topf, den er „Heredodegeneratio acustica" nennt, die durch
einen einzigen Erbfaktor bedingt sein soll. Entsprechend sollen alle erblichen
Augenleiden als „Heredodcgeneratio optica" einheitlich erbbedingt sein;
und schließlich endet er bei einer allgemeinen ,,Heredodegeneratio acustico-
optico-cerebro-spinalis". Diese Konfusion sei als warnendes Beispiel er-
wähnt, weil auch einige andere Autoren gern von allgemeinen erbbedingten
„Organminderwcrtigkeiten" reden.
Eine weitere wichtige Ursache von Schwerhörigkeit ist die
Mitteloh reite rung (Otitis media); die in einem Teil der
Fälle zur Zerstörung des Schalleitungsapparates im mittleren
Ohr und damit zu Schwerhörig-
keit führt. Auch sie tritt ganz
i 1 1 i f ausgesprochen familiär auf, und
Cf f f w* (j> Cf zwar im Anschluß an die ver-
L - r— ' '— y— i schiedensten Infektionen, wie
@ Cr 3 ' © Cf #^ Cf Masern, Scharlach, Angina, ein-
fachen Schnupfen, Eine Anzahl
Cf
Fig. 103.
Otosklerose nach A 1 b r e c h t.
derartiger Sippen, in denen die
erbliche Anfälligkeit für die
Entstehung der Taubheit offen-
bar bedeutungsvoller als die Infektion ist, der die Disponierten
doch über kurz oder lang zu verfallen pflegen, haben Stein 3 )
und Abrecht 3 ) beschrieben. Es bestehen Beziehungen zur
lymphatischen bzw. adenoiden Diathese {vgl. S. 431 f). Durch
Entfernung der Mandeln kann weiteren Mittelohreiterungen
meist vorgebeugt werden.
Wöitz 4 ) fand bei seinen Zvvillingsstudicn 3 Paare eineiiger Zwil-
linge, die übereinstimmend an Ohreiterung litten. Zwei Zwillingsschwestern
J ) Bauer, J. und Stein, C. Vererbung und Konstitution bei Ohren-
krankheiten. Zeitschrift für Konsuln tionslehrc. Bd. 10. H. 5, 1925.
Bauer, }. und Stein, C. Konstitutionspathologic in der Ohren-
heilkunde. Berlin 1926. Springer.
2 ) Stein, C. Gehörorgan und Konstitution. Zcitschr. für Ohrenheil-
kunde. Bd. 76. 1917.
3 ) Abrecht, W. Über Konsütutionsproblcme usw. a. a. O.
4 ) Weitz, W. Studien an eineiigen Zwillingen. Zcitschr. f. klinische
Medizin. Bd. 101. Ii. 1/2. 1924.
HAUTLEIDEN.
373
hatten im frühen Kindesalter zu gleicher Zeit Ohrenlaufen und beide beka-
men mit 8 ] /b Jahren zum zweiten Mal gleichzeitig eine Mittelohreiterung
im Anschluß an Scharlach. Gleichartige Beobachtungen an zwei Zwillings-
paaren haben auch Paulsen 1 ) und Abrecht mitgeteilt.
d) Erbliche Hautleiden.
Über die erblichen Hautleiden liegt ein zusammenfassen-
des Buch von Cockayne 2 ) vor. Die Haut ist das übersicht-
lichste aller Organe. Ungewöhnliche Merkmale der Haut sind
viel leichter festzustellen als solche an inneren Organen. Dem-
gemäß ist über erbliche Hautleiden verhältnismäßig viel be-
kannt. Auch manche Allgemeinleiden, z. B. gewisse Stoff wech-
selstörungen, sind besonders leicht an ihren Äußerungen an
der Haut zu erkennen.
Der allgemeine A 1 b i 11 i s m u s wurde bereits in dem Kapi-
tel über Augenleiden besprochen (S. 32g ff.).
Der in der Form der Weißscheckung auftretende
fleckweise Albinismus, welcher von allen Haustierarten, beson-
ders den Rindern, bekannt ist, kommt auch beim Menschen
nicht ganz selten vor. Besonders auffällig sind Schecken (eng-
lisch: piebalds) in dunkelhäutigen Rassen. Ebenso wie bei den
Haustieren — bei der ostfriesischen Rinderrasse wird sie als
Rassenmerkmal gezüchtet — verhält sich auch beim Menschen
Scheckung dominant. Es sind ziemlich viele Sippen tafeln be-
kannt geworden 3 ). In verschiedenen Sippen kommen Schek-
kungsanlagcn von recht verschiedener Art vor; in einigen fin-
det sich nur ein Büschel weißer Haare an der Stirn („Blässe").
Während die Gesamtausdehnung und die Verteilung der wei-
ßen Schecken in derselben Familie ziemlich übereinstimmen,
pflegen Größe, Gestalt und Sitz der einzelnen Schecken Unter-
schiede aufzuweisen.
Die Weißscheckung scheint dadurch zustandezukommen, daß bei der
Pigmcntbildung ein Enzym mitwirkt, das auf einem frühen Stadium der
Entwicklung gewissermaßen „ausgegossen" wird. Wenn dieses Enzym in zu
geringer Menge vorhanden ist, bleiben einzelne Bezirke pigmentlos. Man
kann den Vorgang der Pigmententwicklung mit der Ausfärbung der Roß-
kastanien vergleichen; diese sind bekanntlich zuerst weiß; dann treten scharf
') Paulsen, J. Beobachtungen an eineiigen Zwillingen. ARGE.
Bd. 17, K. 2. 1925.
2 ) Cockayne, E. A. Inherited abnormalities o£ the skin and its
appendages. London 1933. H. Milford. 394 S.
3 ) Pcarson, IC, Nettleship, E. und Usher, C. H. a. a. O.
(vgl. S. 329).
374 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
umschriebene glänzend rotbraune Flecke auf, die unter Verschiebung ihrer
Ränder wachsen und allmählich sich über die ganze Oberfläche ausdehnen.
Wenn dieser Vorgang infolge Enzymmangels nicht zu Ende geführt würde,
so würden weiße Stellen übrig bleiben. Ganz analog kommt anscheinend die
Weißscheckung auch bei Flaustieren und Menschen zustande. Wenn das
zur Ausdehnung der Pigmentierung über die ganze Haut notwendige Enzym
auf Grund einer Schwäche bestimmter Erbanlagen in ungenügender Menge
gebildet wird, so ist Weißscheckung die Folge. So erklärt es sich auch, daß
Weißscheckung in der Regel asymmetrisch auftritt; doch hält sich die Asym-
metrie meist in mäßigen Grenzen.
Meirowsky 1 ) hat die Scheckung in Analogie zu den sog.
Muttermälern gesetzt. Als Naevi oder Muttermäler be-
zeichnet man eingesprengte Inseln abnormer Organelemente in
der Haut. In der Regel sind sie dunkler pigmentiert und öfter
stark behaart. Kleine, etwas erhabene braune Naevi, im ge-
wöhnlichen Leben meist als Leberflecke bezeichnet, sind
derart häufig, daß praktisch jeder erwachsene Mensch in ge-
ringerem oder höherem Grade damit behaftet ist; bei der Ge-
burt sind sie meist noch nicht vorhanden; sie entwickeln sich
vielmehr erst während des Heranwachsens. Siemens 2 ) hat
als Grad der Übereinstimmung eineiiger Zwillinge in bezug auf
die Zahl ihrer Naevi auf Grund von Untersuchungen an 45
Paaren einen Korrelationskoeffizienten 3 ) von 0,8 gefunden, an
23 zweieiigen Zwillingspaaren 0,4. Meirowsky 4 ) hat die
Naevuszahlen von 300 Zwillingspaaren festgestellt; unter Aus-
schabung des störenden Einflusses des Alters habe ich daraus
für die eineiigen Zwillinge eine Korrelation von 0,78 und für
die zweieiigen von 0,31 berechnet. Derartige Korrelationen und
ihr Unterschied sprechen dafür, daß die Entstehung der Pig-
mentnaevi wesentlich erbbedingt ist. Auch die Unterschiede
eineiiger Zwillinge hinsichtlich ihrer Naevi sind nicht durch
Umwelteinflüsse im gewöhnlichen Sinne verursacht. Es scheint
sich vielmehr um wechselnde Äußerungen entwicklungslabiler
Erbanlagen zu handeln (vgl. S. 390).
Noch entscheidender ist die Erbmasse für die Entstehung
des im Nacken lokalisierten Feuermals, des sog. NaevusUnna;
bei den übrigen Feuermälern ist das weniger ausgespro-
chen der Fall. Feuermäler oder Angiome beruhen auf
*) Meiro w s k y , E. Üher die Entstehung der sog. kongenitalen Miß-
bildungen der Haut. Wien und Leipzig 191g.
3 ) Siemens, H. W. Über die Bedeutung der Erbanlagen für die
Entstehung' der Muttermäler. Archiv f. Dermatologie. Bd. 147. H. 1. 1924.
3 ) S. Abschnitt über Methoden.
4 ) Meirowsky, E. Zwillingsbiologischc Untersuchungen. ARGB.
Bd. 18. 3. 1926.
HAUTLEIDEN.
375
einer übermäßigen Bildung von Blutgefäßen an verschiedenen
Stellen der Flaut von oft handtellergroßer Ausdehnung und
darüber; sie können eine schwere Entstellung mit sich bringen.
Teleangiektasien, Erweiterungen kleiner Blutgefäße der
Haut an umschriebenen Steilen, die auf lokalem Mangel an
Muskelfasern und elastischen Fasern in den Wänden der Blut-
gefäße beruhen, kommen als dominante Anomalie vor. Erbli-
ches anfallsweises Nasenbluten beruht meist auf Teleangi-
ektasien der Nasenschleimhaut. Durch Teleangiektasien in der
Blase oder in den Nieren kann anfallsweise Blutharnen be-
dingt sein. Die sog. Osler sehe Krankheit, die durch
multiple Teleangiektasien gekennzeichnet ist, vererbt sich ein-
fach dominant.
Durch vielfache Naevusbildungen von den Hautnerven aus
ist die Neurofibromatose (Recklinghausensche Krank-
heit) gekennzeichnet. Von diesem Leiden sind einige Sippen-
tafeln 1 ) bekannt geworden, die dominanten Erbgang mit Un-
terbrechungen (unregelmäßige Dominanz) zeigen. Die zugrun-
deliegende Erbanlage scheint gelegentlich nur abnorme Pig-
mentflecke zu bedingen. In einem erheblichen Teil der Fälle
gehen die Träger von Neurofibromatose an bösartigen Ge-
schwülsten zugrunde, die sich aus den Naevi bzw. Fibromen ent-
wickeln. Von Neurofibromatose kommen auch öfter Fälle vor,
die in ihrer Sippe die einzigen sind. Vermutlich handelt es sich
da meist um neue Mutationen.
Bei der tuberösen Sklerose (Epiloia) entwickeln sich neben
knotigen Geschwülsten im Zentralnervensystem meist auch nävusartige Miß-
bildungen an Hals und Gesicht (Adenoma sebaceum) und öfter auch Ge-
schwülste in Nieren und Herz. Bei verschiedenen Mitgliedern derselben
Familie kann dieselbe Erbanlage zu Geschwülsten an einem oder meh-
reren dieser Organe führen. Nach Cockaynes Ansicht ist die Anlage
zu Epiloia dominant.
Die Anlage zu Sommersprossen (Epheliden) ist nach
H a m m e r 2 ) und Meirowsky dominant. Eineiige Zwillinge
gleichen sich in Bezug auf ihre Sommersprossen so gut wie völ-
lig; die Beobachtungen an zweieiigen Zwillingen sprechen nach
Siemens 3 ) jedoch dafür, daß außer einer dominanten Grund-
anlage noch andere Erbeinheiten an der Ausprägung derSom-
*) Preiser, S. A., und Davenport, C. B. Multiple Neurofibro-
matosis etc. Eugenics Record Office Bulletin Nr. ig. igi8.
s ) I-I a m m e r. Über die Mendelsche Vererbung beim Menschen. Me-
dizinische Klinik 1912.
3 ) Siemens, H. W. Die Zwillingspathologie. Berlin 1924.
376
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
mersp rossen mitwirken. Es besteht eine Korrelation mit sog.
roter (genauer rotgelber) Haarfarbe. Durch dunkle Pigmen-
tierimg scheint die Anlage zu Sommersprossen epistatisch über-
deckt zu werden.
Das Xeroderma pigmentosum ist ein seltenes bös-
artiges Hautleiden, das wegen seiner Beziehung zur Krebsent-
stehung von großem theoretischen Interesse ist. Die dazu ver-
anlagten Kinder werden mit scheinbar normaler Haut gebo-
ren; unter der Einwirkung des Lichtes treten aber gewöhnlich
schon in den ersten Lebensjahren Entzündungen an den freige-
tragenen Hautstellen (Gesicht, Händen) auf; es entstehen
leberfleckähnliche Pigmentierungen und in der Folge narbige
weißliche Stellen, und über kurz oder lang pflegt sich Krebs
daraus zu entwickeln, so daß die befallenen Personen meist
schon im ersten und zweiten Jahrzehnt daran zugrunde gehen
und nur ausnahmsweise das 40. Lebensjahr erreichen. Sie-
mens und Kohn 1 ) konnten 333 Fälle zusammenstellen, die
sich über 222 Familien verteilten. Die Eltern der Erkrankten
sind regelmäßig frei von dem Leiden, was auch nicht anders
zu erwarten ist, da die Kranken meist nicht das Alter der Fort-
pflanzung erreichen. Dominanter Erbgang scheidet daher aus.
Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß es sich bei den
veröffentlichten Fällen um eine literarische Auslese handelt,
fand Siemens unter den Geschwistern der Kranken ein
vermutliches Zahlenverhältnis von ca. 1 Kranken auf 3,4 Ge-
sunde, was mit dem bei rezessivem Erbgang zu erwartenden
Verhältnis 1 : 3 innerhalb der Grenzen des Fehlers der klei-
nen Zahl übereinstimmt. Blutsverwandtschaft der Eltern fand
sich schätzungsweise in 250/0, Vetternehen ersten Grades in
20%. Damit kann der einfach rezessive Erbgang als sicherge-
stellt gelten. Heterozygote Träger der Anlage scheinen nach
Siemens sommersprossenähnliche Flecke zu haben.
Velhagc n g ) hat von einer Sippe berichtet, in der 3 Brüder mit
3 Schwestern verheiratet waren. Aus zwei dieser Ehen gingen xeroderma-
krankc Kinder hervor, in einer 3 unter 7, in der andern nur 2 kranke. Das
Xcroderm ist in der jüdischen Bevölkerung häufiger als in der nicht] irdischen,
was nach Siemens vielleicht einfach durch die größere Häufigkeit von
Verwandtenehen bei den Juden bedingt ist.
3 ) Sie m e 11 s , H. W., und Kohn, E. Xeroderma pigmentosum (Stu-
dien über Vererbung 'von Hautkrankheiten IX.) Zeitschrift für induktive
Abstammungs- und Vererbungslehre. Bd, 38. S. 1. 1925.
2 ) V e 1 h a g e n , C. Beitrag zur Kenntnis des Xeroderma pigmentosum.
Archiv für Augenheilkunde. 1933.
HÄUTLEIDEN.
377
Das Hydroa vaccini forme bzw. Hydroa acstivale be-
ruht auf einer Lichtempfindlichkeit anderer Art. Nach stärkerer Einwirkung
von Sonnenlicht entstehen bei den Veranlagten blatternähnliche Blasen, die
nach der Abheilung Narben hinterlassen können. Das Leiden wird über-
wiegend bei männlichen Personen beobachtet. Es scheint auf einfach rezes-
siver Erbanlage mit unvollständig gcschlechtsbegrenzter Äußerung zu be-
ruhen. Anscheinend liegt dem Leiden eine Stoffwechselstörung, Porphyrin-
urie, zugrunde; durch den Gehalt an Porphyrin werden die Gewebe gegen
Sonnenlicht sensibilisiert. In verschiedenen Sippen scheinen Anlagen von
verschiedener Schwere vorzukommen.
Wie die Empfindlichkeit gegen Sonnenwirkung, so scheint auch die
Anfälligkeit gegen Kälte erblich zu sein. Von sogenannten Frostbeulen
(Perniones) werden nur gewisse Personen befallen, und die Einwirkung
starken Frostes ist nicht notwendig zur Entstehung von Frostbeulen.
Die Raynaud sehe Krankheit, bei der anscheinend infolge
Störung der inneren Sekretion (Hypophyse?) unter Gefäßkrampf symme-
trische Stellen der Plände oder Füße, Finger oder Zehen absterben können,
kommt sippenweise gehäuft vor. Grotc beobachtete eine Kranke, deren
Bruder, Mutter und eine Schwester der Mutter an einer schweren Form der
Krankheit litten.
Auf einer krankhaften Beschaffenheit der Gefäßnerven beruht das erb-
liche chronische Ödem der Beine (auch als Trophödem, Elephan-
tiasis oder Milroyschc Krankheit bezeichnet), von dem einige ziemlich große
Sippen mit dominantem Erbgang bekannt geworden sind 1 ). Unter Entzün-
dimgserscheinungen an den Gefäßnerven tritt eine langsam fortschreitende
Anschwellung der Beine ein, die schließlich so stark werden kann, daß eine
Fortbewegung nicht mehr möglich ist.
Das Erythema exsudativum multiforme äußert sich in
Anfällen von entzündlichen roten Flecken, besonders an den Streckseiten
der Arme und Beine; der Ausschlag kann bis zur Blasenbildung gehen.
Über den Erbgang ist nichts Genaueres bekannt.
Vielleicht handelt es sich um eine allergische Diathese wie bei der
Nesselsucht und dein Quinckeschen Ödem, die im Rahmen der
Diathesen besprochen werden, ebenso die exsudative Diathese.
Die Epidermolysis bullosa (nach Siemens tref-
fender Bullosis) traumatica ist eine Anomalie der Flaut,
bei der schon auf leichte Reize wie Druck, Stoß und beson-
ders Reibung Blasen entstehen. Anatomisch scheint dem Lei-
den ein Mangel an elastischen Fasern in der Haut zugrunde-
zuliegen. Eine leichte Form des Leidens ist dominant erblich ;
doch kommt ausnahmsweise Überspringen einer Generation
vor. Gesundbleibende Träger der Anlage sind meist weib-
lichen Geschlechts ; die Anlage ist aber nicht geschlechts-
gebunden.
1 ) Bulloch, W. Chronic hereditary trophoedema. The Treasury of
Human Inheritance. Teil 1 und 2. London 1929. Cambridge University
Press.
378 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Von der dominant erblichen Epidermolyse ist, wie Sie-
mens 1 ) gezeigt hat, eine rezessiv erbliche Epidermolysis
dystrophica zu unterscheiden, die mit Narbenbildung und
Verkümmerung der Nägel einhergeht. Eine besonders schwere,
ebenfalls rezessive Form, die als Pemphigus heredita-
rius bezeichnet wird, führt schon bald nach der Geburt zum
Tode 2 ). Zwei schöne Sippentafeln hat Jenny 3 ) gegeben.
Von Mondes da Costa 4 ) ist eine bullöse Dystrophie von rezessiv
geschlechtsgebundenem Erbgang, die mit schweren Allgemeinstörungen ein-
herging, in einer Sippe beobachtet worden.
An derBullosisgruppe bestätigt sich die Regel, daß inner-
halb eines klinischen Formenkreises die am schwersten krank-
haften Formen rezessiv, die leichteren dominant erblich zu sein
pflegen. Die Anlage zu der rezessiven Bullosis connata (Pem-
phigus hereditarius) stellt geradezu einen „Letalfaktor" dar;
bei dominantem Erbgang würde sie sich überhaupt nicht hal-
ten können, sondern sogleich nach ihrer etwaigen Entstehung
wieder ausgemerzt werden. Die einfache Bullosis dagegen ist
zwar recht lästig; sie beeinträchtigt aber kaum die Fortpflan-
zung und kann sich daher in dominantem Erbgang fortsetzen.
Homozygot würde sie vermutlich ein schwereres Krankheitsbild
bedingen.
Ebenso wie gegen, mechanische Reize gibt es auch erbliche
Anfälligkeiten der Haut gegen chemische. Wenn sich auf
der Haut unter der Einwirkung chemischer Reize entzündliche
Veränderungen herausbilden, die entweder mit Absonderung
oder mit Borken- und Eiterbildung einhergehen, so spricht man
von Ekzem. Verschiedene Personen erkranken unter gleichen
äußeren Einflüssen sehr verschieden leicht an Ekzem. Bei man-
chen bewirkt schon vorübergehende Berührung mit Teerölen
Ekzembildung, während andere trotz langdauernder Einwirkung
frei davon bleiben. Es gibt Ekzemfamilien, in denen gewisse
Mitglieder immer wieder unter Ekzemen zu leiden haben, die
1 ) Siemens, H. W". Literarisch-historische Untersuchungen über die
einfache und die dystrophische Form der sog. Epidermolysis. Archiv für
Dermatologie. Bd. 143. H. 3. 1923.
2 ) Mautner. Über ein familiär auftretendes letales Krankheitsbild
mit Blasenbildung (Pemphigus hereditarius). Monatsschrift für Kinderheil-
kunde. Bd. 22. H. 1. 192t.
3 ) Jenny, E. Über eine letal verlaufende Form von Epidermolysis
bullosa hereditaria beim Säugling. Zeitschr. f. Kinderheilkunde, Bd. 43,
S. 1/2, S. 138. 1927.
4 ) Mendes da Costa und van der Valk. Typus maculatus der
bullösen hereditären Dystrophie. Archiv f. Dermatologie, Bd. 91.H.3. 1908.
HAUTLEIDEN.
379
oft auch ohne nachweisbare äußere Ursachen auftreten. Meist
handelt es sich wohl um Äußerung einer allergischen Diathese
(s. d.). Bei dem konstitutionellen Säuglingsekzem ist die erb-
liche Veranlagung besonders deutlich, da im Säuglingsalter
äußere Schädlichkeiten, die im späteren Leben zu Ekzem füh-
ren, nur eine geringe Rolle spielen (vgl. exsudative Diathese).
Bei der erblichen Keratosis (Keratoma, Tylosis)
wird die Flaut der Fußsohlen und Handflächen bald nach der
Geburt hornig und brüchig; nach außen ist das Gebiet der
Verhornung durch einen blauroten Saum von der normalen
Haut abgegrenzt. Es sind eine ziemlich große Anzahl von
Sippen mit regelmäßig dominantem Erbgang des Leidens be-
kannt geworden.
Hanhart 1 ) hat eine Sippe beobachtet, in der dominante Keratose
mit multiplen Fettgeschwülsten bei denselben Individuen vorkam; die Kera-
tose trat mit ca.. 15 Jahren auf, die Lipomatose mit ca. 22. Vermutlich han-
delte es sich um eine und dieselbe Erbanlage, die sich in zwei so verschiede-
nen Merkmalen äußerte. Auf „Koppelung" dagegen kann man daraus nicht
schließen.
9 ■ f Q
1 * — 1 1 — t 1 1-^ — 1 „
> <J O CT CT Cf § Cf
Fig. 104.
Keratosis nach T host (Ausschnitt) .
Bei der erblichen Ichthyosis („Fischhäutigkeit") ist
die Hautoberfläche mit mehr oder weniger derben Schuppen
bzw. Hornplättchen bedeckt. Die Ichthyosis vulgaris
scheint in der Regel auf dominanten Anlagen zu beruhen,
die sich je nach der sonstigen Erbmasse bei verschiedenen Sip-
penmitgliedern verschieden schwer äußern können und bei
manchen Trägern sich überhaupt nicht bemerkbar zu machen
brauchen. Außer der dominanten Ichthyosis gibt es auch eine
rezessive geschlechtsgebundene, die sich jedoch klinisch von
der dominanten nicht unterscheidet. Eine von Csörsz 2 ) be-
schriebene Sippe ist besonders interessant, weil darin aus einer
*) Sippentafel bei Cockayne.
z ) Csörsz, K. Rezessiv geschlechtsgebundene Vererbung bei Ich-
thyosis. Monat sschr. ungarischer Mediziner. 1928. H. 5—6.
380
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Ehe zwischen einem kranken Mann und einer gesunden An-
lageträgerin auch kranke Töchter hervorgegangen sind, wie es
der Theorie entspricht (vgl. S. 362 f,).
,j Einfach rezessiv erblich
I + scheint die Ichthyosis fe-
0*1 n talis (auch Ichthyosis
i f congenita oder Kerato-
sis universalis) zu sein.
Die davon betroffenen, meist
unreif geborenen Kinder, sind
völlig mit Hornmassen be-
deckt und nicht lebensfähig.
Es handelt sich also um eine
rezessive letale Erbanlage.
Nach. Siemens stammen der-
er 7
(f
ö" 2
<? 9- 9
•* Ö*
Fig. 105.
Ichthyosis vulgaris «nach Leven*). artige Mißgeburten zu minde-
stens 12 0/0 aus Verwandten-
ehen. In einem von Claus berichteten Falle hatte eine Frau
zunächst von einem Manne fünf gesunde Kinder und dann von
ihrem Halbbruder drei mit Ichthyosis fetalis behaftete. Lei-
gg* p, der sind die isolierten
1
9
9
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1,1.1
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ÖdQdÜÜQ<3ifQQi$Q
Fälle dieses Leidens
■ — und das sind die
meisten — ungenügend
erbbiologisch beschrie-
ben, da die Autoren an
Erbbedingtheit meist
gar nicht gedacht ha-
ben. Vielleicht würde
auch die Anlage zu
Ichthyosis vulgaris in
homozygotem Zustand
letal sein.
Rezessiv erblich scheint auch die Erythrodermia i c h t h y s i-
f ormis (Ichthyosis congenita, Ichthyosis serpentina)
zu sein, die sich bei Neugeborenen nur in Rötung der Haut äußert und erst
allmählich zur Bildung derber Hornplatten führt.
Die D a r i e r s c h e Krankheit (Psorospcrmosis vegetans) geht mit
der Bildung von weichen Hornknötchcn an den Gelcnkbcugen und andern
Stellen einher, die bis zu umfangreichen, feuchten und stinkenden Wuche-
rungen gehen können. Das seltene Leiden ist einfach dominant.
Fig. 106.
Ichthyosis vulgaris nach C s ö r s 2,
1 ) Lcven, L. Sippenbaum einer Ichthyosisfamilie. Archiv für Derma-
tologie. Bd. 139. S. 117. 1921.
HÄUTLEIDEN.
381
Als Keratosis follicularis (auch „Liehen pilaris")
wird eine häufige Anomalie bezeichnet, bei der an den Streck-
seiten der Arme und Beine die Haarbälge verhornen, so daß
die Haare nicht herauswachsen können und schließlich zu-
grunde gehen. Die Anomalie pflegt ihren Höhepunkt in den
Jahren der beginnenden Geschlechtsreife zu erreichen; zahl-
reiche Knötchen bieten das Bild einer „Gänsehaut" ; später tre-
ten kleine weißliche Narben an die Stelle der Hornknötchen.
Für die Entstehung der Anomalie scheinen dominante Erbanla-
gen von Bedeutung zu sein. Eineiige Zwillinge fand Siemens
regelmäßig gleich behaftet. Es gibt aber auch schwerere For-
men der Keratosis follicularis. In einer von Lameris 1 ) be-
schriebenen Sippe führte die Verhornung der Haarbälge zu
Kahlheit am Hinterkopf, zum Ausfall der Augenwimpern und
Augenbrauen und zu Trübung der Hornhaut der Augen, Der
Erbgang war rezessiv geschlechtsgebunden (Fig. 107).
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Fig. 107.
Keratosis follicularis spinulosa (,, Ichthyosis follicularis")
nach Lameris.
Siemens 2 ) hat eine Sippe mit einem gleichartigen Lei-
den unter dem Namen Keratosis follicularis spinu-
losa decalvans beschrieben, die von besonderem theore-
tischen Interesse ist, weil hier auch 10 weibliche Personen das
Leiden zeigten. Die befallenen Frauen blieben jedoch von der
Entzündung der Augenlider und der Hornhauttrübung ver-
schont. Die Anlage verhielt sich also unvollständig dominant
oder intermediär, im übrigen aber geschlechtsgebunden wie in
*) Lamdris, H. und Rochat. Nederlandsche Tijdschrift v. Ge-
neesk. 1905. Nr. 22.
2 ) S i e m e n s , H. W. Über einen in der menschlichen Pathologie noch
nicht beobachteten Vererbungsmodus: dominant-geschlechtsgebundene Ver-
erbung. ARGB. Bd. 17. H. 1. 1925.
382 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
der Sippe von Lam6ris. Es liegt hier also ein unvollständig
dominantes bzw. intermediäres geschlechtsgebundenes Erblei-
den vor (Fig. 10S), das mit dem von Lame ris beschriebenen
vermutlich im Verhältnis der Allelie steht.
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d
Fig. 108.
Keratosis follicularis spinulosa decalvans nach
Siemens (Ausschnitt).
Die Porokeralosis (Mib ellische Krankheit) ist durch Bildung
kleiner von den Schweißdrüsen ausgehender Hornkegel bzw. erhabener
Scheiben, besonders an den Streckseiten der Arme und Beine, gekennzeich-
net. Sie ist dominant erblich; doch werden mehr als doppelt soviele Männer
als Frauen befallen. Im weiblichen Geschlecht ist die Dominanz daher ver-
mutlich unregelmäßig.
Anidrosis, Fehlen der Schvveißdrüsenfunktion, verbunden mit küm-
merlicher Entwicklung der Haare und Zähne wurde in mehreren Sippen
rezessiv geschlechtsgebunden erblich gefunden. Es handelt sich nicht etwa
um mehrere „gekoppelte" Anlagen, sondern um eine einzellige, die sich an
mehreren Organen des Ektoderms äußert. Man kann sie Dysplasia
ectodermalis anidrotica nennen. Bei Cockayne sind auch
einige Sippentafeln wiedergegeben, die dominanten Erbgang zeigen. Ich
möchte darauf hinweisen, daß diese alle zu dominantem geschlechtsgebunde-
nen Erbgang passen. Vermutlich handelt es sich um eine zu der rezessiven
geschlechtsgebundenen allele Anlage.
Hyperidrosis, übermäßige Absonderung von Schweiß (Schweiß-
füße, Schweißhändc), scheint durch dominante Erbanlagen bedingt sein
zu können.
Die Xanthomatose, gekennzeichnet durch Bildung dunkelgelber,
etwas erhabener Flecke, entstellt infolge übermäßigen Gehaltes des Blutes
an Cholesterin und Ablagerung von Cholesterin in der Haut. Die Anomalie
ist in der Regel dominant erblich; doch tritt die Anlage nicht bei allen
Trägern in die Erscheinung 1 ).
Die Psoriasis oder Schuppenflechte äußert sich
in umschriebenen rotbraunen, mit derben Schuppen bedeckten
Herden, gewöhnlich an den Streckseiten der Arme und Beine.
Männer sind ungefähr ii/ 2 mal so häufig als Frauen befallen.
In schweren Fällen kann fast der ganze Körper von entzünd-
lichen Herden bedeckt sein. Zwischen mehr oder weniger
1 ) F a s o I d , A. Xanthom (Siemens' Studien über Vererbung von Haut-
krankheiten VI). ARGB. Bd. 16. H. i. 1924.
HAUTLEIDEN.
383
schweren und langwierigen Schüben des Leidens können die
Träger der Anlage kürzere oder längere Zeit frei von Krank-
heitserscheinungen sein. Die Psoriasis scheint nach Grütz 1 )
auf einer Anomalie des Lipoidstoffwechsels zu beruhen, wie
das in ähnlicher Weise auch 'von der Xanthomatose gilt. Einige
Sippentafeln zeigen dominanten Erbgang; doch kommen an-
scheinend ziemlich zahlreiche Träger der Anlage vor, die frei
von Hauterscheinungen bleiben.
In einer von Heiner 2 ) beschriebenen Sippe hatte ein Mann, dessen
beide Eltern an Psoriasis litten, vier Kinder, die ebenfalls alle behaftet
waren. Er hatte aber, obwohl es naheliegt, ihn als homozygoten Träger der
Anlage anzusehen, keine schwerere Form des Leidens als seine kranken
Verwandten.
Die Erbbedingtheit des Liehen ruber, einer chronischen Haut-
krankheit, die mit Bildung gruppenweiser roter Knötchen einhergeht, ist
einstweilen nicht klargestellt.
Die Neigung zu K e 1 o i d e 11 , d. h. übers Ziel schießenden geschwulst-
ähnlichen Narbenbildungcn im Anschluß an Hautverletzungen, scheint nach
Cockayne einfach dominant zu sein. Neigung zu Keloiden kommt be-
sonders häufig bei Negern vor.
Als Akne vulgaris wird
ein lästiger, wenn auch harm-
loser Zustand bezeichnet, bei
dem sich im Gesicht, auf dem
Kücken, der Brust zahlreiche
Talgpfröpfe in den Haarbäl-
gen (sog. Mitesser) entwik-
kein, die oft unter Eiterbil- 99999® 9
düng in Pusteln übergehen.
Die Akne kommt hauptsäch- j_
lieh bei Jünglingen vor (Akne
juvenilis) ; sie pflegt ihren
Höhepunkt in den ersten Jahren der Geschlechtsreife zu er-
reichen. Eine gewisse Korrelation scheint zu schwächlicher
Konstitution, nervöser Veranlagung und Verdauungsstörungen
zu bestehen. Die Zwillingsuntersuchungen von Siemens und
Weitz haben ergeben, daß eineiige Zwillinge in überein-
stimmendem Grade von Mitessern (Comedonen.) und Akne be-
fallen zu werden pflegen. Die erbliche Veranlagung scheint
danach entscheidend zu sein.
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Fig. 109.
soriasis ( S c h u p p e n f 1 e c h t e)
nach H eine r.
'') Grütz, O. Über das Psoriasisproblem. Münchener medizinische
Wochenschrift. Jg. 82. Nr. 48. S. 1899. 1935.
s ) Nach Cockayne (vgl. S. 373).
384 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Nach den Beobachtungen von Weitz ist diese auch für
die Entstehung der Furunkulose von wesentlicher Bedeutung.
Er fand zwei Paare eineiiger Zwillinge, die in der Nackenhaut
in übereinstimmender Weise zahlreiche Narben von Furunkeln
hatten.
Verlust des Kopfhaares, Glatze nbildung (Cal-
vities) ist oft eine Folge von Seborrhoe, einer übermäßigen
Tätigkeit der Talgdrüsen, sei es in Form der Seborrhoea
oleosa (übermäßiger Absonderung flüssigen Hautfettes) oder
in Form der Seborrhoea sicca (übermäßiger Schuppenbildung
der Kopfhaut). Bei Frauen kommt Glatzenbiklung, die im
männlichen Geschlecht überaus häufig ist, so gut wie niemals
vor. Es besteht offenbar ein Zusammenhang mit der Hormon-
wirkung der Gonaden. Bei Eunuchen soll Glatzenbiklung nicht
vorkommen 1 ). In vielen Sippen tritt Glatzenbildung bei meh-
reren oder allen männlichen Mitgliedern in etwa demselben
Lebensalter auf 2 ). Man hat durchaus den Eindruck der Domi-
nanz. In anderen Sippen bleibt das Kopfhaar bis ins hohe
Älter ziemlich ungeschmälert erhalten. Eineiige Zwillinge stim-
men in bezug auf Glatzenbildung nach Siemens so gut wie
immer überein; zweieiige Zwillinge dagegen verhalten sich
darin oft verschieden.
Angeborene Kahlköpfigkeit (Alopecia congenita, Flypo-
trichosis) ist in mehreren Sippen als dominante Anomalie beobachtet wor-
den^) 4 ) 5 ). Häufiger scheinen jedoch Fälle zu sein, wo nur einzelne Per-
sonen oder einige Geschwister von Haarmangel betroffen sind"). Es scheint
daher auch rezessive Erbanlagen zu Haararmut zu geben. Bei der domi-
nanten angeborenen Kahlköpfigkeit pflegen Zähne und Nägel sowie das
Körperhaar normal zu sein. Es gibt aber auch Fälle anscheinend rezessiver
Haararmut, in denen das Körperhaar ganz fehlt, die Zähne verkümmert und
*) Sabouraud, R. Correlation entre Involution genitale et la
pathologie du Systeme pileux dans l'espece humaine. Archives mensuelles
d'obstfhrique et de gynecologle. Bd. 5. S. 1. 1914.
z ) Osborn, D. Inheritance of baldness. Journal of Heredhy. Bd. 4.
H. 8. 1916.
3 ) L i n z e n m e i e r , G. Die Vererbungsgesetze der Hypotrichosis
congenita an der Hand zweier Stammbäume. .Studien zur Pathologie der
Entwicklung. Bd. 1. S. 1S5. 1914.
*) Gossage, A. M. The inheritance of certain human abnormali-
ties. Quarterly Journal of Mcdicine. Bd. 1. S. 331. 1908.
• r ') Berglund, V. Sechs Fälle von Hypotrichosis in einer Familie
Hereditas. Bd, 5. FI. 1. 1924.
G ) Danforth, C. H. Hair with special reference to hypertrichosis.
Chicago 1925.
HAUTLEIDEN.
385
die Nägel ■ dick und unförmig (onychogryphotisch) sind. Eine derartige
Sippe hat Fische r 1 ) beschrieben.
Die sehr seltene Hypertrichosis (Flirsuües), die auf übermäßiger
Entwicklung und Bestehcnbleiben des fetalen Haarkleides (der Lanugo) be-
ruhen soll, ist nach Ansicht von Cockayne dominant erblich. Solche
„Haarmenschen" haben meist nur wenige kümmerliche Zähne.
Auch für Alopecia arcata, ein häufiges Leiden, das sich in
(meist vorübergehendem) Flaarausfall an münzengroßen, rundlich begrenz-
ten Stellen äußert, scheint die erbliche Veranlagung von Bedeutung zu sein.
Cockayne vermutet eine einfach dominante Anlage, die nur im Verein
mit einer äußeren Schädlichkeit wirksam wird. Welcher Art diese ist, ist un-
bekannt. Nach Cockayne soll Alopecia areata fast nur bei dunkelhaarigen
Leuten vorkommen, und er vermutet eine „Koppelung" der Anlage mit
der zu dunklem Plaar. Die Tatsache einer Korrelation zwischen zwei Merk-
malen spricht jedoch nicht für Koppelung von Genen; es ist das ein Miß-
verständnis, das sich bei vielen medizinischen Autoren findet.
Das Ergrauen der Haare (C a n i t i e s) tritt je nach
der Erbanlage früher oder später ein. Es sind einige Sippen
bekannt geworden, in denen vorzeitiges Ergrauen (Canities
praematura) schon im zweiten Jahrzehnt begann; mit 25 Jah-
ren war das Kopfhaar im wesentlichen weiß. Die Anlage war
einfach dominant 2 ) 3 ). Es handelt sich nicht etwa um ein all-
gemeines vorzeitiges Altern; denn früh ergraute Leute werden
öfter 80 Jahre und darüber.
Bei der Moniletrichosis („Spindelhaarigkeit") sind die Haare
perlschnurartig verdickt und verdünnt in Abständen von ca. 1 mm; sie
pflegen an solchen dünnen Stellen schon nahe über der Wurzel abzubrechen.
Nach Siemens und Heuck 1 ), die Erfahrungen über 16 Sippen aus der
Literatur zusammenstellen konnten, verhält die Anomalie sich unregelmäßig
dominant. Roberts und Thomas 5 ) haben zwei regelmäßig dominante
Sippentafeln mitgeteilt.
Die sogenannten Atherome oder „Grützbeutei" beruhen
auf Einstülpungen von Hautanlagen und sitzen gewöhnlich zwi-
schen dem Kopfhaar, wo sie Hühnereigröße und darüber er-
reichen können. Das Wachstum kommt dadurch zustande, daß
die Ausscheidungen und Abstoßungsprodukte der Haut (Talg,
Hornschuppen, Haare) sich allmählich anhäufen, weil sie kei-
1 ) Fischer, E. Ein Fall von erblicher Haararmut. ARBG. Bd. 7.
H . 1 . 1 9 1 o.
3 ) Fear s on a. a. O. (vgl. S. 329). (Albinismus.)
3 ) Hare, FI. J. H. Premature whitening of the hair. Journal of
Heredity. Vol. 20. Nr. 1. S. 31 (1929).
4 ) Heuck, O. Moniletrichosis. (Siemens' Studien über Vererbung von
Hautkrankheiten VII.) Archiv für Dermatologie. Bd. 147. S. 196. 1924.
E ) R o b c r t s, E. und Thomas.t. C. The inheritance of monilethrix
Eugenics. Vol. 3. Nr. 1. 1930.
Baur-Fischer-I,cual. 25
386
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
ncn Ausweg haben. Atherome kommen gewöhnlich zu meh-
reren bei derselben Person vor und andererseits bei meh-
reren Mitgliedern derselben Sippe. Die Anlage ist in der
Regel dominant, braucht sich aber nicht in jedem Falle zu
äußern.
A. W. Bauer 1 ) hat eine Sippe beschrieben, in der 19 Mitglieder
eigentümlich bläulich weiße Nagel hatten; 17 von diesen waren zugleich mit
Atheromen behaftet. Offenbar waren beide Anomalien durch dieselbe domi-
nante Erbanlage bedingt; dagegen liegt kein Grund vor, mit Cockayne
an Koppelung zu denken. Da Atherome bei gegebener Erbanlage gewöhn-
lich zu mehreren, aber in wechselnder kleiner Zahl auftreten, kann es offen-
bar gelegentlich auch kommen, daß ihre Zahl trotz vorhandener Anlage
Null ist.
Völliges Fehlen der Nägel (Anonychie) ist in einer Sippe domi-
nant erblich beobachtet worden, in einigen andern Fällen vereinzelt oder
bei einigen Geschwistern auftretend 2 ).
Mangelhafte Ausbildung der Nägel tritt nicht selten als
Familieneigentümlichkeit auf. Besonders häufig ist eine lästige
Anomalie, bei der sich der Hautrand an der Nagclwurzel nicht
vom Nagel ablöst, was zu häßlichen Einrissen zu führen pflegt.
Ungewöhnlich starke Weißfleckung der Nägel (Leukonychie)
scheint als dominante Anomalie vorzukommen.
Krallen artige Verdickung und Verbiegung der Nägel
(Onychogryphosis) ist in einigen Sippen dominant erblich.
Die verdickten Nägel sind eigenartig schwammig und neigen
zu Zerfall unter Entwicklung eines unangenehmen Geruches.
Bei den derartig behafteten Individuen wird das Haar mit
beginnender Geschlechtsreife dünn und schütter; es soll meist
auch eigenartig bleich und gelblich sein ; ich glaube jedoch
auch in diesem Falle nicht, daß eine „Koppelung" vorliegt.
Nach Clouston 3 ) hat sich die Anomalie in der französischen
Bevölkerung Kanadas stark ausgebreitet ; es soll dort rund
6000 behaftete Personen geben, die anscheinend alle auf einen
gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Cockayne vermutet
ihn in Südfrankreich am Fuß der Pyrenäen, wo onychogrypho-
tische Individuen mit kümmerlichem gelblichen Plaarwuchs als
„Cagots" bekannt sind.
Trommelschlägelfinger, die durch Verdickung des
Endgliedes der Finger, Vergrößerung und Krümmung der
1 ) Bauer, A. W. Hercdofamüiäre Leukonychie. Zeitschr. für angew.
Anatomie und Konstitutionslehre. Bd. 5. S. 47. 1919.
2 ) Heller. Die Krankheiten der Nägel. Berlin 1927.
3 ) Zitiert nach Cockayne.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
387
Nägel gekennzeichnet sind, finden sich oft bei Lungenleiden,
zumal bei Lungentuberkulose; doch scheint die Anomalie auch
als solche erblich sein zu können 1 ) 2 ).
e) Anomalien der Körperform,
Eine fleißige Zusammenstellung über erbliche Anomalien der Körper-
form haben B e r t a Asclincr und Engelm a n n 3 ) geliefert. Das Buch
leidet unter vielen komplizierten und irrigen Hypothesen. Es enthalt ein sehr
vollständiges Verzeichnis der Literatur.
In gewissem Sinne kann man alle erblichen Leiden als Mißbildun-
gen ansehen. Bei den meisten ist allerdings die Mißbildung nicht ohne weite-
res äußerlich wahrnehmbar; diese betrifft dann vielmehr den inneren Bau
der Organe oder der kleinsten Organelemenic, der Zellen. Aus dem abnor-
men Bau der Zellen ergibt sich eine abnorme Funktion des Organs. Ge-
wöhnlich aber versteht man unter Mißbildung nicht die krankhafte Bildung
vieler kleiner Organelemente, sondern auffällige Abweichungen der äußeren
Form.
Jede erbliche Mißbildung geht auf eine Mißbildung der Erbmasse
zurück, die allerdings nicht direkt wahrnehmbar ist. Von der Mißbildung
der Erbmasse in der befruchteten Eizelle zieht sich eine ununterbrochene
Entwicklungsreihe bis zu der bei dem Neugeborenen vorliegenden Mißbil-
dung. Einen besonderen Zeitpunkt der Entstehung einer erblichen Mißbil-
dung gibt es daher streng genommen nicht; es kann sich höchstens um den
Zeitpunkt ihrer ersten Wahrnehmbarkeit handeln. Man pflegt nur solche
Formabweichungen als Mißbildungen zu bezeichnen, die schon bei der Ge-
burt ausgebildet vorliegen. Grundsätzlich aber bedeutet auch die Geburt
nicht den letzten Zeitpunkt, an dem Mißbildungen in die Erscheinung treten
können. Die Individualentwicklung ist ja bei der Geburt noch nicht abge-
schlossen. Man kann daher z. B. auch die erblichen Exostosen als Miß-
bildungen ansehen, obwohl sie bei der Geburt noch nicht vorliegen, sondern
sich erst später entwickeln (vgl. S. 401). Die ungefähre Ausbildung der
äußeren Form und der einzelnen Glieder ist nicht erst um die Zeit der Ge-
burt, sondern schon bei Früchten von drei Monaten erkennbar, ebenso
daher auch die meisten Mißbildungen.
Neben den erblichen Mißbildungen gibt es auch nichterbliche, die
infolge von Krankheit der Mutter, Giftwirkung oder mechanischen Einflüssen
Zustandekommen. Durch fehlerhafte Beschaffenheit der Fruchthüllen, be-
sonders durch Strangbildungen des Amnions (der sogenannten Schafhaut)
und durch Enge der Fruchthäute verbunden mit Fruchtwassermangel können
Störungen der Entwicklung Zustandekommen, die aber natürlich nicht erblich
sind. Nur wenn Enge oder Strangbildungen des Amnions ihrerseits erblich
wären, könnt e auch hier die Erblichkeit eine Rolle spielen; dann würden aber
x ) Ebstein, E. Angeborene familiäre Erkrankungen an den Nägeln.
Dermatolog. Wochenschr. 1919. S. 113.
2 ) L e w y , E. Beitrag zur Kenntnis der kongenitalen Trommelschläge!-
finger. Medizinische Klinik 1921. H. 28.
3 ) Aschner, B., und Engelmann, G. Konstitutionspathologic
m der Orthopädie. Erbbiologie des peripheren Bewegungsapparates. Wien
und Berlin 1928. J. Springer.
388 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
die Mißbildungen der Nachkommen denen der Vorfahren in der Form nicht
entsprechen, sondern mehr oder weniger regellos, wechseln. Durch Amnion-
stränge können Abschnürungen von Gliedmaßen Zustandekommen, so daß
die betreffenden Kinder z. B. mit nur einem Arm oder nur einem Fuß ge-
boren werden. Im allgemeinen ist aber die Bedeutung der Amnionschädigun-
gen sicher nicht entfernt so groß, wie man lange Zeit geglaubt hat. Es gibt
kaum eine Mißbildung, die nicht darauf zurückgeführt worden wäre, darunter
auch zahlreiche, deren erbliche Natur unzweifelhaft feststeht 1 ). Wenn eine
Mißbildung bei mehreren Mitgliedern einer Familie in derselben Form auf-
tritt, so kann man sagen, daß sie sicher nicht durch das Amnion verursacht
ist. Auch die Symmetrie von Mißbildungen spricht stark dagegen. Wenn
eine Mißbildung sich z. B. an beiden Händen in gleicher Weise findet, so
darf man schließen, daß sie mit größter Wahrscheinlichkeit erblich ist;
dasselbe gilt von Mißbildungen, die sich an den Füßen in ähnlicher Weise
wiederfinden wie an den Händen.
Einseitige Mißbildungen können vermutlich auch beim Menschen ge-
legentlich durch abnorme Verteilung von Chromosomen bei der ersten Tei-
lung der befruchteten Eizelle entstehen. Bei Schmetterlingen kommen die
sogenannten Ilalbseitenzwitter auf diese Weise zustande. Einen H albsei ten-
zwilter bei einer Finkenart, dem Dompfaffen (Pyrrhula pyrrhula),
der auf der einen Seite die rote Brustbefiederung des Männchens, auf der
andern die graue des Weibchens zeigt, hat Poll 2 ) abgebildet. Derartige
ungleiche Verteilungen kommen nach meinen Erfahrungen an Schmetter-
lingen gelegentlich auch bei Erbeinheiten vor, die mit der Geschlechtsbe-
stimmung nichts zu tun haben; und es ist daher zu vermuten, daß auch
einseitige Mißbildungen beim Menschen auf diese Weise entstehen können.
Als Mißbildunge n kann man solche Abweichungen im
Bau des Körpers, insbesondere in der äußeren Form, defi-
nieren, die durch eine fehlerhafte Entwicklung Zustandekom-
men und die die Anpassung beeinträchtigen. Uns interessieren
hier nur die erblichen Mißbildungen. Angeborenes Fehlen
von Fingern infolge Abschnürung durch Amnionstränge ist
dem Verlust von Fingern durch Verletzung viel wesensverwand-
ter als dem Fehlen von Fingern infolge erblicher Einfingerig-
keit. Selbstverständlich können Verstümmelungen infolge von
Amnionschnürung ebensowenig vererbt werden wie Verstüm-
melungen durch äußere Gewalt. Die besser bekannten erb-
lichen Mißbildungen der Gliedmaßen verhalten sich zum größ-
ten Teil dominant.
Die Vielfinger ig keit oder Polydaktylie ist durch
das Vorhandensein überzähliger Finger oder Zehen gekenn-
zeichnet. Eine solche Sippcntafel zeigt Fig. uo.
i) In ähnlicher Weise ist bei psychischen Anomalien immer wieder ver-
sucht worden, sie auf ein „psychisches Trauma" im frühen Kindesalter
zurückzuführen.
2) Im Handbuch der Sexualwissenschaften von A. Moll. 3. Aufl.
Leipzig 1926. Tafel 8.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
389
In dieser von Sverdrup 1 ) beschriebenen Sippe fanden
sich überzählige Finger bei $7 Personen; die Anomalie konnte
in ununterbrochenem Erbgang durch 6 Generationen verfolgt
werden; niemals wurde die Anlage durch normale Überträger
vererbt; sie verhielt sich also dominant (bzw. intermediär,
da man nicht weiß, wie homozygote Träger der Anlage aus-
sehen). Dasselbe gilt von einer Sippe, die Amrain 2 ) be-
schrieben hat. Während in der von Sverdrup beschriebenen
norwegischen Sippe die überzähligen Finger bzw. Anhängsel
sich an der Kleinfingerseite fanden, bestand die Polydaktylie
in einer von Ny lande r 3 ) beschriebenen schwedischen Sippe
in einer mehr oder weniger unregelmäßigen Teilung des Dau-
mens. 3J Mitglieder zeigten in ununterbrochenem, also offen-
¥
Cf
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¥
&
¥
<?
<N ' I
Fig. 110.
Vielfingerigkeit nach Sverdrup (Ausschnitt).
bar dominanten Erbgang durch 6 Generationen diese Ano-
malie. Nun liegen die Dinge aber nicht immer so einfach. In
den meisten Sippen mit Polydaktylie kommt Überspringen von
Generationen vor. Gewisse Erbanlagen, die Polydaktylie be-
dingen, äußern sich offenbar nicht bei allen Anlage trägem.
Auch die vielfingrigen Personen in dem so regelmäßig er-
scheinenden Stammbaum von Sverdrup hatten durchaus
nicht alle 12 Finger und 12 Zehen. Meist war zwar der kleine
Finger mehr oder weniger vollständig verdoppelt ; in anderen
Fällen war ein sechster Finger aber nur in Form eines kleinen
Anhängsels vorhanden, und in noch anderen Fällen war eine
a ) Sverdrup, A. Postaxial polydaetylism in six generations of a
Norwegian family. Journal of Genetics. Bd. 12. Nr. 3. 1922.
s ) Amrain, G. Ein Fall von hereditärer Hexadaktylie. Basel 1913.
(Dissertation).
3 ) Nylander,E. Präaxiale Polydaktylie in fünf Generationen einer
schwedischen Sippe. Upsala Läkareförenings förhandlingar. Bd. 36. H. 3/4.
S. 275. 1931.
390 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Hand oder ein Fuß völlig normal. Natürlich kann es dann
auch vorkommen, daß trotz vorhandener Erbanlage beide
Hände normal sind; und dann würde eine Generation über-
sprungen erscheinen.
Wenn eine Erbanlage dieser Art gelegentlich sich an einer
Hand äußert, an der andern aber nicht, so ist dieser Unter-
schied offenbar nicht durch andere Erbanlagen bedingt. Er
muß vielmehr irgendwie durch die Umstände während der
Entwicklung verursacht sein; und doch sind es nicht Umwelt-
einflüsse im gewöhnlichen Sinne, die hier wirksam sind. Ich
möchte eine derartige Erbanlage entwicklungslabil nen-
nen. Die Erscheinung ist ziemlich weit verbreitet. Auch die
Erbanlagen zu Scheckung und zu Muttermalbildung sind in
dieser Weise cntwicklungslabil. Daß es umweltlabüe Erban-
lagen gibt, die je nach den Umweltbedingungen zu wechseln-
den Bildern führen, ist ja bekannt. Diesen möchte ich die ent-
wicklungslabilen Anlagen gegenüberstellen. Die Einflüsse,
welche sie modifizieren, werden während der frühen Embryo-
nalzeit wirksam ; und clä ein Einfluß im allgemeinen um so grö-
ßere Folgen hat, auf je früherer Entwicklungsstufe er einwirkt,
so mögen es ganz geringfügige Unterschiede der Entwicklungs-
bedingungen sein, die man den sonstigen Umwelteinflüssen
nicht an die Seite stellen kann. Ich möchte sie jenen Ur-
sachen vergleichen, die bei einem Springbrunnen zu der immer
wechselnden Auflösung des Wasserstrahls in einzelne Tropfen
führen. Die Gestaltung der einzelnen Tropfen ist nicht durch
die innere Anlage des Brunnens bedingt, auch nicht durch
äußere Ursachen wie die Luftströmung allein; sie entsteht viel-
mehr infolge Störungen der Ausbalanzierung des Strahls, die
ihrerseits freilich wieder aus dem Zusammenspiel der inneren
Anlage und der äußeren Umstände sich ergeben. In ähnlichem
Sinne zufällig, wie die Gestaltung dieser Tropfen es ist, dürfte
die Ausbildung bzw. Nichtaus bildung eines überzähligen Fin-
gers oder eines Muttermals bei gegebener Anlage sein 1 ).
Das was ich Entwicklungslabilität nenne, wird zur Zeit von einigen
Autoren in den Sammelbegriff der „Penetranz" einbezogen. Dieses Wort,
das ich für nicht glücklich gewählt halte, soll zugleich die „Durchschlags-
kraft" eines Gens gegenüber anderen (nicht allelen) Genen bezeichnen, also
Verhältnisse der Epi- bzw. Hypostase. Warum das Verhältnis zu allelen
Genen (Dominanz bzw. Rezessivität) nicht einbegriffen sein soll, ist nicht
J ) L e n z , F. Methoden der menschlichen Erblichkeitsforschung. Hand-
buch der hygienischen Untcrsuchungsmethoden. Herausgegeben von Gotsch-
lich. Jena 1929. Band 3. S. 734.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
391
ersichtlich. Timofeeff-Ressovsky 1 ) meint die Penetranz als „Pro-
zentsatz der phänotypischen Manifestierung" bestimmen zu können, was
mir nicht angängig zu sein scheint, da dieser Prozentsatz eben von der Um-
welt und den sonstigen Genen der Erbmasse abhängig, also nicht für eine
Eigenschaft eines Gens kennzeichnend ist. Im übrigen sind jene Beobachtun-
gen, aus denen Tiraofeef f seine ,, Penetranz" abgeleitet hat, keineswegs
neu, sondern von vielen Organismen bekannt. De Vries hat in solchen
Fällen von „Zwischenrassen" gesprochen. Sonst ist in der Genetik der Aus-
druck „umschlagende Sippen" dafür gebräuchlich. Cor reu s 2 ) hat schon
im Jahre 1920 die menschliche Polydaktylie den „umschlagenden Sippen"
verglichen. Auch die Ausdrücke „E x p r e s s i v i t ä t" und „Spezifi-
tät" halte ich für überflüssige -Fremdwörter, durch deren Gebrauch die
Wissenschaftlichkeit von Publikationen keineswegs gehoben wird.
In verschiedenen Sippen ist das Bild der Vielfinge rigkeit
recht verschieden. Offenbar gibt es mehrere verschiedene krank-
hafte Erbanlagen, die Vielfingerigkeit zur Folge haben können.
Nach A s c h n e r und Engelmann sprechen mehrere beobachtete
Fälle von Vielfingerigkeit unter den Kindern normaler blutsverwandter
Eltern dafür, daß es neben (unregelmäßig) dominanten auch rezessive
Erbanlagen zu Polydaktylie gibt. Zur Entscheidung wäre es notwendig,
den Hundertsatz von Vetternehen bei einer größeren Zahl von Fällen zu
bestimmen.
Die Annahme von A s c h n e r und Engel mann, daß die Poly-
daktylie auf zwei aneinander gekoppelten Genen beruhe, deren eines die
Art der Anomalie und deren anderes die besondere Lokalisalion bestimme,
ist unbegründet. Sie zeugt von einem Mißverständnis des Begriffs
„Koppelung".
In der Literatur (auch bei Aschner und Engelraan n) ist die An-
gabe verbreitet, daß in einem südfranzösischen Dorfe (Izcaux, Departement
Izerc) die Vielfingerigkeit sich so stark ausgebreitet habe, daß schließlich
die Mehrzahl aller Einwohner damit behaftet gewesen sei. Schuld daran sei
die Inzucht gewesen. Später als die Inzucht aufgehört habe, sei die Viel-
fingerigkeit verschwunden. Diese Geschichte, die auf einen französischen
Autor namens Potton zurückgeht, hat sich nach S o m m e r 3 ) als nicht
verbürgt erwiesen. Übrigens hat Inzucht bei dominanten Anlagen überhaupt
keine besondere Wirkung.
Bei der V e r w ach s enf inge rigk ei t oder Syndak-
tylie sind zwei oder mehrere Finger bzw. Zehen verwachsen,
gewöhnlich der 3. und 4. Finger. In manchen Sippen sind
die Finger nur durch eine Art von Schwimmhaut verbunden, in
anderen sind auch die Knochen nicht getrennt. In einer Sip-
x ) Timofeeff-Ressovsky, A. H. und N. W. Über das phäno-
typische Manifestieren des Genotyps, II. Archiv für Entwicklnngsmechanik.
Bd. 108. 1926.
2 ) Correns, C. Pathologie und Vererbung bei Pflanzen. Mediz. Kli-
nik Bd. 16. 1920. S. 364.
a ) Sommer, R. Über Familienähnlichkeit. Wien 1917.
392 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
pentafel von Schlatter 1 ) findet sich Syndaktylie bei 20 Per-
sonen in ununterbrochenem Erbgang; die Anlage ist also offen-
bar einfach dominant. In einer von Vogel 2 ) beschriebenen
Sippe war eine eigentümliche Kombination bzw. Zwischenform
von Syndaktylie und Polydaktylie dominant erblich.
In einer Sippe, über die Schofield 3 ) berichtet hat, soll sich eine
häutige Verbindung der zweiten und dritten Zehe ausschließlich in männli-
cher Linie vererbt haben, und zwar auf sämtliche männlichen Nachkommen.
Im ganzen sind 14 behaftete männliche Personen angegeben, aber keine weib-
lichen. Ein derartiger Erbgang in ausschließlich männlicher Linie ist zwar
theoretisch denkbar (Sitz der betreffenden Erbanlage im Y-Chromosom); die
allzu kurze Publikation von Schofield ist aber meines Erachtens nicht
geeignet, weittragende Schlüsse darauf zu gründen.
Ein Zustand, bei dem Elle und, Speiche des Unterarms knöchern ver-
bunden sind (radio-ulnare Synostose), bei dem daher die Handflächen nicht
nach oben gekehrt werden können, ist in einigen Sippen gehäuft beobachtet
worden 4 ). Die Anlage äußert sich oft nur einseitig; vermutlich bleibt sie in
andern Fällen auch ganz verborgen. Der Erbgang ist nicht völlig klarge-
stellt, doch spricht manches für unvollständige Dominanz 5 ),
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Fig. in.
Brachy daktylie. Nach Farabee (Ausschnitt).
VonKurzf ingerigkeit oder B rachy daktylie gibt
es eine ganze Anzahl verschiedener Arten. Eine gewisse klas-
sische Berühmtheit hat die von Farabee 6 ) beschriebene Bra-
chy daktylie gewonnen. Bei dieser haben die Finger nur zwei
Glieder statt 3, der Daumen nur r statt 2. Es handelt sich also
um Hypophalangie, d. h. Fehlen von Fingergliedern (Pha-
i) Schlatter, C. Die Mend eischen Vererbungsgesetze beim Men-
schen an der Hand zweier Syndaktylie- Stammbäume. Korrespondenzblatt
für Schweizer Ärzte. 1914. Nr. 8.
2 ) Vogel, K. Über familiäres Auftreten von Polydaktylie und Syn-
daktylie. Fortschritte der Röntgenstrahlen. Bd. 20. S. 443. 1913.
3 ) Schofield, R. Inheritance of webbed toes. Journal of Hercdity.
Bd. 12. H. 9. 1921.
*) Davenport, C. B., Taylor, H. L. und Nelson, L. A.
Radio-ulnar Synostosis. Archives of Surgery. Bd. 8. S. 705. 1924.
5 ) Schinz, R. Vererbung und Knochenbau. Schweizerische Mediz.
Wochenschr. Bd. 54. H. 50 und 51. 1924.
6 ) Farabee, W. C. Inheritance of digital malformations in man.
Papers of the Peabody Museum. Bd. 3. H. 3. Harvard University 1905.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
393
langen). Bei den Trägern der Anomalie sind zugleich die Arme
und Beine und damit der ganze Körper kürzer als normal.
Brachydaktyle Männer werden im Durchschnitt um 21 cm,
Frauen um 12 cm weniger groß als ihre normalen Geschwister.
Die Anlage hemmt also das Längenwachstum der Knochen
überhaupt. Der Erbgang ist dominant.
Es ist von historischem Interesse, daß an der Brachy daktylie die Gel-
tung des Mendelschen Gesetzes für den Menschen erstmalig bestätigt wurde.
Farabee fand in einer Sippe 36 kurzfingerige auf 2>Z normale Geschwister,
in einer anderen 42 kurzfingerige auf 33 normale, in einer-dritten 21 auf 26,
zusammen also 99 auf g2, was dem Verhältnis 1 : 1 innerhalb des Fehlers
der kleinen Zahl entspricht.
Eine leichtere Form von Kurzf ingerigkeit hat Drink -
water 1 ) unter dem Namen Minorb rachy daktylie beschrieben.
Hier sind die Fingerglieder zwar in normaler Zahl vorhanden,
aber sehr kurz. Nach Pf itzner würde diese Form als B ra-
chy phal an gie zu bezeichnen sein. Auch diese verhält sich
dominant. Wie eine derartige Anlage homozygot sich äußern
würde, weiß man ebensowenig wie bei der Hypophalangie.
Eine weitere Art von Brachy daktylie haben die norwegischen Forscher
Mohr und W r 1 e d t a ; beschrieben. Sie haben durch. 6 Generationen ab-
norme Kleinheit der Mittelglieder der Zeigefinger verfolgen können. Die
Anomalie trat in zwei deutlich verschiedenen Graden auf, was die Verfasser
auf die Mitwirkung einer zweiten Erbanlage außer der eigentlich krankhaften
zurückführen. Zwei weibliche eineiige Zwillinge zeigten genau den gleichen
Grad von B rachy phalangie. Wo scheinbar eine Generation übersprungen
wurde, ließ sich durch Röntgenaufnahmen trotzdem eine deutliche Verkür-
zung des betreffenden Knochengliedes nachweisen. Die Verfasser weisen mit
Recht darauf hin, daß auf ähnliche Art bei oberflächlicher Untersuchung
öfter der Anschein eines Überspringens von Generationen entstehen werde.
Anscheinend dieselbe Art erblicher Brachyphalangie hat H anhart in einer
Sippe in der Schweiz gefunden. Mohr und W r i e d t haben in ihrer Arbeit
bereits 9 verschiedene Arten von Kurzfingerigkeit unterscheiden können, die
sich sämtlich dominant zu vererben scheinen.
In der von Mohr und W r i e d t beschriebenen Sippe ging aus einer
Verwandtenehe zwischen zwei Trägern der Anomalie ein nicht lebensfähiges
Kind mit hochgradiger Mißbildung aller Gliedmaßen hervor. Es liegt nahe,
diese auf Homozygotie der krankhaften Anlage zurückzuführen.
Zu der Gruppe der Brachyphalangien kann man auch die Klinodak-
t y 1 i e rechnen, eine seitliche Abbiegung des kleinen und in geringerem
Grade des vierten und des Zeigefingers gegen den Mittelfinger, die auf
mangelhafter Entwicklung der Mittelptialangen beruht. Der Erbgang ist
dominant. Ebenso bei der Kaniptodaktylie, bei der der kleine Finger
1 ) Drinkwater, H. Account of a family showing minor-braehy-
dactyly. Journal of Genetics. Bd. 2. S. 21. 1912.
2 ) Mohr, O. L. und Wriedt, Chr. A new type of bereditary
brachyphalangy in man. Carnegie Institution of Washington 19 19.
394 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTE IV ERBANLAGEN
und meist auch der Ringfinger in Beugestellung versteift ist. Hammer-
zehen, bei denen das letzte Glied in Bcugestellung versteift ist, scheinen
ebenfalls auf dominanter Erbanlage zu beruhen. In einer von Gutmann
beschriebenen Sippe fand sich die Anomalie bei 7 Mitgliedern an der zweiten
Zehe des rechten Fußes.
Die Dupuytrcnsche Kontraktur, die in einer Zu-
sammenziehung und Erstarrung der Sehnen und Bänder der
Innenfläche der Hand, besonders gegen den kleinen Finger
hin, besteht, entwickelt sich erst im Laufe des Lebens. Die An-
lage ist einfach dominant, ihre Äußerung teilweise geschlechts-
begrenzt. Berufsschädlichkeiten wirken verschlimmernd.
Auf einem Fehlen von Gelenken zwischen den Gliedern desselben Fin-
gers beruht die Symphalangie (Orlhodaktylie). Am häufigsten fehlen
die mittleren Gelenke der mittleren Finger. Die Hand kann infolgedessen
nicht geschlossen werden. Innerhalb derselben Familie kann der Grad er-
heblich wechseln, indem bald mehr, bald weniger Gelenke fehlen. Im übrigen
ist der Erbgang dominant.
Als Spalt fuß wird eine schwere -erbliche Mißbildung bezeichnet,
bei der der Fuß nach vorn in zwei gesonderte Teile gespalten ist, die eine
oder mehrere Zehen tragen können. Im Treasury of Human Inheritance sind
6 Sippentafeln wiedergegeben, die alle dominanten Erbgang zeigen 1 ). Auch
die Hände spaltfüßigcr Personen sind in der Regel mehr oder weniger stark
mißbildet, sei es in Form der Spalthand oder des Fehlens von Fingern
(E k t r o d a k t y 1 i e), das bis zur Einfingerigkcit gehen kann. Der Grad
der Mißbildung von Händen und Füßen kann in derselben Sippe sehr wech-
seln. In einer von Grote 3 ) beschriebenen Sippe fanden sich eigentümliche
unregelmäßige Zwischenformen von Spaltfuß, Syndaktylie und Polydaktylie.
Die betreffende Erbanlage hatte eine recht regellose Störung des normalen
Teilungsmechanismus, der zur Bildung der Finger und Zehen führt, zur
Folge. Sehr selten kommt eine erbliche S p a 1 t h a n d für sich vor. Ein von
Fetscher 3 ) mitgeteilter Fall läßt an rezessiven Erbgang denken.
Eine ganz besonders hochgradige erbliche Mißbildung der
Gliedmaßen ist von einer brasilianischen Familie berichtet
worden. Ein blutsverwandtes Paar (Onkel und Nichte) hatte
8 Töchter und 4 Söhne, davon 2 Töchter und sämtliche Söhne
von Geburt an ohne Hände und Füße; die Unterarme und Un-
terschenkel enden als Stümpfe. Vermutlich handelt es sich um
eine rezessive Erbanlage 4 ). Angeborenes Fehlen eines Gliedes,
1 ) Lewis, T. Split-Foot. Treasury of Human Inheritance. Teil 1
und 2. Cambridge University Press 190g.
2 ) Grote, L. R. Über vererbliche Polydaktylie. Zeitschrift für Kon-
stitutionslehre. Bd. 9 (1924).
3 ) Fetscher, R. Ein Stammbaum mit Spalthand. ARGB. Bd. 14.
H. 2 (1922).
i ) B o h o m o 1 e t z , M. Further light 011 tlie handless and footless
family of Brazil. Eugenical News 1930. Nr. 9. S. 143.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
395
z. B. einer Hand oder eines Fußes, wie es nicht ganz selten
beobachtet wird, ist dagegen nicht erbbedingt.
Als Klumpfuß (Fes varus) bezeichnet man eine klum-
pige Verbildung der Füße, bei der diese stark nach innen ab-
gebogen sind, so daß sie den Boden nur mit dem äußeren
Rande berühren. Zugleich ist die Fußspitze gewöhnlich nach
unten gerichtet. Fast auf 1000 Neugeborene kommt ein mit
Klumpfuß behaftetes. Männliche Kinder sind etwa doppelt so
häufig als weibliche betroffen; in etwa der Hälfte der Fälle
sind beide Füße betroffen.
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Fig. 112.
Klumpfuß nach Fetscher.
Das klumpfüßige Mädchen in der dritten Generation stammt aus Inzest zwi-
schen Bruder und Schwester.
Fetscher 1 ) hat sich auf Grund einer Untersuchung an
Material der Tübinger chirurgischen Klinik für Rezessivität
der Anlage zu Klumpfuß ausgesprochen. Auch Isigkeit 2 )
nimmt die Beteiligung rezessiver Erbanlagen an, meint aber,
da die Häufigkeit von Klumpfuß unter den Geschwistern weit
hinter der bei einfach rezessivem Erbgang zu erwartenden
zurückbleibt, daß noch andere Erbanlagen oder auslösende
Ursachen beteiligt seien. Einzelne Stammbäume sprechen eher
für dominanten Erbgang. Über den Anteil der Vetternehen bei
den Eltern liegen bisher keine genügenden Erhebungen vor.
In den meisten Fällen von Klumpfuß scheint gleichzeitig Spina
bifida oeculta (s. d.) zu bestehen. Mindestens in vielen Fällen
scheint dem Klumpfuß eine dysraphischc Ffemmung der Ent-
wicklung des Rückenmarks zugrundezuliegen, die ihrerseits auf
*) Fetscher, R. Über Erblichkeit des angeborenen Klumpfußes.
ARGB. Bd. 14 (1922). H. 1.
2 ) Isigkeit, E. Untersuchungen über die Heredität orthopädischer
Leiden I. Archiv für orthopädische und Unfall-Chirurgie. Bd. 25. FI. 4.
l 9*7- S- 535-
396 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
einer hochgradig eiitwickluiigslabilcn, wohl unregelmäßig do-
minanten krankhaften Erbanlage beruht.
Jedenfalls ist der Klumpfuß nicht einfach eine Folge falscher Lage in
der Gebärmutter, zu enger Fruchthülleii oder sonstiger äußerer Ursachen.
Solche Umstände kommen höchstens als auslösende Ursachen in Betracht.
Ob die größere Häufigkeit des Klumpfußes im männlichen Geschlecht auf
Beteiligung rezessiver geschlechtsgebundener Erbanlagen oder auf teilweise
geschlechtsbegrenzter Äußerung einer über beide Geschlechter gleich ver-
teilten Anlage beruht, muß einstweilen dahingestellt bleiben.
Der Plattfuß ist eine dem Klumpfuß in gewisser Hin-
sicht entgegengesetzte Anomalie, bei der das Fußgewölbe
durchgebogen und der Fuß nach außen abgebogen ist. Platt-
fuß kann in verschieden hohem Grade schon bei kleinen Kin-
dern vorkommen ; häufiger entwickelt er sich erst im Alter des
Heranwachsens. Einige Sippentafeln, die Waldmann 1 ) ge-
sammelt hatj zeigen anscheinend dominanten Erbgang; doch
ist das nicht immer so. Es gibt vermutlich verschiedene Erb-
anlagen, die Plattfuß verschieden hohen Grades bedingen kön-
nen. Besonders häufig scheinen Plattfüße in der jüdischen Be-
völkerung zu sein. Salaman 2 ) fand während des Weltkrieges
unter 5000 jüdischen Soldaten Plattfüße bei etwa einem Sech-
stel, unter anderen englischen Soldaten nur etwa bei einem
Vierzigste!
A s c h n e r und Engel mann meinen, der kindliche Knick- und Platt-
fuß sei fast stets racliitischer Natur, und im gleichen Absatz, das heredo-
degenerative Vorkommen dieser Art von Plattfuß sei allgemein bekannt; sie
selbst hätten ihn fast immer auch in der zweiten Generation gefunden. Damit
verträgt sich nicht recht, daß er fast stets rachitischer ,, Natur" sein soll.
Ich glaube, daß er mit Rachitis meist nichts zu tun hat. Er beruht auf
Schwäche der Bänder, nicht auf Störung der Knochenbildung.
Auch die Abknickung der großen Zehe nach außen (Hai lux val-
g u s) scheint durch die erbliche Veranlagung mindestens wesentlich mitbe-
dingt zu sein. Hanhart. 3 ) konnte eine Sippentafel mit 16 Trägern der
Anomalie in 4 Generationen aufstellen, die dominanten Erbgang zeigt, Meh-
rere Mitglieder dieser Sippe, die die Anomalie hochgradig zeigten, hatten
niemals enge Schuhe getragen.
Für die Entstehung von X-und O-Beinen machte man
früher gewöhnlich Rachitis und Belastung durch stehende Le-
bensweise verantwortlich. Nun hat sich aber gezeigt, daß die
Rachitis, die auch ihrerseits durch die Erbmasse mitbedingt
ist, nur in gewissen Sippen zu X- bzw. zu O-Beinen führt.
*) Nach persönlicher Mitteilung von Herrn Dr. PI u b e r t W a 1 d -
m a n n , Berlin-Grunewald.
2 ) Salaman, R. N. In „Eugenics in Race and State". Volume II of
the Second International Congress of Eugenics. Baltimore 1923.
a ) Nach persönlicher Mitteilung.
i
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
397
Ziesch 1 ) hat einige lehrreiche Sippentafeln darüber mitge-
teilt. Weitz 2 ) hat bei seinen Zwillingsstudien acht Paare ein-
eiiger Zwillinge gefunden, die X-Beine und vier Paare, die O-
Beine in gleicher Ausbildung aufwiesen. Daß stehende Lebens-
weise bei Anlage zu X-Beinen verschlimmernd wirkt, ist frei-
lich auch sicher („Bäckerbeine").
X-Beinc und Plattfüße kommen häufig zusammen vor. Eine gemeinsame
Grundlage scheint eine allgemeine Nachgiebigkeit des Bandapparats zu sein.
Auch zur Asthenie (s. d.) bestehen Beziehungen. Man darf diese Zusammen-
hänge aber nicht dahin auslegen, daß allen Zuständen von Bindegewebs-
schwäche eine und dieselbe Erbanlage zugrundeläge. Es handelt sich ver-
mutlich um mancherlei verschiedene Erbanlagen von ähnlicher Äußerung.
Überstreckbarkeit der Finger, die mit Nachgiebigkeit auch anderer Gelenke
einhergeht, kann nach Beobachtungen von Ebstein 3 ) und Hanhart 4 )
dominanten Erbgang zeigen.
Die angeborene Hüftverrenkung (Luxatio coxae
congenita) ist die häufigste unter den schwereren angeborenen
Störungen der Körperform. Sie findet sich bei zwei bis vier
auf Tausend aller Mädchen (nach Gegenden wechselnd) und
bei Vobis 2 /* auf Tausend alier Knaben. In etwas mehr als der
9
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ö*g 0*$ 0* § cf j o* & € 5 0*9
Fig. 113.
Angeborene Hüftverrenkung. Nach Roch.
Hälfte der Fälle findet sich das Leiden nur an einer Seite und
dann häufiger links als rechts. Man darf schließen, daß die
Anlage öfter auch an beiden Seiten nicht zur Entwicklung
kommt; sie scheint in hohem Grade entwicklungslabil zu sein.
*) Z i e s c h , H. Statistisch-genealogische Untersuchungen über die Ur-
sachen der Rachitis. ARGB. Bd. 17. H. 1 (1925).
2 ) Weitz, W. Studien an eineiigen Zwillingen. Zeitschr. f. klinische
Medizin. Bd. 101. H. 1/2. 1924.
3 ) E b s t e i n , E. Klinische Beobachtungen über Vererbung von Krank-
heiten. ARGB. Bd. 15. H. 1. 1923.
4 ) Nach persönlicher Mitteilung.
398
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Eltern und Kinder der Merkmalsträger sind meist frei
von Hüftverrenkung. Roch 1 ) und Isigkeit 2 ) haben dabei
an rezessiven Erbgang gedacht. Ho off 3 ), der unter meiner
Leitung ein großes Material erbbiologisch bearbeitet hat, hat
indessen keine überdurchschnittliche Häufigkeit von Verwand-
tenehen bei den Eltern gefunden. Auch Isigkeit hat keine
deutliche Erhöhung der Zahl von Vetternehen gefunden. Dar-
aus ist zu schließen, daß rezessive Erbanlagen bei der Ent-
stehung des Leidens nicht wesentlich beteiligt sind. Die in
Fig. 113 wiedergegebene Sippcntafel von Roch spricht eher
für unregelmäßig dominanten Erbgang, ebenso die hier abge-
bildeten Sippentafeln von Isigkeit.
Eine so ausgesprochene Häufung wie in den abgebildeten
Sippen ist übrigens nicht die Regel; sie findet sich besonders
dann, wenn männliche Personen befallen sind, während im
ganzen das Leiden im männlichen Geschlecht selten ist. Wenn
auch männliche Personen befallen werden, so handelt es sich
vermutlich um Erbanlagen, die sich besonders häufig äußern.
In einer von Isigkeit beschriebenen Sippe trat das Leiden
bei 5 weiblichen Personen immer nur links auf. Das häufigere
.Befallensein der linken Seite könnte daher kommen, daß die
linke Seite des Kindes in der Gebärmutter meist nach hinten
liegt.
Die angeborene Hüft Verrenkung kommt in verschiedenen
Gegenden verschieden häufig vor. In Deutschland findet sie
sich verhältnismäßig häufig in Sachsen und in den an Sachsen
und Böhmen grenzenden Teilen Bayerns, die slavisch gemischt
sind. Auch in Böhmen ist sie häufig, in Nordwestdeutschland
dagegen seltener. Selten ist das Leiden auch in England, häufig
in Zentralfrankreich,, weniger in Nordfrankreich. In Norwegen
findet es sich häufiger im nördlichen Teil, dessen Bevölkerung
mit Lappen gemischt ist. Bryn 4 ) hat der Rassenmischung
die Schuld gegeben. Auch die größere Häufigkeit des Leidens
in dem stark rassengemischten Japan im Vergleich zu China
würde dafür sprechen. Dann würde man sich vorzustellen
1 ) Roch, G. Die Vererbung der sogenannten angeborenen Hüftver-
renkung. ARGB. Bd. 17. H. 3. 1925.
2 ) Isigkeit, E. Untersuchungen über die Heredität orthopädischer
Leiden II. Archiv für orthopädische und Unfall-Chirurgie. Bd. 26. I-I. 4.
1928. S. 659.
3 ) H o o f f , G. Über die Erblichkeit der angeborenen Hüftverrenkung.
ARGB. Bd. 20. H. 4. 1928. S. 369.
4 ) B r y n , H. Journal of Heredity. Bd. 17. Nr. 5. 1926.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
399
haben, daß die Hüftverrenkung durch eine unharmonische Kom-
bination von Rassenanlagen entstehe oder, anders ausgedrückt,
daß sie polymer erblich sei. Die genannten Gebiete in Europa,
in denen die Hüftverrenkung häufig ist, sind solche mit einer
vorwiegend untersetzten Bevölkerung, während sie in Gebieten
mit schlanker Bevölkerung wenig vorkommt. Fast gar nicht
soll sie bei Negern vorkommen, die ja meist ausgesprochen
schlank sind. Auch in der schlanken Bevölkerung Siziliens soll
sie kaum vorkommen. Mit dieser Korrelation zum Typus
könnte auch das mehrfach häufigere Vorkommen im weib-
lichen Geschlecht zusammenhängen, das ja im Durchschnitt
untersetzter als das männliche ist. Die größere Häufigkeit im
weiblichen Geschlecht auf dominante geschlechtsgebundene
Erbanlagen zurückzuführen, wie Isigkeit versucht hat, geht
nicht an. Der Übergang vom Vater auf den Sohn in den Sip-
pen, Fig. 113 und 114, spricht entschieden dagegen.. ;
^
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Fig. 114.
Angeborene
Hüftverrenkung.
Nach Isigkeit.
Sämtliche Fälle beidseitig.
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Fig. 115.
Angeborene Hüftverrenkung.
Nach Isigkeit.
Sämtliche Fälle nur links.
Schröde r 1 ) hat über eine Sippe berichtet, in der blutsverwandte
Eltern unter 10 Kindern 5 mit angeborenen Luxationen mehrerer Gelenke,
hauptsächlich der Hüft- und Ellbogengelenke (Radiusluxation) hatten. Zu-
grunde lag eine mangelhafte Bildung der Gelenke. Wie die Gelenkknorpel so
waren auch die Ohrknorpel unterentwickelt; die Ohrmuscheln waren knapp
halb so groß wie gewöhnlich. Vermutlich beruhten die mehrfachen Luxationen
111 dieser Sippe auf einer rezessiven krankhaften Erbanlage.
Die PerthesschcKrankheit, eine Störung der Entwicklung des
Hüftgelenks irn Wachslumsaltcr, ist In mehreren Sippen dominant erb-
r ) Schröder, C. H. Familiäre kongenitale Luxationen. Zeitschrift
für orthopädische Chirurgie. Bd. 57. S. 580. 1932.
400
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLÄGEN
lieh beobachtet worden; häufiger tritt sie einzeln oder bei Geschwistern auf;
es scheint also neben rezessiven auch dominante Erbanlagen zu geben, die
das Leiden bedingen.
Die Arthritis deform ans, ein Gelcnklciden, das im mittleren
und späteren Lebensalter auftritt und bei dem die Gelenkknorpel unregelmä-
ßig verdickt und rauh werden, hat Weitz bei eineiigen Zwillingen über-
einstimmend auftreten sehen. Es ist daher als hauptsächlich erbbedingt anzu-
sehen; schwere Arbeit und Kälte scheinen seine Entwicklung nur wenig zu
beschleunigen. Das Bild einer Arthritis deformans kann auch als Folge von
chronischem Gelenkrheumatismus entstehen, der oft durch, kleine chronische
Infektionsherde an abgestorbenen Zähnen und in den Mandeln bedingt zu
sein scheint. Die Disposition zu solchen chronischen Infektionen ist anschei-
nend sippenweise verschieden.
Die erbliche K n o c h e n b r ü c h i g k e i t oder Osteopsathy-
rosis beruht auf mangelhafter periostaler Knochenbildung. Die damit be-
hafteten Personen pflegen im Jugendalter immer wieder Knochenbrüche bei
geringfügigen Anlässen zu erleiden; im erwachsenen Alter werden die Brüche
seltener oder hören ganz auf. Bei den Osteopsathyrotikcrn ist die Lederhaut
des Auges (Sklera) abnorm dünn und daher bläulichgrau durchscheinend
statt weiß. In einer von Harman beschriebenen Sippe wurde nur blaugrauc
Sklera bei 30 Personen, aber keine Knochcnbrüchigkeit gefunden; hier lag
also anscheinend eine besondere Erbanlage vor. In den übrigen bekannt ge-
wordenen Sippen litten die meisten Mitglieder, die bläulichgraue Sklera
hatten, auch an Knochenbrüchigkeit. Bei einer Minderheit entwickelte sich
außerdem Schwerhörigkeit in Form der Otosklerose, offenbar infolge Stö-
rung des Kalkstoffwechsels im Mittelohr. Es sind aber auch Sippen be-
schrieben worden, in denen alle drei Symptome regelmäßig vereinigt waren.
Der Erbgang der Anlage ist regelmäßig dominant 1 ), wenn man nur die bläu-
liche Farbe der Lederhaut, und unregelmäßig dominant, wenn man die Kno-
chcnbrüchigkeit ins Auge faßt. Bei ausschließlicher Betrachtung der Oto-
sklerose erscheint die Dominanz noch unregelmäßiger. Ob das wechselnde
Bild in verschiedenen Sippen auf verschiedenen (allelen ?) Erbanlagen beruht
oder ob es durch die Mitwirkung anderer Erbanlagen entsteht, ist nicht
bekannt.
Die Osteogenesis imperfecta ist eine angeborene hochgra-
dige Form von Knochcnbrüchigkeit. Die damit behafteten Kinder werden
schon mit mehr oder weniger zahlreichen, geheilten und ungeheilten Kno-
chenbrüchen und Vcrbiegungen geboren; sie sind meist nicht lebensfähig.
Kienboeck 3 ) beobachtete ein derartiges Kind, das von gesunden Ellern
stammte, die Vetter und Base waren. Vermutlich ist die schwere angeborene
Osteogenesis imperfecta also rezessiv erblich.
K. PI. Bauer 3 ) hat gemeint, die Osteopsathyrosis sei mit der Osteo-
genesis imperfecta identisch, weil auch in Sippen mit Osteopsathyrose
a ) Conrad und D a v c n p o r t. Hereditary fragility of bone. Eugc-
nics Record Office Bulletin. Nr. 14. New York 19 15.
2 ) Kicnboeck, R. Über infantile Osteopsathyrose. Fortschritte auf
dem Gebiet der Röntgenstrahlen. Bd. 23. S. 122. 1915/16.
3 ) Bauer, K. H. Über Osteogenesis imperfecta. Deutsche Zeitschrift
für Chirurgie. Bd. 154. S. 166. 1920.
— — über Identität und Wesen der sogenannten Osteopsathyrosis
idiopathica und Osteogenesis imperfecta. Ebenda. Bd. 160. S. 289. 1920.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
401
angeborene Fälle vorkommen. Wenn zwei Zustände pathologisch-anatomisch
und klinisch anscheinend qualitativ gleichartig sind, so folgt daraus aber
nicht, daß sie genetisch identisch seien. Auch beruht die Osteopsathyrose
nicht auf einer allgemeinen Minderwertigkeit des Mesenchyms.
Eine andere Art der Knochenbrüchigkeit, die Marmorknochen-
krankheit beruht gerade auf übermäßiger Verkalkung. Die Knochen
sind dicht und brüchig wie Marmor. Die wenigen Fälle, die von diesem
seltenen Leiden beschrieben worden sind, stammen zum großen Teil aus
Verwandtenehen. Es ist anscheinend einfach rezessiv 1 ).
Die Madelungsche Deformität besteht in einer Abknickung
der Hand nach unten. Sie beruht auf -einer Entwicklungsstörung des Endes
der Speiche; die Elle steht nach oben vor. Die seltene Mißbildung
pflegt sich erst im Pubertätsalter bemerkbar zu machen. Frauen sind etwa
doppelt so häufig als Männer befallen. Das Leiden ist in mehreren Genera-
tionen einiger Sippen beobachtet worden; es scheint dominant erblich zu .sein,
ob geschlechtsgebunden, ist einstweilen nicht zu sagen. Herrn Prof. Dr. A.
Reich in Bochum verdanke ich eine Mitteilung über eine Sippe, in der
7 Frauen in drei Generationen befallen waren. Eine schwere angeborene
Form der Madelungschcn Deformität ist einige Male bei Geschwistern be-
obachtet worden; hier käme rezessiver Erbgang in Betracht.
Fehlen der Kniescheibe ist in mehreren Sippen dominant erb-
lich beobachtet worden. In einer von Ü s t e r r e i c h e r a ) beschriebenen Sippe
fanden sich bei 1 1 Mitgliedern rudimentäre Kniescheiben, mißbildete Ellen-
bogengelenke (mit Luxation der Speiche) und verkümmerte Fingernägel.
Die anscheinend einfach dominante Erbanlage ist insofern interessant, als sie
sich an recht verschiedenen Stellen, sogar an Abkömmlingen verschiedener
Keimblätter (Mesoderm nnd Ektoderm), äußert.
Zu den erblichen Mißbildungen der Gliedmaßen kann
man auch die multiplen Encliondrome und Exostosen
rechnen, Knorpel- und Knochengeschwülste, die von den Epi-
physenknorpeln der Knochen ausgehen; sie machen sich zur
Zeit der Geburt in der Regel noch nicht bemerkbar, entwickeln
sich im Wachstumsalter und kommen mit Aufhören des Wachs-
tums zum Stillstand. Im Treasury 3 ) sind 184 Sippen zu-
sammengestellt, die dominanten Erbgang zeigen. Außerdem
gibt es aber auch isolierte Fälle; und in einigen Familien ha-
ben zwei oder mehr Kinder gesunder, aber blutsverwandter
Eltern das Leiden gezeigt. Es scheinen also auch rezessive An-
lagen vorzukommen. Auch nach Art, Zahl und Sitz der Ge-
r ) Herzenberg, H., und Lewit, S. G. Über die Genetik der Mar-
morkrankheit. Zeitschrift für induktive Abstammungslehre. Bd. 59. H. 4.
S. 349. 1931.
*) Österreicher, W. Gemeinsame Vererbung von Anonychie bzw.
Onychatrophie, Patellardcfekt und Luxatio radii. Zeitschrift für Konstitu-
tionslehre. Bd. 15. H. 4. S. 465. 1930.
3 ) Stocks,?, und Bar rington, A. Hereditary Disorders of Bone
Development. Treasury of Human Inheritance. Vol. III. Part. I. Lon-
don 1925.
Jtaur-Fiscb.er-I,enz I.
2G
402
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
schwülste gibt es sippenweise Unterschiede. Männer sind un-
gefähr doppelt so häufig als Frauen betroffen. Gelegentlich
wird das Leiden durch anscheinend gesunde Frauen übertra-
gen. Auch dominante Anlagen zu dem Leiden äußern sich
also im weiblichen Geschlecht in etwa der Hälfte der Fälle
nicht oder nur in rudimentärer Form. Geschlechtsgebundener
Erbgang ist wegen häufigen gleichzeitigen Behaftetsein von
Vater und Sohn auszuschließen.
Die Hypospadic ist eine erbbedingte Mißbildung des
männlichen Gliedes bzw. der Harnröhre. Bei den daran leiden-
den Männern liegt die Öffnung der Harnröhre nicht am Ende
des Gliedes, sondern an der Unterseite mehr oder weniger weit
nach hinten. Etwa jede 300. männliche Person soll in gerin-
gerem oder höherem Grade damit behaftet sein. Das Leiden
konnte in einigen Sippen durch mehrere Generationen männ-
licher Linie verfolgt werden. Bei weiblichen Personen kann es
sich natürlich nicht äußern, kann aber durch gesunde Frauen
auf männliche Kinder übertragen werden. Dieser Erbgang
darf nicht mit dem rezessiven geschlechtsgebundenen (vgl.
S. 332) verwechselt werden; er unterscheidet sich von diesem
■ff-
~&
5Y¥q*
Fig. 116.
Hypospadic. Nach Lesser 1 ). (Ausschnitt.)
dadurch, daß die Anlage vom Vater auf den Sohn übergehen
kann. Die Äußerung der Anlage ist also geschlechtsbegrenzt.
Nach dem Material des „Treasury" scheint es verschiedene
Erbanlagen zu Hypospadie zu geben, und zwar in verschiede-
nen Sippen verschieden schwere 2 ).
Von S cheinz wittert um oder Pseudohermaphroditis-
mus spricht man, wenn das männliche Glied sehr klein ist oder
ganz fehlt; der Hodensack ist dann in zwei Teile gespalten.
Solche Individuen werden bei der Geburt oft in ihrem Ge-
schlecht verkannt und als Mädchen aufgezogen, bis sich bei
i) "l e s s e r , E. Beitrag zur Vererbung der Hypospadie. Virchows
Archiv. Bd. 64. 1889. S. 537.
2 ) Bulloch, W. Hereditary malform adon of the genital organs.
Treasury of Human Inhcrilance. Part. III. London 1909.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
403
eintretender Geschlechtsreife der Irrtum herausstellt. Im Trea-
sury ist über mehrere solche Fälle berichtet. Derartiges Schein -
zwittertum ist öfter bei Geschwistern beobachtet worden; es
liegt daher die Annahme rezessiver Erbbedingtheit nahe. Da
Scheinzwittcr unfruchtbar sind, kommt dominanter Erbgang
nicht in Betracht, es sei denn in Ausnahmefällen, wo es sich
um eine neue Mutation handeln könnte. Hochgradige Hypo-
spadie bildet einen Übergang zum Schcinzwittertum.
Da das Geschlecht auch beim Menschen .durch die Erbmasse bestimmt
ist, ist anzunehmen, daß auch jene sehr seltenen Fälle, in denen männliche
und weibliche Gonaden (Keimdrüsen) nebeneinander vorhanden sind, erb-
bedingt sind. Man spricht dann von echtem Zwittertum oder Ilermaphrodi-
tismus. Wenn entweder nur männliche oder nur weibliche Gonaden vorhan-
den sind, das Individuum aber zum Teil Merkmale des andern Geschlechts
zeigt, so spricht man von Pseudohermaphroditismus oder Intersexuali-
tät. Gold schmidt hat bei Schmetterlingen (Schwammspinnern) durch
Kreuzung verschiedener Kassen geschlechtliche Zwischenstufen (Intersexe)
verschiedenen Grades erzeugen können. Beim Menschen ist Intersexualität
als Folge von Rassenmischung jedenfalls in der ersten Generation (F x ) nicht
beobachtet worden. Auch ob sie in späteren Generationen vorkommt, ist
fraglich. Wahrscheinlicher ist es, daß Erbanlagen, die beim Menschen Inter-
sexualität bedingen, nicht aus der Erbmasse normaler geographischer Rassen
stammen, sondern daß es sich um abnorme, durch Mutation entstandene
Erbanlagen handelt.
Die Hoden wandern normalerweise in den letzten Monaten
der Embryonalentwicklung aus der Bauchhöhle durch den
Leistenkanal in den Hodensack. Bei einem beträchtlichen Teil
der Neugeborenen ist dieser Hodenabstieg aber noch nicht
vollendet; er findet dann meist in den ersten Kinderjahren
statt. Wenn einer oder beide Hoden dauernd in der Bauch-
höhle oder im Leistenkanal liegen bleiben, spricht man von
Kryp torchismus. Leislenhoden sind Druckschädigungen
ausgesetzt und können sich nicht normal entwickeln. Wenn
beide Hoden im Leistenkanal oder in der Bauchhöhle liegen,
pflegt Unfruchtbarkeit zu bestehen. Für die Entstehung des
Kryptorchismus ist die Erbanlage vermutlich von wesentlicher
Bedeutung. Es sollten Zwillingsuntersuchungen darauf gerich-
tet werden. Vermutlich ist die Hypoplasie der Hoden in vielen
Fällen nicht Folge, sondern Ursache des Kryptorchismus und
der Unfruchtbarkeit. Auch abnorme Kleinheit oder völliges
Fehlen der Hoden dürfte erbbedingt sein, vermutlich durch
rezessive Erbanlagen, ebenso eine genuine Unfruchtbarkeit bei
normaler Größe der Hoden.
Wenn der Leistenkanal sich ungenügend schließt, so entsteht
eine Anlage zu Leistenbrüchen. Ein eigentlicher Bruch
404 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
oder eine Hernie ist in der Regel nicht angeboren, sondern
kommt erst im Laufe des Lebens unter äußeren Einwirkungen,
Anstrengungen beim Heben u. ä. zustande, indem Teile des
Bauchfells und meist auch des Darmes sich durch den Leisten-
kanal vorstülpen. Auf ungefähr2obis3oMännerto^
leidender. Brüche beeinträchtigen die körperliche Leistungs-
fähigkeit bedeutend; wenn sie sich einklemmen, gefährden sie
das Leben. Durch Operation kann die Leistungsstörung meist
ziemlich vollständig behoben werden, In diesem Falle ist ein
erbbedingtes Leiden also der Heilung durch einen ärztlichen
Eingriff zugänglich. In manchen Sippen finden sich Leisten-
brüche derart gehäuft, daß die Annahme dominanter Anlagen
nahe liegt; diese können sich ähnlich wie die zu Hypospaclie im
weiblichen Geschlecht nicht äußern. Bei eineiigen Zwillingen
wurden Leistenbrüche mehrfach in übereinstimmender Form
beobachtet, z. B. von Wcitz. Weitere Zwillingsforschungen
sind erwünscht. Es scheint, daß der Erblichkeit für die Ent-
stehung von Leistenbrüchen eine größere Bedeutung beizu-
messen ist als der Auslösung durch äußere Ursachen.
Im weiblichen Geschlecht, wo es auch während der Embryonalentwick-
lung keinen Lcistenkanal gibt, gibt es natürlich auch keine Leistenbrüche;
doch kommen bei weiblichen Personen Hernien in Form sogenannter Schen-
kelbrüche vor; das sind Vorstülpungen des Bauchfells und seines Inhalts
längs den großen Gefäßen des Schenkels.
Eine verhältnismäßig harmlose erbliche Anomalie ist die sogenannte
Phimose, die in abnormer Enge und meist auch abnormer Länge der
Vorhaut des männlichen Gliedes besteht.
Von den Mißbildungen der weiblichen Geschlechtsorgane dürften die
Formabweichungen der Gebärmutter (Verdoppelungen u. a.) zum größten
Teil erbbedingt sein, ebenso die mangelhafte Entwicklung der Geschlechts-
organe überhaupt (vgl. Infanlilismus S. 418) und damit in vielen Fällen auch
Unfruchtbarkeit. Überzählige Brustdrüsen (Hypermastie) und überzählige
Brustwarzen (Hyperthelic) kommen sippenweise gehäuft vor. Hyperthche
konnte gelegentlich durch mehrere Generationen verfolgt werden. Das Vor-
kommen ausgebildeter Brustdrüsen im männlichen Geschlecht ist ein Zei-
chen von Intersexualität.
Epispaclie, d. h. Spaltbildung an der Oberseite des männlichen
Gliedes, die bis zur Spaltung der vorderen Bauchwand und der Blase gehen
kann, ist gelegentlich bei neugeborenen Zwillingen beobachtet worden. Da
derartige Kinder zugrundegehen, kommt dominanter Erbgang nicht in Frage.
Die häufigsten und praktisch wichtigsten Mißbildungen
im Bereich des Gesichts sind die Kief er s p al t cn. In leich-
ten Fällen ist nur die Lippe eingekerbt bzw. gespalten („Ha-
senscharte"), und zwar nicht in der Mittellinie, sondern
über der Lücke zwischen einem seitlichen Schneidezahn und
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM,
405
Eckzahn. In schweren Fällen klafft der knöcherne Zahnfort-
satz des Oberkiefers und der Gaumen („Wolfsrachen").
Sanders 1 ) fand unter 459 Fällen 162 mal nur Lippenspalte, 45111a!
nur Gaumenspalte und 2 43 mal Lippen- und .Gaumenspalte. Die Lippen-
spalte war in etwa einem Viertel .der Fälle doppelseitig, die Gaumenspalte in
zwei Dritteln. Im männlichen Geschlecht sind Kiefer spalten fast doppelt so
häufig als im weibliehen. Die linke Seite ist in beiden Geschlechtern bei-
nahe doppelt so häufig befallen wie die rechte (die doppelseitigen Fälle
nicht gerechnet).
Diese Spaltbiklungen beruhen ebenso wie viele andere Miß-
bildungen auf Entwicklungshemmungen; sie entstehen, wenn
die auf früher Entwicklungsstufe vorhandenen Buchten zwi-
schen Oberkiefer und Zwischenkiefer sich unvollständig schlie-
ßen. In einigen Sippen sind nur Hasenscharten, in andern nur
Gaumenspalten beobachtet worden. Häufiger kommen Lippen -
und Gaumenspalten bei demselben Individuum vor, oft auch
bei einigen Mitgliedern einer Sippe Lippen- und Gaumen-
spalten, bei andern nur Lippenspalten. Offenbar kann eine und
<f 5
d 1
&&&& cf cf cT c? e? cf • &&&'&>
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Fig. 117.
Gaumenspalte nach Davenport. Eugenics Record Office 3 ).
Der halb schwarz bezeichnete Mann in der zweiten Generation hatte nur eine
Hasenscharte.
dieselbe Anlage verschieden schwere Grade zur Folge haben.
Es handelt sich also um entwicklungslabile Anlagen. Gelegent-
lich äußert sich eine Anlage nur in einer Unregelmäßigkeit der
Zahnreihe vor dem Eckzahn, noch häufiger vermutlich gar nicht.
In den meisten Fällen sind keine weiteren Kieferspalten
in der näheren Blutsverwandtschaft nachweisbar. Sippen mit
ausgesprochener Häufung sind nicht die Regel. Fig. 117 zeigt
eine Sippe, in der männliche und weibliche Personen von Kie-
*-) Sanders, J. Inheritance of harclip and cleft palate. Genetica
Bd. 15. S. 433. 1934.
2 ) Ausgestellt auf dem Zweiten Internationalen Kongreß für Rassen-
hygiene. New York 1921. Abgebildet in Eugenics, Genetics and the Family.
Baltimore 1923. Williams and Wilkins Co.
! I-, 1
o cf @
406 W7Z ££/VZ, D/£ KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
ferspalten befallen sind. Diese Sippentafel, legt dominanten
Erbgang nahe. Oft sind aber Generationen übersprungen.
Fig. 118 zeigt eine Sippe, in der nur weibliche Personen,
Fig. 119 eine andere, in der nur männliche befallen sind. Letz-
tere spricht für rezessiven geschlechtsgebundenen Erbgang.
Es gibt aber auch Sippen, in
denen, nur Männer befallen sind,
geschlechtsgebundener Erbgang
aber wegen Übertragung vom Va-
ter auf den Sohn auszuschließen
ist. Das häufigere Befallensein des
männlichen Geschlechts ist also
mindestens zum Teil als geschlechls-
begrenzt aufzufassen. Für die mei-
sten Fälle ist unregelmäßig do-
minanter Erbgang die ungezwun-
genste Erklärung. Vermutlich gibt es verschiedene Erbanlagen,
die Kieferspaltcn bedingen können.
Ob darunter auch rezessive sind, ist einstweilen nicht ausgemacht. S an-
ders, der für rezessiven Erbgang eintritt, hat zwar in vielen Fallen „Be-
lastung" von beiden Seiten gefunden; da sein Material zum großen Teil aber
aus einei - Kleinstadt stammt, in der rund 1 0/0 aller Kinder mit Kiefcrspalten
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Fig. 118.
Hasenscharte n ach Daven-
port. Eugcnics Record Office 1 ).
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Fig. 119.
Hasenscharte und Gaumenspalte. Eigene Beobachtung 2 ).
geboren wurden, mußten bei eingehender genealogischer Nachforschung
auf jeden Fall zahlreiche Träger des Leidens mit doppelter „Belastung"
gefunden werden. So erklärt es sich auch, daß er „Belastung" in rund 450/9
fand, wahrend frühere Untersucher nur rund 20 0/0 gefunden hatten. Die
Fälle von Blutsverwandtschaft, die Sanders beigebracht hat, betreffen
bezeichnenderweise fast alle entfernte Grade, während bei rezessivem Erb-
gang eine ausgesprochene Häufung von VeUerncheii ersten Grades zu er-
x ) Ausgestellt auf dem Zweiten Internationalen Kongreß für Rassen-
hygiene. New York 1921. Abgebildet in Eugcnics, Genedcs and the Family.
Baltimore 1923. Williams and Wilkins Co.
2 ) Lenz, F. Ein Stammbaum über Hasenscharte und Gaumenspalte.
ARGB. Ed. 25. H. 2. S. 221. 1931.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
407
warten wäre. Mit dem rezessiven Erbgang wird auch die von Sanders
gegebene Schätzung hinfällig, daß in dem, von ihm untersuchten Ort jeder
fünfte Einwohner Träger der Anlage sei. Auch mit seiner Annahme fünf
verschiedener Erbanlagen, getrennt für rechts und links und für beide Ge-
schlechter, kann ich mich nicht befreunden.
Birkenfcld 1 ) hat ein eineiiges Zwillingspaar mit spiegelbildlicher
Anordnung von einseitiger Hasenscharte und Gaumenspalte beschrieben und
einige weitere Zwillingsfälle aus der Literatur zusammengestellt. Sanders
fand ein eineiiges Zwillingspaar, von dem nur der eine eine Hasenscharte
hatte. Es ist das ein weiterer Beleg dafür, daß die leichteren Anlagen^dic
gegebenenfalls nur eine Hasenscharte verursachen, auch verborgen bleiben
können.
Die durch v. Winckcl verfochtenc Hypothese, daß Kieferspalten
durch Eindringen von Amnionsträngen in die embryonalen Zwischenräume
zwischen den seitlichen Oberkieferforlsätzcn und dem Zwischenkiefer ent-
ständen, wird eindeutig widerlegt durch das Vorkommen von Sippen mit
gehäuften Fällen, durch die Zwillingsbefunde und durch das Vorkommen
reiner Gaumenspalten.
Da Kinder mit Kieferspalten nicht saugen können, gingen
sie in früheren Zeiten in der Regel zugrunde. Heutzutage da-
gegen werden die Träger dieser Mißbildung operiert und fast
alle am Leben erhalten. Es ist daher mit einer Zunahme der
Kieferspalten, zu rechnen. Im 19. Jahrhundert zählte man eine
Kieferspalte auf rund 1500 Geborene. Schröder 2 ) fand im
Jahre 1930 in Westfalen ein Verhältnis von rund 1:1200,
Sanders im Jahre 1933 in Holland 1:950.
Eine Lücke zwischen den mittleren Schneidezähnen (Trema oder Dia-
stema) findet sich, wenn sie bei eineiigen Zwillingen auftritt, meist bei beiden
in gleicher Weise ausgeprägt. Margarete Weninger 3 ) hat mehrere
Sippentafeln mitgeteilt, die dominanten Erbgang des Tremas zeigen.
Fehlen oder kümmerliche Ausbildung der oberen seitlichen Schneide-
zähne ist von M c Q u i 1 1 e n*) in drei Generationen einer Familie beobachtet
worden. Auch Thomas 5 ) hat eine Familie beschrieben, in der bei 7 Mit-
gliedern die seitlichen Schneidezähne fehlten. Fürst«) hat von einer Fa-
milie berichtet, in der einem Großvater sämtliche Schneidezähne fehllcn,
x ) Birkenfcld, W. Vererbungspathologische Untersuchung an Zwil-
lingen mit Lippen-Kicfer-Gaumenspalte. Bruns' Beiträge zur klinischen Chir-
urgie. Bd. 141. H. 2. 1927.
2 ) Schröder, C. H. Die Vererbung der Hasenscharte und Gaumen-
spalte. ARGB. Bd. 25. FI. 4. S. 369. 1931.
3 ) Weninger, M. Zur Vererbung des medianen Oberkiefertremas.
Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie. Bd. 32. H. 1/2. S. 367. 1933.
4 ) Nach Praeger, W. Die Vererbungspathologie des menschlichen
Gebisses. Zahnärztliche Rundschau. Jg. 33. -Nr. 44/45- ! 924'
B ) Thomas, L. C. Five studics in human heredity. Eugenical News.
Bd. i 1. Nr. 10. 1926.
e ) Fürst, Th. Der Erbgang bei Anodontie. ARGB. Bd. 16. li. 3.
1925.
408
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
ebenso einem Enkel, wahrend drei andern Enkeln nur die seitlichen Schnei-
dezähne fehlten. Huskins 1 ) hat in einer Sippe Fehlen der mittleren
Schneidezähne mit anscheinend geschlechtsgebundenem Erbgang gefunden.
Vorstehen des Unterkiefers (Unterkiefer-
prognathie) ist in der Regel dominant erblich. Rub-
b recht 2 ) bringt eine Anzahl Sippentafeln mit ununterbroche-
nem Erbgang. Im Geschlecht der Habsburger konnte er auf
Grund vorhandener Bilder die Anomalie bei 44 Mitgliedern
durch 9 Generationen belegen oder wahrscheinlich machen.
Fig. 120.
Unterkief erprognathic in der Nachkommenschaft Philipps des
Schönen und Johannas der Wahnsinnigen. Nach R 11 b brecht.
Die letzte der von ihm bearbeiteten Generationen lebte in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Seitdem hat sich die Un-
terkief erprogn atliie durch weitere zwei Jahrhunderte (6 Ge-
nerationen) bis auf Alfons XIII. von Spanien und dessen Sohn
Jahne weiter vererbt. Die keineswegs seltene Anomalie findet
sich bei 1-20/0 der Bevölkerung.
Auch die Oberkiefer Prognathie bzw. abnorme Kleinheit des
Unterkiefers soll nach Rubbrecht einfach dominant erblich sein. Er hat
die Sippen, von denen er Schemata abbildet, allerdings nicht so genau be-
schrieben, daß man ein klares Bild daraus gewinnen könnte. Nach meinen
x ) Huskins, C. L. On the inheritance of an anomaly of human
dentition. Journal of Heredity. Bd. 21. Nr. 6. S. 279. 1930.
2 ) Rubbrecht, O. Les variations maxülo-faciales sagittales et
l'henSditc. Antwerpen 1930.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
409
Beobachtungen scheint sich ein kleiner, zurücktretender Unterkiefer oft bei
asthenischem Habitus zu finden, auch bei allgemeiner Hypoplasie. Darauf
wäre bei künftigen Forschungen zu achten. Bei eineiigen Zwillingen ist der
Bißtypus, d. h. die Stellung beider Zahnreihen gegeneinander regelmäßig
gleich 1 ). Die Zwillingsforschung hat überhaupt die klarsten Belege für die
Erbbedingtheit der Anomalien der Zahnstellung beigebracht.
Auch bei der Entstehung der Zahnkaries, die bei den
meisten Menschen einen mehr oder weniger großen Teil der
Zähne zerstört, wirkt die erbliche Veranlagung wesentlich mit 3 ).
Der Versuch von Kerkhaus 3 ) in Anlehnung an die Vor-
stellungen von Kantorowicz, den Einfluß der Erbanlagen
zu verkleinern, kann nicht als geglückt bezeichnet werden. Fa-
milienforschungen von Pfanner 4 ) und Dietrich 5 ) haben
gezeigt, daß Elternpaare mit schlechten Zähnen in der Regel
Kinder mit schlechten Zähnen, Elternpaare mit guten Zähnen
dagegen auch Kinder mit guten Zähnen haben. Umweltein-
flüsse spielen insofern eine Rolle, als Ernährungsstörungen
des Säuglingsalters ungünstig auf die Beschaffenheit der blei-
benden Zähne wirken. Durch Schwangerschaften pflegt die
Karies verschlimmert zu werden, weil infolge des Kalkbedarfes
der Frucht die Zähne angegriffen werden. Weitere Zwillings-
forschungen über Karies zumal an Erwachsenen wären er-
wünscht.
Es ist öfter die Vermutung ausgesprochen worden, daß zu enge Stel-
lung der Zähne, durch die auch die Entstehung der Karies begünstigt wird,
die Folge von Rassenkreuzung bzw. des Zusammentreffens von Erbanlagen
für kleine Kiefer mit solchen für große Zähne sei. Enge Kiefer sind oft Teil-
erscheinung asthenischer oder adenoider Konstitution, während die Größe der
Zähne dabei nicht vermindert zu sein pflegt. Die Zähne als hauptsächlich
ektodermale Gebilde scheinen an der Schwäche des Stützgewebes meist
nicht teilzuhaben. So kann ein Mißverhältnis zwischen Kiefern und Zähnen
entstehen.
Auch für die Entstehung sogenannter P ar a den t o s en,
d. h. krankhafter Veränderungen der unmittelbaren Umgebung
x ) Nach P r a c g e r a. a. O. Vgl. dazu auch: Siemens, H. W. Die
Vererbungspathologie der Mundhöhle. Münch. Med. Wochenschr. 1928.
Nr. 41. S. 1747.
B ) W e i t z , W. Über die Bedeutung der Erbmasse für das Gebiß nach
Untersuchungen an eineiigen Zwillingen. Deutsche Monatsschrift für Zahn-
heilkunde. 1924. H. 5.
3 ) Kerkhaus, G. Zahnkaries und Vererbung. Deutsche Zahnärzt-
liche Wochenschrift 1929. Nr. 23.
4 ) Pfanne r. Statistische Untersuchungen über die Vererbung von
Zahnkaries. Archiv der Julius-Klaus-Stiftung. Bd. 5. H. 1/2. 1930.
5 ) Dietrich, O. Familien for schlingen über die Zahnverhältnisse im
oberen Schächcntal. Dissertation Zürich 1932.
410 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
der Zähne (Alveolarpyorrlioe, Alveolaratrophie, Zahnstcinbil-
dung) scheint die erbliche Veranlagung von Bedeutung zu sein.
Zwillingsuntersuchungen darüber wären erwünscht. Es gibt
Familien, in denen der Schwund der Zahnfortsätze der Kiefer
(Alveolaratrophie), der im Alter bei allen Menschen eintritt,
abnorm früh beginnt.
Paradcntosen treten besonders häufig auf, seit die moderne Zahnheil-
kunde auch abgestorbene Zahne möglichst lange zu konservieren bemüht ist.
Ich mochte die Frage zur Diskussion stellen, ob die paradentotischen Ver-
änderungen nicht zum Teil als Reaktionen des lebenden Gewebes gegen tote
Zahne aufzufassen seien. Die derart ausgelösten Reaktionen würden sich
dann auch auf die Umgebung gesunder Zähne übertragen. Es gibt Leute,
die keinen toten Zahn im Munde vertragen können, während andere eine
große Zahl toter Zähne reaktionslos vertragen.
Abnorme Kleinheit des Kopfes (Mikrokep ha-
lle) ist in einer Anzahl von Fällen bei mehreren Geschwistern
beobachtet worden 1 ). Hochgradige Kleinköpf igkeit, die stets
mit hochgradiger Geistesschwäche einhergeht, kann anschei-
nend durch rezessive Erbanlagen bedingt sein. Bernstein 3 )
bat eine Familie beschrieben, in der von 10 Geschwistern 5
hochgradig mikrokcphal und schwachsinnig waren. Frets^)
fand bei seinen Untersuchungen über die Erblichkeit der Kopf-
form, daß auch „Mikrobrachykephalie" nicht pathologischen
Grades anscheinend auf rezessiven Erbanlagen beruhe.
Turm schädel (Pyrgokephalie, Oxykephalie) ist in einigen Fami-
lien bei mehreren Mitgliedern beobachtet worden' 1 ); einzelne Sippentafeln
legen dominanten, andere rezessiven Erbgang nahe. Offenbar handelt es sich
um mehrere verschiedene Anomalien. Eine Mitteilung über erblichen Turm-
schädel verdanke ich Herrn Dr. C. J. Caesar. Die Photographie eines
männlichen Kindes zeigt eine extreme Entwicklung des Schädels nach vorn
und oben; die Stirn ist beträchtlich über die Ebene der Augen hinaus vor-
gewölbt. Infolge Druckes auf den Sehnerven ist das Kind erblindet, ebenso
seine Mutter. Außer der Mutter hat auch eine Schwester der Mutter und die
Großmuller mütterlicherseits einen extremen Turmschädel. Siemens 5 ) be-
richtet, daß er in einigen Fällen Turmschädel nur bei einem von zwei ein-
eiigen Zwillingen gesehen habe. Nach den Bildern, die er gibt, handelte
es sich aber nur um eine nicht krankhafte Hochkopfigkeit (Hypsikephalic),
L ) G o 1. d b 1 a d t. Bruchstücke zur Kenntnis der familiären Mikroze-
phalie. Archiv für Psychiatrie. Bd. 70. H. 4. 1924.
2 ) Bernstein, Ch. Microcephalic people sometimes callcd ,,pin
heads". The Journal of Heredity. Bd. 13. H. 1. 1922.
3 ) Frets, G. P. Heredity of the head form in man. Genetica. Bd.
III. 1921.
4 ) Peiper, A. Über den Turmschädel. Monatsschrift für Kinderheil-
kunde. Bd. 25. S. 509. 1924.
5 ) Siemens, H. W. Zur Ätiologie des Turmschädels. Virchows Ar-
chiv. Bd. 253. H. 3. 1924.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
411
die wohl besser nicht als Turmschädel zu bezeichnen wäre. Es scheint, daß
die Raumbeengung bei Zwillingsschwangerschaft zur Entstehung von Hoch-
köpfigkeil Anlaß geben kann. Gänßlen hat eine eigentümliche Form von
Hochkopfigkeit bei hämolytischer Diathese (vgl. S. 467) beobachtet.
Durch Turmschädel und gleichzeitige Unterentwicklung der Schädel-
basis mit Hypoplasie der Nasengegend ist die von Crouzo n 1 ) beschriebene
Dysostosis craniofacialis gekennzeichnet. Es sind einige Sippen
mit mehreren Fällen beschrieben worden. Auch der Turmschädelfall Cae-
sars gehört wohl zu diesem Leiden. Die Dysostosis clcidocra-
nialis entsteht infolge erbbedingter Flemmung der Verknöcherung der
bindegewebig vorgebildeten Knochen. Die Schädelknochen, zumal die Schädel-
basis und das Becken bleiben unterentwickelt; Nasenbeine und Schlüsselbeine
fehlen ganz; die Zähne sind verkümmert. Im T r e a s u r y 2 ) ist über 96 Sip-
pen berichtet, die dominanten Erbgang zeigen bzw. mit solchem vereinbar
sind. Seitdem sind noch weitere Sippen beschrieben worden. Homozygot
würde die Anlage vermutlich letal sein.
Fehlen des Kopfes (Akranie) oder des Gelnrns (Anenkephalie)
kommt als Mißbildung nicht lebensfähiger Früchte vor. Auch die Kyklopie :i ),
bei der die beiden Augenanlagen zu einem nicht funktionsfähigen Gebilde
verwachsen sind, ist hier zu nennen. Über familiäre Häufung solcher lebens-
unfähiger Mißbildungen ist bisher wenig berichtet worden, da man an die
Möglichkeit der Erbbedingtheit meist gar nicht gedacht hat. Möglicherweise
handelt es sich um rezessive Erbanlagen mit homozygoter Lctalwirkung.
Die Spina bifida (Rachischisis) ist eine Hemmungs-
mißbildung der Wirbelsäule bzw. des Rückenmarks, die sich in
Offenbleiben des Wirbeikanals, meist in der Höhe der Lenden-
wirbel und in schwereren Fällen in bruchartiger Vorwölbung
von Teilen des Rückenmarks und seiner Häute äußert. Wenn
nur eine Spaltbildung des knöchernen Wirbelkanals ohne
äußerlich erkennbare Vorwölbung besteht, spricht man von
Spina bifida oeculta. Gelegentlich ist die Mißbildung bei meh-
reren Kindern einer Sippe beobachtet worden.
Nach Scliamburow und Stilbans 4 ) soll sie durch eine Erban-
lage bedingt sein, die heterozygot Spina bifida oeculta und homozygot Spina
bifida aperta verursachen würde. Der Erbgang würde also intermediär sein.
Wenn man nur die Spina bilida oeculta ins Auge fassen würde, würde er als
dominant erscheinen. Da Kinder mit Spina bifida aperta bald nach der Ge-
burt zugrundezugehen pflegen, könnte man auch von homozygoter Letalwir-
kung sprechen. Es ist öfter berichtet worden, daß Spina bifida oeculta sich
oft bei Bettnässern (s. d.) findet; auch mit Klumpfuß soll sie in Korrelation
stehen. Der primäre Defekt würde nach dieser Ansicht das Rückenmark
: ) Crouzon,0. Dysostose craniofaciale hereditaire. Presse mcdicale
1912. Nr. 73.
2 ) Stocks und Barrington a. a. O.
3 ) K 1 o p s t o c k. Familiäres Vorkommen von Zyklopie und Arrhinen-
zephalic. Monatsschr. für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bd. 56. 1921.
4 ) S c ha m burow, D. A. und S t il b an s , J. J. Die Vererbung der
Spina bifida. ARGB. Bd. 26. H. 3. S. 304. 1932.
412 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
ANOMALIEN FJER KÖRPERFORM.
413
betreffen und als dysraphischc Hemmungsmißbildung aufzufassen sein
(vgl. S. 522).
Die Häufigkeit der Spina bifida aperta wird auf i-~~2% angegeben, die
der Spina bifida oeculta auf rundioo/o; das männliche Geschlecht ist häufi-
ger betroffen als das weibliche.
Der sogenannte Wasserkopf (H y drokephalus) be-
ruht auf abnormer Größe der Flüssigkeit enthaltenden Hohl-
räume (Ventrikel) des Gehirns, wodurch übermäßige Größe
des ganzen Kopfes bedingt wird. Da die Anomalie einige Male
übereinstimmend bei Zwillingen und selten auch sonst bei Ge-
schwistern beobachtet wurde, scheint es erblich bedingten Hy-
drokephalus zu geben (S i emens) 1 ). Hydrokephalus kann
aber auch die Folge von entzündlichen Vorgängen (z. B. Sy-
philis) oder Giftwirkungen (z. B. Blei) sein.
Der angeborene Schiefhals (Caput obstipum, Torti-
collis) beruht auf mangelhafter Bildung eines der beiden Kopf-
nickermuskeln (Stcrnocleidomastoideus) ; das Muskelgewebe ist
mehr oder weniger durch Bindegewebe ersetzt. Die Anomalie
d m
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2d , ö , 9 9ö , ? d'd , d'9d ,
I — 1 — I
9? cf
Fig. 121. Angeborener Schief hals nach Busch 2 ).
findet sich in einer Häufigkeit von rund 3 auf 10 000; beide
Seiten und beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen,
Fig. I2i zeigt eine Sippe mit klar dominantem Erbgang. Solche
Sippen sind indessen nicht die Regel. Isigkeit 3 ) fand nur
in knapp 10 Prozent weitere Fälle in der Verwandtschaft und
etwa ebenso häufig Asymmetrie des Gesichts. Er hat rezessive
Erbbedingtheit angenommen. Ich möchte unregelmäßige Do-
minanz entwicklungslabiler Anlagen für das Wahrscheinlichste
*) Sieme 11 s. ZwilHngspathologie.
2 ) 13 lisch, E. Muskulärer Schiefhals und Heredität. Zürich 1920.
(Dissertation.)
3 ) I s i g k e i t , E. Der angeborene Schiefhals. Archiv für orthopädische
und Unfall-Chirurgie. Bd. 30. H. 4. S. '459. 193t.
halten. Dafür spricht besonders eine Sippentafcl von Valen-
tin 1 ), in der ein Mann, dessen Mutter Schiefhals hatte, aus
erster Ehe ein schiefhalsiges und aus zweiter Ehe zwei schief-
halsige Kinder (neben normalen) hatte.
Unter 5 Paaren eineiiger Zwillinge fand Isigkeit vier-
mal bei beiden Zwillingen Schiefhals (3 spiegelbildlich, 1 un-
bestimmt) ; unter 23 Paaren zweieiiger Zwillinge zeigten ihn
zweimal beide.
Wenn Isigkeit unter 13S8 Fällen 1 2mal Verwand tenehe der Eltern
(einschließlich entfernter Verwandtschaft?) gefunden hat (0,90/0), so scheint
mir das kein Beleg für eine erhöhte Zahl und damit auch nicht für Rezessi-
vität zu sein. Kinder mit Schiefhals werden in ungefähr der Hälfte der Fälle
in nicht normaler Lage geboren (rund 450/0 Steißlagen und 50/0 Querlagen).
Das deutet auf Mitwirkung der intrauterinen Umwelt; der Zusammenhang
kann aber auch dahin gedeutet werden, daß ein schon vor der Geburt vor-
handener Schiefhals die normale Einstellung hindert (Isigkeit).
Die Sippentafeln mit Schiefhals sehen meist ähnlich aus wie die mit
Hiiftverrenkung, Klumpfuß und Kiefcrspalte, die sowohl einseitig als auch
doppelseitig vorkommen. Es liegt daher die Frage nahe, ob nicht auch
die Verkürzung bzw. Hypoplasie des Kopfnickers beidseitig auftreten könne.
Diese Frage ist in der Literatur meines Wissens bisher nicht aufgeworfen
worden. Bei künftigen Untersuchungen über den Schiefhals wäre darauf zu
achten.
Unter den Anomalien der Körperform kommt denen, des
Habitus eine besondere Bedeutung zu. Diese werden oft als
Konstitutionsanomalien im engeren Sinne bezeichnet.
Der Begriff der Konstitutionsanomalie ist allerdings
ebensowenig scharf abgrenzbar wie der der Mißbildung; den-
noch ist er wie dieser im praktischen Gebrauch zweckmäßig.
Man spricht von einer „starken" und einer „schwachen"
Konstitution und bezeichnet damit den Grad der allgemeinen
Widerstandsfähigkeit gegenüber Schädlichkeiten, Anstrengun-
gen, Krankheiten. Die Konstitution prägt sich in vielen
Fällen auch in der äußeren Erscheinung, im Habitus aus.
Konstitutionsanomalien, die sich weniger im Habitus als viel-
mehr in gewissen funktionellen Eigentümlichkeiten äußern, die
also vorwiegend in der chemisch-physiologischen Beschaffen-
heit der Gewebe begründet sind, pflegt man als Diathesen
zu bezeichnen. Von diesen wird im folgenden Abschnitt die
Rede sein.
Die Konstitutionsanomalien haben fließende Übergänge zu
den Mißbildungen, den Stoffwechselleiden, den Störungen der
!) Valentin, .13. Konstitution und Vererbung in der Orthopädie.
Stuttgart 1932.
414 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
inneren Drüsen und zu den Anfälligkeiten gegenüber den ein-
zelnen Krankheiten. Der Konstitutionsbegriff ist wie der der
Krankheit an der Erhaltungswahrscheinlichkeit orientiert. Wäh-
rend aber der Krankheitsbegriff schon eine relativ geringe Er-
haltungswahrscheinlichkeit voraussetzt, ist der Konstitutions-
begriff in dieser Richtung indifferent. Man spricht auch von
einer gesunden Konstitution. Wir bezeichnen also mit dem Worte
Konstitution ganz allgemein die Körper Verfassung in
bezug auf ihre Erhaltungswahrscheinlichkeit oder, was auf das-
selbe hinauskommt, ihre Widerstandskraft. Wenn sich eine An-
fälligkeit nur auf einzelne Krankheiten bezieht, so spricht man
nicht von Konstitutionsschwächc, sondern von Disposition.
Für nicht zweckmäßig halte ich es, wenn J. Bauer 1 ) mit dem Wort
Konstitution den „Ausdruck" sämtlicher in der Erbmasse eines Individuums
enthaltenen Anlagen" bezeichnet. Das entspricht durchaus nicht dem Sprach-
gebrauch, von dem abzugehen hier kein Anlaß vorliegt. Auch Bauer selber
vermag seine Definition nicht durchzuhalten, da er die einzelnen Konslitu-
tionsanomalien nicht nach den zugrundeliegenden Erbanlagen, sondern viel-
mehr morphologisch und funktionell charakterisiert. Noch weniger vermag
ich Tändle rs 2 ) Definition der Konstitution zuzustimmen, die mit der
Baue r s nicht ganz zusammenfällt, da T andler unter Konstitution die
Summe der mit der Befruchtung festgelegten Eigenschaften des Individuums,
und zwar „nach Abzug der Art und Rassenqualitäten" verstehen will. Ein
solcher Abzug erscheint uns theoretisch wie praktisch unmöglich, und Tand-
lers ganze Einteilung der Körpcrbeschaffenhett in „Konstitution" und
„Kondition" ist auch mit seinen eigenen lamarekistischen Grundanschaiuin-
gen unvereinbar, da diese eine solche Sonderung eigentlich gar nicht ge-
statten. Es ist bedauerlich, daß Tand ler mit seinem gar nicht durchführ-
baren Vorschlag so viel Schule gemacht hat.
Das Musterbeispiel einer Konstitutionsanomalie ist die so-
genannte Asthenie oder der asthenische Habitus. Die
damit behafteten Personen sind schmächtig gebaut, der Brust-
korb ist eng und meist flach bei verhältnismäßig langem
Rumpf. Das Herz ist meist klein und schwach und hängt in
dem schmächtigen Brustkorb gleichsam herab. Mit dem schma-
len Bau hängt es zusammen, daß auch der Magen und andere
Baucheingeweide herabhängen. Auch die Muskulatur ist meist
schwach und schlaff. Die Wirbelsäule wird nicht straff getra-
gen, es entsteht eine „schlechte Haltung", die also weniger eine
Folge von Nachlässigkeit ist als vielmehr von Schlaffheit der
Zwischenwirbelgelenke und der Rückenmuskcln. Die Kiefer
*) Bauer, J. Vorlesungen über allgemeine Konstitutions- und Ver-
erbungslehre. 2. Aufl. Berlin, Springer 1923.
3 ) Tand ler, J. Konstitution und Rassenhygiene. Zeitschr. f. ange-
wandte Anatomie und Konstitutlonslehrc 1913.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
415
sind meist klein, die Zähne eng und unregelmäßig gestellt.
Der Astheniker ist leicht ermüdbar, sowohl durch körperliche
wie durch geistige Anstrengungen. Die Schlaffheit der Ver-
dauungsorgane beeinträchtigt die Ernährung. Astheniker sind
meist blaß und blutarm, weniger allerdings infolge zu großer
Verdünnung des Blutes als einer zu geringen Gesamtmenge.
Auch die Keimdrüsen sind oft mangelhaft entwickelt. Infolge
seiner schwachen Körperverfassung kann der Astheniker aller-
hand Krankheiten nicht einen gleich großen Widerstand ent-
gegensetzen wie der normal gebaute Mensch; und da unter den
Krankheiten unserer Bevölkerung die Tuberkulose eine ganz
besondere Rolle spielt, so verfallen die Astheniker in verhält-
nismäßig großer Zahl der Schwindsucht.
Wegen ihrer großen Häufigkeit und ihrer außerordentli-
chen Bedeutung für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist
die asthenische Konstitution eine der wichtigsten Anomalien
überhaupt. Die sogenannte allgemeine Körperschwäche, die den
häufigsten Grund der Militäruntauglichkeit bildet und die in
erster Linie nach dem Verhältnis des Brustumfanges zur Kör-
perlänge beurteilt wird, ist meist ein Ausdruck der Asthenie.
Andererseits sollen bei asthenischer Konstitution gewisse Krankheiten
seltener als sonst vorkommen, so Zuckerkrankheit, Gicht, Fettsucht, Lun-
genblähung (Emphysem) und Arterienverhartung mit ihren mancherlei Fol-
gen, unter denen die Schlaganfälle (Apoplexien) an erster Stelle stehen. Man
hat den der Asthenie entgegengesetzten sogenannten pyknischen Habitus
starker Untersetztheit geradezu als Habitus apoplecticus bezeichnet.
Die entscheidende Ursache der Asthenie liegt in der erb-
lichen Veranlagung. Schon im Säuglingsalter ist der asthenische
Habitus erkennbar 1 ) ; in ausgesprochener Weise pflegt er je-
doch erst vom Beginn des 2. Jahrzehnts an in die Erschei-
nung zu treten. Eineiige Zwillinge stimmen in ihrem Habitus
überein, zweieiige viel weniger regelmäßig. Außer den erb-
lichen sind freilich sicher auch Umwelteinflüsse von Bedeu-
tung für che Entwicklung der Asthenie. So begünstigt die
städtische Lebensweise und zumal vieles Sitzen während der
Entwicklungsjahre, wie es mit unserem Bildungswesen verbun-
den ist, die Entstehung des schmächtigen Wuchses. Doch
darf man auch nicht übersehen, daß erbliche Schwäche der
Wirbelsäule wie überhaupt die abnorme Ermüdbarkeit oft mit
Abneigung gegen körperliche Bewegung cinhergeht. So ver-
stärkt eins das andere. Keine Rede aber kann davon sein, daß
L ) Wetzel, A. Die Stillersche Konstitutionsanomalie im Säuglings-
alter. Miinch. med. Wochenschr. 1922. Nr. 35.
416
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
eine ausgesprochene Anlage zur Asthenie einfach durch Lei-
besübungen in der Jugend ausgeglichen werden könne, wie
B rüg seh 1 ) und einige andere meinen.
Fig. 123 zeigt eine Familie, deren Kenntnis ich der Liebenswürdigkeit
von Herrn Dr. Paul seil in Kiel-Ellcrbek verdanke und in der alle Mit-
glieder, die nicht asthenischen Habitus haben, den gerade entgegengesetzten
sogenannten apoplcktischen Habitus zeigen. Gerade das Vorkommen stark
verschiedener Typen in derselben Geschwisterreihe ist ein Zeichen erblicher
Bedingtheit (vgl. das Kapitel über Methodik).
1 — . — T I — , . 1 V
i T"
9
cf
Fig. 122.
Habitus a s t h e 11 i c u s.
Nach Paulsen.
£ 0* f 9 er & <f
Fig. 123.
Eine Familie, in der 3 Mitglieder
asthenischen Habitus, alle
übrigen den entgegengesetzten sog.
pyknischen zeigen.
Nach Paulsen.
Stiller 2 ), der als erster das Bild der Asthenie zusammenfassend be-
schrieben hat, hat sie als eine besondere erbliche Krankheit aufgestellt. Das
ist mit dem Hinweis bemängelt worden, daß eine KonstitutionsanomaÜc noch
keine Krankheit sei. In ihren schwereren Graden aber erfüllt die ^Stiller-
sche Krankheit" durchaus den Begriff der Krankheit. Sie ist ein Zustand an
den Grenzen der Anpassungsfähigkeit, der ihren Trägern mannigfache sub-
jektive Leiden macht und sie zu allerlei abnormen Reaktionen nötigt. Man
denkt bei dem Worte Krankheit vielfach noch zu einseitig an die Infektions-
krankheiten und andere Zustände mit vorwiegend äußerer Veranlassung.
Die leichteren Grade der "Asthenie wird man freilich nicht als Konstitutions-
krankheit, sondern nur als Konslitutionsanomalie bezeichnen.
Die Asthenie hat enge Beziehungen zur Unterentwicklung und Unter-
funktion der Gonaden (Keimdrüsen). Es wäre aber einseitig, wenn man sie
einfach als Folge solcher Unterfunktion auffassen wollte. Zum guten Teil
dürfte die Unterentwicklung der Gonaden und der übrigen asthenischen Or-
gane ihre gemeinsame Ursache in der krankhaften Erbanlage haben. Auf
keinen Fall spricht die Tatsache, daß die Erscheinungen der Asthenie zum
Teil durch Unterfunktion von Hormonorganen (Drüsen mit innerer Sekre-
tion) bedingt sind, gegen ihre Erbbedingtheit. Die Hormonorgane entwik-
keln sich ja ihrerseits auf der Grundlage der erblichen Veranlagung. Die
innere Sekretion ist, wie Morgan sich ausgedrückt hat, ein Weg, auf dem
die Erbmasse sich auswirkt.
Da es allerlei Übergänge von ausgesprochen asthenischem
Habitus zu mittleren Körperformen und von diesen zum aus-
1 ) Brugsch, Th, Allgemeine Prognostik. 2. Aufl. 1922.
a ) Zusammenfassende Darstellung: Stiller, B. Die asthenische Kon-
stitution, Stuttgart, Enkc 1907.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
417
gesprochen pyknischen Habitus gibt, ist nicht ein einfacher
Erbgang der Körperform zu erwarten. Wenn auch zu ver-
muten ist, daß es gewisse monomere Erbanlagen gibt, die
asthenischen Habitus bedingen können, so sind die mannig-
fachen Übergänge der Körperform doch weitgehend polymer
bedingt. Das geht auch aus den Untersuchungen von Da-
ve np ort 1 ) an 506 Familien hervor.
Es ist viel darüber gestritten worden, ob die Konstitutions-
typen bzw. Habitusformen etwas mit den Unterschieden der
geographischen Rassen zu tun hätten oder nicht. Die meisten
Autoren haben einen Zusammenhang verneint und gemeint,
die verschiedenen Habitustypen kämen in allen Rassen vor 2 ).
Tatsächlich zeigen die normalen Habitusformen aber eine recht
verschiedene geographische Verteilung. Ein großer Teil der
Unterschiede der Körperform, wie wir sie in unserer Bevölke-
rung finden, geht meines Erachtens auf Unterschiede der geo-
graphischen Rassen zurück bzw. er ist mit solchen Unterschie-
den identisch. Außerdem aber gibt es Erbunterschiede der
Körperform, die auf krankhafte Erbänderung zurückgehen.
Man darf die krankhafte Asthenie nicht mit der normalen lep-
tosomen (schlanken) Körperform verwechseln. Es war ein
Fehler Kretsclimers, daß er in der ersten Auflage seines
Buches „Körperbau und Charakter" diese Typen nicht unter-
schieden hat. Die normalen Erbanlagen, welche Unterschiede der
Körperform bedingen, sind zugleich Konstitutionsanlagen und
Rassenanlagen. Es sind Erbanlagen wie andere auch; und sie
haben sowohl für die Rassengliederung, d. h. die geogra-
phische Verteilung und die Anpassung an gewisse Umwelten,
als auch für verschiedene Widerstandsfähigkeit, für verschie-
dene Leistungsfähigkeit im Sinne der Konstitution ihre Bedeu-
tung.
Auch die krankhaften Konstitutionstypen, z. B. die Asthenie, können
möglicherweise insofern etwas mit den Unterschieden der geographischen
Rassen zu tun haben, als es nicht ausgeschlossen erscheint, daß unter den
Nachkommen aus der Kreuzung normaler Rassen in F s und den folgenden
Generationen Typen von asthenischem Bau und andererseits Typen von
extrem pyknischem Bau auftreten mögen.
*) Davenport, C. B. Body-build and its inheritanec. Carnegie In-
stitution of Washington 1923.
2 ) Diese Ansicht kommt meist infolge einer Verwechselung der Be-
griffe Rasse und Population zustande, so in der ebenso umfangreichen wie
unfruchtbaren Auslassung von
Salier, K. Konstitution und Rasse beim Menschen. Ergebnisse der Ana-
tomie und Entwicklungsgeschichte. Bd. 28. S. 250. 1929.
B a u r - V i s c h er - 1. e « z I. 27
418 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Im Hinblick auf eine Bemerkung in einer Einführung in die Frauen-
heilkunde, daß der normale Typus des Weibes der pyknische sei, sei hier
ausdrücklich betont, daß es auch normale leptosome Frauen gibt, unbe-
schadet der Tatsache, daß das weibliche Geschlecht im Durchschnitt etwas
untersetzter und rundlicher als das männliche ist. Völlig abwegig ist die von
Ignaz Kaup 1 ) verfochtene Ansicht, daß nur die durch ein bestimmtes
„QucrschniUs-Längenverhältnis" gekennzeichneten Individuen normal seien,
ebenso auch die von demselben Kaup im Widerspruch mit seinem eigenen
„Gesetz" aufgestellte Behauptung, daß „nur eine Erhöhung der Quer schnitt s-
Längenkonstante" eine Aufartung bedeuten würde. Es gibt eben normale
leptosome (schlanke) und normale pyknische (rundliche) Körperbautypen;
und die breiteren Formen sind keineswegs allgemein den schlankeren an
Lebenstüchtigkeit überlegen; wohl aber sind die normalen Formen den
asthenischen und auch den extrem pyknischen überlegen.
Unter Infantilismus versteht man eine Konstitutions-
anomalie, die sich als ein Stehenbleiben auf kindlicher Ent-
wicklungsstufe darstellt. Es gibt mancherlei Kombinationen
und Übergänge zur Asthenie. Mathilde v. Kemnitz hat
von „asthenischem Infantilismus" gesprochen 2 ). Bei infantilen
Menschen bleiben die Geschlechtsorgane klein und unent-
wickelt. Auch die äußeren Geschlechtszeichen kommen nicht
zu voller Entwicklung. Bei der infantilen Frau bleibt die Brust-
drüse klein und kindlich, der infantile Mann hat nur spär-
lichen Bartwuchs; die Brust- und Rückenbehaarung bleibt aus.
Der Infantilismus ist nächst der Gonorrhoe wohl die häufigste
Ursache weiblicher Unfruchtbarkeit. Wenn eine Schwanger-
schaft eintritt, so endet sie verhältnismäßig oft mit Fehlgeburt,
weil die Frucht in der unentwickelten Gebärmutter sich nicht
richtig entfalten kann. Auch in der äußeren Erscheinung prägt
sich der Infantilismus aus. Infantile Mädchen haben oft noch
mit 25 oder 30 Jahren fast kindliche Gesichtszüge, was ihnen
eine Art von Scheinjugend verleiht. Auch seelisch zeigen er-
wachsene Infantile kindliche Züge; sie sind leicht bestimmbar
durch unmittelbare Sinneseindrücke und Erlebnisse sowie durch
fremden Willen. Sie haben geringe Energie, sind zu ernster
Arbeit wenig befähigt und neigen zu spielerischer Betätigung.
Die meisten Fälle vonlnfantilismus sind erbbedingt 3 ). Es
scheint aber, daß auch durch Umweltschäden wie schwere
Nährschäden im Säuglings- und Kleinkind es alt er und durch
chronische Infektionskrankheiten wie angeborene Syphilis und
*-) Kaup, j. Volkshygicne oder selektive Rassenhygiene ? Leipzig 1 922.
2 ) v.Kcmnitz, M. Der asthenische Infantilismus des Weibes. ARGB.
Bd. 10. H. 1/2. S. 41. 1913.
3 ) Borchardt. Über Abgrenzung und Entstehungsursachen des In-
fantilismus. Deutsches Archiv für klinische Medizin. Bd. 138.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
419
früh erworbene Tuberkulose die Entwicklung so nachhaltig ge-
hemmt werden kann, daß schließlich dauernder Infantilismus
die Folge ist. Wenn bei Infantilismus Tuberkulose gefunden
wird, so kann der Zusammenhang übrigens auch daher rühren,
daß infantilis tische Individuen vorzugsweise der Tuberkulose
verfallen 1 ).
Bei allgemeiner Unterentwicklung und Schwäche der Or-
gane spricht man von Hypoplasie. Es handelt sich an-
scheinend meist um' einen echten Erbschaden; doch kommt
auch vorgeburtliche Schädigung der Frucht in Frage. Die hy-
poplastischen Individuen gehen zum größten Teil schon im
Säuglings- und Kindesalter zugrunde; ein Teil, besonders leich-
tere Fälle, erreicht aber auch das erwachsene Alter.
Die Aufstellung eines „Status degenerativus" halte ich
für unglücklich. J. Bauei-2) definiert ihn als „jene allgemeinste
Form konstitutioneller Anomalie, bei der ihr Träger eine mehr
oder minder große Zahl sogenannter Degenerationszeichen
aufweist". Seine Unterabteilungen sollen der „Status lymphati-
cus, hypoplasticus, asthenicus, neuropathicus, exsudativus, ar-
thriticus und wie sie alle heißen", sein. Es liegt auf der Hand,
daß ein derartig unbestimmter, die allerverschiedensten Ano-
malien umfassender Begriff für die Umgrenzung eines be-
stimmten Zustandes nicht brauchbar ist. Als bloß zusammen-
fassende Bezeichnung für alle genetisch verschiedenen Kon-
stitutionsanomalien aber ist er überflüssig. Außerdem verführt
ein solcher Name immer wieder zu der Vorstellung einer gene-
tisch einheitlichen Entartung oder „Heredodegeneration" (s. cl).
Das soll indessen nicht heißen, daß an der Lehre von den
sogenannten Entartungszeichen, die sich im Anschluß
an die Entartungslehre des französischen Psychiaters Morel 3 )
entwickelt hat, nicht etwas Wahres wäre. Unter Entartung
verstehen wir heute freilich nicht mehr ein unentrinnbar fort-
schreitendes Verhängnis, sondern die Neuentstehung und Aus-
breitung krankhafter Erbanlagen. Die Frage nach den Ent-
artungszeichen ist somit einfach die, ob es äußere Merkmale
des Körpers gebe, auf Grund deren man auf krankhafte Erb-
anlagen schließen könne. Das ist nun für eine recht erhebliche
*) Bartel, J. Status thymico-lymphaticus und Status hypoplasticus.
Leipzig und Wien, Deuticke 1912.
K ) Bauer, J. Der Status degenerativus. Wiener klinische Wochen-
schrift. 1924. Nr. 42.
3 ) Morel, B. A. Traite des d^gencrescences physiques, intellectuelles
et morales de l'espece humaine. Paris 1S57.
420
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Zahl äußerer Merkmale tatsächlich zu bejahen. So kann man
aus einem zu geringen Brustumfang auf erbbedingte körper-
liche Schwäche schließen; andererseits gestattet großer Brust-
umfang freilich nicht, erbliche Krankheit auszuschließen; in
gewissen Fällen kann übermäßiger Brustumfang vielmehr ge-
radezu eine Folge erblicher Krankheit (z. B. von Lungen-
emphysem oder Fettsucht) sein. Allzu geringe Größe des
Kopfes (Mikrokephalie) gestattet mit Sicherheit den Schluß
auf Schwachsinn; andererseits aber kann übermäßige Größe
des Kopfes ebenfalls Folge eines krankhaften Zustandes (z.B.
von Wasserkopf) sein. Die zu kleinen Maße der Brust und des
Kopfes sind der unmittelbare Ausdruck einer Unterentwick-
lung der betreffenden Organe, während bei den großen Maßen
der Zusammenhang nicht so eindeutig ist. Weiter kann ein
äußeres abnormes Merkmal, das für sich keine krankhafte Be-
deutung hat, von derselben Erbeinheit abhängig sein wie ein
Organdefekt, der als solcher nicht so leicht zu erkennen ist. So
kann man aus bläulichgrauer Farbe des „Weißen" im Auge
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf Knochenbrüchig-
keit und mit geringerer Wahrscheinlichkeit auch auf Schwer-
hörigkeit schließen (vgl 1 . S. 400). Nun können aber auch erb-
liche Anomalien, die nicht von derselben Erbeinheit abhängig
sind, häufiger zusammen vorkommen, als nach Maßgabe der
einzelnen Häufigkeiten zu erwarten wäre. So sind nach Nett-
leship ca. 40/0 aller Taubstummen mit Netzhautverödung
(Retinitis pigmentosa') behaftet und mindestens 3,3 !o der mit
Netzhautverödung Behafteten zugleich taubstumm, obwohl die
Ffäufigkeit jedes dieser Leiden noch nicht 1:1000 beträgt.
Eine Erklärung liegt darin, daß beides rezessive Leiden sind,
die besonders häufig aus Verwandtenehen hervorgehen. So
kommt es, daß die Netzhautverödung bis zu einem gewissen
Grade ein „Entartungszeichen" in bezug auf Taubstummheit
ist, aber nur ein höchst unsicheres ; und ebenso umgekehrt.
Eine weitere Ursache der Häufung verschiedener erblicher
Mängel liegt in dem Umstände, daß Menschen mit körper-
lichen oder seelischen Mängeln oft nur Ehegatten bekommen,
die ebenfalls irgendwelche Mängel haben. Insbesondere im
Bodensatz der Bevölkerung sammeln sich infolge sozialen Ab-
sinkens der geistig und körperlich Schwachen allerlei erbliche
krankhafte Zustände an. So entsteht eine Fläufung von „Ent-
artungszeichen" in manchen Sippen. Man hat diese nur falsch
gedeutet, wenn man daraus auf eine einheitliche „Entartung"
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
421
geschlossen hat. Die Entartung ist nichts Einheitliches ; der
Begriff der Entartung ist vielmehr nur eine Zusammenfassung
für die Entstehung und Ausbreitung der alierverschiedenstcn
krankhaften Erbanlagen. Eine Aufzählung der landläufigen
„Entartungszeichen" findet sich z. B. bei Brugsch 1 ).
Unter Trichtc r b rus t versteht man eine muldenför-
mige Vertiefung der vorderen Brustwand am unteren Ende des
Brustbeins. Es sind einige Sippen beschrieben worden, in
denen die Trichterbrust dominanten Erbgang zeigt, so von
Paulsen 2 ) und Peiper 3 ). Gelegentlich scheint eine Gene-
ration übersprungen zu werden. Neuerdings faßt man die
Trichterbrust als dysraphische Hemmungsmißbildung auf, die
von einer krankhaften Erbanlage abhängig ist, die auch Sy-
ringomyelie (s. d.) bedingen kann.
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9
Fig. 124.
Trichterbrust. Nach P a 11 1 s e n.
Ais Arachnodaktylie („Spinnenfingerigkeit") ist eine Anomalie
beschrieben worden, bei der die Gliedmaßen und insbesondere die Finger
abnorm lang und dünn sind. Auch das Gesicht ist übermäßig lang, der
Rumpf- asthenisch. Die Träger der Anomalie leiden meist zugleich an Ver-
lagerung der Linse und oft an einem Herzklappenfehler. Von Weve 4 ) sind
einige Sippen beschrieben worden, in denen die Anomalie dominanten (teils
unregelmäßig) Erbgang zeigt. Nach Waardcnburg gibt es außerdem
vielleicht auch rezessive Erbanlagen zu Arachnodaktylie.
SeitlicheVerbiegungenderWirbelsäule(Sko-
liosen) sind in manchen Familien durch einige Generationen
verfolgt worden. Es scheint also dominante Erbanlagen zu ge-
ben, die Skoliosen bedingen können. Früher führte man Sko-
liosen meist entweder auf schiefe Haltung, besonders in der
1 ) Brugsch, T h. Allgemeine Prognostik. 2. Aufl. Berlin und Wien
1922. S. 242 ff.
a ) Paulsen, J. Über die Erblichkeit von Thoraxanomalien. ARGB.
Bd. 13. H. 1. 1918. '
3 ) Peiper, A. Über die Erblichkeit der Trichterbrust. Klinische Wo-
chenschrift. Jg. 1. FI. 33. 1922.
4 ) Weve, H. J. M. Über Arachnodaktylie. Archiv für Augenheil-
kunde. Bd. 104. H. 1. 1931.
422 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Schulbank, oder auf Rachitis zurück. Nach Schlesinger 1 )
ist die Schule aber unschuldig an der Skoliose, Auch die Be-
deutung der Rachitis für die Entstehung von Skoliosen ist stark
überschätzt worden. Angeblich „rachitische" Skoliosen häufen
sich in manchen Sippen, ohne daß sonst ausgesprochene Zei-
chen von Rachitis vorhanden zu sein brauchen. Zwei derartige
Sippentafeln hat Ziesch 3 ) mitgeteilt. Auch C lassen 3 ) hat
eine Sippe beschrieben, in der 7 Mitglieder an Skoliosen litten.
Oft ist die seitliche Verbiegung mit einer nach hinten (Kyphose)
verbunden. Auch übermäßige Biegung des Rückens (Rund-
rücken) tritt sippenweisc gehäuft auf. Anscheinend spielen do-
minante Anlagen dafür eine Rolle. Paulsen hat einige Sip-
pentafeln mitgeteilt. Die Entstehung von Verbiegungen der
Wirbelsäule wird durch Schwäche und Schlaffheit der Wirbel-
säule, wie wir sie bei der Asthenie kennen gelernt haben, be-
günstigt.
K rampfade r n oder Varizen sind nach Curtius *)
meist durch eine dominante Erbanlage bedingt. Sie bestehen
in Erweiterungen von Venen und entstehen auf der Grundlage
einer ererbten Schwäche der Venenwand, besonders häufig und
schwer an den Unterschenkeln, weil hier zu dem sonstigen Blut-
druck noch die Last der Blutsäule des stehenden Menschen
kommt. Stehende Lebensweise oder sonstige Beeinträchtigung
des Blutrückflusses begünstigen die Entstehung von Krampf-
adern, doch führen diese Schädlichkeiten ohne entsprechende
Veranlagung nicht zur Bildung von Krampfadern. Verhältnis-
mäßig häufig finden sich Varizen bei Astfienikern; die allge-
meine Bindegewebsschwäche bei Asthenie äußert sich hier in
Schwäche der Venenwände. Eine besondere Art von Varizen
sind die Hämorrhoiden, Erweiterungen der Venen am
Ausgang des Mastdarms; ihre Entwicklung soll durch sitzende
Lebensweise begünstigt werden, sicher gilt das von Schwanger-
schaften. Gutmann 1 ) hat von einer Sippe berichtet, in der
1 ) Schlesinger. Die rachitischen und konstitutionellen Verbiegun-
gen der Wirbelsäule usw. Arch. £. Kinderheilkunde. Bd. 68. H. 1 u. 2. 1921.
2 ) Z i e s c h , H. Statistisch-genealogische Untersuchungen über die Ur-
sachen der Rachitis. ARGE. Bd. 17. II. 1. 1925.
3 ) Classcn, K. Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen.
ARGB. Bd. 13. H. 1. 1918.
4 ) Curtius, F, Die hereditäre Ätiologie der Beinphlebektasien. Deut-
sches Archiv für klinische Medizin. Bd. 162. H. 3/4. 1928. S. 184.
B ) Gutmann, M. J. Zur Vererbung der Hämorrhoiden. ARGE, Bd.
17. H. 3. 1925.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
423
14 Mitglieder an Hämorrhoiden litten, obwohl die meisten keine
sitzende Lebensweise führten.
Die Aufstellung eines „Status varicosus" durch Curtius 1 )
kann ich nicht als einen Fortschritt ansehen. Wohl gibt es erbbedingte
Schwächezustände, die mehr oder weniger das ganze Venensystem betreffen,
aber eben genetisch verschiedene. Siemens 3 ) hat den Begriff „Status
varicosus" treffend kritisiert und u. a. gezeigt, daß Teleangiektasien sich
unabhängig von Varizen vererben. Neuerdings sagt Curtius 3 ) selber:
„Innerhalb der Gruppe Status varicosus-Kranker treten die einzelnen Phleb-
ektasien unabhängig auf." Der „Status varicosus" ist also keine genetische
Einheit. Als bloße zusammenfassende Bezeichnung für alle möglichen Arten
von Venenschwächen ist das Wort aber zu anspruchsvoll und als Diagnose
zu allgemein, um so mehr als nach Curtius im Alter von 35 bis 50
Jahren 70% (|) der „Normalbevölkerung" an „Status varicosus erkranken"
sollen. Die Annahme, daß er „ein Fall von sog. multipler Allclie" sei*),
ist ganz unbegründet; und selbst wenn er es wäre, würde das keine gene-
tische Einheit bedeuten. Man vergleiche das über „Status degenerativus"
und „Status dysraphicus" Gesagte.
Bei der Chondrodystrophie (Achondroplasie) sind die
Gliedmaßen zwerghaft kurz (Mikromelie), während Kopf und
Rumpf von annähernd
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Fig. 125.
Chondrodystrophie. Nach E o n n e v i e.
normaler Größe sind.
Das Leiden beruht
auf einem mangel-
haften Wachstum der
Knorpelzoiien in den
langen Knochen (Epi-
physenfugen), in de-
nendasLängenwachs-
tum der Knochen
sonst erfolgt. Es gibt
verschieden schwere
Formen von Chon-
drodystrophie. Die leichteren Formen werden als Chondro-
hypoplasie bezeichnet. Als eine ganz leichte Form kann
man auch die Brachyphalangie anseilen, bei der auch die
ganzen Gliedmaßen verhältnismäßig kurz sind. Im Trea-
2 ) Curtius, F. Die allgemeine ererbte Venenwanddysplasie (Status
varicosus). Deutsches Archiv für klin. Medizin. Bd. 162. II. 5/6. S. 330. 1928.
a ) Siemens, PI. W. Die Krisis der Konstitutionspathologie. Münchn.
med. Wochenschr. 1934. Nr. 14. S. 515.
3 ) Curtius, F. und Scholz, E. Untersuchungen über das mensch-
liche Venensystem. Die medizinische Welt. 1935. Nr. 22.
+ ) Curtius, F. und P a s s , K. E. Untersuchungen über das mensch-
liche Venensystem. Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitu-
tionslehre. Bd. 19. H. 2. S. 175.
424 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
sury 1 ) sind 75 Sippcntafeln mit Cliondrodystrophie wieder-
gegeben. Einige von diesen zeigen dominanten Erbgang, z. B.
der von Hergott. Die Regel ist das aber nicht. Gerade
die schweren Formen der Chondrodystrophic scheinen auf re-
zessiven Erbanlagen zu beruhen. Frauen mit schwerer Clion-
drodystrophie haben so enge Becken, daß eine Geburt auf
natürlichem Wege nicht möglich ist. Dominante Anlagen, die
eine so schwere Chondrodystrophie bedingen würden, würden
daher alsbald wieder ausgemerzt werden. Eine Sippe mit
offenbar rezessiver Chondrodystrophie hat Kristine Bon-
nevie 2 ) veröffentlicht. Mit der Annahme rezessiven Erb-
gangs sind auch die meisten andern Sippentafeln über Chon-
drodystrophie vereinbar.
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Fig. 126.
Zwergwuchs nach II a n h a r t 3 ). (Ausschnitt.)
Bei Hunden wird leichte Chondrodystrophie in der Rasse der Dachs-
hunde oder Teckel weitergezüchtet. Ursprünglich wurden die Teckel ge-
züchtet, weil sie im Unterschied zu den langbeinigen Hunden in Fuchs- und
Dachsbauten hineinschlüpfen konnten. Dieser Umstand bedeutete in der Hand
des Züchters einen Erhaltungsvorteil für die chondrodystrophische Anlage
und sie wurde daher als Eigenschaft einer besonderen Rasse gezüchtet.
Unter dem Namen Zwergwuchs werden mehrere Zu-
stände zusammengefaßt, denen im Grunde nichts gemeinsam
1 ) Rieschbieth, H. und Bar rington, A. Dwarfism. Treasury
of Human Inheritance. Part. VII u. VIII. 1912.
2 ) B o n 11 e v i e , K. ArveLighetsundersokelser i Norge. Kristiania (Oslo)
1915.
3 ) Hanhart, E. Über heredodegenerativen Zwergwuchs. Archiv der
Julius-Klaus-Stiftung. Bd. 1. Ii. 2. Zürich 1925.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
425
ist, als abnorm kleine Körperlänge. Martin rechnet als Grenze
des Zwergwuchses für das männliche Geschlecht 130 cm, für
das weibliche 121 cm. Eine Art des Zwergwuchses ist der
soeben besprochene chondrodystrophische.
Am besten bekannt ist die von dem Züricher inneren Kli-
niker und Erblichkeitsforscher Ernst Hanhart klargestellte
Art des Zwergwuchses.
H an hart 1 ) beschreibt solche Zwerge aus der Gegend von Oberegg
im Kanton Appenzell. „Jedem, der in jene Gegend kommt, fallen die dorti-
gen, ganz proportioniert und intelligent aussehenden Zwerge auf, von denen
sich einige nicht ungern sehen lassen, um durch den Verkauf von Postkarten
oder Bedienung der Gäste in einer Wirtschaft aus ihrem Defekt einen kleinen
Gewinn zu schlagen. Die Eltern sowie die Mehrzahl der Geschwister dieser
85 bis 106 cm hohen Zwerge sind normal groß. Übergänge vom normalen
Wuchs zur Zwerghaftigkcit fehlen. Auch die Zwerge selbst sollen bei der
Geburt normal groß gewesen sein; von einer jetzt 105 cm großen 2 2j ähri-
gen Zwergin wurde mir berichtet, daß sie bei der Geburt volle 8 Pfund ge-
wogen hätte. Für alle Zwerge übereinstimmend lautet die Auskunft, daß die
Entwicklung zunächst normal vonstatten ging und der Wachstumsstillstand
erst im Verlaufe des dritten Lebensjahres einsetzte." Eine Sippentafcl nach
Ii a n h a r t gebe ich in Fig. 126 wieder.
Hanhart hat dieselbe Art Zwergwuchs auch im Sam-
nauntal (Unterengadin) und auf der Insel Veglia bei Fiume
gefunden, wo sie vorher fälschlich als „maritimer Kretinismus"
aufgefaßt worden war. Der Erbgang des Hanhart sehen
Zwergwuchses ist offensichtlich einfach rezessiv. Er kommt
demgemäß vorzugsweise in Inzuchtgebicten vor.
Der Hanhartsche Zwergwuchs beruht wahrscheinlich auf
einem erbbedingten Defekt des Hypophysenvorderlappens (hy-
pophysärer Zwergwuchs). Smith und MacDowell 2 ) ha-
ben bei Mäusen einen rezessiven Zwergwuchs gefunden, der
auf Hypoplasie des Hypophysenvorderlappens beruhte. Durch
Einpflanzung von Rattenhypophysen in die Beine konnte bei
jungen Tieren der Zwergwuchs ausgeglichen werden. Der
Hypophysenvorderlappen blieb aber natürlich verkümmert.
Die Bezeichnung „heredodegenerativer" Zwergwuchs ist zur Kennzeich-
nung des Hanhartschen Zwergwuchses nicht geeignet. Sie stammt aus einer
Zeit, als man sich noch nicht klar darüber war, daß auch die übrigen Arten
des Zwergwuchses ,, hereditär", d. h. erbbedingt sind; ,, degenerativ", d. h.
entartungerzeugend ist auch der hypophysäre Zwergwuchs nicht.
Im Gegensatz zum hypophysären Zwergwuchs äußert sieb
der sogenannte primordiale Zwergwuchs (v. Hanse-
J ) Ii an hart, E. Über die Bedeutung der Erforschung von Inzuchts-
gebieten usw. Schweizerische med. Wochenschr. 1924. H. 50.
2 ) Smi t h , P h. E. und MacDowell, E. C. An hereditary anterior
pituitary deficiency in the mousc. Anatomical Record. Bd. 46. 1930.
426 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
mann) schon bei der Geburt in abnormer Kleinheit des gan-
zen Körpers. Diese Zwerge weisen im erwachsenen Zustande
dieselben Körperproportionen auf wie normale Menschen, nur
mit dem Unterschied, daß sie eben viel kleiner sind.
Der rassenhafte Zwergwuchs der Pygmäen Afrikas und Inselindiens
ist von dem primordialen Zwergwuchs nicht wesensverschieden. Dort ist der
Zwergwuchs nicht als krankhaft anzusehen, da er eine selektive Anpassung
an kümmerliche Lebensbedingungen darstellt.
Bei Hunden wird primordialer Zwergwuchs aus Liebhaberei in Form be-
sonderer Rassen weitergezüchtet.
Eine weitere Art erblichen Zwergwuchses ist der inf an-
tilistische Zwergwuchs, bei dem der Schädel wie das
ganze Skelett bis ins Alter kindliche Formen bewahrt. Die
Knorpelfugen der Knochen verknöchern nicht, und auch die
Geschlechtsorgane bleiben auf kindlicher Stufe stehen; doch ist
es wohl nicht berechtigt, die Unterentwicklung der Keimdrüsen
als „Ursache" dieses Zwergwuchses aufzufassen. Auch die Hor-
monorgane (Drüsen innerer Sekretion) sind eben in der Erb-
masse angelegt, und ihre Unterentwicklung ist als ein Teil der
allgemeinen Unterentwicklung anzusehen. Der infantilistische
Zwergwuchs kann als extreme Form des Infantilismus aufge-
faßt werden. Kraft 1 ) hat aus zwei Verwandtenellen innerhalb
einer Sippe drei infantilistische Zwerge hervorgehen sehen. Das
spricht für rezessiven Erbgang.
Riese h biet h und Barringto n 2 ) haben im Treasury eine An-
zahl von Stammbäumen über Zwergwuchs („Ateleiosis" 3 )) zusammengestellt.
Dort sind aber die verschiedenen Ar-
ten des Zwergwuchses nicht genügend
unterschieden. 3 Sippcntafeln von Gil-
f o r d und L e v y über anscheinend
primordialen Zwergwuchs zeigen domi-
nanten (bzw. intermediären) Erbgang,
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Fig. 127.
Zwergwuchs nach Seile.
eine Sippentafel von Taruffi spricht
für rezessiven. In einem Falle stamm-
ten 14 normal wüchsige Kinder von
zwei zwerghaft kleinen. Eltern ab.
Man darf in diesem Falle wohl an-
nehmen, daß der Zwergwuchs der
Eltern nicht auf derselben, sondern auf
zwei verschiedenen rezessiven Erban-
lagen beruhte und daß bei den Kindern jede dieser Anlagen durch die
allele normale vom andern Elter her überdeckt wurde.
1 ) Kraft, A. Ein Beitrag zum Erbgang des Zwergwuchses (Nanoso-
mia infantilis). Münch. med. Wochenschr. 1924. H. 24.
3 ) A.a.O., vgl. S. 424.
3 ) ,,Ateleiosis" bezeichnet wörtlich einen Zustand, bei dem das Ziel der
Entwicklung nicht erreicht wird.
ANOMALIEN DER KÖRPERFORM.
427
Seile 1 ) hat über eine Sippe berichtet, in der leichter Zwergwuchs
dominant erblich war. Es bestätigt sich hier die Regel, daß innerhalb einer
Gruppe von Erbleiden die leichteren dominant (so auch die Brachydaktylie),
die schwereren rezessiv zu sein pflegen. Wie die „dominanten" Anlagen sich
bei Homozygoüe äußern würden, weiß man nicht, möglicherweise noch
schwerer krankhaft als die rezessiven oder selbst letal. Es ist also sehr wohl
möglich, daß eine derartige „dominante" Anlage, die sich im Gegensatz zu
den rezessiven schon in Einzahl äußert, im Grunde eine schwerere Störung
der Erbmasse darstellt.
Abgesehen von diesen seltenen krankhaften Erbanlagen
gibt es natürlich eine große Zahl normaler, die von Einfluß
auf die Körperlänge sind. Die Unterschiede innerhalb der Breite
des Normalen haben sich demgemäß als polymer erbbedingt
erwiesen 2 ).
Unter den inneren Drüsen übt besonders die Hypophyse einen Einfluß
auf die Körpergröße aus. Der hypophysäre Zwergwuchs als Folge einer
Hypoplasie des Hypophysenvorderlappens wurde schon besprochen. Bei über-
mäßiger Tätigkeit dieses Organs entsteht eine eigentümliche Art von Riesen-
wuchs, die in der Hauptsache die gipfelnden Teile wie Hände, Füße, Nase,
Kinn betrifft. Diese sogenannte Akromegalie ist nach Grote 3 ) häu-
tig erblich.
Auch die Schilddrüse beeinflußt das Wachstum. Bei dem auf Schild -
drüsemnangel beruhenden Myxödem bleiben die Kinder zwerghaft klein.
Personen mit Hyperthyreose dagegen sind im Durchschnitt größer als der
sonstige Durchschnitt. In Kropfgegenden ist der Kretinismus die häufigste
Ursache von Zwergwuchs. Charakteristisch ist dabei die Einziehung der
Nasenwurzel, die ein Ausdruck der Wachstumshemmung der Schädelbasis
ist und sich bei allen allgemeinen Wachstumshemmungen der Knorpelzonen
der Knochen findet, z. B. auch bei Chondrodystrophie. Schließlich haben
auch die Keimdrüsen (Gonaden) wesentlichen Einfluß auf die Körpergröße.
Die Rachitis kann durch Verlegungen der Knochen zu einer Beein-
trächtigung der Körpergröße führen. Der Begriff des „rachitischen Zwerg-
wuchses" ist aber sehr unkritisch ausgedehnt worden.
Der Situs viscerum in versus, ein seltener Zustand, bei dem
die Lage aller Organe zwischen rechts und links vertauscht ist, ist in ein-
zelnen Fällen bei Geschwistern beobachtet worden. In einem von Ochse-
nius 4 ) beschriebenen Falle stammten zwei Brüder mit Situs inversus aus
einer Vetternehe.
Linkshändigkeit ist nach den Zwillingsunter suchungen von Sie-
mens nicht in dem Maße in der erblichen Veranlagung begründet, wie man
das meist angenommen hatte. Siemens 6 ) hat 21 Paare eineiiger Zwil-
1 ) Seile, G. Über Vererbung des echten Zwergwuchses. Jena 1920
(Dissertation).
2 ) Davenport, C. B. Inherltance of Stature. Eugenics Record
Office. Bulletin Nr. 18. 1 9 1 7.
3 ) Grote, L. R. Grundlagen ärztl. Betrachtung. Berlin 1921. Springer.
4 ) Ochsenius, K. Über familären Situs inversus. Monatsschr. f.
Kinderheilkunde. Bd. 19. H. 1. 1921.
B ) Siemens, H. W. Über Linkshändigkeit. Virchows Archiv. Bd.
252. H. 1. 1924.
1<>
428
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
lingc gefunden, von denen der eine Zwilling rechtshändig, der andere links-
händig war, Weitz unter 18 Paaren 7. Es scheint überhaupt, daß von zwei
Zwillingen oft der eine rechts-, der" andere linkshändig ist. Man kann sich
vorstellen, daß Zwillingsfrüchte, die im Muttcrleibe benachbart liegen, vor-
zugsweise für die außen liegenden Hände Entwicklungsfreiheit haben.
Außerdem scheint bereits die erste Teilung in manchen Fällen eine Spiegel-
bildasymmetrie zur Folge zu haben. Die gesamte Häufigkeit der Linkshändig-
keit wird auf 4 bis 5 0/0 aller Erwachsenen und auf mindestens io°/o aller
Kinder angegeben. Ein erheblicher Teil linkshändiger Kinder wird unter
dem Einfluß der Erziehung später noch rechtshändig. Die Händigkeit ist
also weitgehend von äußeren Einflüssen abhängig.
f) Erbliche Diathesen (Anfälligkeiten).
Unter Diathesen verstehen wir abnorme Anfällig-
keiten gegenüber Einflüssen der Umwelt, die von normalen
Menschen ohne Schaden vertragen werden. In vielen Fällen
ist die Anfälligkeit so groß, daß schon die alltäglichen Um-
welteinflüsse zur Auslösung krankhafter Erscheinungen genü-
gen. Derartige Diathesen äußern sich daher an allen da-
mit behafteten Individuen. Schwächere Diathesen dagegen
können unter günstigen Umweltbedingungen dauernd verbor-
gen bleiben.
Besonders eindrucksvoll äußern sich allerlei Diathesen im
Kindesalter. Daher pflegen in erster Linie die Kinderärzte von
Diathesen zu sprechen. Grundsätzlich aber sind Diathesen kei-
neswegs auf das Kindesalter beschränkt; und nicht wenige Dia-
thesen pflegen sich erst in einem bestimmten höheren Alter zu
äußern. Zunächst sollen hier aber jene erblichen Diathesen
besprochen werden, die sich vorzugsweise im Kindesalter gel-
tend machen.
Die Erforschung des Erbgangs gerade der kindlichen Diathesen be-
gegnet großen Schwierigkeiten. Eine dieser Schwierigkeiten liegt darin, daß
manche Diathesen unter günstigen Umweltverhältnlssen dauernd verborgen
bleiben können. Eine weitere liegt in dem Umstände, daß die Eltern zur
Zeit der Untersuchung meist keine Zeichen mehr davon zeigen und ihre An-
gaben über die eigene Kindheit nur mit großer Vorsicht zu verwerten sind.
Dazu kommt noch die weitere Schwierigkeit, daß eine endgültige Abgren-
zung und Unterscheidung der Diathesen erst nach Klarstellung ihrer erb-
biologischen Beziehungen möglich wäre. Die vorerst allein mögliche Ein-
teilung nach den klinischen Krankheitszeichen kann daher nur eine vor-
läufige sein (v. Pfaundler 1 )). Genauere Aufklärung der Erbbedingtheit
der kindlichen Diathesen ist von der Zwillingsforschung an Säuglingen und
Kleinkindern zu erwarten.
*) v. Pfaundler, M. Über Wesen und Behandlung der Diathesen im
Kindesalter. Wiesbaden. Bergmann 191 1.
ERBLICHE DIATHESEN.
429
Am bekanntesten ist die sogenannte exsudative oder
entzündliche Diathese. Damit behaftete Säuglinge werden
leicht wund und neigen zu Entzündungen und juckenden Aus-
schlägen der Haut. Auf dem Kopf bilden sich leicht Schuppen
und Borken, auf den Wangen der sogenannte „Milchschorf".
Aber auch die Schleimhäute sind abnorm empfindlich. Die
Kinder neigen zu katarrhalischen und asthmatischen Beschwer-
den. Die ausgesprochene familienweise Häufung der exsuda-
tiven Diathese spricht für dominante Erbanlagen; doch sind
auch andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Nach
Czerny und v. Pfaundler wird die Anlage häufiger von
den Müttern als von den Vätern übernommen. Weibliche Über-
träger der Erbanlage können nach v. Pfaundler anschei-
nend von der Diathese freibleiben. Ein erheblicher Teil der
Erbanlagen, die exsudative Diathese bedingen können, scheint
also rezessiv geschlechtsgebunden zu sein. Damit stimmt die
Erfahrung überein, daß viel mehr Knaben als Mädchen da-
von betroffen werden, v. Pfaundler fand unter 200 Fällen
?
Fig. 128.
Neigung zu Hautentzün-
dungen (Ekzem) im Kindesalter.
Aus Material v. Pfaundlers.
Fig. 129.
Neigung zu Schleimhaut-
katarrhen im Kindesalter.
Aus Material v. Pfaundlers.
ein Zahlenverhältnis von 2 Knaben: 1 Mädchen. Es bestehen
Beziehungen zu den Allergien (s. d.). Erbanlagen, die sich im
Säuglingsaltcr in exudativen Ekzemen äußern, können im spä-
teren Leben die Grundlage anderer allergischer Reaktionen
abgeben.
Die dystrophische Diathese besteht in einer ab-
normen Anfälligkeit gegenüber Ernährungsstörungen im Säug-
lingsalter. „Günstig veranlagte Säuglinge gedeihen oft in mu-
stergültiger Weise bei einem Ernährungsregime., das jedem
Kinderarzte die Haare zu Berge stehen läßt" (v. Pfaundler).
Andere sind sehr empfindlich gegen artfremde Milch, z. B.
tf
9
430 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Kuhmilch (Heterodystrophie nach v. Pfaundler). Anderer-
seits kommen — wenn auch selten — Säuglinge vor, die nicht
einmal die Milch der eigenen Mutter vertragen 1 ). Die schweren
Ernährungsstörungen des Säuglingsalters sind zum großen
Teil weniger Folgen unzweckmäßiger Nahrung als vielmehr
dystrophischer Diathese. Das gilt auch mindestens von einem
Teil jener Zustände völligen Ver-
sagens der Ernährung, die als De-
komposition (früher meist „Atro-
phie") bezeichnet werden. Auch die
Neigung zu starken Schwankungen
des Wassergehaltes und damit des
Gewichtes („Tropholabilität") kann
man in diese Gruppe rechnen. F ried-
jung 2 ) hat gefunden, daß die Eltern
von Brustkindern, die trotz aller
Pflege an Ernährungsstörungen lit-
ten, in der großen Mehrzahl ebenfalls unter Verdauungsstö-
rungen zu leiden hatten, während die Eltern ungestört ge-
deihender Brustkinder zum allergrößten Teil eine gute Ver-
dauung hatten. Das spricht für starke Beteiligung dominanter
Erbanlagen an der dystrophischen Diathese.
Eineiige Zwillinge pflegen in der gleichen Weise zu gedeihen. Die
Kurve ihrer Gewichtszunahme stimmt meist über ein. Perioden des Stillstands
oder des Rückschlags püegen bei beiden gleichzeitig aufzutreten, vor allem
auch Ernährungsstörungen 3 ) 4 ). Bei zweieiigen Zwillingen ist diese Überein-
stimmung viel geringer, ein Beweis, daß sie nicht nur durch die gleichartige
Haltung bedingt ist.
Die lymphatische D i a t h e s e äußert sich im Kindes-
alter in abnormer Größe der Mandeln, der Lymphdrüsen am
Halse sowie sonstiger lymphatischer Organe („Status lympha-
ticus"). Diese Kinder neigen meist zugleich zu Schleimhaut-
Fig. 130.
Dystrophische Diathese.
Nach v. Pfaundler.
1 ) Zum Teil ist Unbckömmlichkeit der Mutterbrust allerdings auch
durch unzweckmäßige Ernährung der Mutter veranlaßt.
2 ) Fricdj ung, J. K. Ernährungsstörungen der Brustkinder und
Konstitution. Zeitschrift für Kinderheilkunde 1913.
3 ) Rohr, F. Über eineiige Zwillinge. Zeitschrift für Kinderheilkunde.
Bd. 26. S. 304. 1920.
— Ernährungsstörung gleichartigen Verlaufs bei eineiigen Zwillingen.
Deutsche med. Wochenschr. 1923. Nr. 28.
4 ) Lehmann, W. Zwiüingspathologischc Untersuchungen über die
dystrophische Diathese. Bericht über die 11. Jahresversammlung der Deut-
schen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft. Leipzig 1935. Borntraeger.
S. 128.
ERBLICHE DIATHESEN.
431
katarrhen und Mandelentzündungen sowie zu pastösem Aus-
sehen infolge übermäßigen Wassergehalts der Gewebe. Wenn
Kinder von lymphatischer Konstitution an Tuberkulose erkran-
ken, so pflegt diese sich unter dem Bilde der sogenannten
Skrophulose zu entwickeln, die vorzugsweise die Drüsen be-
fällt. Auch die lymphatische Diathese beruht anscheinend zum
großen Teil auf dominanten Erbanlagen.
Man hat auch gemeint, daß damit ein abnormes Bestehenbleiben dci
Thymusdrüse über das Kindesalter hinaus zusammenhänge („Status Üiymico-
lymphaticus") und hat Todesfälle bei geringfügigen Anlässen wie kleinen
Operationen oder ganz ohne erkennbare Ursache, weiter seelische Anomalien
und Neigung zu Selbstmord darauf zurückführen wollen. Nach neueren Er-
fahrungen scheint diese Auffassung aber nicht haltbar zu sein. Wenn bei
plötzlich verstorbenen jungen Leuten die Thymusdrüse in voller Erhaltung
gefunden wird, bei solchen, die an längerer Krankheit starben, aber nicht, so
scheint das einfach darauf zu beruhen, daß bei längerer Krankheit die Thy-
musdrüse besonders stark abmagert.
Chronische Lymphdriisenvcr-
größerung. Nach Material
v. Pfaundlers.
Fig. 132.
Chronische L y m p h -
d r ü s e n v e r g r ö ß c r ung
(($) und Neigung zu
S c h 1 c i m h a u t k a t a r r h e n
(©) oder beides (®). Nach
Material v. Pfaundlers.
Wenn im Vordergrunde des Krankheitsbildes eine Vergrö-
ßerung der Lymphapparate des Rachens und besonders der
Mandeln steht, so spricht man von adenoider Konstitu-
tion. Durch abnorme Größe der Rachenmandel wird die
Nasenatmung erschwert. Da die betreffenden Kinder vorzugs-
weise durch den Mund atmen, soll der Oberkiefer eng, der
Gaumen schmal und spitz gewölbt werden. Zum Teil dürfte
der Zusammenhang aber auch dahin zu deuten sein, daß der
enge Gaumen ein unmittelbarer Ausdruck derselben erblich be-
dingten Schmalheit des Oberkiefers ist, die sich auch in der
Enge des Nasenrachenraumes äußert.
Adenoide Konstitution disponiert zu Mittelohrentzündung
und damit indirekt zur Schwerhörigkeit. Manche Ärzte sind
432
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
& 9
C?
9 o*9 cT 9 5
f 9
9 9 9
o 1
der Meinung, daß sie auch die geistige Entwicklung beein-
trächtigt.
Die lymphatische bzw. adenoide Veranlagung scheint besonders im Kü-
stengebiet Nordwesteuropas verbreitet zu sein. Nach Peyser 3 ) war unter
8oo ooo holländischen Schulkindern 6% abnorme Größe der Mandeln schon
äußerlich anzusehen. Lymphatische Kinder aus dem Binnenland schickt man
an die See, weil der Aufenthalt an der See erfahrungsgemäß günstig wirkt.
Vielleicht hat sich gerade darum im Küstengebiet die lymphatische Anlage
so stark ausbreiten können. Die Anlage besteht vielleicht in abnorm empfind-
licher oder abnorm starker Reaktionsfähigkeit der Lymphapparate auf die
Erreger katarrhalischer Infektionen. Die Nasenatmung wird natürlich um
so leichter behindert, je schmaler die Nase gebaut ist; und gerade die nor-
dische Rasse zeichnet sich durch Schmalheit der Nase aus. Vermutlich rührt
es daher, daß näselnde Sprache als Zeichen von Adel galt und nachge-
ahmt wurde.
Siemens und Weitz
haben bei ihren Zwillings-
untersuchungen gefunden,
daß eineiige Zwillinge in
bezug auf die Größe der
Mandeln bzw. das Vorhan-
densein adenoider Wuche-
rungen regelmäßig über-
einstimmen. Aus eigener
Erfahrung kann ich eine
Sippentafel beibringen, in
dem sich adenoide Kon-
stitution bei anscheinend
dominantem Erbgang durch vier Generationen verfolgen
läßt.
Von einer Besprechung der „vagotonischen" bzw. „eosinophilen" und
der „neuropathischen" Diathesen in diesem Zusammenhange sehe ich ab.
Von den betreffenden krankhaften Anlagen wird bei. den Allergien bzw.
den Psychopathien die Rede sein.
Zustände entzündlicher, dystrophischer, lymphatischer, va-
gotonischer und neuropathischer Diathese treten häufiger ge-
meinsam auf, als nach der Häufigkeit der einzelnen Zustände
zu erwarten wäre. So zeigten in einem Materiale v. Pfaund-
lers 1 ) unter 55 lymphatischen Kindern 44, d. h. ca. 80% zu-
gleich entzündliche Erscheinungen, und 25, d. h. ca. 45°/°> zu "
gleich psychopathische. Durch solche Erfahrungen sind raan-
O 1 «f 9
Hg- 133-
Adenoide Konstitution.
Eigene Beobachtung.
i) Peyser, A. Hals-, Nasen-, Ohrenleiden. In Grot Jahns ,, Sozialer
Pathologie". 2. Aufl. Berlin 1923. J. Springer.
2 ) v. Pfaundler, M. Kindliche Krankheitsanlagen (Diathesen) und
Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zeit sehr. f. Kinderheilkunde 1912.
ERBLICHE DIATHESEN.
433
che Ärzte verführt worden, den Begriff der „exsudativen Dia-
these" übermäßig weit zu fassen und auch noch alle die übri-
gen genannten Zustände, außer den entzündlichen, dazu zu
rechnen. Demgegenüber hat v. Pfaundler gezeigt, daß
solche „kombinierten" Diathesen in eine Anzahl einzelner Dia-
thesen aufzulösen sind, die sich miteinander nach dem Gesetz
der Wahrscheinlichkeit, also wie unabhängige Erbeinheiten,
kombinieren. Das unverhältnismäßig häufige Zusammentref-
fen mehrerer dieser Zustände erklärt sich daraus, daß gewisse
Erbanlagen mehrere solcher Zustände zugleich bedingen kön-
nen, andere aber nur einzelne, v. Pfaundler hat darauf
hingewiesen, daß ja auch andere erbliche Merkmale wie z. B.
die Farben von Haar, Auge und Haut in Korrelation stehen,
aber nicht in absoluter. Gewisse Erbanlagen bedingen zugleich
Pigmentbildung in Haar, Auge und Haut oder in zweien die-
ser Organe, andere nur im Haar, nur im Auge oder nur in der
Haut (vgl. oben S.332). Zum großen Teil auf dieselbe Weise
dürften auch die Korrelationen der verschiedenen Diathesen
zu erklären sein. Auch kann die Äußerung einer Anlage zur
Auslösung einer andern beitragen. So bewirken entzündliche
Erscheinungen der Haut und der Schleimhäute (juckender
Ausschlag, Bronchialkatarrh) natürlich leicht auch Störungen
des psychischen Befindens, die ohne jene andere Anlage viel-
leicht nicht in die Erscheinung getreten wären. Pastöse Auf-
schwemmung der Haut infolge dystrophischer oder lymphati-
scher Diathese bringt zugleich eine Anfälligkeit der Haut zu
entzündlichen Veränderungen mit sich.
Zum Teil können wohl auch klinisch wesensgleiche Krank-
heitsbilder durch ErbanLagcnvon verschiedenem Erbgang bedingt
sein. Die entzündlichen Reaktionen z. B., die bei entzündlicher
Diathese auftreten, sind ja nicht nur durch eine einzige oder
durch einige wenige krankhafte Erbanlagen bedingt, sondern
sie liegen ihrer Möglichkeit nach offenbar auch in „normalen"
Erbmassen begründet, nur mit dem Unterschied, daß sie hier
nicht durch die alltäglichen Einflüsse der Umwelt, sondern erst
durch starke entsprechende Reize ausgelöst werden. Vermut-
lich gibt es gewisse Erbanlagen, die als Verstärker (Aktiva-
toren, SensibiUsatoren) leichter — sonst unwirksamer — Reize
wirken, derart, daß diese bei Vorhandensein einer derartigen
Erbanlage doch schon zu entzündlichen Erscheinungen führen.
Eine derartige Erbanlage wäre praktisch dann eine Anlage zu
entzündlicher Diathese. Wenn eine solche Verstärkung der
K a u r - F > s c h e r - 1, e n z I. 28
434 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLAGEN
Reize nur bei Vorhandensein zweier gleichartiger Erbanlagen
eintreten würde, so würde es sich um rezessive Erbanlagen zrj
entzündlicher Diathese handeln; wenn aber schon eine ein-
zige dazu genügen würde, würde sie als dominante Erbanlage
zu entzündlicher Diathese angesehen werden. Dabei würde
aber die Möglichkeit zu den entzündlichen Reaktionen im
Grunde auch schon in normalen Erbmassen gegeben sein,
aber erst im Zusammenwirken mit stärkeren äußeren Schäd-
lichkeiten. So kann derselbe Zustand bald durch dominante,
bald durch rezessive Erbanlagen und bald auch nur durch
äußere Einflüsse verursacht erscheinen. Das scheint mir von
grundsätzlicher Bedeutung auch für manche andere krankhaf-
ten Zustände zu sein 1 ).
Ja mehr noch: die in der normalen Erbmasse gelegene
Möglichkeit entzündlicher Reaktionen ist offenbar erhaltungs-
gemäß, indem sie der Abwehr bzw. der Heilung von Schäden
dient. Man muß also daran denken, daß das Fehlen solcher
Reaktionsmöglichkeiten oder ihre zu große Schwäche geradezu
krankhaft sein und zwar auf krankhafter Erbanlage beruhen
kann. Möglicherweise sind also Kinder, die auch bei sehr un-
natürlicher Nahrung gut zu gedeihen scheinen oder die trotz
starker Reizung der Haut keine Entzündungserscheinungen be-
kommen, im Grunde krankhaft veranlagt. Vermutlich fehlen
ihnen Reaktionsmöglichkeiten, die in andern Lebenslagen le-
bensrettend wären. Daher ist weder eine besonders große
noch eine besonders kleine Empfindlichkeit der Reaktionen
eigentlich normal, sondern vielmehr Grade, die zwischen diesen
Extremen liegen.
Als rachitische Diathese bezeichnen wir die An-
lage zur Rachitis oder „englischen Krankheit". Diese be-
ruht auf einer Störung der Knochenbildung bzw. des Kalk-
stoffwechsels im Säuglings- und Kleinkindcsalter. Schon ge-
bildeter Knochen kann wieder entkalkt und dadurch weich und
biegsam werden. Die Folge sind oft starke Verbicgimgen der
Beine, des Beckens und anderer Skeletteile. Auch die Zahn-
bildung wird gestört. Männliche Kinder werden häufiger be-
fallen als weibliche.
Zum guten Teil wird die Rachitis durch Umweltschäden
veranlaßt, durch Mangel an Licht und durch unzweckmäßige
*) Zu meiner Freude hat v. Pfaundler diesen meinen Ausführungen
zugestimmt in seinem Beitrag „Konstitution und Konstitutionsanomalien"
zum Handbuch der Kinderheilkunde von v. P faundler und Schloß-
mann. 4. Aufl. Bd. 1. S. 645. Berlin 1 93 1 .
ERBLICHE DIATHESEN.
435
Ernährung. Auf der Suche nach einem „Vitamin D", dessen
Fehlen in der Nahrung Rachitis verursachen sollte, hat "Wind-
aus ein Lipoid entdeckt, das Ergosterin, das durch Sonnen-
bestrahlung die Fähigkeit erwirbt, vorbeugend und heilend
auf die Rachitis zu wirken. Trotz dieser klaren Bedeutung
von Umwelteinflüssen erkranken durchaus nicht alle Kinder
bei einseitiger Ernährung und Mangel an Licht in gleicher
Weise an Rachitis. Häufigkeit und Schwere der Rachitis
werden nach v. Pfaundler vielmehr in erster Linie durch
erbliche Veranlagung bestimmt 1 ). Es gibt Familien, in denen
auch bei guter Pflege mehrere oder alle Kinder schwer rachi-
tisch werden, und andere, in denen auch unter ungünstigen
Verhältnissen keines rachitisch wird. Siegert 3 ) hat lehr-
reiche einschlägige Familiengeschichten mitgeteilt. Siegert
und Eigoocl haben auch Fälle beschrieben, wo eine gesunde
Mutter von einem Manne, der in der Kindheit Rachitis durch -
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Fig. 134.
Allgemeine Rachitis. Nach Z i e s c h.
gemacht hatte, mehrere schwer rachitische Kinder, vorher und
nachher aber von einem nicht rachitischen Manne normale
Kinder bekam. Eine derartige Sippe hat auch Ziescli be-
kanntgegeben.
Aus den von Ziesch 3 ) beigebrachten Sippentafeln geht
hervor, daß die Rachitis keine solche biologische Einheit ist,
wie man bisher meist angenommen hat. In manchen Sippen
ist nicht Rachitis im allgemeinen erblich, sondern es finden
*■) Pfaundler, M. Ist die Rachitis eine Avitaminose ? Wiener klini-
sche Wochenschr. 1930. Nr. 21.
2 ) S i e g c r t. Beitrag zur Lehre von der Rachitis: die Erblichkeit.
Jahrbuch f. Kinderheilkunde 1903.
3 ) Ziesch, H. Statistisch-genealogische Untersuchungen über die Ur-
sachen der Rachitis. Archiv für Rasscnbiologic. Bd. 17. FI. 1. 1925.
436
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
sich in einer Sippe Rückgratverbiegungen, in einer zweiten
enge Becken, in einer dritten große eckige Schädel, in einer
vierten X-Beinc gehäuft usw. Einige von diesen Sippentafeln
gebe ich an anderen Stellen wieder, da mir die Zugehörigkeit
zur Rachitis fraglich erscheint.
Eineiige Zwillinge stimmen nach Auftreten und klinischem
Bild der Rachitis weitgehend überein (Siemens, Weitz,
v. Verschuer, Lehmann 1 ), zweieiige weniger.
Mit der rachitischen steht die spasmo phileDiathese
in Korrelation, insofern als die Krämpfe des Säuglingsaltcrs
(„Fraisen", „Eklampsie", „Tetanie") fast nur bei rachitischen
Kindern vorkommen, u. a. auch der Stimmritzenkrampf. In
manchen Familien geht die Mehrzahl der Kinder daran zu-
grunde. Nach T hie mich, und Birk 2 ) weisen spasmophiie
Individuen auch im späteren Leben meist Anomalien auf.
Audi die Tetanie der Erwachsenen, die auf einem Versagen der
Epithelkörperchcn neben der Schilddrüse beruht, wurde in einigen Familien
mehrfach beobachtet 3 ). , : ,
Unter h y p e r t h y r e o t i s c h e r D i a t h e s e verstehe ich
eine Veranlagung zu übermäßiger Tätigkeit der Schilddrüse,
die eine Überhastung des Stoffwechsels zur Folge hat und in
schweren Fällen zum Bilde der sogenannten Basedow-
schen Krankheit führt. Das regelmäßigste Zeichen ist eine
dauernde Beschleunigung des Herzschlages, sodann ein f ein-
schlägiges Zittern der Finger. Ein Hyperthyreotischer gleicht
einem Menschen, der vor Laufen außer Atem ist (ITerzjagen,
Beschleunigung des Stoffwechsels, warme feuchte Haut, Zit-
tern, seelische Erregung). Die Leistungsfähigkeit ist entspre-
chend gering. Infolge dauernder Überanstrengung des Her-
zens tritt Flerzvergrößemng und schließlich öfter ein Ver-
sagen des Herzens ein. Die Schilddrüse ist auch äußerlich
vergrößert; die Augäpfel sind meist vorgetrieben („Glotz-
augenkrankheit"). Bei den meisten Anlageträgern scheint es
nicht zum Bilde der typischen Basedowschen Krankheit zu
kommen; der Verlauf ist vielmehr meist ein chronischer, über
Jahre und Jahrzehnte sich hinziehender.
A ) Lehmann, W. Die Bedeutung der Erbveranlagung bei der Ent-
stehung der Rachitis. Zeit sehr. f. Kindcrheilk. Bd. 57. H. 7. 1936. S. 603.
2 ) T h i c m i c h u. B i r k. Über die Entwicklung eklamp tischer Kinder
in späterer Kindheit. Jahrbuch für Kinderheilkunde 1907.
3 ) Kehr er, F. A. Zur Pathogenese der Tetanie. Klinische Wochen-
schrift. 1925. Nr. 40.
ERBLICHE DIATHESEN,
437
Die Basedowsche Krankheit findet sich etwa 1 imal so häufig bei Frauen
als bei Männern. Die Anlage gelangt bei Frauen häufiger und schwerer zur
Entfaltung, ähnlich wie auch der nicht erbliche Kropf viel häufiger und aus-
gesprochener bei Frauen als bei Männern gefunden wird. Die weniger aus-
gebildeten Formen der Hyperthyreose sind auch bei Männern keineswegs
selten. Über die Erblichkeit der Basedowschen Krankheit ist bisher wenig
bekannt geworden 1 ). Einige Anzeichen sprechen für dominanten Erbgang
einer Anlage, die zu ihrer Auslösung noch gewisser äußerer Ursachen be-
darf, über deren Natur freilich auch nichts Gewisses bekannt ist. Umfas-
sende Sippenforschungen, die wohl Licht in diese Frage bringen konn-
ten, fehlen bisher leider.
S i t t m a n n hat berichtet, daß in den baltischen Provinzen Basedow-
sche Krankheit familiär vorkomme, aber nur in der germanischen Ober-
schicht. Andererseits kommt bei uns die Krankheit häufiger bei Juden als
bei NichtJuden vor. Bei regsamen Rassen kommt es leichter als bei trägen zu
Überlastungen des Stoffwechsels.
Fig. 13 S-
Hyperthyreose. Eigene Beobachtung.
Als Kropf (Struma) wird jede Vergrößerung der
Schilddrüse bezeichnet. Bei dem gewöhnlichen Kropf ist die
Tätigkeit der Schilddrüse indessen nicht gesteigert wie bei der
Hyperthyreose, sondern im Gegenteil herabgesetzt. Das eigent-
liche Drüsengewebe ist nur in den leichteren Fällen deutlich
vermehrt. Bei den schwereren Fällen beruht die Vergrößerung
hauptsächlich auf kolloider Substanz und auf bindegewebigen
Knoten. Man unterscheidet einen endemischen Kropf,
der in den Alpenländern, aber auch im Bergland Süddeutsch-
lands stark verbreitet ist, von einem sporadischenKropf,
der auch in der norddeutschen Tiefebene und in Küstenstri-
chen gelegentlich beobachtet wird, im weiblichen Geschlecht
kommt Kropf häufiger und im Durchschnitt hochgradiger vor
als im männlichen.
2 ) Schultheiß, E. Über Erblichkeit des Morbus Basedowii. Jena
1909 (Dissertation).
Goldberg, E. Über die Erblichkeit der Basedowschen Krankheit.
Berlin 1910 (Dissertation),
438 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Der Erbgang in einer Sippe, in der Siemens 1 ) in sonst kropffreier
Gegend Kropf durch 6 Generalionen verfolgen konnte, spricht für eine
dominante Anlage; es waren nur Frauen beiallen, und die Vererbung war
nur in weiblicher Linie zu verfolgen. In einer von Agnes Blüh m 2 ) be-
schriebenen Sippe schien die im ganzen dominante Anlage auch durch
gesunde Männer übertragen zu sein.
Der endemische Kropf, der in manchen Gegenden
so häufig ist, daß dort die allermeisten Frauen Kröpfe haben,
wird vorzugsweise durch die Umwelt verursacht. Auch in eigent-
lichen Kropfgegenden tritt der Kropf zwar ausgesprochen fa-
milienweise auf. Diese Unterschiede scheinen aber nicht durch
die Erbmasse, sondern durch lokale, bisher nicht näher be-
kamiteUmwclteinflüsse bedingt zu sein, wie besonders Eugst er 2 )
in eingehenden Untersuchungen gezeigt hat. Bemerkenswerter-
weise gibt es in Endemiegebieten kropffreie Dörfer und in Kropf-
dörfern kropffreie Häuser, andererseits auch Häuser mit be-
sonders gehäuftem und schwerem Kropf. Eugster, der über
ausgedehnte Erfahrungen verfügt, ist der Ansicht, daß die
kropfzeugende Noxe nicht durch das Trinkwasser aufgenom-
men werde, auch nicht mit der Nahrung; die Wohn- und Schlaf-
stätten seien bestimmender als die Kost 3 ). Lang 4 ) hat in
drei Untersuchungsreihen einen Zusammenhang zwischen Kropf-
häufigkeit und Radioaktivität des Bodens gefunden; doch
warnt er selbst vor weitgehenden Schlüssen.
Jodmangcl begünstigt die Entstehung von Kropf, verur-
sacht ihn aber nicht eigentlich. Kleinste Jodgaben wirken bis
zu einem gewissen Grade vorbeugend und heilend.
Außer der direkten Wirkung der Umwelt ist für die Ent-
stehung des Kropfes auch eine Wirkung über die Mutter von
Bedeutung. Kropfleidende Mütter bekommen meist auch krop-
fige Kinder; und zwar pflegt die Schädigung der Kinder mit
der Geburtennummer bis etwa zum fünften Kinde anzusteigen.
Es handelt sich dabei anscheinend um eine plasmatische Übertra-
L ) Siemens, H. W. Die Erblichkeit des sporadischen Kropfes. Zeit-
schrift für induktive Abstämmlings- und Vererbungslehre 1917.
2 ) Bluhm, A. Zur Erblichkeitsfrage des Kropfes. ARGB. Bd. [4.
H. 1. 1922.
3 ) Eugster, J. Über den Verlauf der Kropfendemie in einigen
Schweizer Dörfern nach 20 Jahren. Archiv für Hygiene. 1933.
Eugster, J. Zur ErbJichkeitsfragc der endemischen Struma. Archiv
der Julius-Klaus-Sliftung. Bd. 9. II. 3/4. 1934- S. 275.
4 ) Lang, Tri. Ergebnisse einer ersten (zweiten, dritten) Messungs-
serie zur Frage des Zusammenhangs zwischen Radioaktivität und Kropf.
Zeitschr . für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 141. H. 1/2,
Bd. 144. H. 3/4, Bd. 149. H. 5.
ERBLICHE DIATHESEN.
439
gung (Paraphoric im Sinne von Siemens), die durch das
Plasma des Eies, also nicht durch die im Kern lokalisierte Erb-
masse, erfolgt. Während der Schwangerschaft, wo die Eier-
stöcke ruhen, scheint sich die Wirkung der kropferzeugenden
Schädlichkeit anzuhäufen. Daher werden die Kinder häufiger
bzw. schwerer betroffen, wenn schon mehrere Schwangerschaf-
ten vorangegangen sind. Wenn eine kropfleidende Frau in eine
kropffreie Gegend abwandert, so nimmt die Kropfgefährdung
der Kinder allmählich wieder ab. Diese Tatsachen zeigen, daß
die erbliche Veranlagung für die Entstehung- des endemischen
Kropfes keine große Bedeutung hat. Eine geringe Mitwirkung
der Erbanlage deutet sich nur darin an, daß zweieiige Zwil-
linge in ihrem Verhalten zum Kropf nicht ganz so sehr überein-
zustimmen pflegen als eineiige (Eugster, nach persönlicher
Mitteilung).
Als Kretinen bezeichnet man gewisse in Kropfgegen-
den vorkommende zwerghaft kleine und geistesschwache In-
dividuen, die noch durch einige weitere ZSigc gekennzeichnet
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Fig. 136. Kretinismus nach v. P f a u ndle r. (Umgezeichnet.)
Die mit einem Punkt im Kreise bezeichneten Individuen waren nur mit
Kropf behaftet.
sind (unentwickelte Geschlechtsorgane, eingezogene Nasenwur-
zel u. a.). Der Kretinismus tritt ausgesprochen familiär
auf; und zwar sind meist mehrere Kinder, die in der Geschwi-
sterreihe aufeinander folgen, zumal die späteren, unter Umstän-
den auch die ganze Reihe befallen. Die Mütter kretinischer
Kinder sind in der Regel mit Kropf behaftet. Eine Familien-
tafcl nach v. Pfaundler 1 ) zeigt Eig. 136.
Verwand lenehen finden sich bei den Eltern von Kretinen nicht in über-
durchschnittlicher Häufigkeit 8 ). Es geht also nicht an, den Kretinismus auf
„Inzucht" zurückzuführen.
1 ) v. Pia u ndler, M. Über die Entstchungsbedingungcn von endemi-
schem Kropf und Kretinismus. Jahrb. f. Kinder heilk. Bd. 105. S. 223. 1924.
a ) Sc hw alber, L. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und
Psychiatrie. Bd. 132. H. 1/2. 1931. S. 227.
440
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERDANLAGEN
Gegenüber Finkbeinc r 1 ), der in einem sonst wertvollen Buche einen
Zusammenhang zwischen Kropf und Kretinismus leugnet, ist -zu betonen, daß
eine Korrelation zwischen beiden Zuständen unzweifelhaft besteht. Aus einem
Bcobachtungsmaterial Pfaundlers über ca. 34 500 Kinder ergibt sich ein
Kürrelationskoeffizient von 0,31+ 0,00 für Kropf und Kretinismus am glei-
chen Individuum. Die Korrelation zwischen Kretinismus des Kindes und
Kropf der Mutter ist sogar noch höher. Der Kretinismus scheint durch plas-
matische Übertragung (Paraphoric) derselben Schädlichkeit, die auch Kropf
erzeugt, von der Mutier her zustande zu kommen und zwar durch besonders
hochgradige Wirkung der Kropfnoxe.
Fink beiner hat den Kretinismus als Erscheinung einer geographi-
schen Rasse zu deuten gesucht. Es ist in der Tat auffallend, daß der Kreti-
nismus hauptsächlich in Bevölkerungen beobachtet wird, die in ihrer Er-
scheinung Anklänge, an Merkmale der mongoliden Rassen zeigen oder wirk-
lieh von mongolider Rasse sind (Alpen und Mittelgebirge Europas, Poebcne,
zentral- und ostasiatische Gebirge, nord- und südamerikanische Gebirge).
Vielleicht sind diese Bevölkerungen auf Genügsamkeit und trägen Stoffwech-
sel und damit auf schwache Schilddrüsenfunktion gezüchtet. Damit könnte
auch das Bild der sogenannten , .alpinen Rasse" zusammenhängen. Eine
Karte der Kropf Verbreitung hat Lcbzelter s ) gegeben.
Das Myxödem, das auch als „sporadischer Kretinismus" bezeichnet
wird, entsteht infolge Ausfalls der Funktion der Schilddrüse. Es ist also
die der Hyperthyreose gerade entgegengesetzte Störung. Die Schilddrüse
fehlt entweder von Geburt an oder sie versagt schon in den ersten Kinder-
jähren. Je nach dem Alter, in dem der Schilddrüsenausfall einsetzt, sind die
Folgen verschieden schwer. Durch Verabreichung tierischen Schllddrüsen-
saftes läßt der Zustand sich günstig beeinflussen- So kann es gelingen,
Zwergwuchs und Schwachsinn, die sonst unweigerlich eintreten, bis zu einem
gewissen Grade zu verhüten.
Familiäres Auftreten von Myxödem ist von Zocpff el 3 ) und von
Herr mann 11 ) beschrieben worden. H e 1* r m a n n hat einmal Myxödem
bei drei unter 11 Kindern und ein zweites Mal bei. drei unter 12 Kindern
gesunder Eltern beobachtet. In 5 unter 50 Fällen waren die Eltern bluts-
verwandt. Es scheint sich um eine einfach rezessive Anlage zu handeln.
Als mongoloide Idiotie wird ein Zustand angeborener Geistes-
schwäche bezeichnet, der dem Myxödem äußerlich ähnlich ist und durch
Schiefstellung der Augen, eingezogene Nasenwurzel und dicke, vorstehende
Zunge gekennzeichnet ist. Die meisten mongoloiden Idioten sterben schon
im Kindcsa.lt er; selten erreicht einer das 25. Lebensjahr. Eine deutliche fami-
liäre Häufung hat nicht aufgefunden werden können 5 ). Bei 18 Paaren un-
gleichgeschlechtiger Zwillinge, deren einer ein mongoloider Idiot war, war
der andere stets frei von dem Leiden. Von 29 gleichgeschlechtigen Paaren
!) Finkbeiner, E. Die kretinische Entartung. Berlin 1923. J. Springer.
2 ) Lebzelter, V. Konstitution und Rasse. InBrugsch und Lcvy
„Biologie der Person". Bd. 1. S. 749. Berlin und Wien 1926.
3 ) Zoepffel, PI. Familiäres kongenitales Myxödem. Zeitschrift für
Kinderhellkunde. Bd. 36. H. 4. 1922.
*) Herrmann, Ch. Three childrcn with sporadic cretinism in one
family. Archives of Pediatrics. 1917.
5 ) Schulz, B. Zur Genealogie des Mongolismus. Zeitschrift für
die gesamte Neurologie. Bd. 134. H. 1 und 2. S. 268. 1931.
ERBLICHE DIATHESEN.
S41
waren 7mal beide Zwillinge mongoloide Idioten. Danach scheinen Paare ein-
eiiger Zwillinge ungefähr in der Hälfte der Fälle gemeinsam betroffen zu
sein. In Anbetracht der kleinen Zahl ist die Verteilung aber auch mit der
Annahme vereinbar, daß eineiige Zwillinge immer entweder beide mongo-
loide Idioten oder beide frei seien (Orel) 1 ). Bedingtheit durch dominante
Erbanlagen kommt nicht in Betracht; gegen die Mitwirkung rezessiver
Erbanlagen spricht der Umstand, daß keine überdurchschnittliche Häufig-
keit von Verwandtenehen bei den Eltern nachgewiesen werden konnte. Sehr
bemerkenswert ist die zuerst von Shuttleworth gefundene Tatsache,
daß es sich bei den mongoloiden Idioten verhältnismäßig oft um Kmdcr
alter Mütter handelt. Besonders die letztgeborenen einer großen Geschwister-*
reihe sind gefährdet. Eine ausgesprochene Korrelation mit dem Alter der
Mutter hat sich auch an dem Material Pfaundlers gezeigt. Mit dem
Alter des Vaters dagegen scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Diese
rätselhaften Tatsachen lassen sich gemeinsam wohl am besten durch die
Annahme erklären, daß die mongoloide Idiotie durch eine Keims chädigung
des Eies verursacht werde, sei es des befruchteten oder des unbefruchteten.
Man hat an lokale Veränderungen der Gebärmutterschleimhaut gedacht,
durch die die Entwicklung des Eies gehemmt würde.
Die mongoloide Idiotie ist i. J. 1866 durch Langdon-Down als
besonderes Krankheitsbild beschrieben worden. Sie scheint damals sehr selten
gewesen zu sein. Noch in meiner Studienzeit habe ich keinen einzigen Fall
zu sehen bekommen. Gegenwärtig dagegen sind in größeren Kinderkliniken
und in Idiotenanstalten dauernd mehr oder weniger zahlreiche Fälle vor-
handen; und wie mir erfahrene Kinderärzte wie v. Pfaundler und PI u s -
ler sagen, liegt das sicher nicht nur daran, daß die Krankheit heute besser
erkannt wird als früher. Es scheint also gewisse besondere keimschädigende
Einflüsse in der modernen Umwelt zu geben, die früher wenig oder gar nicht
vorkamen. Ich habe in der zweiten Auflage dieses Buches (1923) chemische
Abtreibungs- bzw. Verhütungsmittel in Betracht gezogen; und auch v.
Pfaundler und H u s 1 e r halten einen Zusammenhang damit für möglich.
Seitdem haben sich die Verdachtsmomente, daß chemische Verhütungsmit-
tel schuld seien, noch vermehrt. Ich gedenke, nach Abschluß gewisser Er-
hebungen darüber zu berichten.
In dem Material von v. Pfaundler zeigt übrigens die gewöhnliche
(nicht mongoloide) Idiotie eine fast ebenso hohe Korrelation zum Alter der
Mutter wie diese. Es gelten daher für einen Teil der sonstigen Idiotie ent-
sprechende Überlegungen.
Die Bluterkrankheit, wenig treffend auch Hämo-
philie genannt, ist die wichtigste unter den hämorrha-
gischen Diät lies en, d. h. erblichen Neigungen zu Blu-
tungen. Während bei normalen Menschen Blutungen aus klei-
nen Wunden infolge Gerinnung des Blutes bald zum Stehen
kommen, bleibt diese Gerinnung bei Blutern aus. Aus gering-
fügigen Wunden kann das Blut tagelang hervorsickern und zu
lebensgefährlichen Blutverlusten führen. Das Ausziehen eines
Zahnes wird zu einer lebensgefährlichen Operation. Bei unbe-
*) Orel, PI. Mongolismus bei Zwillingskindern. Zeitschrift für Kin-
derheilkunde. Bd. 51. H. 1. S. 31. 193 1.
442 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
deutenden Zerrungen oder Bewegungen können Blutergüsse in
Gelenkhöhlen auftreten und das betreffende Glied lange un-
brauchbar machen. Ein großer Teil der blutenden Männer
geht an. dem Leiden in den ersten Lebensjahrzehnten zugrunde.
Vom vierten Jahrzehnt ab soll die Gefährlichkeit des Leidens
geringer werden. Worauf die mangelhafte Gerinnungsfähigkeit
des Blutes beruht, ist noch nicht klargestellt.
Fig. 137.
Bluterkrankheit nach ScHoeßmaa n. (Ausschnitt.)
Bluter erben ihre Krankheit regelmäßig von der Mutter,
die selber davon verschont ist. Auch durch zwei und mehr
Generationen kann die Erbanlage in weiblicher Linie weiter-
gegeben werden. Man nannte solche Frauen früher „Konduk-
toren". Übertragung vom Vater auf den Sohn dagegen ist nie-
mals festgestellt worden. Die Übertragung vom Großvater durch
die Tochter auf den Enkel ist durch die umfassende Erfor-
schung der württembergischen Bluterfamilien durch Schioeß-
mann 1 ) endgültig sichergestellt worden. Daß das nicht schon
x ) Schloeßmann, H. Die Hämophilie in Württemberg. Genealo-
gische, erbbiologische und klinische Untersuchungen an 24 Bluterfamilien.
ARGB. Bd. 16. H. 1—4. 1924.
ERB TIC HE DIATHESEN.
443
früher geschehen ist, lag daran, daß Bluter relativ selten zur
Eheschließung und Kindererzeugung kommen. Die Bluter-
krankheit ist also rezessiv geschlechtsgebunden
erb lieh. Eine Sippcntafel, die das veranschaulicht, zeigt Fig. 137.
Frauen mit echter Hämophilie sind bisher nur ganz wenige beobachtet
worden, vorausgesetzt, daß sie überhaupt vorkommen. Warde 1 ) hat eine
Sippcntafel gegeben, in der eine blutende Frau einen blutenden Vater und
einen blutenden Sohn hatte; da sie fünf Brüder hatte, die sämtlich nicht blu-
teten, ist es sehr unwahrscheinlich, daß ihre Mutter Trägerin der Bluter-
anlage gewesen sein sollte. Madiener 3 ) hat über ein Mädchen aus einer
Blutersippc berichtet, dessen Vater Bluter war und das im fünften Lebens-
jahr verblutete. Auch D a v e 11 p o r t 3 ) hat über eine blutende Tochter eines
blutenden Vaters berichtet; doch ist es in diesem Fall zweifelhaft, ob es
sich um echte Hämophilie gehandelt hat, da eine Sippentafel nicht ge-
geben werden konnte. Klinisch sichergestellt ist keiner der genannten Fälle.
Theoretisch würden aus der Ehe eines Bluters mit einer Trägerin der An-
lage blutende Tochter neben nicht blutenden zu erwarten sein. Da solche
Ehen bisher nur einige wenige bekannt geworden sind, kann man aus dem
Ausbleiben blutender Töchter nicht schließen, daß die Bluteranlage homo-
zygot letal sei, wie IC H. Bauer 4 ) gemeint hat.
Schloeßmann hat bei seinen Untersuchungen gefunden, daß weib-
liche Träger der Blutcranlage eine Verzögerung der Blutgerinnung aufwei-
sen, gelegentlich auch leichte Blutungen. Madiener konnte in der von
ihm beschriebenen Sippe keine Verlängerung der Gerinnungszeit finden.
Kleine durchschnittliche Unterschiede im Bilde der Bluterkrankheit in
verschiedenen Sippen erklären sich am zwanglosesten, durch die Mitwir-
kung anderer Erbanlagen. Für die Annahme verschiedener allcler Erban-
lagen für Hämophilie scheinen mir keine genügenden Unterlagen vorhan-
den zu sein.
Die Angabe, daß Bluterfamilien besonders kinderreich seien und daß
unter den Kindern unverhältnismäßig viel Knaben seien, ist ebenso wie jene,
daß viel mehr kranke als gesunde Brüder geboren würden, auf Anwendung
verfehlter Berechnungsweisen zurückzuführen (vgl. Abschn. über Method,).
Die Bluterkrankheit kommt keineswegs überall vor. Sie hat sich viel-
mehr in einigen Gegenden vorzugsweise ausgebreitet, so in Württemberg und
in der Schweiz. Einige amerikanische Bluterfamilien scheinen auf europäische
zurückzugehen. Der Angabe Max Fischers 11 ), daß Hämophilie bei Ju-
den achtmal so häufig sei wie, in der übrigen Bevölkerung, möchte ich mit
Zweifel begegnen. Vermutlich bezieht sich diese Angabe auf eine andere
*) Warde, M. British Medical Journal 1923. S. 59g. Zitiert nach
Snydcr, L. II. Studies in human inheritance VII. The Ohio Journal of
Science. Bd. 32. Nr. 2.
2) Madiener, M. Eine Bluterfamilie. ARGB. Bd. 20. IE 4. S.
390. 192S.
3 ) Davenport, C. B. Genctics. Bd. 15. S. 401. 1930.
4 ) Bauer, IC H. Zur Vercrbungs- und Konstitutionspathologic der
Hämophilie. Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 176. S. 109. 1922.
6 ) Fischer, M. Zur Geschichte der Bluterkrankheit. Eugenik. Bd. 2.
II . 5. 1932.
444 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
hämorrhagische Diathesc, die Hess unter Ost Juden verhältnismäßig häufig
fand 1 ). Max Fischer, der als einer der ersten über die Bluterkrankheit
gearbeitet hat 2 ), hat eine Anzahl von Blutern aus fürstlichen Häusern Euro-
pas auf eine gemeinsame Stammutter zurückgeführt und diese als Trägerin
der Anlage erwiesen 3 ) 4 ). Für seine Ansicht, daß Verwandtenehen oder In-
zucht dabei eine Rolle spielten, hat er indessen keinen Beleg beizubringen
vermocht. Verwandtenehen würden höchstens für die Homozygotierung der
Anlage, gegebenenfalls also für das Auftreten weiblicher Bluter bedeutsam
sein können.
Lange Zeit war die von Los seil i. J. 1877 beschriebene Bluter-
familie Mampel das klassische Beispiel einer erblichen Krankheit. Die Ge-
schichte dieser Sippe ist neuerdings von Klug**) vervollständigt worden.
Die Sippentafeln der Bluter von Tenna, einem Ort in Graubünden, hat
H anliart ergänzen und zu einer einzigen großen vereinigen können. Auch
In dieser Sippe sind drei blutende Enkel von Blutern festgestellt worden.
In dem Roman von Ernst Zahn „Die Frauen von Tamiö", der an die
Geschichte der Bluter von Tenna anknüpft, ist der Erbgang der Bluter-
krankheit nicht ganz richtig dargestellt. Die älteren Sippentafeln über Bluter-
krankheit sind im Treasury zusammengestellt.
Außer der eigentlichen Hämophilie gibt es noch einige andere Arten
hämorrhagischer Diathcsc. v\ Willebrand 5 ) hat eine solche zunächst
als erbliche Pseudohämophilie und dann genauer als konsti-
tutionelle Thrombopathie beschrieben. Von dieser werden gerade
Frauen häufiger und meist auch schwerer als Männer befallen. Die Zeichen
der Krankheit bestehen in Nasenbluten, Zahnfleischblutungen, Blutaustritten
in die Haut, bei Frauen auch in bedrohlichen Blutungen nach Geburten
und in Darmblutungen; die sieben in der Sippentafel schwarz bezeichneten
Frauen sind sämtlich verblutet. Die Thrombozyten (Blutplättchen), nach
denen die Krankheit ihren Namen hat, sind in normaler Zahl vorhanden, aber
in ihrer Gerinnungsfunktion gestört. Der Erbgang ist dominant, vielleicht ge-
schlechtsgebunden. Zu der Annahme dominanten geschlechtsgebundenen Erb-
gangs paßt es allerdings schlecht, daß in der Familie unten rechts ein blu-
tender Mann zwei gesunde Töchter gehabt hat. Entweder ist dieser Mann
nicht wirklich Träger der Anlage gewesen — es heißt von ihm nur: „in jün-
geren Jahren recht starkes Nasenbluten"; oder aber die Anlage ist gar nicht
geschlechtsgebunden, sondern einfach dominant. Ob die Sippentafeln von
J ) Nach v. Willebran d und J ü r g e n s.
2 ) Fischer, M. Zur Kenntnis der Hämophilie. Dissertation. Mün-
chen 188g.
3 ) Derselbe. Hämophilie und Blutsverwandtschaft. Zeitschrift für Kon-
stitutionslehre. Bd. 16. H. 5. S. 502. 1932.
4 ) Derselbe. Hämophilie und Blutsverwandtschaft. Ebenda. Bd. 16.
H. 6. S. 756.
5 ) Klug, W. J. Über die Kirchhelmer Bluterfamilien (Mampel).
Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 199. H. 3/5. S. 145. 1926.
°) v. Willebrand, E. A. Über hereditäre Pseudohämophilie. Acta
medica scandinavica. Bd. 76. H. 4 — 6. S. 521. 1931.
— und Jürgens, R. Über ein, neues vererbbarcs Blutungsübel: Die
konstitutionelle Thrombopathie. Deutsches Archiv für klinische Medizin. Bd
175- H. 4. S, 453. 1933.
ERBLICHE DIATHESEN.
445
Gl an z ma n n 1 ), von Meumann 3 ) und einige ältere, im Treasury wieder-
gegebene zu der Willebrandschen Pseudohämophilie gehören oder ihr ähn-
liche Sonderformen darstellen, muß einstweilen dahingestellt bleiben. Früher
wurden alle solche Fälle als „Morbus maculosus Werlhofii" oder Purpura
zusammengefaßt; ob unter den isoliert auftretenden „idiopathischen" Fällen
rezessiv erbliche sind, ist vorläufig nicht zu sagen; manche scheinen sicher
umweltbedingt zu sein, z. B. durch septische Infektion.
Eine Sippe mit dominanter hämorrhagischer Diathese haben auch Be-
vit und M a 1 k o v a 3 ) beschrieben. Diese war sicher nicht geschlechtsgebun-
den, da zweimal Übertragung vom Vater auf den Sohn vorkam. Die Autoren
meinen, das Leiden sei von der Willebrandschen Pseudohämophilie klinisch
und genetisch verschieden; ich vermag nach der Beschreibung aber keine
deutlichen Unterschiede zu erkennen.
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Fig. 13S.
Pseudohämophilie nach v. Willebran d. Schwarz bezeichnet
starke, schraffiert leichte Neigung zu Blutungen.
Im Anschluß an die erblichen Diathesen, insbesondere an
die Bluterkrankheit möge hier die Über Sterblichkeit
des männlichen Geschlechts besprochen werden, so -
weit sie erbbedingt ist. Die Übersterbliclikeit der Männer im
mittleren und höheren Alter ist zum großen Teil eine Folge
von Umwelteinflüssen, insbesondere von Syphilis, Alkohol und
Berufsschädlichkeiten. Auch der Tod durch eigene Hand hat
einen bedeutenden Anteil daran. Die Ü her Sterblichkeit
der Knaben schon im Säuglingsalter läßt sich aber durch
Umwelt schaden nicht erklären; sie dürfte hauptsächlich eine
Folge rezessiver geschlechtsgebundener krankhafter Erban-
lagen sein. Die Übersterblichkeit männlicher Früchte vor der
Geburt wird durch letale Erbanlagen verursacht. Zur Veran-
1 ) G 1 a n z m a n 11. Hereditäre hämorrhagische Thrombasthenie. Jahr-
buch für Kinderheilkunde. Bd. 83. S. 271. 191S.
2 ) Mcumann. Echte Hämophilie beim Weibe. Zentralblatt für Gynä-
kologie. 1922. S. 590.
3 ) Levit, S. G. und Malkova, N. N. A new mutation in man.
Journal of Heredity. Bd. 21. Nr. 2. S. 73. 1930.
446 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
schaulichung der Übersterblichkeit der Knaben möge die
Säuglingssterblichkeit in Deutschland während der Jahre
1904 bis 1914 dienen.
Von 100 iebcndgeborenen Knabcttsterb-
siai'beu im ersten Lebensjahr iichkeU in Pro-
zenten der Mäd-
Knaben Mädchen ehensierbüchkeit
1904 21,2 J8,0 I 1 7,8
1905 22,2 l8,8 I 18,1
[906 20,1 16,9 1 18,9
1907 19,1 16,0 I rg,4
1908 19,4 16,2 119,8
1909 18,4 15,4 J *9,5
1910 17,6 14,7 1 19,7
J9 11 2°>7 17.7 116,9
1912 16,0 13,4 119,4
1913 '6,4 13,7 119,7
J 9 J 4 17,7 M,9 118,8
Die Übersterblichkeit der Knaben betrug also rund ein
Fünftel der Mädchensterblichkeit oder rund 3 auf 100 Lebend-
geborene. Auch gegenwärtig, wo die Säuglingssterblichkeit
sehr gesunken ist, beträgt die Übersterblichkeit der Knaben
noch rund 2 vom Hundert der Geborenen; im Verhältnis zu
der Sterblichkeit der Mädchen ist sie sogar gestiegen, nämlich
auf rund ein Viertel, weil das Sinken der Säuglingssterblichkeit
einer günstigeren Gestaltung der Umwelt zu danken ist. Bei
Säuglingen mit krankhaften Erbanlagen sind die Erfolge der
modernen Säuglingspflege nur teilweise erfolgreich gewesen 1 ).
Die Sache liegt ganz ähnlich wie bei gewissen experimentellen Zuchten
der Obstfliege Drosophila. Wie im Abschnitt von Baur gezeigt wurde,
wäre bei der Kreuzung eines rotäugigen Männchens der Obstfliege Droso-
phila mit einem Weibchen, das die Anlage zu Weißäugigkeit überdeckt
enthält, zu erwarten, daß die Hälfte der männlichen Nachkommen rot-
äugig und die Hälfte weißäugig seien. Das ist in sorgfältig gepflegten Zuch-
ten auch annähernd der Fall, wie z. 13. Versuche von Just 3 ) zeigen.
Die ersten Zuchten dieser Art, die Morgan 3 ) ausführte, ergaben dagegen
nur etwa dreiviertel soviele weißäugige als rotäugige Männchen; es han-
delte sich nämlich um weniger sorgfältig gehaltene Zuchten, bei denen weiß-
äugig veranlagte Tiere in einem höheren Prozentsatz als rotäugige im Larven-
stadium zugrundegangen waren. Noch viel stärker war das Verhältnis zu-
ungunsten der weißäugigen Männchen in Massenzuchten W h i t i n g s 4 ) ver-
schoben. Un ter ungünstigen Umweltbedingungcn unterliegen die weniger
*) Lenz, F. Die Übersterblichkeit der Knaben im Lichte der Erb-
lichkeitslehre. Archiv für Hygiene. Bd. 93. S. 126. 1923.
2 ) J u s t , G. Der Nachweis von Mendelzalilen bei Formen mit niedriger
Nachkommenzahl. Archiv für mikroskopische Anatomie 1920.
s ) Morgan, Th. H. Sex limited inheritance in Drosophila. Science 1910.
4) Whi ting, P. W, Viability and coupling in Drosophila. The Ame-
rican Naturalist 1 9 13.
ERBLICHE DI AT II ES E,
447
lebenstüchtigen weißäugigen Tiere also einer Ausmerzung im Jugendstadium,
die bei günstiger Umwelt nicht eintritt.
Wenn die Säuglingssterblichkeit infolge äußerer Schädlichkeiten sich
erhöht, was besonders in heißen Sommern eintritt (z. B. 1911), so geht
die Übersterblichkeit der Knaben relativ herunter. Darin zeigt sich, daß
sie hauptsächlich durch innere (erbliche) Ursachen bedingt ist. Entspre-
chend ist in warmen Ländern, wo die Säuglingssterblichkeit verhältnismäßig
hoch ist, wie in Italien und Spanien, die Übers terblichkeit der Knaben gering,
und in kühlen Ländern, wo die Säuglingssterblichkeit niedrig ist wie in den
nordischen Ländern, die Übersterblichkeit der Knaben hoch. Belege finden
sich in einer Arbeit, die Schirmer*) unter meiner Leitung gemacht hat.
Bei der Übersterblichkeit der Knaben wirken vermutlich auch letale
Erbanlagen mit, die auch unter den günstigsten Umweltbedingungen nicht
dauernd mit dem Leben vereinbar sind. Sicher gilt das von der vorgeburtli-
chen Sterblichkeit. Derartige tödliche Erbeinheiten brauchen gar nicht ein-
mal besonders häufig zu sein, um eine Übersterblichkeit der Knaben in dem
tatsächlich beobachteten Umfange zu erklären. Wenn man annimmt, daß das
X-Chromosom beim Menschen 250 Erbeinheiten enthalte, so würde eine
Übersterblichkeit der Knaben im Betrage von 2,5 auf hundert Geborene zu
erwarten sein, wenn jede 10 000. Erbeinheit rezessiv letal wäre. Eine Reihe
alleler geschlechtsgebundener Erbeinheiten würde eine Sterbewahrscheinlich-
keit von 1:10 000 bedingen; 250 allele Reihen also eine 2501TU1I so große =
2,5 auf Hundert.
Als ich zum ersten Mal eine entsprechende Rechnimg aufgestellt habe 3 ),
nahm ich noch an, daß der Mensch. 12 Paare von Chromosomen habe;
heute kann die Zahl 24 als sichergestellt gelten. An der Rechnung wird
dadurch nichts Grundsätzliches geändert, da die Sterblichkeit infolge re-
zessiv letaler Gene der Autosome in beiden Geschlechtern praktisch gleich
ist. Was die Zahl der Gene im X-Chromosom betrifft, so haben Müller und
Altenburg 3 ) bei Drosophila diese auf 500 geschätzt. Unter der Vor-
aussetzung, daß die Autosome eine ebenso große Zahl enthielten, macht das
für Drosophila melanogaster, die 4 Chromosomenpaare hat, 2000 Genpaare.
Beim Menschen würde die Annahme von 500 Genen je Chromosom im ganzen
24x500=12000 Genpaare ergeben, eine unwahrscheinlich große Zahl.
Ich habe in der obigen Rechnung nur halb so viele angenommen, also immer-
hin 6000. Unter dieser Voraussetzung würde, wie gesagt, jede 10 000. Erb-
einheit rezessiv letal sein. Die allermeisten von diesen würden heterozygot
in den Autosomen vorhanden sein. In einer allclcn Reihe wäre die Wahr-
scheinlichkeit des Homozygotwcrdens einer letalen Anlage nur 1 : 100 000000;
in 6000 allelen Reihen also rund 1:17000. Tatsächlich dürfte die Sterblich-
keit infolge rezessiver letaler Gene aber um ein Vielfaches größer sein. In
den Autosomen ist die Häufigkeit rezessiv letaler Gene also offenbar wesent-
hch großer als in den X-Chromosomen. Das kommt daher, daß die letalen
!) Schirm er, W. Über den Einfluß geschlechtsgebundener Erb-
anlagen auf die Säuglingssterblichkeit. ARGB. Bd. 21. H. 4. S. 353. 1929.
2 ) Lenz, F. Über die Bedeutung der Erbmasse für Krankheit und
Sterblichkeit im Kindesalter. Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd. 24. H.
4/5. S. 603. 1922.
3 ) Muller, H. J. und Altenburg, E. The rate of change o£
hereditary factors in Drosophila. Proceedings o£ the Society for Expcrimen-
tal Biology and Medecine. Bd. 17. 1919.
448 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Erbanlagen des X-Chromosoms immer bald wieder ausgemerzt werden, weil
sie im männlichen Geschlecht auch heterozygot sich äußern, während die
nicht geschlechtsgebundenen rezessiv letalen Gene, die nur relativ seilen
homozygot und damit manifest werden, sich ziemlich ungestört halten können.
Die Voraussetzung, daß rezessiv letale Gene in den X-Chromosomen und in
den Autosomen gleich häufig seien, trifft also sicher nicht zu. Ich habe sie
auch nur gemacht, um das Grundsätzliche klar zu machen. Was ich hier
von den rezessiv letalen Erbanlagen ausgeführt habe, gilt in geringerem
Grade auch von den rezessiven krankhaften Erbanlagen, v. Pfaundler 1 )
hat in einer scharfsinnigen Arbeit wahrscheinlich gemacht, daß neben ge-
schlechtsgebundenen auch andere Erbanlagen von geschlechtsbegrenztcr Wir-
kung an der Übersterblichkeit der Knaben beteiligt sind.
Krankhafte Erbanlagen sind nicht nur im männlichen,
sondern auch im weiblichen Geschlecht in vielen Fällen die
eigentliche Todesursache, und zwar nicht nur im Säuglings-
und Kindesalter, sondern auch im späteren Leben. Man kann
das auch umgekehrt so ausdrücken, daß die Lebensdauer
zum großen Teil durch die erbliche Veranlagung bedingt ist.
Ploetz 2 ) hat an einem Material von 5585 Kindern gefunden,
daß die Sterblichkeit bis zum 5. Lebensjahre um so geringer
war, ein je höheres Alter die Eltern erreichten. Wenn die
Mütter oder die Väter über 85 Jahre alt wurden, so war die
Sterblichkeit der Kinder nur ein Drittel bis halb so groß als
sonst im 'Durchschnitt (11,2 gegen 32 o/ bzw. 15,4 gegen 31,3 0/0).
Pearson und seine Schülerin Miss Becton 3 ) haben
auf Grund eines Materials von mehreren tausend Fällen Belege
gegeben, daß auch im erwachsenen Alter die Kinder im Durch-
schnitt um so länger leben, ein je höheres Alter die Eltern er-
reichten. Zu demselben Ergebnis ist auch Bell 4 ) auf Grund
der Aufzeichnungen über einen Verwandtschaftskreis von meh-
reren Tausend Personen gekommen. Eine Zusammenstellung
der Erfahrungen über die Erblichkeit der Lebensdauer hat
P earl 5 ) gegeben.
Die Lebensdauer kann selbstverständlich nicht monomer
erblich sein, etwa in dem Sinne, daß lange Lebensdauer domi-
*) v. Pfaundler, M. Studien über Frühtod, Geschlechtsverhältnis
und Selektion. Zeitschrift für Kinderheilkunde. Bd. 57. IL 3. S. 185. 1935.
a ) Ploetz,Ä. Lebensdauer der Eltern und Kindersterblichkeit. ARGE.
1909.
3 ) Beet 011, M. and Pearson, K. On the inheritance of the dura-
tion of life, ancl on the intensity of natural selection in man. BiomeLrika,
Bd. 1. S. 50. 1901.
4 ) Bell, A. G. The cluration of life and conditions associaled with
longevity. A study of the Ilyde genealogy. Washington 1918.
fi ) Pearl, R. The biology of death. Philadelphia and London 1922.
J". B. Lippincott.
ERBLICHE DIATHESEN.
nant über kurze wäre. Vielmehr kann die Veranlagung, welche
im Verein mit den Einflüssen der Umwelt über die Lebens-
dauer entscheidet, nur hochgradig polymer sein. Wenn in der
Erbmasse eines Menschen keinerlei krankhafte Erbanlagen vor-
handen wären und er von schwereren äußeren Schädlichkeiten
verschont bliebe, so würde er vermutlich ein Alter von weit
über 100 Jahren erreichen, wie das in Ausnahmefällen ja auch
heute noch vorkommt. In der Erbmasse der allermeisten Men-
schen sind aber krankhafte Erbanlagen recht verschiedener Art
vorhanden; so kommt es, daß auch ohne besondere Schäden
von selten der Umwelt bei dem einen Menschen dieses, bei
dem andern jenes Organ vorzeitig versagt.
Ich vermute, daß nicht selten auch ein erbbedingtes Versagen der
Immunkörperbildung in einer bestimmten Alterspenode zur Todesursache
wird. Auch mancher Todesfall an Sepsis, an Typhus oder an Tuberkulose
dürfte auf diese Weise indirekt erbbedingt sein. Die Infektion gibt in solchen
Fällen nur den äußeren, gewissermaßen zufälligen Anlaß zum Tode.
Die Lehre von einer erbbedingten allgemeinen O rganminderwer-
tigkeit hat in den letzten Jahren zu mancherlei Mißverständnissen und
Unklarheiten Anlaß gegeben. Selbstverständlich gibt es erbbedingte Organ-
minderwertigkeiten. Wenn jemand einen Klumpfuß hat, so ist der ganze
Fuß minderwertig. Entsprechendes gilt von dem Ohr eines Taubstummen
und dem Gehirn eines Schwachsinnigen. Gewisse Autoren haben nun aber
gemeint, wenn die Minderwertigkeit eines Organs eine allgemeine sei, so
müsse sie auch einheitlich sein, d. h. es gebe nicht vielerlei erbliche Minder-
wertigkeiten eines Organes, sondern nur eine, die sich in der verschiedensten
Weise äußern könne. Diese Ansicht stimmt mit der tatsächlichen erbbiologi-
schen Erfahrung nicht überein. Ich brauche nur an die erblichen Augen-
leiden zu erinnern. Es gibt eine große Zahl spezifisch verschiedener erbli-
cher Augenleiden; und Entsprechendes gilt von allen anderen Organen,
jedes dieser Leiden beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit des Organs in mehr-
facher Beziehung. Es trifft also durchaus nicht zu, daß die genetische Ver-
schiedenheit der Leiden eines Organs eine „monosymptomatische" Auffas-
sung in dem Sinne bedinge, daß von jeder krankhaften Erbanlage nur
eine Eigenschaft bzw. ein Symptom abhängig sei. Andererseits äußern sich
viele krankhalte Erbanlagen keineswegs nur an einem Organ sondern an meh-
reren zugleich; ja es gibt auch Erbanlagen, die sich mehr oder weniger auf
den ganzen Organismus erstrecken wie z. B. der Albinismus. Ganz streng ge-
nommen wirkt jede Erbeinheit direkt oder indirekt auf die Gestaltung und
das Schicksal sämtlicher Organe ein; und umgekehrt ist jedes Organ folg-
lich durch die Gesamtheit der Erbmasse bestimmt. Das ändert aber nichts
an der Tatsache, daß die Erbmasse aus selbständigen Teilen besteht, den
Genen, die ihre Eigenart durch die Generationen bewahren und die sich weit-
gehend unabhängig von einander trennen und neu kombinieren. Man ver-
gJeiche hierzu auch das über „Heredodegeneration" Gesagte (S. 524 f.) 1 ).
x ) Lenz, F. Rassenhygiene und klinische Medizin. Klinische Wochen-
schrilt 1933. Nr. 40. S. 1570.
Derselbe. Über das Verhältnis pathogener Erbeinheiten zu klinisch ab-
gegrenzten Typen von Erbleiden. Ebenda. 1934. Nr. 7. S. 249.
Baut-Fisclier-Lenz I. ->9
450
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Die Blutdruck krankheit (Hypertonie, Hyper-
tension) ist ein häufiges und praktisch wichtiges Erbieiden.
Seit Weitz 1 ) im Jahre 1923 die häufige Erbbedingtheit hohen
Blutdrucks entdeckt hat, hat sich herausgestellt, daß die mei-
sten Fälle krankhaft hohen Blutdrucks auf Grund erblicher
Veranlagung entstehen. Die ersten Beschwerden treten ge-
wöhnlich erst im 5. oder 6. Jahrzehnt auf. Während der Blut-
druck normalerweise bis zu 140 mm Quecksilber beträgt, steigt
er bei den hypertonisch Veranlagten im Laufe der Jahre auf
160, 180, ja in manchen Fällen auf 200 mm und darüber. Die
Folge ist eine übermäßige Belastung des Herzens und der Ge-
fäße. Es tritt in der Regel eine Verhärtung der Arterien (Arterio-
sklerose) ein, die oft zu Schlaganfällen (Gehirnschlägen, Apo-
plexien) führt. Infolge Arteriosklerose der Kranzarterien des
Herzens kommt es nicht selten zu Herzschlägen oder infolge
Verödung des Herzmuskels zum Versagen des Herzens. Weni-
ger häufig führt die Hypertonie zu Arteriosklerose der klei-
nen Gefäße der Niere und in der Folge zu Nierenschrumpfung.
Die umgekehrte ursächliche Verknüpfung, Hypertonie infolge „genu-
iner" Nierenschrumpfung, ist nicht so häufig wie man früher annahm.
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Fig. 139. Blutdruckkrankheit. Nach Zipperlen 2 ).
Ein Ring um den Kreis bedeutet Tod an Schlaganfall. Die Mitglieder der
letzten Generation hatten meist das Alter, in dem Schlaganfälle aufzutreten
pflegen, noch nicht erreicht. Über den Blutdruck der mit Fragezeichen be-
zeichneten Personen war nichts bekannt, zum Teil waren sie in einem Alter
gestorben, wo sich die BhUdruckkrankhcit noch nicht zu äußern pflegt.
Bei dem halbschwarz bezeichneten Mann war der Blutdruck an der Grenze
des Krankhaften.
x ) Weitz, W. Zur Ätiologie der genuinen oder vaskulären Hypo-
tension. Ztschr. für klinische Medizin. Bd. 96. II. 1 — 3. 1923.
H ) Mitgeteilt von Gänßlen, M. Vererbimg innerer Krankheiten an
Hand von Stammbäumen. Zeitschr. f. indukt. Abstammungslehre. Bd. 54.
S. 299. 1930.
ERBLICHE DIATHESEN.
451
Eine arteriolosklero tische Nicrenschrumpfung infolge genuiner Hypertonie
verstärkt aber ihrerseits wieder die Hypertonie.
Die meisten Fälle von B lu t d ruckkrankhei t ent-
wickeln sich nach Weitz 1 ) auf dem Boden einer einfach do-
minanten Erbanlage. Meist ist einer der Eltern (oder beide)
im Alter zwischen 55 und 70 Jahren an Schlaganfällen oder
Herzleiden zugrundegegangen. Die Geschwister der Hyper-
toniker zeigen hinsichtlich ihres Blutdrucks eine ausgesprochen
zweigipfelige Verteilungskurve. Anscheinend hat die Hälfte der
Geschwister die Anlage zu Hypertonie ebenfalls, wie es dem
einfach dominanten Erbgang entspricht. Eineiige Zwillinge
stimmen in ihrem Blutdruck auch bei verschiedener Lebens-
weise meist auffallend überein, zweieiige Zwillinge viel we-
niger 2 ).
Gleichwohl sind auch Umwelteinflüsse für die Manifestierung der
Hypertonie von Bedeutung. Saile 3 ), der auf Veranlassung von Weitz 110
streng vegetarisch lebende Mönche untersucht hat, fand bei ihnen im Durch-
schnitt einen wesentlich niedrigeren Blutdruck als bei Fleischessern. Mit
dem geringeren Blutdruck scheint das blasse Aussehen der meisten Vegeta-
rier zusammenzuhängen, während starker Fleischgenuß sich öfter in Ge-
sichtsrötung äußert (Metzgergesicht). Geistige (und bis zu einem gewissen
Grade auch körperliche) Anspannung erhöht den Blutdruck, und möglicher-
weise kann bei gegebener Anlage der Blutdruck auf diese Weise auch
dauernd erhöht werden. Gewisse Leistungen erfordern einen höheren Blut-
druck, und man kann sich denken, daß das Gefäßsystem in Anpassung daran
sich in Form einer dauernden Modifikation darauf einstellt. Hypertonie
macht sich demgemäß häufiger bei Leuten bemerkbar, die geistig viel zu
leisten haben. Auch geschlechtliche Erregung steigert den Blutdruck. Alko-
holgenuß scheint nach Weitz keinen dauernden Einfluß auf den Blutdruck
zu haben, wold aber die Belastung des Gefäßsystems mit großen Flüssigkeits-
mengen, wie sie bei Biertrinkern vorkommt. Nikotinmißbrauch scheint ver-
schlimmernd zu wirken.
Bei asthenischer (schlaffer) Konstitution scheint der Blutdruck im
Durchschnitt etwas weniger hoch als bei sthenischer (strammer) Konstitution
zu sein. Es ist zu vermuten, daß auch eine krankhafte Anlage zu Hypertonie
sich bei Asthenikern im Durchschnitt weniger stark äußert als bei Athleti-
kern. Groß ist die Korrelation zwischen Hypertonie und Habitus nach
Weitz aber nicht.
Die Veranlagung zu Arteriosklerose, einer fleckweiscn
Verhärtung der Schlagadern, die schließlich in Verkalkung
*) Weit/., W. Über die Bedeutung der Erbmasse für die Ätiologie der
Herz- und Gefäßkrankheiten. Sonderdruck aus dem Sammelwerk „Hyper-
tension". Leipzig 1926. Thicme.
2 ) Weitz, W. Studien an eineiigen Zwillingen. Zeitschrift für klini-
sche Medizin. Bd. roi. H. 1/2. 1924.
3 ) Saile. Der Einfluß der fleischlosen Ernährungsweise auf den Blut-
druck. Dissertation. Tübingen 1929.
452 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
übergeht, ist nach Vorstehendem zum Teil mit der zu Hypertonie
identisch, aber doch nur zum Teil. Obwohl es bei uns wenige
Leute in vorgerücktem Alter gibt, die völlig frei davon sind,
tritt das Leiden bei den verschiedenen Menschen doch sehr ver-
schieden früh und verschieden auch nach dem vorzugsweisen
Sitz auf. Äußere Einwirkungen wie Berufsschädlichkeiten und
Giftwirkungen spielen sicher mit. In manchen Sippen ist die
Anfälligkeit gegenüber der Arteriosklerose mehr eine allge-
meine, in andern steht die Arteriosklerose des Gehirns mit
Schlaganfällen im Vordergrunde, wieder in anderen die der
Kranzgefäße des Herzens und in noch anderen die der Nieren-
gefäße.
Unter den Erkrankungen des Gefäßsystems scheint die Venen-
thrombose, die Bildung eines Blutgerinnsels in einer Vene, sippen-
weise gehäuft vorzukommen. Besonders Frauen erkranken daran im An-
schluß an eine Geburt unter dem Einfluß infektiöser Bakterien. Soweit eine
erbliche Anfälligkeit disponierend wirkt, besteht diese wesentlich in einer
Anomalie der Venenwände.
Als Stoffwechselkrankheiten wird eine Gruppe
von Diathesen zusammengefaßt, bei denen Stoffwechselstörun-
gen im Vordergrunde des Krankheitsbildes stehen. Streng ge-
nommen gehen freilich alle Diathesen mit Anomalien des Stoff-
wechselseinher. Andererseits ist jede Stoffwechselkrankheit eine
Konstitutionskrankheit und jede Diathese eine Konstitutions-
anomalie; diese Begriffe gehen ohne scharfe Grenzen inein-
ander über. Die Zuckerkrankheit ist heute als eine Organ-
krankheit erkannt. Man könnte die Nierenleiden eigentlich
genau so gut Stoffwechselkrankheiten nennen. Herkömmlicher-
weise versteht man jedoch unter Stoffwechselkrankheiten in
erster Linie Zuckerkrankheit, Fettsucht und Gicht.
Die Zuckerkrankheit oder der Diabetes melli-
tus (richtiger eigentlich melitus, von mel = Honig) geht
mit der Ausscheidung von Traubenzucker im Harn einher. Der
zuckerkranke Organismus hat die Fähigkeit, Zucker und an-
dere Kohlenhydrate, die sonst den Hauptteil der Nahrungsener-
gie liefern, zu verwenden, teilweise eingebüßt, insbesondere
auch die Fähigkeit, Kohlenhydrate im Körper aufzuspeichern.
Neben der Entkräftung infolge mangelhafter Ausnutzung der
Nahrung bedrohen auch verschiedene andere Folgezustände
der Stoffwechselstörung das Leben des Zuckerkranken, z. B.
innere Säurevergiftung (Azidose).
Die Zuckerkrankheit tritt gewöhnlich im mittleren, öfter
auch erst im höheren Lebensalter auf. Sie beruht auf einem
ERBLICHE DIATHESEN.
453
Versagen gewisser Zellgruppen der Bauchspeicheldrüse (der
sog. Langcrhansschen Inseln), also auf einer Störung innerer
Sekretion. Das Versagen der Langerhansschen Zellinseln hat
anscheinend in den allermeisten Fällen seine Ursache in einer
Schwäche der erblichen Anlage dieser Zellgruppen. Äußere
Einflüsse können auf die Erbanlage auslösend wirken; reich-
liche Ernährung, zumal mit Kohlenhydraten, wirkt ungünstig
auf Entstehung und Verlauf des Diabetes. Die größere Häufig-
keit der Zuckerkrankheit im männlichen Geschlecht erklärt
sich nicht aus geschlechtsgebundenem Erbgange, sondern viel-
mehr daraus, daß das männliche Geschlecht äußeren Schäd-
lichkeiten stärker ausgesetzt ist. Man kann den Diabetes als
ein vorzeitiges Altern der Langerhansschen Zellhaufcn be-
trachten, vergleichbar dem vorzeitigen Ergrauen des Haares
in manchen Familien. Die verschiedenen Organe altern bei ver-
schiedenen Menschen verschieden schnell; und übermäßige In-
anspruchnahme beschleunigt den Altersaufbrauch jedes Organs.
In manchen Sippen zeigt die Zuckerkrankheit dominan-
ten Erbgang; so in einer Sippentafel nach v. Noorden 1 ).
Drei sorgfältige Familiengeschichten hat Long 2 ) mitgeteilt.
Buchanan 3 ) konnte Diabetes in 17 Sippen durch drei
Generationen verfolgen. Einfach dominanter Erbgang scheint
indessen nicht die Regel zu sein. In der Arbeit von F. Stei-
ner 4 ) aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in
Dahlem, deren Material aus der Klinik von Umber stammt,
und die ich methodologisch zu beraten hatte, fand sich Dia-
betes bei einem der Eltern nur in 6 unter 179 Fällen, also in
3 bis 4 0/0, bei Geschwistern dagegen in 25 unter 240 Fällen,
d. h. in rund 10 0/0. Wenn man berücksichtigt, daß voraus-
sichtlich auch noch ein Teil der bisher gesunden Geschwister
erkranken wird, darf man den Hundertsatz auf 2oo/ schätzen.
Die häufigere Belastung durch Geschwister spricht entschie-
den dafür, daß Diabetes meist auf dem Boden einer rezes-
siven Erbanlage entsteht.
Vetternehe der Eltern fand Steiner nur einmal unter 123 Fällen,
das heißt in einem nicht deutlich erhölilen Hundertsatz. Diese Tatsache
l ) v. Noorden, C. Die Zuckerkrankheit. Berlin 1910.
B ) Long, F. A. A contribution on the study of the familial aspects
of diabetes mellitus. Western Medical Review. Bd. 30. Ii. 19. 194.
3 ) Buchanan, J. A. A consideration of the various lavvs of here-
dity and their application to conditions in man. American Journal of the
Medical Sciences. Bd. 165. Nr. 5 1923.
4 ) Die Arbeit ist zur Zeit noch nicht erschienen.
454 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
9
9
Fig. [40.
9
Zuckerkrankheit.
Nach v. Noorden.
spricht gegen eine hochgradige Heterogenie des Diabetes; d. h, es ist nicht
anzunehmen, daß es sehr vieie verschiedene Erbaniagen zu Diabetes gibt.
Wenn es nur einige wenige gibt, so braucht in anbetracht der großen Häu-
figkeit des Diabetes der Hundertsatz der Verwandtenehe bei den Eltern nicht
wesentlich erhöht zu sein.
Umber 1 ) hat drei Paare eineiiger Zwillinge beschrieben,
bei denen der Verlauf des Diabetes innerhalb der Paare sehr
ähnlich war. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen
Paaren mögen sich entweder durch eine
Verschiedenheit der krankhaften Erban-
lage oder durch die Verschiedenheit der
übrigen Erbmasse erklären. „Im Erbgut
Hegt es begründet, ob schwere, mittel-
schwere oder leichte Form des Diabetes
vorhanden ist. Umwelteinflüsse vermögen
zwar den Verlauf des Leidens zu beein-
flussen, nicht aber seinen Charakter." In
einem dieser Fälle hatte nur der eine
Zwillingsbruder einen leichten Diabetes,
während bei dem andern nur mittels der Zuckerbelastungs-
probe ein nicht normales Verhalten des Zuckerstoffwechsels
festzustellen war. Der kranke Bruder war Gastwirt und starker
Biertrinker, was offenbar die Anlage zur Auslösung gebracht
hatte. Im übrigen meint Umber: „Wer nicht mit dieser insu-
laren Minderwertigkeit geboren ist, wird nicht diabetisch."
Die von mehreren Autoren gefundene „Belastung" von rund 250/0 bei
Diabetes besagt nicht viel, weil die Höhe der Belastung nicht nur von der
Erbbedingtheit sondern auch von der Kinderzahl in der Sippe und dem Um-
fang der Nachforschung abhängt (vgl. den Abschnitt über Methoden).
Auch für die Zuckerkrankheit ist von mehreren Autoren sogenannte
„Antizipation" oder „Anteposition" berichtet worden, die in immer früherem
Ausbruch des Leidens im Laufe der Generationen bestehen soll. Da die
Anlage sich auch in derselben Sippe in verschiedenem Lebensalter äußern
kann, so werden vorzugsweise nur solche Diabetiker der früheren Generatio-
nen Kinder bekommen haben, bei denen das Leiden später auftrat. Diabe-
tische Frauen sind nämlich in der Regel unfruchtbar; und auch diabetische
Männer pflegen wegen der oft mit dem Leiden verbundenen geschlecht-
lichen Schwäche nur selten noch Kinder zu bekommen. Die Eltern sind also
einer Auslese nach spätem Ausbruch des Leidens unterworfen. In der jüng-
sten Generation wird man umgekehrt hauptsächlich nur solche Personen
schon erkrankt finden, bei denen das Leiden sich früh äußerte, während
solche Geschwister, bei denen die Anlage sich erst später äußert, zur Zeit
der Untersuchung eben nicht' als krank gezählt werden. Dazu kommt
noch, daß Zuckerkrankheit bei den Nachkommen von Diabetikern oft
x ) Umber. Diabetes bei drei eineiigen Zwillingspaaren. Deutsche Med.
Wochenschrift 1934. Nr. 15. S. 544.
IRBLICHE DIATHESEN.
455
früher festgestellt wird als bei den Eltern, weil man eben früher daran
denkt. Auch das trägt dazu bei, den Anschein einer „Antizipation" zu
erwecken.
Die erblich bedingte Zuckerkrankheit ist unter den Juden entschieden
häufiger als unter der sonstigen mitteleuropäischen Bevölkerung. Nach
Thei.lha.ber kamen in Berlin i. J. 1910 gegen 80 Todesfälle an Diabetes
bei erwachsenen Juden vor. Nach dem Statistischen Jahrbuch der Stadt
Berlin starben dort i. J. 1910 546 jüdische Männer im Alter von mehr als
15 Jahren. Wenn wir annehmen, daß die Fälle sich über die beiden Ge-
schlechter nach demselben Verhältnis wie sonst verteilten (3 : 2), so macht
das 48 Falle unter 546 Todesfällen, also fast g"/o! In der Gesamtbevölke-
rung dagegen kamen unter 9862 Todesfällen erwachsener Männer nur 232
an Diabetes, d. h. 2,40/0 vor. Wenn man davon die Todesfälle der Juden ab-
cf 9
o
+
9
???cf
cf cf
9 d 9
cr«r 9
Fig. 141.
Zuckerkrankheit nach Hansen 1 )
zieht, so bleiben für die nichtjüdische Bevölkerung nur 2%- Und wenn es
möglich wäre, die getauften Juden von den übrigen Christen auszusondern,
so würde der Hundertsatz für die NichtJuden noch geringer sein. Im gan-
zen scheint Diabetes als Todesursache bei Juden ungefähr sechsmal so häufig
als bei NichtJuden zu sein; eine Zusammenstellung des einschlägigen Zah-
lenmaterials findet sich bei U 1 1 m a u n a ). Die größere Häufigkeit des
Diabetes bei den Juden erklärt sich zum Teil durch die größere Häufigkeit
jüdischer Verwandtenehen. Außerdem scheinen Erbanlagen zu Zuckerkrank-
heit in der jüdischen Bevölkerung stark verbreitet zu sein.
Mit der echten Zuckerkrankheit darf nicht die sogenannte renale
Glykosurie verwechselt werden, hei der zwar auch Zucker mit dem Harn
ausgeschieden wird, die aber verhältnismäßig harmlos ist und auf einer nicht
fortschreitenden Anomalie der Nieren beruht. Renale Glykosurie kommt
ebenfalls erblich vor, und zwar anscheinend dominant 3 ).
1 ) Hansen, S. Über die Vererbung des Diabetes mellitus. Acta Me-
dica Scandinavica. Bd. 62. H. 1 — 2. 1925.
3 ) Ullmann, H. Zur Frage der Vitalität und Morbidität der jüdi-
schen Bevölkerung. Archiv für Rassenbiologie. Bd. 18. H. (. 1926.
3 ) Brugsch, Tli, und Dresel, K. Renale hereditäre Glykosurie.
Medizinische Klinik 1919. H. 39.
456
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
ERBLICHE DIATHESEN.
9
9
~T~
9
Auch bei dem echten Diabetes sollen nach Naunyn 1 ) und Scckel 2 )
die Fälle, bei denen man einen Erbgang durch zwei und mehr Generationen
beobachten kann, im allgemeinen verhältnismäßig leicht sein. So scheint
sich auch hier die Regel zu bestätigen, daß dominante Leiden im allgemeinen
leichter verlaufen als verwandte Leiden von rezessivem Erbgang.
Der sog. Diabetes insipidus hat mit der Zucker-
krankheit nur die Ausscheidung abnorm großer Harnmengen
(daher auch Polyurie genannt), nicht aber die Zuckerausschei-
dung gemeinsam. Infolge des Wasserverlustes entstellt starker
Durst, der sehr quälend wird, wenn er
nicht durch entsprechend große Flüs-
sigkeitsmengen gestillt werden kann
(„Durstkrankheit"). Das Leiden zeigt
in einer Reihe von Sippen dominanten
Erbgang; es scheint auf einer Ano-
malie des Hinterlappens der Hypophyse
(Hirnanhangs) zu beruhen.
Eine Sippentafel gebe ich nach Gänß-
len 3 ) und Fritz wieder. Eine gewisse klassi-
sche Berühmtheit hat eine große Sippentafel
von Weil 4 ) erlangt, die den dominanten Erb-
gang in außergewöhnlicher Klarheit zeigt. Da
sie in der Literatur verschiedentlich unrichtig
wiedergegeben worden ist, hat J u s t^) sie in
einwandfreier Form im Archiv für Rassenbiolo-
gie abgebildet. Auf 23 kranke kommen 30 ge-
sunde Geschwister, was der theoretischen Zahl
1 : r sehr gut entspricht. Ich sehe von einer
Wiedergabe der großen Sippentafel, die eine
eigene ausklappbare Tafel erfordern würde, mit Rücksicht auf die Hand-
lichkeit des Buches ab.
Die Zystinurie oder Zystindiathese besteht in einer erblichen Stö-
rung des Eiweißstoffwechsels. Der normale Abbau des schwefelhaltigen Be-
standteiles des Eiweißes ist behindert, und dieser erscheint in Form einer
schwefelhaltigen Aminosäure, des Zystins, im Harn. In der Blase können
sich Zystinsteine bilden und Beschwerden machen. Auch sonst ist das seltene
Leiden nicht ganz harmlos. Die Anlage ist anscheinend dominant.
Fig. 142.
Durstkrankheit
(„Diabetes insipidus")
Nach Gänßlen und Fritz.
(Ausschnitt.)
1 ) Naunyn, B. Der Diabetes mellitus. 2. Aufl. Wien 1906.
a ) Seckel, H. Beobachtungen über heredofamiliäre und konstitu-
tionelle Häufung von Stoffwechselleiden beim Diabetes mellitus. Ztschr.
für klinische Medizin. Bd. 102. S. 195. 1925.
3 ) Gänßlen, M. und Fritz. Über Diabetes insipidus. Klinische Wo-
chenschrift. Jg. 3. H. 1. 1924.
i ) Weil, A. Über die hereditäre Form des Diabetes insipidus. Deut-
sches Archiv für klinische Medizin. Bd. 43, S. 181. 1908.
6 ) Just, G. Ein Wort zu Weils Diabetes jnsipidus-Stammbaum. ARGB.
Bd. 16. H. 3. 1925.
/<■ Auf einer Störung des Eiweißabbaues beruht auch die Alkapton-
y urie. In diesem Falle ist der Abbau des Benzolkernes im Eiweiß behindert,
I* und es erscheint die Homogentisinsäure, ein normales Zwischenprodukt des
I Eiweißabbaues, das den Benzolkcrn noch enthalt, im Harn. Derartiger Harn
| färbt sich an der Luft dunkelbraun bis schwarz. Auch in verschiedenen Or-
l ganen kommt es zu Verfärbungen und Ablagerungen. Die Anlage ist nach
Toenniessen 1 ) einfach rezessiv.
9
Q
1 1 f j 1
Fig. 143.
Zystinurie.
Nach Abderhalden.
Fig. 144.
Alkaptonurie nach
Cuthbert*).
Die Fettsucht oder, wie sie in ihren geringeren Graden
bezeichnet wird, die Fettleibigkeit (Adipositas) äußert
sich in abnorm starker Fettansammlung im Unterhautzell-
gewebe besonders am Bauch, den Lenden, den Schenkeln u. a.
Auch abgesehen von den höchsten Graden, in denen Fettsüch-
tige ein Gewicht von mehreren Zentnern erreichen, ist die Fett-
sucht nicht harmlos ; nach Florschütz haben Fettleibige
eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung. Natürlich spielt
die Ernährung eine große Rolle bei der Ausbildung der Fett-
leibigkeit; bei chronischer Unterernährung kann sie nicht in
die Erscheinung treten. Andererseits aber kann bei Anlage zu
Magerkeit nicht einfach durch Überernährung Fettleibigkeit er-
zeugt werden. Es gibt also weder eine reine Mastfettsucht noch
eine reine Faulheitsfett sucht. Alle Arten der Fettsucht gehen mit
einer Störung innerer Sekretion einher. Bei einem Teil der
Fälle von Fettsucht ist die Tätigkeit der Schilddrüse herab-
gesetzt, die ja die Schnelligkeit des Stoffwechsels regelt und
die man einem Blasebalg verglichen hat, der die Verbrennungs-
vorgänge im Körper anzufachen hat. Viele Fälle von Fettsucht
beruhen offenbar auf einer mangelhaften Entwicklung der
Keimdrüsen. Eine besondere Art von Fettsucht wird durch
mangelhafte Funktion der Hypophyse verursacht (Dystrophia
adiposogenitalis). Im übrigen scheinen bei ausgesprochener
Fettsucht auch die Zellen selbst mangelhaft zu funktionieren.
*) Toenniessen, E. Über die Vererbung der Alkaptonurie. Zeit-
schrift für induktive Abst- und Vererbungslehre 1922,
s ) Cuthbert, C. F. Heredity in Alcaptonuria. The Lancet. März 1923.
9
458 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
W e i 1 2 und Liebendörfer *) sind am Material der me-
dizinischen Poliklinik in Tübingen der Erblichkeit der Fettsucht
nachgegangen. In 25 Fällen von Fettsucht, die in den Hunger-
jahren nach dem Kriege beobachtet wurden, ließen sich regel-
mäßig noch weitere Fälle in der Familie nachweisen. In der
Regel scheint die konstitutionelle Fettsucht dominant erblich
, , , ™ sein; doch ist bei der Vielgestaltig-
es ^ • keit der innersekretorischen Grunclla-
p— f ^l^ — _^ gen zu vermuten, daß es auch Anlagen
cj w ö 1 O 1 (f f von anderem Erbgang gibt, die Fett-
| sucht bedingen können.
cf $ © @ Selbstverständlich ist auch die kon-
+ ™ stitutionelle Magerkeit erblich. Der
Fig. 145. Nahrungsbedarf ist bei verschiedenen
Fettsucht nach W e i t z M «ischen trotz gleichen Körpergewichts
und gleichen Verhaltens recht verschie-
den, und diese Unterschiede sind im wesentlichen sicher erb-
lich. Es ist erstaunlich, mit wie wenig Nahrung manche zur
Fettleibigkeit neigende Personen auskommen.
Mein früherer Chef, der Hygieniker v. Gruber in München, hat
seinerzeit an der Hand großenteils eigener Stoffwechselversuche belichtet,
daß die Intensität des Stoffwechsels bei verschiedenen Personen sehr ver-
schieden ist und daß sie bei einzelnen nur halb so groß als bei andern ist.
Bis auf die Untersuchungen Grubers bestand eine große Unsicherheit
insofern, als man nicht wußte, auf welches Maß des Körpers man den Stoff-
umsatz eigentlich beziehen sollte, auf das Gewicht, die Oberfläche oder
worauf sonst. Aus den Untersuchungen Grubers geht aber hervor, daß
die konstanteste Beziehung die zur Körperlänge ist. Bei gesunden
Menschen von sehr verschiedenem Alter, Größe und .Konstitution ist der
Stoffumsatz, auf die Einheit der Länge bezogen, ziemlich gleich groß. Die
zweckmäßigste Beziehung der Einheit des Stoffumsatzes (Kalorie) ist daher
nicht die auf die Einheit des Gewichts oder der Oberfläche, die bisher
meist üblich waren, sondern die auf die Einheit der Länge. Ergeben sich
dann wesentliche Abweichungen vom Durchschnitt, so kann man mit Sicher-
heit auf eine Anomalie der Intensität des Stoffwechsels schließen.
Camer er und Schleicher 3 ) haben drei fettleibige
und ein mageres Paar eineiiger Zwillinge als schlagenden Be-
leg der entscheidenden Bedeutung der Erbmasse für die Fett-
leibigkeit bzw. Magerkeit abgebildet.
!) Liebeildörfer, Th. Über Erblichkeitsverhältnisse bei Fettsucht.
ARGB. Bd. 15. H. 1. 1923.
2 ) C am er er, J. W., und Schleicher, R. Beitrag zur Frage der
konstitutionellen Fett- und Magersucht. Ztschr. für menschliche Vererbungs-
und Konstitutionslehre. Bd. 19. H. 1. S. 32. 1935.
ERBLICHE DIATHESEN.
Aus dem Befunde der Magerkeit oder geringer Dickenentwicklung im
Verhältnis zur Länge wird oft voreilig auf „Unterernährung" geschlossen.
Besonders bei Untersuchungen von Schulkindern in der Kriegs- und Nach-
kriegszeit ist dieser Felder vielfach gemacht worden. Im übrigen darf die
Kenntnis der erbbedingten Möglichkeit natürlich nicht dazu führen, daß
wirkliche Unterernährung übersehen wird.
Der Unterschied zwischen Fctdeibigkeit und Magerkeit hat Beziehun-
gen zu den Unterschieden der geographischen und ökologischen Rassen.
Fettleibigkeit findet sich häufig bei Chinesen, Türken, Magyaren, Juden; Ma-
gerkeit bei Angelsachsen, Spaniern, eigentlichen Semiten, im deutschen Adel.
Der Unterschied fällt zum Teil mit dem zwischen Bewegungs- und Pflanzcr-
rassen zusammen (vgl. den Abschnitt über die seelischen Rassenunters chiede).
Eine herkömmliche Lehre besagte, daß die drei großen Stoffwechsel-
leiden Diabetes, Gicht und Fettsucht in den gleichen Sippen zusammen
vorkommen. Man hat sich vorgestellt, daß alle drei auf derselben Erbanlage
beruhen und sich im Erbgange gewissermaßen vertreten könnten. Man
sprach von „ungleichartiger" oder „polymorpher" Vererbung. Gerade in
Sippen, wo man Stoffwechselleiden in schwererer Form durch die Genera-
tionen verfolgen kann, herrscht aber durchaus das Bild der „gleichartigen"
Vererbung vor. Andererseits besteht zwischen Diabetes und Fettsucht eine
Korrelation 1 ). Diabetiker sind vor Ausbruch ihrer Zuckerkrankheit oft fett-
leibig, und sie haben oft fettleibige Verwandte. Bei bestehender Anlage zu
Fettleibigkeit tritt sehr leicht ein Zustand der Überfütterung ein; und Über-
füttcrung wirkt auslösend und verschlimmernd auf den Diabetes. Während
der Hunger jähre des Krieges und der Nachkriegszeit wurde nicht nur die
Fettleibigkeit sondern auch die Zuckerkrankheit selten bei uns. Es sind
offenbar zum Teil dieselben Erbanlagen, die einerseits zu Fettleibigkeit und
andererseits zu Zuckerkrankheit führen können. Auch die Anlage zu Gicht
kann durch Überfütterung ausgelöst oder verschlimmert werden. Die Korre-
lation zwischen Diabetes und Gicht ist aber viel geringer als die zwischen
Diabetes und Fettleibigkeit.
Die Gicht (Arthritis urica oder besser uratica) äußert
sich hauptsächlich in schmerzhaften Anfällen von Gelenkent-
zündungen, die mit Ablagerung von. Harnsäure einhergehen.
Die Harnsäure stammt aus, den Nukleinen tierischer Zellkerne ;
die Aufnahme kernhaltiger tierischer Nahrungsmittel wirkt dem-
gemäß auslösend auf die gichtische Diathese. Auch durch Zell-
gifte, die ein Absterben von Zellen und damit eine Auflösung
von Kernen verursachen, können Gichtanfälle ausgelöst wer-
den, z. B. durch Alkohol und Blei. Die gichtische Diathese
äußert sich bei Männern mehrfach häufiger als bei Frauen,
meist nicht vor dem vierten Jahrzehnt. Sie scheint in der E.egel
auf einer dominanten Erbanlage zu beruhen 2 ). In manchen
1 ) F i n k e , W. Über Diabetes mellitus als Erbkrankheit und seine
konstitutionellen Beziehungen zu anderen Krankheiten. Ztschr. für klinische
Medizin. Bd. 114. 1930.
s ) Ebstein, W. Die Natur und Behandlung der Gicht. Wies-
baden 1906.
460
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Sippen kann sie durch mehrere Generationen verfolgt werden;
in andern ist der Erbgang scheinbar unterbrochen, was daher
rühren dürfte, daß Umwelteinflüsse, zumal die Art der Er-
nährung auslösend bzw. hemmend wirken. Sippentafeln mit
Gicht zeigen die Abbildungen 147 und 148. Die Gicht ist am
häufigsten in den Küstenländern der Nord- und Ostsee; viel-
leicht besteht eine Beziehung zu der schweren blonden („fäli-
schen") Rasse.
Die Harnsaurediathcsc kann auch zu Nierensteinen führen. Nie-
ren- und Blasensteine aus Harnsäure kommen mit Gicht zusammen in man-
chen Sippen vor 1 ).
Häufiger sind Nieren- und Blasensteine aus Oxalat. Gram 2 }
hat eine Sippe beschrieben, in der Oxalatstcine auf Grund einer dominanten
1 9
cf 6 cf-
9
9^9
9
90^ 52
Fig. 146. Nierensteine aus Oxalat nach Gram.
Anlage vorkommen. Da nur Männer befallen waren, scheint die Äußerung
der Anlage geschlechtsbegrenzt zu sein. Die Erbbedingtheit von Zystin-
steinen wurde bereits weiter oben erwähnt.
In der älteren Literatur, besonders der französischen, spielt der Begriff
des „Arthritisinus" oder der „arthritischen Diathese" eine große Rolle.
Diese wurde als gemeinsame Grundlage von Diabetes, Gicht, Fettsucht,
Arteriosklerose, Schrumpf nie re, Asthma, Psoriasis, Muskelrheumatismus und
mancherlei anderen Leiden angesehen. Obwohl alle jene als Arthritismus
zusammengefaßten Leiden erblich mindestens mitbedingt sind, kann man
eine „arthritische Diathese" als biologische Einheit doch nicht aufrecht-
erhalten. Die Gicht ist nur eine „arthritische Diathese" unter anderen;
und da sie mit anderen „arthri tischen Diathesen", z. B. der Anfälligkeit
gegen Gelenkrheumatismus nicht wesensverwandt ist, tut man besser, sie
nicht so zu nennen.
Wesensverwandt ist die Gicht mit den Idiosynkrasien
oder Allergien. So nennt man krankhafte Empfindlichkeiten
gegenüber Stoffen, die von normalen Menschen ohne Schaden
vertragen werden. Am häufigsten ist die P ollen aller gie,
r ) Pel, P. K. Die Erblichkeit der chronischen Nephritis. Zeitschrift
für klinische Medizin. Bei. 38. S. 127. 1899.
2 ) Gram, H. C. The heredity of oxalic urinary calculi, Acta medica
Scandinavica. Bd. 78. FL 3/4. S. 268. 1932.
ERBLICHE DIATIiESEN,
gewöhnlich mit einem wenig treffenden Namen als Heu-
fieber bezeichnet. Sie wird durch den Pollen blühender
Gräser ausgelöst und äußert sich in Augenbindehautentzün-
dung und Schnupfen, ausnahmsweise auch in Asthma. Han-
hart 1 ), wohl der beste Kenner der erbbedingten Allergien, be-
zeichnet das Heufieber als Leitsymptom allergischer Veran-
lagung. Die gleiche Erbanlage kann sich unter anderen Um-
welteinflüssen und anscheinend auch in Kombination mit an-
deren Genen auch in anderen Krankheitsbildern äußern. So
zeigt eine Sippentafel, die ich dem verstorbenen Mathematiker
1 — 1
9 9
?
CT <j <sf isf ®" Cj) (j) <$?<§? <f Q (j> c? f
Fig. 147.
Gicht und Heuschnupfen nach Study.
Schwarz bedeutet Gicht, Punkt im Kreise bisher nur Heuschnupfen.
Study in Bonn verdanke, wie sich eine anscheinend domi-
nante Anlage bei den älteren Sippcnmitgliedern in Gicht,
d. h. Idiosynkrasie gegen tierische Zellkerne, und bei den jün-
geren in Heuschnupfen, d. h. in Idiosynkrasie gegen pflanz-
liche Pollenkörner äußert. Es ist zu vermuten, daß von den
jungen Leuten, die nur an Heuschnupfen leiden, später einige
oder alle auch die Erscheinungen der Gicht bekommen werden.
Andere Äußerungen allergischer Diathese sind die Nes-
selsucht (Urticaria), bei der nach Genuß bestimmter Spei-
sen (Erdbeeren, Krebsen u. a.) auf der Haut zahlreiche juk-
kende rote Quaddeln entstehen, das allergische Ekzem, eine
länger dauernde entzündliche Veränderung der Haut nach
Berührung mit gewissen Stoffen, das Asthma bronchiale,
krampfiger Verschluß des Magenausgangs (Pyloruskrampf),
Erbrechen, Durchfälle, flüchtige H autsch wellungen, Migräne.
Als auslösende Stoffe (Allergene) kommen neben Graspollen
verhältnismäßig häufig vor : Hühnereiweiß, Absonderungen
von Spulwürmern, Stäubchen von Pferdehaar, das Eiweiß ver-
schiedener Fische 2 ).
!) Hanhart, E. Erbkliiük der Idiosynkrasien. Deutsche Med. Wo-
chenschrift 1934. Nr. 29, 31, 46, 47, 49, 50, 52.
a ) Vermutlicherklärt so auch der Aberglaube, daß Fischblut „giftig" sei.
462
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Es gibt Erbanlagen zu allergischer Diathese, die sich je
nach den Umwelteinflüssen und je nach der sonstigen Erb-
masse in recht verschiedenen allergischen Krankheitserschei-
nungen äußern können. Ein Beispiel bunten Wechsels aller-
gischer Krankheiten bildet die abgebildete Sippentafel nach
Gänßlen. Nicht mimer aber ist die Mannigfaltigkeit so groß.
In einer von S chmid t - Kehl J ) sorgfältig erforschten Sippe
traten besonders Ekzeme und Heufieber auf. Hanhart hat
sich auf Grund einer großen Zahl von ihm erforschter Sippen
dahin ausgesprochen, daß es eine allgemeine, einfach domi-
nante Erbanlage zu allergischer Diathese gebe.
= Gicht,
O 1 (£>
? &
l l
f f g @" ^ ** 9 9 o 1
Fig. 148.
F a m i i i ä r e Häufung ver-
schiedener Allergien.
Nach Gänßlen (Ausschnitt) 3 ).
®
= Migräne,
m
= Gallensteine,
== Heuschnupfen,
®
= Asthma,
®
= Nesselsucht,
O
= Quinckesches Ödem
Es handelt sich bei den allergischen Reaktionen nicht um ein von dem
normalen wesensverschiedenes Verhalten. Auch der normale Organismus
kann durch artfremdes Eiweiß bis zu einem gewissen Grade sensibilisiert
werden, Wenn man einem Meerschweinchen ein wenig Pferdeserum einspritzt
und die Einspritzung nach einigen Wochen wiederholt, so stirbt das Tier
kiarz nach der zweiten Einspritzung unter Lungenblähung. Es hat sich bei
ihm eine Fähigkeit zur Abwehr artfremden Eiweißes gebildet, die übers Ziel
schießend eine so starke Reaktion zur Folge hat, daß das Tier dabei zu-
grunde geht. Eine so starke „Anaphylaxie" kommt zwar beim Menschen
nicht vor; aber die erwähnten Allergien auf Graspollen und andere Aller-
gene werden durch eine vorausgegangene Berührung mit diesen Stoffen
zum Teil stark erhöht. Durch konzentriertes Destillat der chinesischen Pri-
mel kann nach Bloch so gut wie jeder Mensch hochgradig allergisch ge-
macht werden. Andererseits zeigen Hanharts Erfahrungen über die
regelmäßige Äußerung der dominanten Erbanlage zu Allergien, daß die
Bedeutung der Sensibilisierung durch eine frühere Berührung mit dem
Allergen nicht überschätzt werden darf. Bei gegebener Veranlagung scheint
es über kurz oder lang eben doch zur Allergie zu kommen. Durch eine
größere Menge oder durch häufig wiederholte kleine Menge Allergen kann
schließlich wieder eine Desensibilisierung (Antianaphylaxie) erreicht werden.
Wie bei gleicher Erbanlage durch verschiedene Stoffe verschiedene
Allergien ausgelöst werden können, zeigt ein von H an hart beobachtetes
1 ) Schraiclt-Kelil, L. Über den Vererbungsmodus bei den allergi-
schen Krankheiten. ARGB. Bd. 27. H. 2. S. 175- 1933.
2 ) Medizinische Klinik 1921. Nr. 41.
ERBLICHE DIATHESEN.
w-
Paar eineiiger Zwillingsschweslern, von denen die eine auf Berührung mit
Sublimat mit Ekzem, die andere auf den Staub von Ziegenfell mit Asthma
reagierte. Sonst bekannt gewordene eineiige Zwillingspaare reagierten meist"
gleichartig- allergisch, z. B. ein Paar Hanharts mit Pollenschnupfen
und Pollcnasthma und ein Paar Sclimidt-Kehls mit Ekzem.
Bei Belastung durch beide Eltern fand II anhart gelegentlich be-
sonders starke Allergien, was an intermedia res Verhalten der Erbanlage
denken läßt.
Die allergischen Krankheitserscheinungen sind in den letzten Genera-
tionen häufiger geworden. Rehstcincr 1 ), der auf Veranlassung Han-
harts eine Erhebung über die Häufigkeit des Heuficbers in der Schweiz
angestellt hat, schätzt diese dort auf 0,8 n/o. Für die Vereinigten Staaten wird
rund 1% angegeben. Städter sind häufiger als Landleute befallen, geistige
Arbeiter häufiger als Handarbeiter. Die moderne Stadtkultur scheint eine
Sensibilisierung auch in dieser Hinsicht mit sich gebracht zu haben. Auch
reichlicher Fleischgenuß scheint nach Haag zu allergischer Sensibilität
zu disponieren, ebenso lebhafte Schilddrüsentätigkeit. In Flußtälern sind
Allergien häufiger als in höher gelegenen Landstrichen. Zum großen Teil
sind diese Unterschiede sicher durch die Umwelt bedingt; aber doch nicht
nur. Leptosome Typen sind häufiger befallen als pyknische. Seelisch sensible
Typen scheinen auch körperlich leichter sensibilisierbar zu sein. In diesem
Zusammenhang sei auch an die vorzugsweise Verbreitung der Gicht über
das Gebiet der nordischen Rasse erinnert. Allergien äußern sich am häufig-
sten im dritten und vierten Jahrzehnt des Lebens, wo die Intensität des
Lebens am größten ist. Auch die größere Häufigkeit der Allergien in der
Stadt und in den geistigen Berufen ist vielleicht zum Teil durch eine Aus-
lese sensibler Menschen bedingt. Andererseits erscheint es möglich, daß die
Landbevölkerung schon in der Kindheit durch häufige Berührung mit Gras-
pollen und damit gegen das häufigste Allergen desensibilisiert wird („Stille
Feiung").
Das Quinckes che Ödem (angioneurotisches Ödem,
akutes, umschriebenes Ödem), das in Allergiker sippen ge-
legentlich beobachtet wird, tritt in gewissen Sippen als beherr-
schende Äußerung einer dominanten Erbanlage auf. Bei den
mit dieser Anlage Behafteten schwellen plötzlich umschriebene
Teile der Haut oder der Schleimhaut stark an, um nach! einiger
Zeit wieder abzuschwellen. Sitzt die Schwellung z. B. außen im
Gesicht oder an der Nase, so ist es nicht weiter schlimm, be-
fällt sie aber den Kehlkopf (die Glottis), so kann der Tod
durch Ersticken eintreten. Eine derartige Sippentafel nach
Crowder 2 ) gibt Fig. 149 wieder. Zusammenfassend haben
Philipps und Barrows 3 ) über das Quinckesche Ödem be-
1 ) R eh s t eine r , R. Beiträge zur Kenntnis der Verbreitung des
Heuficbers. Dissertation Zürich rg26.
2 ) Cro w d e r , J. R. and C r owder, T. R. Five gencrations of
angioneurotic edema. Archives of Internat. Mcdicine. Bd. 20. 1917.
s ) Philipps, J. and Barrows, W. Hercdity of angioneurotic
edema. Genetics Bd. 7. 1922.
464 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
richtet. Die älteren Sippentafeln sind im Treasury von Bul-
loch 1 ) zusammengestellt.
Auch Migräne kommt in Sippen mit wechselnden Aller-
gien vor; häufiger aber kann sie als solche in dominantem Erb-
gang durch die Generationen verfolgt werden. Sie äußert sich
in plötzlich auftretenden heftigen halbseitigen Kopfschmerzen,
Fig. 149.
Anfälle umschriebener Haut-und Schleimhautscliwellung
(Quinckesches Ödem.) Nach Crowder. (Ausschnitt.) Die mit einem Ring
umzogenen 14 Personen starben im Anfall von Kehlkopf Schwellung.
die mehrere Stunden bis zu einem Tage dauern. Vermutlich
handelt es sich um Anfälle umschriebener Schwellung in den
Hirnhäuten. Fig. 150 zeigt eine Sippentafel nach Döllken 2 ),
die auf Grund persönlicher Mitteilung des Verfassers gegen-
über seiner Publikation vervollständigt ist.
Neben 8 Fällen von Vererbung durch einen kranken Elter kommen
in dieser Sippe drei Fälle von Übertragung durch einen migränefreien Elter
vor. Die Dominanz ist also nicht regelmäßig. Immerhin fand Döllken an
einem großen Material in 950/0 gleichartige Belastung mit Migräne. Eine
Korrelation mit Epilepsie hält er nicht für erwiesen. Die in der vorigen
Auflage dieses Buches ausgesprochene Vermutung, daß dominanter ge-
schlechtsgebundener Erbgang vorliegen könne, hat sich nicht bestätigt, da
Döllken in mehreren Sippen Migräne bei Vater und Sohn gefunden hat.
1 ) Bul loch, W. Angioneurotic Oedema. The Treasury of Human
Inheritance. Part. III. Section IX a. London 1909. Cambridge Univer-
sity Press. • \ \ [ | , j [:!] '
2 ) Döllken. Zur Therapie und Pathogenese der Migräne. Münch.
Med. Woch. 1928. Nr. 7. S. 291.
ERBLICHE DIATHESEN.
Das Asthma bronchiale gehört zu den weniger häu-
figen Äußerungen allergischer Diathesen. Es besteht in An-
fällen von Schwellung der tieferen Luftwege mit Absonderung
zähen Schleims und Atemnot. Nach Hanhart entsteht eine
Disposition zu Asthma, wenn eine Anlage zu allergischen Re-
aktionen mit einer gewissen Krampfbereitschaft kombiniert ist.
Sippentafeln finden sich in der zitierten Arbeit Hanhart s.
Die Vagotonie, eine Krampf bereitschaft des vegetativen Nerven-
systems, als deren Äußerung das Asthma vielfach angesehen wird, kann
sich auch in übermäßiger Säureabsonderung des Magens, spastischer Ver-
stopfung, Globusgefühl im Halse, Neigung zu Schweißen, Pulsverlangsa-
cf
cf
<fd
cf? cf cf
9
cf
cf cf cf
9 cf 9 9 cf f cf? ¥9
cf.
I I 1
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?
Fig. 150. Migräne nach Döllken.
mung äußern. Im Säuglingsalter weisen Asthmatiker meist Zeichen entzünd-
licher Diathese auf, die selbst vielleicht eine allergische Diathese ist. Die
allergische Natur des Asthmas zeigt sich darin, daß es durch geringfügige
Spuren bestimmter Stoffe ausgelöst werden kann, bei manchen Menschen
durch Graspollen, bei andern durch Stäubchen von Pferdehaar. Es besteht
eine Korrelation mit hysterischer Veranlagung, indem auch psychogene Ein-
flüsse zur Auslösung von Aslhmaanfällen führen oder doch beitragen kön-
nen. Bei Zwillingen ist Asthma mehrfach in übereinstimmender Weise be-
obachtet worden. Im männlichen Geschlecht ist es häufiger als im weib-
lichen.
Bei Asthmatikern finden sich die eosinophilen weißen Blutkörperchen
ungewöhnlich zahlreich; auch bei Verwandten von Asthmatikern sind diese
oft vermehrt. Sippentafeln mit Eosinophilie sind mehrere beschrieben
worden 1 ).
Auch die Entstehung von Gallensteinen hat Bezie-
hungen zu den allergischen Reaktionen. Man kann sich vor-
stellen, daß eine allergische Schwellung und Schleimabson-
derung in die Gallenblase erfolgt und daß das den ersten An-
stoß zur Bildung von Gallensteinen gibt, zumal wenn eine
1 ) Weißensieder,M. Über familiäre Eosinophilie. „Der Erbarzt'
Beilage zum „Deutschen Ärzteblatt", 1935. Nr. 6. S. 81.
Baur-Fisclier-I,euz I.
&
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
bakterielle Entzündung vom Darm her hinzutritt. In der Folge
lagert sich Cholesterin, später Kalk ein. Weitz 1 ) hat in seiner
Praxis den Eindruck einer so starken familiären Häufung von
Gallensteinleiden bekommen, daß er
f dominanten Erbgang wenigstens für
viele Fälle vermutet. Eine Sippentafel
mit anscheinend dominantem Erb-
gang gebe ich nach H uddy 2 ) wieder.
In einer Sippentafel, die ich Frau
Dr. Agnes Bluhm in Berlin-Lichter-
felde, verdanke, kommen Gallensteine
und Gicht in derselben Sippe und
zum Teil bei denselben Personen
Nach dem, was bei Besprechung
Gicht ausgeführt wurde, scheint
c?
Fig. 151.
Gallcnstcinleidcn
nach Huddy. Die halb-
schwarz bezeichnete Frau
litt an Gallenblasenentzün-
dung, ohne daß Steine fest-
gestellt werden konnten.
vor.
der
die-
ff
ff ff f 9
ff ff
ff
ff m ff
ff ff ff ff • ff
ff
ses Zusammentreffen kein zufälliges
zu sein.
Bei Sektionen werden oft Gallensteine gefunden, ohne daß von Krank-
heilsanfällen im Leben etwas bekannt geworden wäre. Es ist daher anzu-
nehmen, daß viel mehr Gallenstein! cid en vorkommen, als durch Verursa-
chung einer schmerzhaf-
l& ten GaUenblascnenty.ün-
7 [ düng bekannt werden. Das
erschwert die Erforschung
der Erblichkeit natürlich
sehr. Etwa bei jeder
zehnten Leiche wurden
Gallensteine gefunden,
und zwar viermal so häu-
fig bei Frauen als bei
Männern, was aber mög-
licherweise mit der weib-
lichen Kleidung zusam-
menhangt, die einenDruck
auf die Lebergegend aus-
übt und den Abfluß der
Galle erschweren kann.
Die hämolytische Diathese (hämolytischer
Ikterus, erbliche chronische Gelbsucht) beruht
auf einer abnormen Hinfälligkeit der roten Blutkörperchen.
Der Blutfarbstoff aus den in übermäßiger Menge zerfallenden
roten Blutkörperchen wird in der Leber in Gallenfarbstoff um-
J ) Nach persönlicher Mitteilung.
2 ) Huddy, G. P. B. A study of the family histories of 300 pa-
tients suffering from chronic Upper abdominal lesions. Tbc Lancct. Bd. 209.
Nr. 6. 1925.
Fig.
G a 1 I e n s t e i n 1 e i d e n nach Agnes Blüh m.
Die mit einem Ring bezeichneten Personen litten
an Gicht.
ERBLICHE DIATHESEN.
467
gewandelt und führt zur Gelbfärbung der Haut. Eine weitere
Folge des Blutzerfalls ist Blutarmut wechselnd hohen Grades.
Durch chirurgische Entfernung der Milz, in der die Zerstörung
der Blutkörperchen erfolgt, kann der Zustand weitgehend ge-
bessert werden.
Nach den Forschungen Gänßlens 1 ) beruht die hämoly-
tische Diathese auf einer dominanten (oder intermediären ?)
Erbanlage. Eine Sippentafel nach Ganßlen zeigt Fig. 153.
Die Erbanlage hat keineswegs immer das Vollbild der Krank-
heit zur Folge. Die Gelbsucht tritt bei ungefähr 40 0/0 der Trä-
ger der Anlage nicht in die Erscheinung. Aber auch Personen,
die „nur einen Hauch der Krankheit zeigen", vererben die An-
lage nach Gänßlen weiter. Die Schwere und Art des Krank-
heitsbildes scheint wesentlich von den sonstigen Erbanlagen,
mit denen die spezifische Anlage zusammentrifft, abzuhängen.
Cf
9
9
7~~i — 1
cf 9 9
o* ^ cf <§>
Fig. 153.
Erbliche Gelbsucht (Hämolytische Diathese). Nach Gänßlen.
(Im Säuglingsalter gestorbene Kinder sind weggelassen.)
Fast regelmäßig finden sich bei den Trägern der Anlage auch Gallen-
steine, was offenbar auf die abnorm starke Bildung von Gallenfarbstoff
zurückzuführen ist. Gänßlen fand bei einem großen Teil der Kranken zu-
gleich eine eigentümliche Hochköpfigkcit (Hypsikephalie). Wenn Gänßlen
außerdem noch Anomalien fast aller Organe mit der hämolylhi sehen
Diathese in Zusammenhang bringt, so handelt es sich dabei vermutlich nur
um eine indirekt bedingte Korrelation, wie sie bei der Frage der Entartungs-
zeichen auf S. 420 erörtert worden ist.
Auch die vorübergehende Gelbsucht, die viele Neugeborene zeigen,
scheint familienweise besonders stark vorzukommen, ebenso die seltene töd-
liche Gelbsucht der Neugeborenen. Über den Erbgang ist indessen nichts
Genaueres bekannt.
l ) Gänßlen, M. Über hämolytischen Ikterus. Deutsches Archiv für
klinische Medizin. Bd. 140. S. 210. 1922.
Gänßlen, M., Zipperlen, E. und Schiiz, E. Die hämolytische
Konstitution. Deutsches Archiv für klinische Medizin. Bd. 146. H. 1/2.
1924.
468 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLAGEN
Bei der Splenomegalie (erblichen Milz Vergrößerung)
nimmt die Milz während des Heranwachsens unverhältnismäßig an Größe
zu. Zugleich verfärbt die Haut sich unter Mitwirkung des Sonnenlichtes
braungelb. Die Milzvergrößerung beruht auf der Wucherung eigentümlicher
Zellhaufen, die sich auch in der Leber, den Lymphknoten und dem Knochen-
mark entwickeln. Im übrigen scheint das seltene Leiden harmlos zu sein.
Der Erbgang ist nach Sippentafcln von Gossage 1 ) und Flehn 2 ) in
der Regel dominant; doch kommt es vor, daß die Anlage bei einzelnen Per-
sonen sich wenig oder gar nicht äußert; daher können Generalionen schein-
bar übersprungen werden.
Leberschrumpfung (Leberzirrhose) pflegt zwar unter dem Ein-
fluß von Giftwirkungen (Alkohol, Syphilis, Malaria) zu entstehen; da aber
diese Schädlichkeiten auf zahllose Menschen einwirken, ohne daß es zu
Leberschrumpfung kommt, muß man wohl an eine erbliche Organschwäche
denken, und in der Tat ist das Leiden sippenweisc gehäuft beobachtet wor-
den. Von Schuszik 3 ) ist berichtet worden, daß drei Schwestern schon
im 2. und 3. Lebensjahr an Leberzirrhose zugrundegingen. In den letzten
Jahren ist von U m b e r und von Lang-
@ b ein 4 ) je ein Paar eineiiger Zwillinge be-
, I , schrieben worden, die in den fünfziger Jah-
ren an Leberzirrhose erkrankten.
Die Pseudosklerose oder
Wilsonsche Krankheit er-
wächst aus einer krankhaften Veran-
lagung, die zu Leberzirrhose und
Verödung in den Stammganglien des
Gehirns führt. Das Leiden ist nach
Kehrer 5 ) durch eine rezessive Erb-
anlage bedingt ; er hat gefunden,
daß von den Geschwistern der Kran-
ken rund ein Viertel ebenfalls er-
krankte.
Die perniziöse Anämie, eine fortschreitende Art von
Blutarmut, ist in einer Anzahl von Sippen gehäuft beobachtet
C?
_ 7 ^_
Fig. 154. Perniziöse
Anämie nach Bremer.
Der mit einem schrägen
Kreuz bezeichnete Mann hatte
nur Zeichen eines funikulären
Rückenmarkleidens.
i) G o s s a g e , A. M. The inheritance of certain human abnormalities.
Quarterly Journal of Mediane. Bd. 1. S. 331. 190S.
3) Plchn, A. Familiäre Milz- und Lebervergrößerung mit Anämie und
gutartigem Verlauf. Deutsche medizinische Wochenschrift. 1909. Nr. 40.
3 ) Schuszik. Über einen Fall von familiärer kindlicher Leberzirrhose.
Archiv für Kinderheilkunde 1920.
*) Langbein, A. Über konkordantes Vorkommen von Leberzirrhose
bei eineiigen Zwillingen. Der Erbarzt. 1935. Nr. 6. S. 82.
& ) Kehrer, F. Zur Ätiologie und Nosologie der Pseudosklerose West-
phal -Wilson. Zeitschrift für die gesamte Neurologie. Bd. 129. H. 3 und 4.
S. 488. 1930.
ERBLICHE DIATHESEN.
469
worden 1 ), so daß an ihrer wesentlichen Erbbedingtheit nicht
mehr zu zweifeln ist.
Die hier wiedergegebene Sippentafel nach Bremer 2 )
zeigt das Bild dominanten Erbgangs. Wenn in den meisten
FäUen keine gleichartige Belastung festgestellt werden kann,
so scheint das daran zu liegen, daß die zugrundeliegende Erb-
anlage meist nicht zum vollen Bilde der perniziösen Anämie
führt. Bei den Kranken fehlt in der Regel die Salzsäureabson-
derung des Magens; und diese Achylia gastrica findet sich oft
auch bei Verwandten ohne Anämie. Es scheint, daß die nor-
male Magenfunktion vor perniziöser Anämie schützt. Weitz
vermutet in der anscheinend dominant erblichen Anlage zu der
aehylischen Magenstörung die hauptsächliche Ursache der per-
niziösen Anämie. Bei den Kranken selbst und bei Verwandten
finden sich häufig auch Zeichen eines funikulären Rücken-
marksleidens, das sich in Störungen der Empfindungs- und Be-
wegungsnerven der Arme und Beine äußert und das offenbar
durch dieselbe Erbanlage bedingt ist. Man könnte daran den-
ken, daß schon die Achylie im Grunde durch den Ausfall einer
entsprechenden Nervenfunktion verursacht sei.
Zur Auslösung der perniziösen Anämie können Umwelteinflüsse bei-
tragen, z. B. die Giftstoffe des breiten Bandwurms (Botriokephalus). In
Finnland, wo der breite Bandwurm infolge des Genusses ungekochter Fisch-
speisen sehr verbreitet ist, erkrankt nur ein kleiner Teil der Bandwurmträger
an Anämie, und zwar oft Mitglieder derselben Sippe 3 ).
In einigen Sippen ist neben perniziöser Anämie auch essentielle
hypochrome Anämie beobachtet worden, was in Anbetracht der ge-
ringen Häufigkeit dieser Leiden nicht zufällig sein kann 4 ). Während die
perniziöse Anämie durch Leber und Leberpräparate günstig beeinflußt wer-
den kann, ist das bei hypochromer Anämie nicht der Fall, wohl aber durch
große Eisengaben. Dieselbe Erbanlage scheint sich bei Frauen häufiger als
hypochrome Anämie, bei Männern als perniziöse Anämie zu äußern.
Die harmloseste Art von Blutarmut, die Chlorose oder Bleich-
sucht, die vor Jahrzehnten bei jungen Mädchen sehr häufig war, ist heute
so gut wie verschwunden. Sie muß also durch Umwelteinflüsse ausgelöst
worden sein. Deneke 5 ) hat der damaligen Damenmode, die eine Einschnü-
1 ) Meulengracht. Fünf Fälle von perniziöser Anämie in derselben
Familie. Ugeskrift for laeger. 1925. H. 25.
2 ) Bremer, F. W. Zentralnervensystem und perniziöse Anämie. Er-
gebnisse der inneren Medizin. Bd. 41. S. 143. 1931.
3 ) Schaumann, O. Über das familiäre Auftreten der perniziösen
Anämie. Finska Läkaresällskapets Handlingar. Hclsingfors 19 18.
4 ) Weitz, W. Über Erblichkeit hypochromer Anämie. Der Erbarzt.
1934. Nr. 7. S. 103.
D ) Deneke, Th. Über die auffallende Abnahme der Chlorose. Deut-
sche med. Wochenschr. 1924. Nr. 27.
470
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
rung des Leibes forderte, die Schuld gegeben. Das vielfach beobachtete
sippenmäßig gehäufte Auftreten könnte zum Teil auf Ähnlichkeit der Lebens-
weise oder der sonstigen Umwelt beruhen; und doch haben alle Autoren, die
große Erfahrung mit Chlorose haben, den Eindruck gewonnen, daß die
erbliche Veranlagung wesentlich mitwirkt 1 ). W e i t z denkt an eine domi-
nante Erbanlage von geschlechtsbegrenztcr Äußerung.
Bei der Polyzythämie handelt es sich um eine starke Vermehrung
der roten Blutkörperchen und anscheinend auch der Blutmenge. Engel-
king 2 ) konnte den seltenen Zustand, der auch mit gewissen Veränderungen
am Auge einhergeht, durch drei Generationen verfolgen; es scheint sich also
um eine dominante Anlage zu handeln.
Die paroxysmale Hämoglobinurie, das anfallsweise Blut-
harnen, das nach öfter ganz geringfügigen Kälteeinwirkungen auftritt, be-
ruht in vielen Fällen sicher auf erblicher Veranlagung. Genaueres ist nicht
bekannt.
Die Leukämie beruht auf schrankenloser Vermehrung weißer Blut-
körperchen. Von der lymphatischen Leukämie, bei der die rundkernigen,
lymphatischen Blutkörperchen vermehrt sind, ist mehrfaches Auftreten in
einer Sippe Öfter beobachtet worden, einmal auch konkordantes Auftreten
bei eineiigen Zwillingen 3 ). Die myeloische Leukämie, bei der die gelappt-
kernigen Blutkörperchen vermehrt sind, ist nach Weitz einige Male in
Sippen beobachtet worden, in denen auch Fälle lymphatischer Leukämie
vorkamen. Vermutlieh sind äußere Ursachen von größerer Bedeutung für
die Entstehung der Leukämien als die erbliche Veranlagung, ähnlich wie
bei den bösartigen Geschwülsten, mit denen die Leukämien wesensverwandt
sind. Wie jene können sie durch Röntgenstrahlen verursacht werden.
Nierenentzündungen (Glo m e ruloneph r it i -
den), die durch Infektion ausgelöst werden, kommen so aus-
gesprochen familienweise gehäuft vor, daß an der Mitwirkung
der erblichen Veranlagung nicht zu zweifeln ist. P el 4 ) hat eine
Sippe beobachtet, in der 18 Mitglieder der Glomerulonephri-
tis zum Opfer fielen. Dickinson 5 ) hat 18 Fälle chronischer
Nephritis in drei Generationen beschrieben. Hier handelte es
sich offenbar um so starke Anfälligkeiten, daß die auslösende
Infektion, die über kurz oder lang doch eintritt, eine neben-
sächliche Rolle spielt und die Erbanlage zur entscheidenden
Ursache der Krankheit wird. Der Erbgang in diesen Sippen
war anscheinend dominant. Auch Guthrie, Hourst und
1 ) N aegeli, O. Allgemeine Konstitutionslehre. 2. Aufl. 1934. S. 163.
2 ) Engel king, E. Über familiäre Polyzythämie. Klinische Monats-
blätter für Augenheilkunde. Bd. 64. S. 645. 1920.
3 ) Pctri, S. Acta pathologica et microbiologica Scandinavica. Bd.
10. S. 456. 1933.
4 ) Pel, P. K. Die Erblichkeit der chronischen Nephritis. Zettschr. für
klinische Medizin. Bd. 38. S. 127. 1899.
5 ) Dickinson, Diseases of the Kidncy. 1877. (Zitiert nach E. E b-
stein.)
ERBLICHE DIATHESEN.
47:
Q
o
o o
o o
9
Fig. 1 55-
Nierenentzündung (Glomerulonephritis).
Nach Weitz 2 ).
Alporth haben eine Sippe beschrieben, in der 14 Mitglieder
an Glomerulonephritis litten 1 ).
In manchen Sippen scheinen die Nieren gegen ganz be-
stimmte Schädlichkeiten empfindlich zu sein; so gibt es Fa-
milien, in denen bei mehreren Mitgliedern Nierenentzündung
nach Scharlach beob- ja
achtet wurde, wäh- ]
rend diese sonst durch-
aus nicht eine regel-
mäßige Folge des , — ,— — \-
Scharlachs ist. Diese O O O
Scharlachnephritis
heilt in den meisten
Fällen ohne dauern-
den Schaden aus.
In Fig. 1 56 handelt es sich um eine Familie, in der alle vier Geschwister,
die damals 14, 12, 10 und 5 Jahre alt waren, etwa zu gleicher Zeit an
Nephritis erkrankten. Nur die jüngste Schwester hatte die gewöhnlichen
Zeichen von Scharlach; man muß aber wohl an-
nehmen, daß auch die anderen drei Geschwister um @y m
diese Zeit Scharlach, wenn auch ohne Hautaus- I . "^
schlag, durchmachten. Die Mutter hatte im Alter
von io Jahren schweren Scharlach mit Nephritis
durchgemacht und auch später noch einmal N e-
phritis in der Schwangerschaft. Auch der Vater J- I
hatte im Alter von 1 1 Jahren Nephritis gehabt. ® Ij?
Vater und Mutter waren Geschwisterkinder. ' . , J
Die Nierenschrumpfung ( ar- 0* @ m
teriolosklero tische Nephrosklerose) ent-
steht auf dem Boden einer Arterioskle- s " 1; > 6 '
rose bzw. Hypertonie und ist mit der Scharlachnephritis.
Veranlagung zu diesen Leiden erblich (Eigene Beobachtung.)
(vgl. S. 450 f-)-
Von der Zystenniere, die in einer Durchsetzung der Niere mit
Hohlräumen besteht, sind drei Sippen bekannt geworden, in denen sich das
Leiden durch 3 Generationen verfolgen ließ 3 ). Die Anlage scheint einfach
1 ) Nach Weitz, W. Die Vererbung der Krankheiten der Kreislauf-
organe und der Nieren. 46. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für innere
Medizin. München 1 934. Bergmann.
2 ) Weitz, W. Die Bedeutung der Erblichkeit für die Ätiologie. Er-
gebnisse der gesamten Medizin. Bd. V. H. 3 u. 4. 1925.
3 ) Nach Weitz, W. Über die Erblichkeit der Erkrankungen des
Herzens und der Gefäße, der Nieren und der blutbildenden Organe. Aus
dem Sammelwerk „Wer ist erbgesund und wer ist erbkrank?" Jena 1935.
Fischer.
qf § §
472 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
dominant zu sein. Da die Mißbildung meist nur bei der Sektion festge-
stellt wird, ist die Erforschung ihres Erbgangs schwierig; sonst wären ver-
mutlich viel mehr Sippentafeln darüber bekannt.
Hochgradige Zystennierc, die bald nach der Geburt zum Tode führt,
ist einige Male bei Geschwistern beobachtet worden; vermutlich beruht sie
auf einer rezessiven Erbanlage.
Angeborene Mißbildungen des Herzens sind in einer Reihe
von Fällen bei mehreren Geschwistern festgestellt worden, selten in ununter-t
brochenem. Erbgang durch mehrere Generationen. Eine abnorme Verbin-
dung der Lungenschlagadcr, die aus der rechten Herzkammer entspringt,
und der Hauptschlagader, die aus der linken Kammer kommt (Bestehenblei-
ben des fetalen Ductus Botalli), ist einmal bei sechs Geschwistern beobach-
tet worden. Da hochgradige Mißbildung des Herzens gleich nach der Ge-
burt oder doch in der Kindheit zum Tode führt, kommt dominanter Erbgang
für solche nicht in Frage. Man wird für die Anlagen zu Herzmißbildungen
aber mit einer ziemlich großen Entwicklungslabüität rechnen müssen derart,
daß dieselbe Anlage zu verschieden schweren Mißbildungen führen kann
und unter Umständen sich auch nur ganz leicht oder gar nicht zu äußern
braucht. Erbbedingt ist vermutlich meist auch die abnorme Enge der Lungen-
schlagader, die eine Hemmung des Kreislaufs („Blausuchl") bedingt; Weitz
sah sie bei 4 von i 1 Geschwistern.
cT cf
9
\~_ v" i":
<? y c? q ä*f q & (f & %? y
9
9
cf • cf &
Fig. 157.
Herzklappeuf ehler nach Gelenkrheumatismus und Herr.-
klappenentzündung. Nach Hanhart.
Abnorme Kleinheit des Herzens und Herzmuskelsch wache
sind sicher meist erbbedingt ; sie kommen auch als Teilerschei-
nung der Asthenie vor. Herzleiden bei Hyperthyreose und bei
Hypertonie sind schon an den entsprechenden Stellen erwähnt
worden. Nervöse Krankheitserscheinungen am Herzen (Herz-
neurose) kommt oft sippenweise gehäuft vor 1 ). Die sog.
paroxysmale Tachykardie, die in Anfällen einer auf
das Doppelte beschleunigten Herztätigkeit besteht, ist nach
Weitz in manchen Sippen durch mehrere Generationen ver-
folgt worden.
Hcrzklappenentzündung (Endokarditis) tritt
meist im Gefolge von infektiösem Gelenkrheumatismus (Poly-
1 ) Herz, M. Über den Einfluß der Heredität auf die Entstehung von
Herzkrankheiten. Münch. med. Woch. 1912. Nr. 8.
ERBLICHE DIATHESEN.
473
arthritis) auf, wird aber nicht selten auch für sich allein
beobachtet. Gelenkrheumatismus wie Hcrzklappenentzündung
und damit auch Herzfehler sind oft sippenweise gehäuft. Eine
Sippentafel, die Hanhart 1 ) aufstellen konnte, legt dominan-
ten Erbgang nahe. Auch von andern Autoren sind Herzklap-
penfehler nach Endokarditis mehrfach durch drei und mehr
Generationen verfolgt worden 2 ).
In einer von Slrefael 3 ) und Steiger beschriebenen Sippe war
H erzklapp enentzünduug merkwürdigerweise mit Verlagerung der Linse ver-
knüpft (vgl. S. 336).
er
cj) cf
9
Fig. 1.
Herzfehler im Anschluß an Herzklappenentzündung.
Nach Strebcl (Ausschnitt). Von der mit Fragezeichen bezeichneten Frau
ist es zweifelhaft, ob sie herzleidend gewesen ist. Die schwarz bezeichneten
Personen litten zugleich an Verlagerung der Linse.
In manchen Familien erkranken so viele Mitglieder an Hcrz-
klappenentzündung, daß auch unter der Voraussetzung domi-
nanten Erbganges die Anlage fast in jedem Falle zur Erkran-
kung zu führen scheint. Gelegenheit zu rheumatischer Infek-
tion scheint für alle dafür empfänglichen Personen hin und
wieder gegeben zu sein, und nicht empfängliche scheinen trotz
vielfacher Gelegenheit zur Infektion nicht zu erkranken. Ver-
se h u e r fand allerdings vier Paare eineiiger Zwillinge, von
denen nur einer einen Herzfehler hatte, und nur ein Paar, bei
dem beide befallen waren.
Die vorwiegend bei infantilisüschen weiblichen Personen vorkommende
Mitralstenose, die Ferranini 4 ) in einer Sippe gehäuft sah, tritt nach
Weitz in der Regel nur isoliert auf.
Für die Entstehung von Magenleiden hat die erbliche
Veranlagung anscheinend eine noch größere Bedeutung als un-
zweckmäßige Ernährung. Demgemäß fand Weitz bei seinen
Zwillingsstudien Magenleiden bei eineiigen Zwillingen in der
x ) Nach persönlicher Mitteilung.
2 ) Mohr, L. Über familiäre Herzfehler. Medizin. Klinik 1905. H. 23.
s ) Strebel, J- Korrelation der Vererbung von Augenleiden usw.
ARGB. Bd. 10. FL 4. 1913.
4 ) Nach Mohr a. a. O.
474 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Cf
&
Regel in übereinstimmender Weise. „Diätfchler" führen fast
nur bei Personen mit „schwachem Magen" zu ernsteren Stö-
rungen der Gesundheit. Muskelschwäche undSchlaff-
heit (Atome) des Magens findet sich besonders bei asthe-
nischer Konstitution. Ebenso ist die m ang elha f t e Ab so n-
derung von Magensaft (Achylie) zum großen Teil erb-
bedingt. „Nervöse Magenleiden" kommen als Teilerscheinung-
allgemeiner Anomalien des Nervensystems vor. Übermäßige
Salzsäureabsonderung (Hyperchlorhydrie) kommt in manchen
Familien gehäuft vor, meist wohl infoige eines abnormen Reiz-
zustandes im vegetativen Nervensystem, der sog. Vagotonie.
Dahin gehört auch der krampfige Verschluß des Magenaus-
gangs (Pylorospasmus) der sich hauptsächlich im Kindesalter
in immer wiederkehrendem quälenden Erbrechen äußert. Es
bestehen Beziehungen zur allergischen Diathese.
Das Magengeschwür (Ul-
cus ventriculi) beruht auf Selbst-
verdauung von Stücken der Ma-
genwand. Es ist ein sehr häufiges
Leiden. R o e ß 1 e fand bei über
ioo/o aller Sektionen Narben von
Magengeschwüren. In den meisten
Fällen heilt ein Magengeschwür
ohne schwere Folgen aus; es kann
aber auch zu langdauerndem Kran-
kenlager und zum Tode führen.
Nach Grotc 1 ) finden sich in über
600/0 alier Fälle von Magengeschwür weitere Fälle in der Fa-
milie. Strauß 2 ) fand einen weniger hohen Prozentsatz, konnte
aber ebenfalls ausgesprochene familiäre Häufung bestätigen.
Spiegel 3 ) hat gefunden, daß Eltern und Geschwister von Per-
sonen, die an Magengeschwür leiden, gegen fünfmal so häufig
Magengeschwür und sechsmal so häufig Magenkrebs hatten als
Angehörige von Magengesunden. Ganz ähnliche Ergebnisse hat
auch Adler 4 ) gehabt. Zwischen Magengeschwür und Magen-
1 ) Grote, L. R. Der Einfluß der Konstitution auf die Pathogenese
der Magendarmerkrankungen. Halle, Marhold 1920.
2 ) Strauß, H. Über hereditäres und familiäres Vorkommen von Ulcus
ventriculi et duodeni. Münch. med. Wochenschr. 1921. H. 8.
3 ) Spiegel. Organdisposition bei Ulcus pepticum. Deutsches Archiv
für klinische Medizin. Bd. 126. S. 45. 1918.
4 ) Adler, E. Über hereditäres Vorkommen des Magen- und Zwölf-
fingerdarmgeschwürs. Archiv f. Verdauungskrankheiten. Bd. 37. S. 393. 1926.
Eig. 159.
Geschwür des Zwölffinger-
darms (Ulcus duodeni). Nach
H ud d y. Der mit einemX bezeich-
neteMannlitt an Magengeschwür,
die übrigen schwarz bezeichneten
Personen an Duodenalgeschwür.
ERBLICHE DIATHESEN.
475
krebs besteht insofern eine Beziehung, als Magenkrebs sich
mit Vorliebe auf dem Boden eines alten Magenschwürs ent-
wickelt. Über die Erblichkeit des Krebses wird weiter unten
zu reden sein. Über 9 Familien mit Geschwüren des Magens
oder Zwölffingerdarms (Ulcus duodeni) hat Ohly 1 ) kurz be-
richtet. Huddy 2 ) hat gefunden, daß auch der Sitz des Ge-
schwürs entweder im Magen oder im Duodenum bei nahen
Blutsverwandten im allgemeinen der gleiche war.
Die Hypothese, daß dem Magengeschwür eine einheitliche einfach
rezessive Organminderwertigkeit des Magens zugrimdeliege, die J. Bauer 3 )
und BertaAschne r 4 ) aufgestellt haben und der sich auch Mattiso n ,r ')
angeschlossen hat, ist methodologisch unzulänglich begründet.
Die Veranlagung zu Magengeschwür ist sicher keine erb-
biologische Einheit. Offenbar können verschiedene Erbanlagen
je nach dem Zusammenwirken mit Umweltschäden zu ver-
schieden schweren Krankheitsbildern führen. Disponierend wir-
ken allergische Veranlagung und Vagotonie (Hyperchlorhydrie
und Pyloraskrampf), die meist durch dominante Erbanlagen
bedingt sind. Eine gewisse Korrelation besteht zum astheni-
schen Habitus. Im ganzen sind anscheinend mehr dominante
als rezessive Erbanlagen am Zustandekommen von Magen-
geschwüren beteiligt.
Für die chronische Stuhlverstopfung (habituelle
Obstipation) dürfte die erbliche Veranlagung ebenso von Bedeu-
tung .sein wie für die (seltenere) Neigung zu Durchfällen, unter
der manche Personen zeitlebens zu leiden haben. Spastische
(krampfige) Verstopfung ist meist Teilerscheinung von Vago-
tonie, atonische (schlaffe) von Asthenie.
Die Kotform ist bei verschiedenen Menschen konstitutionell verschieden.
Manche haben geformten Kot, ähnlich dem Schafkot, andere breiigen, ähn-
lich dem Schweinekot, Auch die Anlage zu übermäßiger Gasbildung im Darm
(Flatulenz) kommt konstitutionell und vermutlich erbbedingt vor.
Die sog. H ir s ch s p r ung sehe Krankheit, beider es auf
Grund abnormer Weite des Dickdarms schon im ersten Kin-
') Ohly, A. Familiäres Auftreten von Ulkus im Gastroduodcnal-
traktus. Münch. med. Wochenschr. [923. H. 37.
2 ) Huddy, G. P. B. A study of the family histories of 300 patients
suffering from chronic Upper abdominal lesions. The Lancet. Bd. 209. Nr. 6.
1925.
3 ) B a u e r , J. Die konstitutionelle Disposition zu inneren 'Krankheiten.
3. Aufl. Berlin 1924.
4 ) Aschnci, B. Über Konstitution und Vererbung beim Ulcus ventri-
culi und duodeni. Zeitschrift für Konstitutionslehre. Bd. 9. H. 6. 1923.
5 ) Mattison, K. Das Magengeschwür. Berlin und Wien 193 i. Urban
und Schwarzenberg.
476 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
desalter zu Anhäufung großer Kotmassen im Dickdarm kommt,
ist in zwei von Gänßlen 1 ) erforschten Sippen anscheinend
dominant erblich.
Was die Krankheiten der Atemwege und der
Lunge angeht, so kommt chronischer Bronchialkatarrh
und öfter damit zusammenhängend Emphysem oder Lun-
genblähung ausgesprochen familienweise gehäuft vor. Anderer-
seits scheint auch eine erbliche „starre Dilatation des Thorax",
,, bei der der Brustkorb dauernd in einer
¥ Stellung wie auf der Höhe der Ein-
p— , — | — , i | , — 1 — , atmung steht, eine Ursache chronischen
^ ^ ^ (f ^ @ $ Q Emphysems und Bronchialkatarrhs ab-
geben zu können. B ronchektasien
Fig. 160. (Erweiterungen der Luftwege der
Abnorme Weite des Lunge) sind bei mehreren Paaren ein-
Dickdarms (Hirsch- eiiger Zwillinge gleichartig, also offen-
sprungsche Krank- bar erbbedingt gefunden worden 2 ),
heit). Nach Gänßlen. Ozaena, eine chronische Ver-
änderung der Nasenschleimhaut (Rhi-
nitis atrophicans) mit Bildung stinkender Borken, scheint auf
Grund einer dominant erblichen Anlage zu entstehen. Gegen-
über dem Einwand, daß es sich um die familiäre Ausbreitung
einer chronischen Infektion handeln könne, macht Albrecht 3 )
geltend, daß nur Blutsverwandte, nicht aber z. B. Ehegatten
von Ozaenaträgern ebenfalls befallen werden.
Ozaena kommt auch als Teilerscheinung eines rezessiv geschlechtsge-
bundenen Syndroms von Anidrosis, Hypotrichosis und Zahndefekten vor.
Hier scheint das Fehlen von Schleimdrüsen der Nase dem Fehlen von
Schweißdrüsen der Haut zu entsprechen.
g) Die Anfälligkeit gegen Infektionskrankheiten.
Bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit galt die Syphilis als ein Muster-
beispiel einer „erblichen" Krankheit. Ich glaube für die Leser dieses Buches
kaum noch sagen zu brauchen, daß es sich bei der Übertragung einer In-
fektionskrankheit von Eltern auf Kinder natürlich nicht um echte Vererbung
handelt. Bei der Syphilis im besonderen kommt nur eine Übertragung
durch die Mutter, und zwar durch den mütterlichen Blutkreislauf auf die
sich entwickelnde Frucht vor. Übertragung ausschließlich vom Vater her,
*) Nach Weitz, W. Die Bedeutung der Erblichkeit für die Ätiologie
a. a. O.
2 ) Nach v. Verschuer, O. Erbpathologie. Dresden u. Leipzig 1934.
3 ) Albrecht, W. Über Konstitutionsprobleme in der Pathogenese
der Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten. Ztschr. für Hals-, Nasen- und
Ohrenheilkunde. Bd. 29. H. i. S. 18. 1931.
ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 477
ohne daß die Mutter angesteckt werde, gibt es nicht. Man spricht daher
besser nicht von „kongenitaler" sondern von konnataler Syphilis;
die „hereditäre" Syphilis gehört in die Rumpelkammer.
Es kann sich bei der erblichen Bedingtheit von Infektions-
krankheiten immer nur um die Anfälligkeit gegenüber
Krankheitserregern handeln,
Jede Infektionskrankheit stellt einen Kampf zwischen eingedrungenen
Kleinlebewesen und dem befallenen: Organismus dar. Die verschiedenen
Arten der Tiere haben im allgemeinen auch verschiedene Kleinschmarotzer.
Der Mensch ist für die meisten Krankheiten seiner Haustiere nicht empfäng-
lich und umgekehrt diese nicht für die Krankheiten des Menschen. Aber auch
die verschiedenen Menschen sind durchaus nicht alle gleich empfänglich
für eine Infektionskrankheit. Wenn z. B. Diphtheriebazillen auf die Schleim-
haut des Rachens oder des Halses eines Kindes gelangen, so erkrankt doch
nur ein Teil der Infizierten an Diphtherie, bei einem andern Teil vermögen
die Bazillen sich dagegen nicht anzusiedeln, und bei einem dritten Teil
haften sie zwar und vermehren sich auch, die betreffenden Kinder werden
aber trotzdem nicht krank. Auch bei den Erkrankten verläuft die Krankheit
sehr verschieden schwer; die einen haben nur leichte Halsbeschwerden,
andere gehen unter schwersten Krankheitserscheinungen zugrunde. Für
manche Krankheiten wie Masern, Pocken, Influenza sind zwar die aller-
meisten Menschen empfänglich, die die betreffende Krankheit noch nicht
durchgemacht haben; aber auch von diesen Seuchen bleiben einzelne Men-
schen trotz Ansteckungsgelegenheit völlig verschont. Von andern Krank-
heiten wie Genickstarre oder Scharlach werden trotz Ansteckungsgelcgen-
heit die meisten Menschen nicht befallen, sondern nur einzelne.
Die Empfänglichkeit eines Individuums für eine Krankheit
bezeichnet man als Disposition; als deutsche Bezeichnung
für Disposition ziehe ich das Wort Anfälligkeit dem um-
ständlicheren Worte „Krankheitsbereitschaft" vor. Das Gefeit-
sein gegen eine Infektion nennt man Immunität. Je größer
die Immunität, desto kleiner ist die Disposition und umgekehrt.
Beide Begriffe bilden also ein Paar, von denen der eine das
Negativ des andern ist. Für den Vorgang der Immunisierung
hat v. Pfaundler das deutsche Wort „Feiung" vorgeschlagen.
Man hat bisher meist eine angeborene von einer erworbe-
nen Immunität bzw. Disposition unterschieden. Diese Unter-
scheidung läßt sich indessen nicht durchführen; auch die ange-
borene Immunität ist zum Teil erworben, nämlich im Mutter-
leibe; und auch die erworbene ist ihrer Möglichkeit nach an-
geboren, insofern als auch sie ihre Grundlage in den Erb-
anlagen hat. Wir unterscheiden heute zwischen der erblichen
(idiotypischen) und nichterblichen (p a r a t y p i -
sehen) Immunität bzw. Disposition. Auch Personen von glei-
cher Erbmasse, z. B. eineiige Zwillinge können infolge der ver-
schiedenen Umwelteinflüsse verschiedene Anfälligkeiten gegen
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Krankheiten aufweisen; diese Unterschiede sind rein para-
typisch. Wenn andererseits verschiedene Menschen von Geburt
an genau denselben Umwelteinflüssen ausgesetzt sind, so sind
ihre Krankheitsdispositionen doch nicht die gleichen, und zwar
wegen ihrer verschiedenen erblichen Veranlagung; das sind rein
idiotypische Dispositionsunterschiede. Die tatsächliche (phäno-
typische) Disposition eines Menschen ist stets zugleich durch
Einflüsse der Erbmasse und der Umwelt bedingt ; und wenn
wir von Unterschieden der einen Bedingungsgruppe reden, so
setzen wir dabei immer bis zu einem gewissen Grade Gleich-
heit der andern voraus. Völlig gleiche Anfälligkeit gegen
Krankheiten würden nur zwei Menschen von genau gleichen
Erbanlagen, d. h. eineiige Zwillinge haben, die unter genau den
gleichen Umweltbedingungen aufgewachsen wären.
Der normale Organismus verfügt über eine große Zahl von Schutzein-
richtungen gegen Krankheitserreger. Die normale unverletzte Haut schützt
gegen das Eindringen von Wundinfektionserregern. Durch die Flimmerbe-
wegung der Schleimhaut der tieferen Luftwege können Krankheits keime
wieder hcrausbefördert werden, bevor sie sich einnisten. Durch den normalen
sauren Magensaft können Cholerabazillen und andere Krankheitserreger,
die mit der Nahrung oder dem Wasser aufgenommen werden, unschädlich
gemacht werden. Krankheitserreger, die durch Wunden eingedrungen sind,
können noch in den Lymphdrüsen abgefangen und unschädlich gemacht
werden. Aber auch nachdem die Vermehrung von Krankheitserregern im
Körper schon erfolgt ist, stehen dem Organismus noch mancherlei Waffen
zum Kampf gegen die Eindringlinge zur Verfügung. Durch weiße Blutkör-
perchen, besonders die gelapptkernigen, können Bakterien und andere Krank-
heitsreger aufgenommen und abgetötet oder doch eingeschlossen und un-
schädlich 'gemacht werden. Bei vielen Infektionskrankheiten erfolgt zu diesem
Zwecke eine starke Vermehrung dieser Freßzellen. Die weißen Blutkörper-
chen und wohl auch noch andere Organe erzeugen auch chemische Schutz-
stoffe gegenüber Kleinschmarotzern und deren Giften. Solche Schutzstoffe
scheinen bis zu einem gewissen Grade auch ohne spezifische Reize einfach
auf Grund der erblichen Veranlagung gebildet werden zu können. Auf den
Reiz eingedrungener Krankheitserreger hin erfolgt aber eine starke Ver-
mehrung der Schutzstoffe, und zwar wird durch eine bestimmte Art von
Krankheitserregern in der Regel die Bildung ganz bestimmter Schutzstoffe
ausgelöst, die der Unschädlichmachung gerade dieser bestimmten Klein-
schmarotzer dienen. Da viele Schutzstoffe auch lange Zeit nach Überstehen
der Krankheit im Blute bleiben, bzw. da die Umstimmung der Gewebe zu
ihrer Bildung bestehen bleibt, so ist der Organismus auf mehr oder weniger
lange Zeit gegen die betreffende Krankheit gefeit. Darauf beruht die soge-
nannte erworbene Immunität, die insofern paratypiseh, d. h. nichterblich
ist. Die Immunisierung erfolgt zum Teil stürmisch unter den Erscheinungen
der betreffenden Krankheit, mindestens ebenso häufig aber unbemerkt in
Form ,, stiller Feiung" (v. P f a u n d 1 c r), bei der die Mikroorganismen
nur die Bildung von Schutzstoffen, aber keine Krankheitszeichen hervor-
rufen. Die Bildung aller Schutzstoffe ist ihrer Möglichkeit nach aber erbbe-
ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 479
dingt. Erblich ist also die Fähigkeit, im Bedarfsfälle spezifische Schulz-
stoffe zu bilden, und die Summe dieser Reaktionsmöglichkeiten ist bei ver-
schiedenen Menschen recht verschieden. Der Organismus ist keineswegs ein
unbeschriebenes Blatt, auf das der Immunisierungsreiz alles niederschreiben
könnte 1 ). Es handelt sich bei der Bildung der Immunstoffe vielmehr nur
urn eine Entfaltung und Verstärkung der in der Erbmasse vorgebildeten
Fähigkeiten. Da der Kampf mit den Kleinschmarotzern in besonders hohem
Maße über Leben und Tod entscheidet, so können alle die zahlreichen Re-
aktionsmöglichkeiten zur Bildung von Schutzstoffen als durch natürliche
Auslese gezüchtet verstanden werden.
Hagedoom und La Brand 2 ) haben in einer Mäusezucht beob-
achtet, wie sich Immunität gegen Eitererreger (Staphylokokken) einfach
dominant vererbte; treffender noch könnte man diese Erkenntnis wohl so
formulieren, daß Anfälligkeit gegen Staphylokokkcninfektion sich einfach
rezessiv vererbte. Es ist zu vermuten, daß auch sonst bestimmte Anfällig-
keiten, die auf dem Ausfall bestimmter normaler Abwehrfahigkeiten be-
ruhen, in der Regel rezessiv erblich sein werden.
Da eine aktive Anpassung über die in der Erbmasse be-
gründeten Grenzen hinaus nicht möglich ist, so kann auch die
erworbene Immunität als solche nicht vererbt werden. Wohl
kann eine Immunität, die auf dem Vorhandensein aktiv gebil-
deter Schutzstoffe beruht, durch das Blut der Mutter und auch
durch die Milch auf das Kind übertragen werden. Das aber
ist keine Vererbung, und vom Vater her findet eine Übertra-
gung erworbener Immunität demgemäß nicht statt. Daher sind
Kinder meist auch nur während der ersten Monate gegen In-
fektionskrankheiten wie die Masern immun. Die Immunisie-
rung einer Rasse ist auf diesem Wege nicht möglich, obwohl
manche Ärzte und Hygieniker das noch mehr oder weniger un-
bewußt voraussetzen. Ob die in der Erbmasse begründeten Re-
aktionsmöglichkeiten im Leben des Individuums ausgenützt
werden oder nicht, ändert an den Reaktionsmöglichkeiten der
Erbmasse gar nichts.
Gleichwohl aber ist es für die Erbmasse einer Rasse kei-
neswegs bedeutungslos, ob die in ihr begründeten Reaktions-
möglichkeiten gebraucht werden oder nicht, und zwar wegen
der damit verbundenen Auslese. Durch Ausmerzung dispo-
nierter Sippen und Überleben von verhältnismäßig immunen,
nicht aber durch eine angebliche „Vererbung erworbener Eigen-
schaften" ist es also zu erklären, daß z. B. Neger wenig emp-
findlich gegen Malaria und gelbes Fieber sind, Chinesen wenig
*) Iiirszfeld, L: Konstitutionsserologie. Berlin 1928. Springer.
2 ) Ff a g e d o o r n , A. C., La Brand and Hagedoom, A. L.
Inhcriled predisposition for a bacterial diseasc. The American Naturalist.
Bd. 54. S. 368. 1920.
480
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
gegen Scharlach und Diphtherie, Inder wenig gegen Cholera,
Europäer relativ wenig gegen Tuberkulose. Die Neger und
Indianer, in deren Heimat die Tuberkulose keine Rolle spielte,
und bei denen daher keine Immunität dagegen gezüchtet wer-
den konnte, sind viel anfälliger gegen Tuberkulose.
Unter polynesischen Stammen sind die von Europäern eingeschleppten
Masern als mörderische Seuche aufgetreten, weil auf den isolierten Inseln
der Südsee vorher keine Auslese durch Masern stattgefunden hatte. Im
Jahre 1876 sind auf den Fidschiinseln von 150000 Eingeborenen 40000
an Masern gestorben. Bei einer Influenzaepidemie i. J. 1917 und 18 starben
auf den Gesellschaftsinseln nach Crampton 1 ) in den verschiedenen Ge-
meinden 15 bis 25% aller Eingeborenen, von den Mischlingen viel weniger
und von den Europäern nur einzelne.
Der Erste, der die Immunisierung durch Auslese klar ausgespro-
chen hat, ist anscheinend der englische Arzt G. Archdali Reid 3 )
gewesen.
Die Züchtung durch Umweltbedingungen geht in der Re-
gel in derselben Richtung wie die individuelle Anpassung, zu
der dieselben Umwelteinflüsse den Organismus nötigen. Diese
Parallelität der individuellen (reaktiven) und der generellen
(selektiven) Anpassung hat vielfach zu der falschen Fragestel-
lung verführt, wie die individuelle Anpassung „erblich fixiert"
werden könne. Diese kann überhaupt nicht erblich fixiert wer-
den. Die Ursachenverknüpfung ist gerade umgekehrt : Die
individuelle Anpassung ist stammesgeschichtlich gesehen eine
Folge der Züchtung der betreffenden Reaktionsmöglichkeiten;
nicht aber ist die Anpassung der Rasse eine Folge der indivi-
duellen Anpassung.
Webster 3 ) hat die Immunisierung durch Auslese im Tierexperi-
ment gezeigt. Er hat eine Anzahl Mäuse mit Mäusetyphus infiziert. Bei etwa
70% führte die Infektion zum Tode. Die Nachkommen der überlebenden
Mäuse wurden wieder infiziert; von ihnen starben nur noch 42%. In der
dritten Generation betrug die Sterblichkeit nur noch 15 0/0. Er schließt
daraus, daß die Widerstandsfähigkeit der Mäuse durch die erbliche Ver-
anlagung wesentlich mitbedingt ist und daß die Widerstandsfähigkeit einer
Bevölkerung durch Auslese verstärkt werden kann. Nachkommen von
Mäusen, die zwei Typhusinfektionen und eine Sublimatvergiftung, an der
die meisten starben, überlebt hatten, hatten eine Typhusletalität von 24%,
*) Crampton. On the dif ferential effects of the influenza epidemic
among native peoples of the Pacific Islands. Science. Bd. 55. 1922.
2) Reid, G. A. The present evolution of man. London 1896. Chap-
man and Hall.
3 ) Webster, L. T. Microbiotic virulence and host suseeptibility in
paratyphoid-enteritidis infection of white mice. IV. The effect of selcctive
breeding on host resistance. The Journal of Experimental Medicme. Bd. 39.
S. 879. 1924.
ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 481
während mehrere Vergleichsversuche 70 0/0 ergaben. Schott 1 ) konnte in
entsprechenden Versuchen die Mortalität im Verlauf von 6 Generationen
von 82% auf 25^/0 herabzüchten. Die Kreuzung herausgezüchteter wider-
standsfähiger Stämme mit anfälligen ergab eine Dominanz der Widerstands-
fähigkeit. Wegen der Rezessiviüit der Anfälligkeit konnte sie auch nur schwer
durch Auslese unter eine gewisse Grenze herabgedrückt werden.
Bei diesen und ähnlichen Versuchen ist zu bedenken, daß die Mäusc-
populalioncn, die für solche Versuche zur Verfügung stehen, viel weniger
heterogen sind als menschliche Bevölkerungen. Stämme weißer Mäuse sind
meist hochgradig ingezüchtet und daher weitgehend isogen. Das ist der
Grund, weshalb so viele Bakteriologen von erblichen Unterschieden der
Immunität nichts wissen wollten; unter ihren Versuchstieren waren solche in
der Tat kaum vorhanden (vgl. den Abschnitt über Methoden).
Die Anfälligkeit eines Menschen gegenüber einer Infektionskrankheit
ist übrigens nicht nur durch seine eigene Beschaffenheit bedingt, sondern
nicht weniger durch die des Krankheitserregers. Auch die idiotypische Be-
schaffenheit (die Rasse) des Erregers spielt eine große Rolle. Die Stammes-
geschichtliche Züchtung, die beim Menschen in der Richtung auf Immunität
bzw. Unempfindlichkcit gegenüber seinen Kleinschmarotzern geht, geht bei
diesen die Ausleserichtung auf Abschwächung der Pathogenität. Klein-
Schmarotzer, die ihren Wirt schnell töten, gehen mit diesem zugrunde. Der
Parasitismus hat daher die Tendenz, auf dem Wege der Umzüchlung von
Wirt und Schmarotzer in Symbiose überzugehen. Vermutlich können auf
dem Wege der Mutation aus Symbionten gelegentlich wieder Schmarotzer
werden. So vermute ich, daß der Typhusbazillus durch Mutation aus dem
Colibazillus entstanden ist, ohne den der Mensch nicht leben kann.
Schar lach fälle kommen deut- i ,
lieh familienweise gehäuft vor 8 ), und
zwar nicht nur während derselben Epi-
demie, was auch durch gemeinsame
Ansteckung erklärt werden könnte, son-
dern auch zu verschiedenen Zeiten.
Von familienw eisern Auftreten von Nie-
renentzündung nach Scharlach wurde
aufSeite47i berichtet. FrauDr.Bluh'm
in Berlin-Lichterfelde verdanke ich ne-
benstehende Sippentafcl einer Familie,
in der bei mehreren Mitgliedern nach
dem Überstehen von Scharlach keine
dauernde Immunität zurückblieb.
An Masern erkranken die meisten Menschen nur einmal
im Leben. Es gibt aber Familien, deren Mitglieder keine
1 ) Schott, R. G. The inheritance of resistance to Salmonella aertrycke
in various strains of mice. Genetics. Bd. xy. S. 203. 1932.
2 ) Fischer, W. Untersuchungen über die Vererbung der Disposition
bei Scharlach. Arbeiten aus dem Staatsinstitut für experimentelle Therapie
in Frankfurt a. M, H. 21. Jena. G. Fischer. 1928.
B n 11 r - V i s c Ii c r - 1, e 11 •/, I. 31
? 9
©
9
% — Zweimal Scharlach als Kind.
3 — Einmal Scharlach als Kind.
Fig. 161.
Mangelhafte Schutz-
stoffbildung gegen
Scharlach.
Nach Agnes B 1 u h m.
482 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
dauernde Immunität dagegen erwerben und die daher mehr-
mals erkranken können 1 ). Nur ein kleiner Hundertsatz unserer
Bevölkerung bleibt von Masern völlig verschont; und dieses
dauernde Verschontbleiben ist vermutlich wesentlich erbbe-
dingt, obwohl es natürlich von der Umwelt, nämlich der An-
steckung, abhängt, wann ein Kind die Masern bekommt.
Die Zwillingsbefunde, die v. Versohucr auf S. 110 seiner „Erb-
pathologie" zusammengestellt und auf S. 45 bildlich dargestellt hat, stehen
mit dieser meiner Ansicht nicht im Widerspruch. Danach hatten von 294
Paaren eineiiger Zwillinge 281 = 96% beide Masern, von 239 Paaren zwei-
eiiger Zwillinge 214 = 900/0. Diese Zahlen harmonieren mit meiner Auf-
fassung unter der Voraussetzung, daß es nur relativ wenige Zwillingspaare
gibt, die von Masern völlig verschont bleiben, und daß solche Paare unter
den zweieiigen noch wesentlich seltener als unter den eineiigen sind. Bei der
Anwendung der Zwillingsmethode auf sehr häufige Infektionskrankheiten,
denen die Mehrheit der Bevölkerung verfällt, tut man daher besser, die
Frage der Erbbedingtheit auf das Freibleibcn von der Krank-
heit abzustellen. Jene Zwillinge, die beide frei bleiben, sind dabei wichtiger
als die, welche beide erkranken. Um auch jene erfassen zu können, muß ein
auslesefreies Material gesammelt werden; d. h. es muß von allen Zwillings-
paaren, die zur Beobachtung kommen, festgestellt werden, ob sie die be-
treffende Krankheit gehabt haben oder nicht.
Die erbbedingte Disposition bzw. Immunität ist nicht nur
für das Befallenwerden bzw. Verschontbleiben von Krankheiten
wie Masern, Scharlach und Diphtherie bedeutsam, sondern
auch für den Verlauf der Krankheit 2 ). In manchen Familien
treten schwere und tödliche Fälle gehäuft auf.
Von der Diphtherie gilt Ähnliches wie von Masern und Scharlach.
v. Pfaundler und Z o c 1 c h 3 ) haben mehrere Sippen verfolgt, in denen
mehrere Mitglieder wiederholt an Diphtherie erkrankten. Anscheinend be-
stand zwar die Fähigkeit zu kurzer Immunisierung, nicht aber zu dauernder.
Die Anfälligkeit bzw. Immunität gegen Diphtherie kann bis zu
einem gewissen Grade durch die Schickschc Probe festgestellt werden. Bei
diphtherieempfänglichen Menschen entsteht nach der Einspritzung einer klei-
nen Menge Diphtheriegift in die Haut an der Einspritzungsstelle eine ent-
zündliche Röte, bei unempfindlichen nicht. I-I i r s z f c 1 d 4 ) hat auf Grund
von Erfahrungen an einigen wenigen Familien den Schluß ziehen zu können
geglaubt, daß die Diphtherieempfänglichkeit rezessiv erblich sei. Daß die
1 ) Salz mann, Mathilde. Über wiederholte Masern. Zeitschrift
für Kinderheilkunde 1920.
2 ) de Rudder, B. Die Einwirkung der erblichen Dispositionen bei
den ansteckenden Krankheiten. Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd. 48.
S. 91. 1930.
3 ) v, Pfaundler, M. und Z o e 1 c h. Schutzimpfen oder nicht?
Klinische Wochenschrift. 1928. Nr. 13 und 14.
4 ) PI i r s 7. f c 1 d , li. u. L. und Brok m a n , H. Untersuchungen über
Vererbung der Disposition bei Infektionskrankheiten, speziell bei Diph-
therie. Klinische Wochcnschr. 1924. Nr. 29.
ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 483
erbliche Veranlagung auch bei der Schickreaktion mitspielt, ist zwar zu ver-
muten; im übrigen aber macht eine positive Schickreaktion im Laufe der
Jahre derart häufig einer negativen Platz (vermutlich infolge „stiller Fei-
ung"), daß die Befunde Hirszfelds nicht als beweisend angesehen
werden können. Auch die Angaben Hirszfelds über Koppelung einer
Anlage zu Diphtherieempfindlichkeit mit einer bestimmten Blutgruppe haben
sich nicht bestätigt.
Von infektiösen Katarrhen, die man meist ein- bis
zweimal im Jahr epidemisch auftretend beobachten kann, wer-
den die Mitglieder mancher Familien häufig und schwer, die
anderer nur selten und leicht heimgesucht. Wie manche Rassen
von Rosen und Rittersporn immer wieder von Mehltau befallen
werden, so haben manche menschliche Sippen immer wieder
unter Schnupfen zu leiden. Bei isolierten Naturvölkern, z. B.
Indianern Mittclamerikas, führt der Schnupfen gelegentlich zu
schweren Epidemien (nach Sapper) 1 ).
Die Anfälligkeit gegen Katarrhe hängt mit der entzündlichen und der
lymphatischen Dialhese (vgl. S. 431) zusammen. Von den meisten Laien und
auch noch vielen Ärzten wird der Schnupfen mit Vorliebe auf „Erkältung"
zurückgeführt. Ich habe seit 2 1 / 2 Jahrzehnten dieser Frage mein Augen-
merk zugewandt und bei der Beobachtung von zahlreichen Schnupf enaus-
brüchen bei mir selbst und bei andern Personen keine einwandfreien Anhalts-
punkte dafür finden können, daß „Erkältung" für das Zustandekommen des
Schnupfens wirklich eine ernstliche Bedeutung habe. Der Schnupfen
verläuft unter dem typischen Bilde einer Infektionskrankheit; von einer pri-
mär infizierten Stelle aus (meist Naseneingang oder Mandeln) verbreitet
sich die Entzündung über die Schleimhaut der Atemwege. Nach Ablauf des
Schnupfens bleibt für eine begrenzte Zeit (meist einige Monate) eine Immu-
nität gegen neue Schnupfeninfektion zurück. Von Nordpolfahrern, die der
Kälte doch gewiß stark ausgesetzt sind, wird berichtet, daß sie auf ihren
Reisen nicht unter Schnupfen zu leiden haben, sondern erst dann wieder
davon befallen werden, wenn sie wieder mit andern Menschen in Berührung
kommen. In Grönland schließen sich Schiiupfcnepideuhen an das Eintreffen
von Schiffen an. MUtelamerikanischc Indianer scheuen sich, Kleidungsstücke
von Europäern anzunehmen, weil sie die Erfahrung gemacht haben, daß da-
durch der für sie gefährliche Schnupfen übertragen werden kann.
Für Lungenentzündungen (Pneumonien) be-
steht bei manchen Individuen und in manchen Sippen eine be-
sondere Anfälligkeit. Herrman 2 ) sah in einer Familie mit
acht Kindern im Laufe der Jahre sieben an Pneumonie zu-
grundegehen, davon fünf in den ersten Lebenswochen.
Auch von Mandelentzündungen (Anginen) wer-
den gewisse Personen und gewisse Sippen immer wieder be-
1 ) Sapper, K. Die Bedrohung des Bestandes der Naturvölker und
die Vernichtung ihrer Eigenart. ARGB. Bd. 12. H. 2. 1917.
2 ) Herrman, Ch. Multiple deaths in the newborn of one familiy.
Archives of Pediatrics. 1916.
484
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLÄGEN
fallen. Es scheint eine Beziehung zur lymphatischen Diathese
zu bestehen. Dasselbe gilt von der Anfälligkeit gegen Blind-
darmentzündung (Appendizitis), welche durch ganz ähn-
liche und zum Teil die gleichen Infektionskeime wie die Angina
veranlaßt zu werden scheint.
Die Erblichkeit der Anfälligkeil: gegen Mandelentzündungen hat sich
auch bei den Zwillingsunt er suchungen von Weit? bestätigt. In manchen
Familien schließt sich auffallend häufig ein Mandclabszeß an eine An-
gina an.
Eine familiäre und folglich erbliche Disposition gibt es
auch zu Gelenkrheumatismus und Herzklappen-
entzündung. Pribram 1 ) hat mehrere Sippentafeln ge-
geben, in denen Gelenkrheumatismus und Herzklappenentzün-
dung sich durch vier und mehr Generationen verfolgen lassen.
L ö w y und S t e i n 2 ) haben gefunden, daß diese Krankheiten
in ungefähr der Hälfte der Fälle auch bei den Eltern und Ge-
schwistern der Kranken beobachtet werden. In den meisten
Fällen hatten die daran Leidenden Zeichen allgemeiner kon-
stitutioneller Schwäche (vgl. auch S. 472).
Eine mehr allgemeine Anfälligkeit gegen verschiedene In-
fektionskrankheiten wird durch allerlei Konstitutionsanomalien
bedingt. Von den sog. Kinderkrankheiten (Masern, Scharlach,
Diphtherie, Keuchhusten) werden am schwersten Kinder mit
krankhaften Diathesen betroffen 3 ). Scharlachtodesfälle schei-
nen nach H anhart besonders in Sippen mit allergischer Dia-
these vorzukommen. Bei dem auf erblichem Schilddrüsenman-
gel beruhenden Myxödem besteht eine große Gefährdung durch
Infektionskrankheiten. Die Schilddrüse, die der Regulierung
des Stoffwechsels dient, wirkt offenbar auch bei der Entste-
hung des Fiebers, das als Heilanstrengung des Organismus an-
zusehen ist, und der Erzeugung von Schutzstoffen mit.
Wenn jemand an einer Infektionskrankheit stirbt, so ist die
Ansteckung oft nur der äußere Anlaß des Todes, während die
Grundursache in einem Versagen der Abwehrfunktionen liegt,
nachdem sie in jüngeren Jahren noch ausgereicht hatte. Man
kann dieses Versagen dem Altersaufbrauch schwach angelegter
Organe vergleichen. Auf diese Weise erklärt sich zum guten
1 ) Pribram. Der akute Gelenkrheumatismus. Wien 1S99.
E ) Löwy, R. und Stein, G. Zur Ätiologie des akuten Gelenk-
rheumatismus. Zeitschrift für Konstitutionslehre. 1921.
3 ) Czcrny, A. Die Bedeutung der Konstitution für die Klinik der
kindlichen Infektionskrankheiten. Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 1913.
Nr. 24.
ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 485
Teil die Erbbedingtheit von Unterschieden der Lebensdauer.
Wenn jemand an Sepsis oder an Typhus stirbt, so ist das ver-
mutlich oft nur der Ausdruck eines solchen Versagens der Ab-
wehrkräfte.
Die Widerstandsfähigkeit gegen Malaria scheint zum Teil
in direktem Zusammenhang mit dem erblichen Pigmentreich-
tum der Haut zu stehen, ähnlich wie die Immunität schwarzer
Schweine gegen die Buchweizenkrankheit. Neger sind gegen
Malaria im Durchschnitt viel widerstandsfähiger als Indianer
oder Weiße. Die verhältnismäßig hellhäutigen Polynesier haben
nur die malariafreien Inselgruppen der Südsee besiedeln kön-
nen, während sie die übrigen den ihnen geistig unterlegenen
dunkleren Melanesien! überlassen mußten.
Die Frage der Erbbedingtheit der Tuberkulose
war lange lebhaft umstritten und ist es zum Teil noch heute. In
Mitteleuropa gehen über 10 0/0 aller Menschen an Tuberkulose
zugrunde, in früheren Jahrzehnten sogar noch viel mehr, In
unserer Bevölkerung werden die meisten Menschen schon im
Kindesalter mit Tuberkulosebazillen infiziert, zumal in den
Großstädten, und doch verfällt nur ein Bruchteil von diesen
später der Lungentuberkulose oder Schwindsucht (Phthise).
Gewiß wirken bei dem Zustandekommen der Lungentuberku-
lose auch Umweltschäden wesentlich mit, besonders Unter-
ernährung und Berufsschädlichkeiten, z. B. gewerblicher Staub.
Und doch ist die Schwindsucht eine erblich mitbedingte Krank-
heit. Die Feststellungen Riff eis 1 ) an zahlreichen Sippen
haben auch heute noch ihre Bedeutung. Ähnliche Sippentafeln
hat Munter 2 ) beigebracht. Die Sippen von Ickert und
Benze 3 ) sind besonders kritisch bearbeitet. Diese Autoren
fanden in verschiedenen Sippen zum Teil auch besondere Lo-
kalisationen und Verlaufsformen der Tuberkulose, Auch In
schwer befallenen Familien bleiben einzelne Kinder öfter dau-
ernd tuberkulosefrei, was nicht wohl anders als durch erbbe-
dingte Immunität erklärt werden kann.
Stiller 4 ) sagt in seinem Buche über die Asthenie: „Ich
habe in meiner langen Praxis eine Reihe von Familien gekannt,
wo eins der Eltern an Phthise gestorben, die Nachkommen aber
x ) Riffel, A. Die Erblichkeit der Schwindsucht. Karlsruhe 1902.
2 ) Munter, H. Lungentuberkulose und Erblichkeit. Beiträge zur
Klinik der Tuberkulose. Bd. 76. H. 2 — 5. S. 257. 1931.
n ) Ickert, F. und Benze, H. Stammbäume mit Tuberkulösen. Leip-
zig 1933. Barth.
4 ) Stiller, B. Die asthenische Konstitutionskrankheit'. Stuttgart 1907.
486
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
ganz kräftig" konstituiert im blühendsten Alter zwischen 20— 30
Jahren, schon längst dem Elternhause und der möglichen Haus-
infektion entwachsen, eines nach dem andern tuberkulös wur-
den und in kurzer Zeit an florider Phthise zugrunde gingen."
ich kann aus eigener Erfahrung an mehreren Familien diese
Angaben durchaus bestätigen. Wenn erbliche Unterschiede der
Disposition für das Haften der Infektion mit Tuberkulosebazil-
len auch keine besondere Rolle spielen mögen, so tun sie es
doch für die Entwicklung der Schwindsucht um so mehr 1 ).
Im Tierversuch haben W r i g h t und Lewis 3 ) bei Meerschweinchen
nur wenig überzeugende Unterschiede der Anfälligkeit gegen Tuberkulose
zwischen verschiedenen Inzuchtlinien gefunden. Meerschweinchen sind die
besten Versuchstiere zum Nachweis von Tuberkulose, weil diese ganz regel-
mäßig bei ihnen angeht und tödlich verläuft. Aber eben darum taugen sie
nicht zum Nachweis erblicher Unterschiede der Tuberkuloseanfälligkeit. Ka-
ninchen, die man zum Nachweis von Tuberkuiosebazillen nicht gebrauchen
kann, weil sie trotz Infektion durchaus nicht immer erkranken, wären viel
geeigneter für den Nachweis erblicher Anfälligkeit; und menschliche Bevöl J
kerungen sind in dieser Hinsicht sicher noch heterogener als die Versuchs-
kaninchen. Die Leugnung erblicher Unterschiede der Tuberkulosedisposition
beim Menschen würde bedeuten, daß der Tuberkelbazillus auf allen mensch-
lichen Nährböden gleich gut wachse.
Man hat erstaunlicherweise darüber gestritten, ob die Anfälligkeit oder
die Widerstandsfähigkeit gegen Tuberkulose erblich sei. Beide Formulierun-
gen besagen bei Lichte besehen dasselbe, nämlich daß es Unterschiede der
Widerstandsfähigkeit bzw. der Anfälligkeit gebe.
In der vorigen Auflage dieses Buches (1927) hatte ich die
Erwartung ausgesprochen, daß „auf dem Wege der Zwillings-
forschung in absehbarer Zeit so schlagende Belege für die
Erblichkeit der Tuberkulose beigebracht werden, daß niemand
sich ihrer Beweiskraft entziehen kann". Diese Belege sind in-
zwischen von v. Verschucr und Diehl 3 ) beigebracht wor-
den. Der Arbeit liegen Befunde an ^7 erbgleichen (eineiigen)
und 69 erbverschiedenen (zweieiigen) Zwillingspaaren zugrunde.
Von den jj erbgleichen Paaren zeigten 26 gleiches und 11 ver-
schiedenes Verhalten gegenüber der Tuberkulose, von den 69
erbverschiedenen 17 gleiches und 52 verschiedenes. Damit ist,
wie die Verfasser mit Recht betonen, „der eindeutige Beweis
L ) Naegeli, O. Allgemeine KonsliUitionslehre. 2. Aufl. Berlin 1934.
Springer. S. 145 ff.
2 ) W r i g h t , S. und Lewis, P. R, Factors in the resistance of
guinea pigs lo tuberculosis, with especial regard to Inbreeding and hcredity.
The American Naturalist. Bd. 55. Nr. 636. 1921.
a ) Diehl, K. und v. Verschucr, O. Zwillingstuberkulose. Jena
1933, Fischer.
ANFÄLLIGKEIT GEGEN INFEKTIONSKRANKHEITEN. 487
erbracht, daß die erbliche Veranlagung von maßgebender Be-
deutung für die Entstehung und den Ablauf der Tuberkulose
ist". Bis zum Jahre 1934 war die Zahl der beobachteten tuber-
kulösen Zwillingspaare auf 132 angewachsen 1 ). Von 51 EZ
zeigten 35 = 690/0 gleiches und 16 = 310/0 verschiedenes Ver-
halten. Von 81 ZZ verhielten sich 21 = 260/0 gleich und 60 =
740/0 verschieden. Für die Abschätzung des Anteils von Erb-
anlage und Umwelt wäre es allerdings erwünscht, daß in un-
ausgelesenem Material auch die tuberkulosefreien Zwillinge
miterfaßt würden (vgl. das Kapitel über Methodenlehre).
Die erbliche Anfälligkeit gegen Tuberkulose ist offenbar
nichts Einheitliches; d. h. es gibt nicht nur eine erbliche An-
lage zur Tuberkulose, sondern viele, oder anders ausgedrückt :
die Veranlagung zur Tuberkulose ist nicht homogen, sondern
heterogen. Als eine solche Anlage (wenn auch praktisch nicht
besonders wichtige) kann die zu Zuckerkrankheit angesehen
werden. Zuckerkranke verfallen zum großen Teil der Schwind-
sucht, weil die Tuberkulosebazillen in zuckerhaltigem Gewebe
besonders gut gedeihen. Die These, daß die Veranlagung zu
Tuberkulose heterogen sei, bedeutet nicht etwa, daß sie poly-
mer sei. Die einzelnen Anlagen, die eine Anfälligkeit gegen
Tuberkulose bedingen, sind vielmehr wohl in der Regel mo-
nomer, und zwar meist rezessiv. Ich vermute, daß es sich oft
um ein vorzeitiges Versagen der Abwehrkräfte handelt, das
in einigen Familien früher, in andern später und in noch
andern erst im Greisenalter eintritt (vgl. S. 449).
Man hat in früheren Jahrzehnten die Disposition zu Tuber-
kulose zu einseitig in morphologischen oder mechanischen Be-
sonderheiten gesucht. Gleichwohl glaube ich nach wie vor an
eine Korrelation zwischen Tuberkulose und Asthenie. Die Er-
fahrungen der Lebensversicherungen haben ergeben, daß die
an Tuberkulose Sterbenden schon bei ihrer Aufnahme im
Durchschnitt relativ geringe Brustmaße aufwiesen, obwohl
damals noch keine Tuberkulose bei ihnen zu finden war 2 ).
B rüg seh 3 ) hat an einem Material von 226 erwachsenen
Tuberkulösen gefunden, daß die Engbrüstigen mehrfach so
häufig der Schwindsucht verfallen als dieMittelbrüstigen. Auch
nach Naegeli 4 ) verläuft die Lungentuberkulose bei Asthe-
*) Nach v. V er schuer. Erbpathologie, s. Literaturverzeichnis.
2 ) Flor schütz, G. Allgemeine Versichcrungsmedizin. Berlin 1914.
3 ) Brugsch, Th. Allgemeine Prognostik. 2. Aufl. Berlin 1922.
*) A.a.O. S. 151.
48!
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
nikern viel häufiger tödlich als bei Pyknikem. Der Zusammen-
hang ist aber nicht einfach mechanisch zu deuten; vielmehr ist
auch der asthenische Habitus schon Ausdruck einer gewissen
physiologischen Schwäche.
Auch die Veranlagung zu Schizophrenie, die ja ebenfalls
oft mit asthenischem Habitus einhergeht, bedeutet zugleich An-
fälligkeit gegen Tuberkulose. Nicht nur erliegen die Schizo-
phrenen selbst zum großen Teil der Tuberkulose, sondern auch
ihre nicht schizophrenen Geschwister, wie Luxenburger 1 )
gezeigt hat.
Die Anfälligkeit gegen Tuberkulose besteht anscheinend
in der Regel in einer immunbiologischen Widerstands-
schwäche. Dazu kann im Einzelfall eine erbbedingte Organ-
schwäche kommen, die für die Lokalisation der Tuberkulose
in den Lungen, den Nieren, den Gelenken usw. bestimmend
sein kann.
Daß die Anfälligkeit gegen Lungentuberkulose nichts anderes sei als
eine Organschwäche der Lunge, die sich ebensogut auch in Bronchitis oder
Pneumonie äußern könne, wie Munter gemeint hat, halte ich für ausge-
schlossen. Jede von diesen Lungenerkrankimgen kommt für sich sippenweise
gehäuft vor. Andererseits brauchen durchaus nicht alle beteiligten Erban-
lagen für Tuberkulose „spezifisch" zu sein; manche wie die Anlage zu Diabe-
tes, die zu Asthenie und die zu Schizophrenie, die zugleich Dispositionen zu
Tuberkulose sind, sind offenbar nicht ,, spezifisch". Schwächezustände der
verschiedensten Art, erb- und umweltbedingte, vermindern die Widerstands-
fähigkeit gegen Tuberkulose. Auch Ickert") bestätigt: „Die Schwachen
und Zarten stellen das Gros." Auch ganz unspezifische Erbanlagen, z. B.
solche zu Schwachsinn, die oft wirtschaftliche Not, schlechte Ernährung
und Wohnung zur Folge haben, leisten der Tuberkulose Vorschub. In einer
Umwelt, in der es keinen Mangel gäbe, würden derartige Anlagen freilich
nicht zu Tuberkulose führen; aber in einer Umwelt, in der es keine Tuber-
kulosebazillcn gäbe, würde es auch eine „spezifische" Anlage nicht tun. Wenn
wir von erblich oder nichterblich reden, setzen wir die Umwelt eben stets
als gegeben voraus (vgl. Abschnitt über Methoden).
Ob durch das Überstehen einer tuberkulösen Infektion eine spezifische
Immunität, die über die unmittelbaren Abwehrreaktionen hinausgeht, er-
worben werden kann, ist fraglich. Lydtin 8 ) glaubt überhaupt nicht an
eine erworbene Immunität gegen Tuberkulose. Eine relative Immunisierung
einer Bevölkerung gegen Tuberkulose kommt nicht auf diese Weise, son-
dern durch Wegsterben der anfälligen Sippen zustande, wovon im zweiten
Bande näher die Rede ist.
*) Luxenburger, H. Tuberkulose als Todesursache in den Ge-
schwisterschaften Schizophrener. Zeitschrift für die gesamte Neurologie.
Bd. 109. S. 313. 1927.
a ) Beiträge zur Klinik der Tuberkulose. Bd. 72. S. 774. 1929,
a ) Beiträge zur Klinik der Tuberkulose. Bd. 83. S. 662. 1933.
KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCHWÜLSTE. 489
h) Krebs und andere bösartige Geschwülste.
Die bösartigen Geschwülste bestehen in abnormen Wucherungen körper-
eigener Zellen, die sich in die gesunden Gewebe eindrängen, und diese
schließlich so stark schädigen, daß der Organismus zugrunclegeht. Man
muß annehmen, daß eine bösartige Geschwulst, z. B. ein Krebs, in der Regel
von einer einzigen krankhaft veränderten Zelle ausgeht; alle die Millionen
Zellen, aus denen die Krebsgeschwülste bestehen, gehen auf dem Wege der
Zellteilung oder Fortpflanzung aus der ursprünglichen Krebszelle hervor.
Dieses Wachstum unterscheidet sich dadurch von normalem, daß es sich
nicht dem Bauplan des übrigen Körpers einordnet, sondern ohne Rücksicht
auf dessen Erhaltung zerstörend fortschreitet.
Je nach der Zcllart, aus der die Geschwülste hervorgehen und deren
Charakter sie mehr oder weniger bewahren, gibt es verschiedene Arten bös-
artiger Geschwülste. Die aus Epithclzcllen (Dcckzcllcn der Haut, Schlcim-
hautzellcn, Drüsenzellen) hervorgehenden nennt man Krebs (Karzinom),
es sind die häufigsten unter den bösartigen Geschwülsten. Aber auch aus
Bindegewebs-, Knorpel-, Knochen-, Muskel- und Nervenzellen können bös-
artige Geschwülste hervorgehen; die aus Zellen der Bindesubstanz entste-
henden Geschwülste faßt man herkömmlicherweise unter dem Namen Sar-
kome zusammen. Bösartige Geschwülste können nicht nur aus Zellen, die
während der Entwicklung an einen falschen Platz geraten, „versprengt"
oder mißbildet sind (z. B. aus Naevi), sondern auch aus Zellen, die im
normalen Verbände ihres Gewebes sitzen, hervorgehen.
Bei der Entstehung der bösartigen Geschwülste, die letzten
Endes auf die Umwandlung einer Körperzelle in eine Krebs-
zelle zurückgeht, sind äußere Ursachen oft von entscheidender
Bedeutung. Verhältnismäßig am klarsten liegen die Verhält-
nisse bei gewissen. Geschwülsten der Blase (Krebsen und Pa-
pillomen), welche bei Personen auftreten, die dem Dampf von
Anilin, Benzidin und ähnlichen Stoffen ausgesetzt waren. Man
hat beobachtet, daß in gewissen chemischen Betrieben irn Laufe
der Zeit die Mehrzahl der Arbeiter daran erkrankte 1 ). Be-
merkenswert ist dabei, daß durch die gleiche Schädlichkeit
verschiedene Blasengeschwülste, bösartige wie nicht bösartige
entstehen können. Nach dem Vorgange der japanischen Pa-
thologen Yamagiwa und Ichikawa kann man heute bei
Kaninchen und weißen Mäusen Krebs durch lange fortgesetzte
Teerpinselungen erzeugen. Durch langdauernde Einwirkung
von Röntgenstrahlen wird schließlich fast mit Sicherheit Krebs
der Haut verursacht. Auch Sarkome können infolge von Rönt-
genbestrahlungen entstehen. Eine ganze Reihe von Röntgen-
ärzten und Röntgentechnikern ist bereits an Krebs zugrunde
gegangen, natürlich auch nicht wenige bestrahlte Patienten.
*) Vgl. Nassauer, M. Über bösartige Blasengeschwülste bei Arbei-
tern der organisch-chemischen Großindustrie. Wiesbaden 191g.
490
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Auch im Tierversuch hat man Krebse und Sarkome durch
Röntgenbestrahlung' erzeugen können. Radioaktive Stoffe wir-
ken in gleicher Weise krebserzeugend wie Röntgenstrahlen. In
gewissen Bergwerksbezirken des Erzgebirges sind zahlreiche
Bergleute an Lungenkrebs zugrundegegangen, der anscheinend
durch Einatmung radioaktiven S taubes verursacht wurde.
Wenn schließlich noch an den Lippenkrebs der Pfeifenraucher,
den Skrotumkrebs der Schornsteinfeger, den Krebs der Paraf-
finarbeiter und den Speiseröhrenkrebs der Schnapstrinker er-
innert wird, so bleibt an der Bedeutung äußerer Ursachen für
die Entstehung bösartiger Geschwülste kein Zweifel. Die ein-
schlägige Literatur ist sehr vollständig bei Schin z und
Buschke 1 ) zusammengestellt.
Fibiger hat bei Ratten und Mäusen Krebs infolge der Infektion mit
gewissen Wurmlarven entstehen sehen. Beim Menschen kann Blasenkrebs
und Leberkrebs als Folge des Befallenseins mit Bilharzia, einem parasiti-
schen Wurm, entstehen. Keine Rede kann aber davon sein, daß der Krebs
eine Infektionskrankheit in dem Sinne sei, daß regelmäßig ein bestimmter
Erreger vorhanden sein müßte. Solche Krebserreger „entdecken" heute nur
noch Phantasten ; die Enttäuschung bleibt nicht aus, und es wird wieder
still, bis die nächste derartige „Entdeckung" gemeldet wird.
Ebenso sicher wie die Tatsache, daß viele Krebsfälle in-
folge äußerer, und zwar meist anorganischer Einwirkungen
entstehen, ist jene, daß viele andere, vielleicht die meisten
Krebsfälle auf dem Boden einer krankhaften Erbanlage ent-
stehen.
Massenstatistische Berechnungen von Little in Amerika und W a a -
ler in Norwegen haben ergeben, daß bei Kindern und Geschwistern von
Krebskranken Krebs überdurchschnittlich häufig auftritt. Diese Tatsache
weist auf Erbbedingtheit hin, beweist sie aber nicht, da verschiedene Fami-
lien möglicherweise auch krebsverursachenden Umwelt schaden in verschie-
denem Grade ausgesetzt sein können. Auch der umweltbedingte Kropf tritt
in Endemiegebieten ja familienweise gehäuft auf. Die verschiedene geogra-
phische Verteilung des Krebses dürfte hauptsächlich durch Unterschiede
der Umwelt bedingt sein (Radioaktivität des Bodens?).
Bei der Obstfliege Drosophila haben Morgan und Stark eine
rezessiv geschlechtsgebundene krankhafte Erbanlage gefunden, die bei allen
damit behafteten männlichen Larven bösartige Gesehwülste (Melanome) zur
Folge hatte. Eine zweite einfach rezessive krankhafte Erbanlage führte nur
bei rund 10% der homozygoten Tiere zu Geschwülsten, und zwar zu weniger
bösartigen. Maud S 1 y e konnte bei Mäusen eine Anlage zu Brustdrüsen-
krebs weiterzüchten, die sich in einigen Linien bei fast ioo°/o der Weib-
chen manifestierte und die anscheinend einfach rezessiv war 2 ).
1 ) S c h i n z , H. R. und Buschke, F. Krebs und Vererbung. Leipzig
1935. Thiemc.
2 ) Literatur siehe bei S c h i n z und B u s c h k e.
KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCHWÜLSTE. 491
Beim Menschen ist die familiäre Häufung von Magen-
krebs (Carcinoma ventriculi) besonders auffällig. Zwei Sip-
pentafeln von Paul sen 1 ), die das zeigen, gebe ich in Fig. 162
und 163 wieder.
Zu der Familie Fig. 162 ist zu bemerken, daß der mit 28 Jahren gestor-
bene Mann infolge Unfalls ums Leben kam; er hat also vermutlich seinen
59
160er
<£
§72
62 61 51 56
Wff 63 £8
50 60er 68
Y P1
v ?2
Fig. 162.
Magenkrebs nach Paulsen.
Fig. 163.
Magenkrebs nach Paulsen.
cf 9
<f
Magenkrebs nicht erlebt. Der mit 63 Jahren verstorbene Mann ist in der
vorigen Auflage dieses Buches noch als gesund angegeben; er ist in der
Zwischenzeit auch an Magenkrebs gestorben wie seine beiden Eltern und
alle seine älteren Geschwister. In der Familie Fig. 163 ist der älteste Sohn
mit 50 Jahren angeblich an Leberkrebs ge-
storben; da aber primärer Leberkrebs kaum
vorkommt, dürfte es sich auch bei ihm um
Magenkrebs gehandelt haben. Dasselbe gilt
möglicherweise auch von der Todesursache
des Vaters, von dem „Darmverschluß" an-
gegeben ist.
Da etwa 10% aller Menschen,
die das Kindesalter überleben, an
bösartigen Geschwülsten zugrunde-
gehen, von denen der Magenkrebs
eine der häufigsten ist, so würde
auch ohne Erbbedingtheit rein, zu-
fällig gelegentlich eine Häufung von
r
9
9 7 9
9
I
9
er
Fig. K
Magenkrebs. Nach Grotc.
(Es handelt sich um dieselbe
mehreren Fällen in einer Familie zu sippe, von der weiter oben die
erwarten sein. Wenn aber die Hau- Erblichkeit grauen Stars be-
fung Grade erreicht wie in den hier richtet wurde.)
wiedergegebenen Familien, so kann
man nicht gut an der Bedeutung der Erblichkeit für das Zu-
standekommen des Krebses zweifeln.
Grote 2 ) hat von einer Sippe berichtet, in der Magenkrebs un-
unterbrochen durch vier Generationen verfolgt werden konnte. Solche
2 ) Paulsen, J. Konstitution und Krebs. Zeitschrift für Krebsfor-
schung. Bd. 21. H. 2. 1924.
2 ) Grote, L. R. Grundlagen ärztlicher Betrachtung. Berlin 1921.
492 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Sippen sind auch sonst nicht selten. Aul eine Umfrage 1 ) bei den Ärzten
Österreichs wurden 15 Sippen mitgeteilt, in denen Krebs durch 4 Gene-
rationen hindurch auftrat. Diese Umfrage ergab auch Familien, in denen 6,
7 und g Geschwister an Krebs zugrundegingen; in 34 von 92 Krebsfamilien
fielen sämtliche Geschwister dem Leiden zum Opfer.
Magenkrebs entwickelt sich oft auf dem Boden eines
chronischen Magengeschwürs (vgl. S. 474). Die erbliche Veran-
lagung ist daher mindestens zum Teil dieselbe wie die zu Ma-
gengeschwür.
J. Bauer 2 ) hat die Ansicht vertreten, daß Magenkrebs dann entstehe,
wenn eine allgemeine Erbanlage für bösartige Geschwülste, die er für rezes-
siv ansieht, mit einer speziellen Organdisposition, die ebenfalls in der Regel
rezessiv sei, zusammentreffe. Meines Erachtens sprechen die Erfahrungen
über mensclilichcn Magenkrebs mehr für eine dominante Erbanlage, womit
aber nicht gesagt sein soll, daß bei allen Fällen von Magenkrebs eine solche
mitwirken müsse.
Auch Darmkrebs, zumal Mastdarmkrebs kommt sip-
penweise gehäuft vor. Er entsteht oft auf dem Boden einer
<i
$ j 5<if <£f & $
c^cTc?
Fig. 165. Polyposis intestini nach Jüngling und Hüchtemann.
Polyposis intestini, einer Anomalie des Darmes, bei der
die Wand des Dickdarms mit zahlreichen drüsigen Schleim-
hautauswüchsen („Polypen") besetzt ist. Diese Polyposis scheint
schließlich regelmäßig zu Krebs zu führen, öfter an mehreren
Stellen zugleich. Eine Sippentafel, die Hüchtemann 3 ) auf
Veranlassung von Jüngling 4 ) erforscht hat, spricht für do-
minanten Erbgang; vermutlich ist das auch sonst die Regel.
*) Peller, S. Die Ergebnisse der von der Österreichischen Gesell-
schaft für Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit veranstalteten
Sammelf orscliung. Wiener klinische Wochenschrift. 1922. H. 6™ 8.
2 ) Bauer, J. Das Wesen der vererbbaren Krebsdisposition. Zeitschrift
für Konstitutionslehre. Bd. 11. H. 2—5. 1925.
3 ) Hüchtemann, E. Das hereditäre Auftreten der Polyposis recti
und ihre Beziehungen zum Carcinom. Dissertation Tübingen 1926.
4 ) Jüngling, O. Polyposis intestini. Bruns' Beiträge zur klinischen
Chirurgie. Bd. 143. S. 476. 1928.
KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCHWÜLSTE. 493
In der abgebildete*! Sippentafel bedeutet ein Ring um das Pcrsoncnzei-
chen Mastdarmkrebs. Von der mit einem Punkt im Kreise bezeichneten Frau
war Darmtuberkulosc als Todesursache angegeben; vermutlich bestand auch
bei ihr Polyposis und Darmkrebs. Bei den mit Fragezeichen bezeichneten
Personen ist es fraglich, ob sie einen normalen Dann hatten, da dies nicht
ohne Untersuchung mit dem Rcktoskop (Darmrohr) festgestellt werden kann.
Die vier ältesten Polyposis träger sind sämtlich an Mastdarmkrebs zugrunde-
gegangen; von den jüngeren ist es noch zu erwarten.
Da eine Polyposis sich nicht nur im Mastdarm sondern auch in höheren
Abschnitten des Darmes, gelegentlich sogar im Magen äußern kann, kann
unter Umständen in derselben Sippe neben Darmkrebs auch Magenkrebs
auf Grund derselben Erbanlage vorkommen.
Seltener als bei Magen- und Darmkrebs wird familiäre
Häufung bei Gebärmutterkrebs (Carcinoma uteri) be-
" <>p:
Fig. 166.
K r e b s nach Warthi 11.
obachtet. Immerhin sind in einer von Warthin 1 ) beschriebe-
nen Sippe bisher 1 2 Fälle davon vorgekommen. Wenn die
Frauenärzte der Familiengeschichte ihrer Patientinnen genauer
nachgehen würden, würde sich vermutlich auch sonst häufiger
familiäres Auftreten herausstellen.
x ) Wart hin, A. S. The further study of a cancer family. Journal
of Cancer Research. Bd. 9. Nr. 2. 1925.
d
H9
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
In der von Wart hin beschriebenen Sippe sind in drei Generationen
der Nachkommenschaft eines an Magen- oder Darmkrebs verstorbenen Man-
nes bisher nicht weniger als 27 Krebsfälle vorgekommen. Da die meisten
Personen der dritten Generation erst im mittleren Lebensalter stehen, sind
weitere Fälle noch zu erwarten. Einen Ausschnitt des Stammbaumes zeigt
Fig. 166. M bedeutet Magen, D Darm, G Gebärmutter, L Leber, U Unterleib
(genauer Sitz unbekannt). In dieser Sippe liegt der Ausbruch des Leidens um
etwa iY a Jahrzehnte früher als in der von Pauls en beschriebenen.
Brustdrüsen krebs (Carcinoma
mammae) ist wieder etwas öfter sippen-
mäßig gehäuft beobachtet worden. Fig. 1 67
gibt eine Sippentafel nach Wachtel 1 )
wieder. Auch Leschcziner 2 ) und andere
haben über ähnliche Familien berichtet.
Die FI auf igkeits Verteilung bei den Frauen
ist nach Was sink und van Raams-
d n k 3 ) so, daß von 7 krebskranken
Frauen etwa 4 an Magen-, 2 an Gebär-
mutter- und 1 an Brustdrüsenkrebs leiden,
fanden diese verschiedenen Krebsarten
H9 ms ms
H6
tt?
Fig. 167.
Brustdrüsenkrebs
nach Wachtel.
Auch diese Autoren
jede für sich familiär gehäuft.
Wenn man von dem Krebs der Geschlechtsorgane und der Brustdrüsen
absieht, so werden von Krebs der übrigen Organe im ganzen fast doppelt
so viele Männer als Frauen befallen. Besonders auffallend ist der Unter-
schied zu Ungunsten des männlichen Geschlechts bei dem Krebs der Zunge,
des Kehlkopfs und der Luftröhre, Man wird diese größere Krebshäufigkeit
darauf zurückführen dürfen, daß die Männer gewerblichen Schädlichkeiten
und Genußgiften stärker ausgesetzt sind. Das weibliche Geschlecht wird
aber um soviel häufiger von Krebs der Geschlechtsorgane befallen, daß die
Gesamthäufigkeit des Krebses in beiden Geschlechtern ungefähr gleich ist.
Von Kranz und anderen sind mehrere Fälle berichtet worden, wo
zwei eineiige Zwillinge beide an Krebs desselben Organs erkrankten. Aber es
gibt auch Fälle, wo der eine von zwei eineiigen Zwillingen dauernd frei von
Krebs bleibt. Diese Erfahrungen entsprechen dem Satz, daß es erbbedingte
und umweltbedingte Krebse gibt.
Lymphosarkom, eine bösartige Geschwulst, die von
Lymphdrüsen des Halses auszugehen pflegt, ist gelegentlich
bei zwei Mitgliedern derselben Familie beobachtet worden. In
diesem Zusammenhang seien auch noch einmal die Leuk-
ämien (vgl. S. 470) genannt. Diese sind nämlich den bös-
r ) Nach persönlicher Mitteilung. Vgl. auch Wachtel, PL Zur Frage
der Erblichkeit des Krebses. Münch. med. Wochenschr. 1924. Nr. 26.
3 ) Leschcziner, IL Über familiären Brustkrebs. Medizinische Kli-
nik 19 1 7. H. 21.
3 ) W a s s i n k , W. F., Wassink, C. Ph. und van Raamsdonk.
Erblichkeit von Krebs. Nederlandschc Tijdschrift vor Geneeskunde. Bd. IL
326.
KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCHWÜLSTE. 495
artigen Geschwülsten wesensverwandt; die schrankenlose und
zerstörende Vermehrung erfolgt in diesem Falle von Mutter-
zellen der weißen Blutzellen aus. Leukämien können wie
andere bösartige Geschwülste auch durch Röntgenstrahlen ver-
ursacht werden.
Das N etzliautgliom (Glioma retinae) ist eine seltene
bösartige Geschwulst, die von der Netzhaut des Auges ausgeht.
Es sind gegen 30 Familien bekannt geworden, in denen Netz-
hautgliom bei mehreren Geschwistern auftrat ; in einigen weni-
gen Fällen war das Leiden auch bei einem der Eltern aufge-
treten 1 ). Im ganzen sprechen die bisherigen Erfahrungen mehr
für rezessiven Erbgang.
Auffallend ist, daß in den bisher bekannt gewordenen Familien verhält-
nismäßig oft die Mehrzahl der Geschwister befallen wurde, so in einem Falle
10 von 16 (Newton), in einem andern gar alle 8 (Wilson).
Näheren Aufschluß über das Wesen einer erblichen Ver-
anlagung zu Krebsbildung gibt uns das sog. Xeroderma pig-
mentosum, eine rezessive Diathese der Haut, die schon unter
den Hautleiden besprochen worden ist. Bei Trägern dieser
Diathese entwickeln sich im Laufe der Zeit regelmäßig Haut-
krebse, und zwar unter der Einwirkung des Lichtes. Bei Xero-
dermakranken wirkt Sonnenlicht und in geringerem Grade auch
gewöhnliches Tageslicht in dieser Flinsicht ganz ähnlich wie
Röntgendicht auf normale Haut. Auch bei normalen Personen
entwickeln sich Hautkrebse übrigens fast nur an unbedeckten,
dem Sonnenlicht und chemischen Schädigungen ausgesetzten
Stellen.
Im übrigen ist für die allermeisten Krebse der Haut oder
allgemeiner des Plattenepithels im Gegensatz zu den Krebsen
drüsiger Organe (Magen, Darm, Brustdrüse) eine erbliche An-
fälligkeit nicht wesentlich. Bei den Hautkrebsen sind vielmehr
äußere Einwirkungen praktisch entscheidend. In dem Bestre-
ben, die Entstehung der bösartigen Geschwülste unseren all-
gemeinen biologischen Vorstellungen einzuordnen, habe ich im
Jahre- 1921 die Hypothese aufgestellt: „Das Wesen des
Krebses besteh tinein erldiok in esesom atischer
Zellen." Bei Pflanzen kennt man die sog. Knospenmutatio-
nen, die darin bestehen, daß eine Zelle eine Mutation erleidet,
von der dann abgeänderte Sprosse ausgehen, deren Eigenart
weiterhin erblich ist. Auch die infolge Abänderung ihrer Eigen-
art zur Krebszelle gewordene Zelle des menschlichen Körpers
*) Vgl. Waardenburg (s. Literaturverzeichnis).
496
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
bewahrt ihre abgeänderte Eigenart bei dem Wachstum der
Krebsgeschwulst erblich durch zahlreiche Zeligenerationcn. Aus
Erfahrungen an Pflanzen und Tieren kennen wir bestimmte
Rassen, die eine besondere Neigung zu Mutationen haben. Die
unmittelbare Verursachung von Mutationen (die Idiokinese)
aber erfolgt durch äußere Einflüsse., z. B. durch Sonnenlicht
im Falle des Xeroderma pigmentosum. Bei intensiv kernschä-
digenden Einflüssen wie den Röntgenstrahlen ist schließlich
eine besondere erbliche Disposition zu bösartigen Mutationen
nicht nötig, sondern hier wirken die äußeren Einflüsse über-
mächtig, insofern ist also jede Zelle „krebsfähig", wie man
wohl gesagt hat.
Der Pathologe v. H ans e mann. 1 ) hat i. J. 1897 die Umwandlung
einer normalen Körpcrzelle in eine Krebszelle als „Anaplasie" bezeichnet,
womit er eine grundlegende Wesensänderung kennzeichnen wollte. Anknüp-
fend an diese Lehre hat Whitman 2 ) i. J. 1919 diese Umwandlung als
somatische Mutation aufgefaßt. Ohne Whitmans Arbeit zu kennen, habe
ich in der ersten Auflage dieses Buches i. J. 1921 die Entstehung des
Krebses als Idiokinese somatischer Zellen angesprochen (S. 258—259) und
diese Hypothese in der zweiten Auflage vom Jahre 1923 (S. 262 — 263) und
der dritten vom Jahre 1927 (S. 327—329) weiter ausgebaut. Meine Hypo-
these ging schon i. J. 1921 über die Whitmans insofern hinaus, als ich
die äußere Verursachung der Mutationen (die Idiokinese) besonders betont
habe, wodurch der Zusammenhang mit den äußern Ursachen der bösartigen
Geschwülste hergestellt war.
Eine etwas andere Hypothese der Entstehung des Krebses hat der
Zoologe Boveri 3 ) i. J. 1914 entwickelt. Er hat die Ursache in einer Stö-
rung des Chromosomenbestandes gesehen, die nach seiner Ansicht meist
durch Unterdrückung einer Zellteilung infolge mechanischer oder chemi-
scher Schädigung verursacht werden soll. Wie wir heute wissen, können
durch Verschmelzung zweier diploider Zellen unter Umständen tetraploide
und in der Folge allerlei abnorme Chromosomcnzahlen entstehen, wie sie
bei manchen bösartigen Geschwülsten vorkommen. Vermutlich kommt diese
von Boveri gesehene Möglichkeit neben der Mutation einzelner Gene als
Ursache der Entstehung bösartiger Geschwülste vor.
Man hat ein Problem darin gesehen, daß eine Zelle, die bis dahin sich
den Lebensbedürfnissen des Organismus harmonisch angepaßt hat, auf ein-
mal „bösartig" werde. Mir kommt das gar nicht problematisch vor. Die
Anlage zu Wachstum und Teilung haben alle Zellen von der Embryonalzeit
her. Eher könnte man ein Problem darin finden, warum die Zellen bei Ab-
schluß der Ontogenese ihr Wachstum aufgeben; es geschieht offenbar auf
Grund irgendwelcher regelnder Mechanismen, die infolge der Ausbildung
1 ) v. Hanse mann, D. Die mikroskopische Diagnose der bösartigen
Geschwülste. Berlin 1897.
2 ) Whitman, R. C. Soraatic mutations as a factor in the produetion
of cancer. Journal of Cancer Research. Bd. 4. S. 181. 1919.
3 ) Boveri, Th. Zur Frage der Entstehung maligner Tumoren.
Jena 19x4.
KREBS UND ANDERE BÖSARTIGE GESCFIWÜLSTE. 497
des definitiven Zusiandes in Wirksamkeit treten. Es ist gar nicht verwun-
derlich, daß diese hemmenden Mechanismen gelegentlich durch äußere Ein-
flüsse zerstört werden können. Eine Änderung der Erbmasse somatischer
Zellen wird natürlich nur in einem kleinen Teil der Fälle gerade zu „bös-
artigem" Wachstum führen. Alle übrigen derartigen Änderungen bleiben
verborgen oder äußern sich doch nur in einer Schwäche, Verfärbung der
Zellen oder ähnlichem. Nur diejenigen unter den mancherlei möglichen
Erbänderungen der Körperteilen, die ein schrankenloses Wachstum bedin-
gen, treten als bösartige Geschwülste in die Erscheinung.
Die erbliche Veranlagung zu bösartigen Geschwülsten be-
stellt nach dieser Auffassung in einer oder vielmehr in ver-
schiedenen abnormen Bereitschaften zu somatischen Mutatio-
nen; und diese erbbedingten besonderen Bereitschaften gehen
ihrerseits auf Mutationen von Keimzellen in irgendeiner frühe-
ren Generation zurück. Diese beiden verschiedenen Mutations-
vorgänge sind in der Literatur öfter nicht genügend aus-
einandergehalten worden 1 ). Es gibt sicher nicht eine einheit-
liche erbliche Veranlagung zu Krebs, sondern verschiedene.
Oder anders ausgedrückt: Die erbliche Veranlagung zu Krebs
ist erbbiologisch nicht homogen, sondern heterogen 2 ). Das
schließt natürlich nicht aus, daß bei denselben Individuen ver-
schiedene bösartige Geschwülste entstehen können, wie ja Mu-
tationen überhaupt ziellos in verschiedenen Richtungen zu
gehen pflegen.
Fischer-Wasels 3 ) legt den Nachdruck auf die Tatsache, daß
Krebs oft dann auftritt, wenn ein Organ zu vielfacher Zellregeneration ge-
zwungen wird. Diese Tatsache harmoniert durchaus mit der von Fischer-
Wasels bezweifelten Mutationshypothesc der Geschwülste; denn je mehr
Zellteilungen stattfinden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit von
Mutationen. Eine Aiüage zu Krebs besteht daher meist in der Anlage zu einer
„präkanzerösen" Krankheit*) wie dem Magengeschwür, der Polyposis oder
dem Xeroderma, bei denen vielfache Zellzerstörungcn und Zcllregenera-
tionen nacheinander und nebeneinander stattfinden.
Fischer-Wasels meint, die Umwandlung einer normalen Zelle
in eine Krebszelle entspreche „den Differenzierungsschritten der Gewebs-
zellen im Organismus überhaupt"; d. h. er faßt jene Umwandlung nicht als
Mutation sondern als Dauermodifikation auf. Daß ein Krebs aucli einmal
auf dem Wege der Dauermodifikation entstehen kann, möchte ich nicht für
grundsätzlich unmöglich erklären. Die plötzliche, unberechenbare Entste-
] ) Z. B. bei K. 1-L Bauer. Die Mutationstheorie der Geschwulstent-
stehung. Berlin 1928. S. 45.
3 ) Nicht zu verwechseln mit dem Unterschied zwischen monomer und
polymerl
3 ) Fischer-Wasels, B. Die Vererbung der Krebskrankheit. Ber-
lin 1935. Metzner.
4 ) Weitz, W. Über die Erblichkeit des Krebses. Monatsschrift für
Krebsbekämpfung. 1933. H. 10. S. 385.
B a 11 r - 1"'" i s c h e r - 1, c u z T. 32
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
hung des Krebses von einzelnen Zellen aus spricht aber mehr für Mutation,
ebenso die Verursachung gerade durch solche physikalischen und chemi-
schen Einflüsse, die wir sonst als idiokinetisch, d. h. mutations er zeugend
kennen. Modifikatorischc Differenzierungen gehen nieist auch in der Rich-
tung auf Anpassung; Mutationen dagegen sind in der Regel erhaltungs-
widrig, und das sind auch die bösartigen Geschwülste. Ich fasse diese (wie
auch die Mutationen) nicht als Reaktionen des Organismus auf einen Reiz 1 )
auf, wieSchinz es tut. Auch seiner Ansicht, daß die Verursachung von Krebs
durch Röntgenstrahlen eine besondere Disposition voraussetze, vermag ich
nicht zuzustimmen. Mutationen durch Röntgenstrahlen entstehen ziellos und
unberechenbar; es ist daher gar nicht anders zu erwarten, als daß nur in
einem Teil der Fälle Krebs die Folge ist. Röntgcnkrebs tritt meist
als Spätfolge chronischer Röntgenschädigung, einer sogenannten „Röntgen-
haut" auf. Eine notwendige Voraussetzung ist eine derartige sichtbare Schä-
digung aber nicht. Nach allem, was wir über die Verursachung von Muta-
tionen wissen, ist vielmehr anzunehmen, daß auch durch kleine Strahlen-
mengen, die unter der Schwelle der Hautreizung liegen, Krebs entstehen
kann. Die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Krebs dürfte der gesamten
Quantität der Strahlen proportional sein (vgl. S. 566). Und eine große Quan-
tität kann ebenso durch viele kleine wie durch eine große Menge Zustande-
kommen.
Es mag sein, daß es außer erbbedingten Anfälligkeiten bestimmter
Organe auch krankhafte Erbanlagen gebe, die eine mehr allgemeine An-
fälligkeit für Krebs bedingen. Die in der Literatur verbreitete Ansicht, daß
stets eine Allgcmeindisposition mit einer Organdisposition zusammenwirken
müsse, ist aber unbegründet. Im Einzelfall genügt durchaus eine krankhafte
Erbanlage. Die erbbedingte Anfälligkeit im Einzelfall ist vermutlich nicht
dimer, sondern monomer. Unklarerweise lassen viele Autoren eine Erbanlage
für Allg em ei ndisposition mit einer solchen für Organdisposition „gekoppelt"
sein, offenbar in der irrigen Annahme, daß Koppelung Korrelation bedinge.
Auch die Versuche über Transplantation von Krebs bei Mäusen spre-
chen nicht für eine Allgemeindisposition. Diese Versuche haben ergeben, daß
Krebszellen von einer Maus sich nicht beliebig auf andere Mäuse überpflanzen
lassen, sondern nur auf crbgleiche und nahe erbverwandte. In Amerika haben
Little, Strong u. a. die erbbedingten Grenzen- dieser Transplanticrbar-
keit unter großem Aufwand von Mühe und Mitteln untersucht. Die Ergeb-
nisse dieser Versuche besagen meines Erachtens im wesentlichen nur, daß
Gewebsüberpflanzung nur auf nahe erbverwandte Tiere möglich ist. Zum
Teil kann die Überpflanzbarkeit auch durch die Mutation, die zur Ent-
stehung der Krebszelle geführt hat, geändert werden (Strong). Über
eine Allgemeindisposition zu Krebs sagen diese Versuche aber nichts aus.
Eine dahingehende Äußerung, die ich in Übereinstimmung mit den meisten
Autoren In der vorigen Auflage dieses Buches getan habe, nehme ich also
zurück. Wenn L i 1 1 1 c auf Grund seiner Versuche gescliätzt hat, daß die
Unterschiede der Transplantierbarkeit von 12 bis 14 Genen abhängig seien,
so spricht das nur dafür, daß es sich um normale polymere Rassenunter-
schiede handelt.
Für die Verhütung des Krebses ergeben sich aus dem Gesagten zwei
Wege. Erstens sind die idiokinetischen Einflüsse, durch die eine normale
Zelle in e ine Krebszelle verwandelt werden kann, nach Möglichkeit zu ver-
i) VgTs. 571.
UNTÜCHTIGKEIT ZUR FORTPFLANZUNG.
499
meiden (chemische Schädlichkeiten, Röntgenstrahl en, radioaktive Wässer).
Zweitens können aber auch die verschiedenen erblichen Veranlagungen zu
bösartigen Mutationen eingeschränkt werden, und zwar durch rassenhygie-
nische Maßnahmen. So läßt eine Polyposis des Darmes die Sterilisierung
angezeigt erscheinen. Wenn eine bösartige Geschwulst einmal entstanden ist,
so muß sie womöglich sofort chirurgisch entfernt werden. Auch Zerstörung
der Geschwulst durch Röntgen- oder Radiumstrahlen ist in manchen Fällen
erfolgreich. Da in rasch wachsenden Krebsgeschwülsten fast alle Zellkerne
dauernd in Teilung sind, während die Kerne der sonstigen Körpcrzcllen ge-
wöhnlich in Ruhe sind, so kann es gelingen, alle wachsenden Krebszellen
durch die Strahlen zu zerstören, während die normalen Zellen mit ihrem
ruhenden Kern nur wenig geschädigt werden. Prinzipiell aber sind die Ver-
ursachung der krebsigen Entartung und die Zerstörung der Krebszellen
durch Strahlenwirkung nur zwei verschiedene Grade eines gleichartigen Vor-
ganges.
i) Untüchtigkeit zur Fortpflanzung.
„Eine hereditäre Sterilität ist eigentlich ein Nonsens", so
schrieb ein Autor namens Hofstätter 1 ) noch im Jahre 1 926.
Tatsächlich kann Unfruchtbarkeit sehr wohl erbbedingt
sein, und zwar durch rezessive Erbanlagen. Nur dominante
Sterilitätsanlagen sind praktisch bedeutungslos, weil sie als-
bald nach ihrer Entstehung wieder ausgemerzt werden. Seit
den grundlegenden Entdeckungen M u 1 1 e r s wissen wir, daß
nächst den letalen Mutationen die sterilisierenden zu den häu-
figsten Mutationen überhaupt gehören (vgl.S. 564). Sie. äußern
sich zum Teil geschlechtsbegrenzt, nämlich vorzugsweise im
weiblichen Geschlecht, weil die Bildung weiblicher Keimzellen
leichter gestört werden kann als die männlicher. Wir müssen
heute annehmen, daß auch beim Menschen die meisten Fälle von
Unfmchtbarkeit, für die eine äußere Ursache nicht aufgefunden
werden kann, auf rezessiven krankhaften Erbanlagen beruhen.
Da einfach rezessive letale und sterilisierende Mutationen
recht häufig neu entstehen, aber nur bei homozygotem Zusam-
mentreffen sich selbst ausmerzen, häufen sie sich in mensch-
lichen Sippen und ebenso in Haustierzuchten mehr oder weni-
ger an. Da die meisten dieser Erbanlagen durch normale Allele
überdeckt werden, werden sie hauptsächlich bei Verwandtenehe
bzw. Inzucht wirksam. So erklärt sich die Erfahrung der Tier-
züchter, daß Inzucht die Fruchtbarkeit herabsetzt und in der
Folge zu völliger Sterilität führen kann. Die Herabsetzung der
Fruchtb arkeit beruht auf dem Absterben befruchteter Eier in-
: ) Hofstatt er, R. Sterilität des Weibes. In Marcuses Hand-
wörterbuch der Sexualwissenschaft. 2. Aufl. Bonn 1926. Marcus und Weber.
S- 757-
500
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
folge homozygoter letaler Gene. Während normalerweise eine
Sau rund ein Dutzend Ferkel bekommt, sind es bei Inzucht da-
her oft viel weniger. Zu dieser Wirkung der letalen Gene
kommt weiterhin die der sterilisierenden. Individuen, die
solche homozygot enthalten, sind völlig unfruchtbar; und da
mehrere verschiedene sterilisierende Gene in einer Erbmasse
vorhanden sein können, kann unter Umständen der Hundert-
satz der sterilen Nachkommen weit über 250/0 hinausgehen.
Dabei macht die Inzucht als solche einen Stamm mit unver-
sehrter Erbmasse weder steril noch bringt sie ihn sonst zur
Entartung (vgl. S. 582).
Freilebende Tiere und Pflanzen enthalten anscheinend im Durchschnitt
viel weniger letale und sterilisierende Erbanlagen als Haustiere und Kultur-
pflanzen. Ich habe in früheren Jahren viele Schmetterlingsartcn gezogen und
in der ersten Inzuchtgcncration meist weder ein Absterben befruchteter
Eier noch sterile Individuen beobachtet. Bei weiterer Inzucht pflegen aber
beide Erscheinungen bald aufzutreten und der Zucht ein Ende zu machen.
Auch Pflanzen aus der freien Natur zeigen in der ersten Generation nach
Selbstbestäubung meist weder Letalität noch Sterilität. Die relative Selten-
heit letaler und sterilisierender Gene bei freilebenden Tieren und Pflanzen
ist vermutlich aus zwei verschiedenen Ursachen zu erklären. Erstens ent-
stehen Mutationen in der freien Natur überhaupt seltener als unter den Be-
dingungen der Domestikation, Zweitens werden die auch dort entstehenden
letalen und rezessiven Mutationen infolge häufiger Inzucht bzw. Selbst-
bestäubung in der freien Natur häufiger homozygot und damit häufiger aus-
gemerzt als in der Domestikation. Die freilebenden Tiere und Pflanzen sind
gewissermaßen gegen Inzucht bis zu einem gewissen Grade immunisiert.
Selbstbesläubende Pflanzen wie Bohnen und Erbsen enthalten praktisch
überhaupt keine Sterililätsgene.
Es ist anzunehmen, daß die Dinge beim Menschen grund-
sätzlich genau so liegen, wie bei der Obstfliege Drosophila und
bei den Haustieren. Es ist also zu vermuten, daß durch Homo-
zygotwerden letaler Gene in zahlreichen Fällen befruchtete Eier
absterben, ohne daß dies sich auffällig zu äußern braucht. In
Fällen, wo das Absterben erst auf einer weiter fortgeschritte-
nen Stufe der Embryonalentwicklung erfolgt, tritt es als Fehl-
geburt in die Erscheinung. Homozygotwerden sterilisierender
Gene hat Unfruchtbarkeit zur Folge.
Eine derartige erbbedingte Unfruchtbarkeit kommt sicher
auch bei Männern vor. Fälle von Azoospermie (Fehlen von
Samenzellen), die nicht durch äußere Schädlichkeiten wie Go-
norrhöe oder Röntgenstrahlen verursacht sind, sind als erbbe-
dingt anzusehen. Auch abnorme Kleinheit und völliges Fehlen
der männlichen Keimdrüsen dürfte in der Regel erbbedingt
sein. Eine derartige Hypoplasie der Hoden scheint meist auch
UNTÜCHTIGKEIT ZUR FORTPFLANZUNG.
501
die primäre Ursache eines Kryptorchismus zu sein. Auch durch
erbbedingte Hypospadie kann die Fortpflanzungsfähigkeit be-
einträchtigt oder aufgehoben sein. Im übrigen sei betont, daß
nur eine Minderheit der Fälle von Unfruchtbarkeit erbbedingt
ist'; wesentlich häufiger sind äußere Schäden, insbesondere
Gonorrhöe, die Ursache.
Nach Fürbringcr 1 ) findet sich „idiopathische" oder „essentielle"
Sterilität verhältnismäßig häufig bei osteuropäischen Juden. Die Hoden sind
in solchen Fällen scheinbar normal entwickelt, insbesondere auch die spezifi-
schen Zellen des Keimepithels. Hormone werden offenbar normal gebildet;
aber es findet keine Bildung von Samenzellen statt. Man muß rezessive
Erbanlagen als Ursache dieser Unfruchtbarkeit vermuten.
Auch im weiblichen Geschlecht ist Gonorrhöe zwar die
häufigste Ursache von Unfruchtbarkeit; doch kommen krank-
hafte Erbanlagen daneben immerhin wesentlich in Betracht.
Manche von diesen sterilisierenden Erbanlagen äußern sich
vermutlich nicht in deutlichen Anomalien des Körperbaus
oder der Geschlechtsorgane. In andern Fällen treten sie
als Infantilismus in die Erscheinung. Mangelhafte Ent-
wicklung der Gebärmutter wird öfter bei mehreren weiblichen
Mitgliedern einer Familie beobachtet. Durch Infantilismus ist
ein großer Teil aller Fälle von Unfruchtbarkeit der Ehe be-
dingt, schätzungsweise bei uns vielleicht ein Drittel. Wenn es
keine Gonorrhöe gäbe, so würden wohl mehr als drei Viertel
aller Fälle von Unfruchtbarkeit durch Infantilismus bedingt
sein. Auch dort, wo noch Empfängnis eintritt, scheint bei infan-
tilis tischem Uterus oft eine normale Entwicklung der Frucht
nicht mehr möglich zu sein, und es tritt infolgedessen häufig
Fehlgeburt ein. Bei den nicht absichtlich herbeigeführten Fehl-
geburten ist der Infantilismus nächst der Syphilis und krank-
haften Erbanlagen der Frucht wohl als dritthäufigste Ursache
anzusehen.
Galton 2 ) hat eine Anzahl Sippen beobachtet, in denen Einkind-
sterilität gehäuft auftrat, und er hat diese Unfruchtbarkeit als eine Folge
erblicher Veranlagung gedeutet. Da indessen Einkindsterilität eine typische
Folge gonorrhoischer Infektion der Frau ist, ist es sehr schwer festzustellen,
ob in einer Sippe wirklich erblich bedingte Unfruchtbarkeil: oder Unter-
fruchtbarkeit vorkomme. Auch Lange 3 ) hat zwei Sippentafeln veröffent-
licht, in denen Einkindsterilität neben völliger Unfruchtbarkeit beobachtet
wurde.
1 ) Fürbringer, F. Sterilität des Mannes. Marcus es Handwör-
terbuch. S. 747.
2 ) Galton, F. Idereditary Genius. London 1869.
8 ) Nach Bluhm, A. Zur Erblichkeit der Unfruchtbarkeit. ARGB.
Bd. 18, IL 4. 1926.
502 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Die Fortpflanzungstüchtigkeit von Frauen wird durch
Myome wesentlich beeinträchtigt. Es sind das Geschwülste in
der Muskulatur der Gebärmutter, die Kindskopfgröße und dar-
über erreichen können, im übrigen aber nicht bösartig sind.
Es gibt ausgesprochene Myomfamilien, besonders in der jüdi-
schen Bevölkerung.
Von wesentlicher Bedeutung für die Gebärtüchtigkeit der
Frauen ist die Große und Gestalt des knöchernen Beckens, das
der kindliche Kopf bei der Geburt passieren muß. Bei uns stel-
len sich Geburtsschwierigkeiten in 3 bis 50/0 allein infolge zu
engen Beckens ein. Die häufigste Ursache zu enger Becken ist
die Rachitis. Aber auch abgesehen davon, daß die Rachitis
durch erbliche Anlagen wesentlich mitbedingt ist, ist die erb-
liche Veranlagung in vielen Fällen entscheidend für zu enge
Becken. Ganz besonders scheint das für das sogenannte
allgemein verengte Becken zu gelten.
Die erblichen Beckenformen haben Beziehung zu den geographischen
Rassen. Das breiteste Becken scheint der nordischen (bzw. daüschen) Rasse
eigen zu sein. Viel weniger breite Becken haben die mongoliden Rassen (ge-
nauer bekannt von Japanern und Maiayen). Die negriden. Rassen haben die
verhältnismäßig schmälsten Becken. Im allgemeinen sind Form und Größe
des mütterlichen Beckens und des kindlichen Kopfes aneinander angepaßt. Es
liegt auf der Hand, daß in gemischtrassigen Bevölkerungen daher oft Ge-
burtsschwierigkeiten auftreten werden. Aus Erfahrung an der Rinderherde
meines Vaters kann ich berichten, daß nach Kreuzungen der schlanken wild-
farbigen Schwyzcr Rindviehrasse mit der breiten schwarzweißen holländi-
schen bzw. ostfriesischen viel Öfter Geburtsschwierigkeiten auftreten als inner-
halb der beiden Eltcrrassen. Dabei dürfte freilich auch das Luxuriieren
der Bastarde eine Rolle spielen, das möglicherweise auch bei Kreuzung
menschlicher Rassen bzw. in gemischtrassigen Bevölkerungen zu Geburts-
schwicrigkeiten führen kann.
Die Chondroclystrophle und die Intersexualität, die natür-
lich auch fortpflanzungsuntüchtig machen, sind schon an an-
derer Stelle besprochen worden. Nach Wagner 1 ) treten auch
Schwangerschaftskrankheiten wie die Hyperemesis, die Eklam-
psie und die Chorea gravidarum familiär gehäuft auf.
Gauss 2 ) hat gefunden, daß die in der Freiburger Frauen-
klinik beobachteten engen Becken unverhältnismäßig häufig
*) Wagner, G. A. Frauenkrankheiten und Störungen der physiolo-
gischen Funktionen der Frau unter dem Gesichtspunkt der Vcrerblichkek.
In dem Sammelwerk „Wer ist erbgesund und wer ist erbkrank?" Jena 1935.
G. Fischer.
a ) Gauss, C. J. Über die Bedeutung der geographischen und sozialen
Faktoren für die Ätiologie des engen Beckens. Sitzungsbericht der Mittel-
rhein.. GeseIJsch. f. Geburtshilfe u. Gynäkologie. Frankfurt 1912.
ERBLICHE NERVENLEIDEN.
503
aus dem hohen Schwarzwald stammten, wo der Anteil der soge-
nannten alpinen (jedenfalls nicht nordischen) Rasse größer ist
als in der Rheinebene. Daneben mag die Kalkarmut des hohen
Schwarzwaldes, die sich z. B. auch in mangelhafter Geweih-
biidung bei den Rehböcken äußert, mitspielen. In den Küsten-
ländern der Nord- und Ostsee, wo die Bevölkerung ganz über-
wiegend von nordischer (bzw. dalischcr) Rasse ist, sind Ge-
burtsschwierigkeiten infolge enger Becken viel seltener. Auch
die größere Häufigkeit enger Becken in den unteren Schich-
ten der Bevölkerung dürfte wenigstens zum Teil mit derartigen
Rassenunterschieden zusammenhängen. Nach Agnes B 1 u h m l )
waren im Jahre 1904 in Baden bei 6,40/0 aller Geburten ge-
burtshilfliche Operationen nötig, in Norwegen nur bei 2,80/0,
obwohl Norwegen reichlicher mit Geburtshelfern versehen war.
Für die Tüchtigkeit zur Mutterschaft ist auch die Still-
fähigkeit wesentlich. Wenn man alle Frauen, die ihr Kind
nicht wenigstens 6 Monate an der Brust ernähren können, mit
Agnes Blüh m als nicht voll stillfähig ansieht, so liegt mangel-
hafte 'Stillfähigkeit bei etwa einem Drittel der deutschen Frauen
vor. Nicht ganz selten kommt auch völlige Stillunfähigkeit vor.
Einflüsse der Umwelt spielen als Ursachen der Stillunfähigkeit
und Stillschwäche keine praktisch wesentliche Rolle; dagegen
kommen diese Mängel ausgesprochen sippenweise vor und sind
daher im wesentlichen erbbedingt. Für die Ansicht v. Bun-
ges, daß Stillunfähigkeit in erster Linie durch elterlichen Al-
koholismus verursacht werde, fehlen einwandfreie Belege.
Ich habe den Eindruck, daß Stillunfähigkeit oft mit infan-
tilem und andererseits auch mit maskulinem Habitus cinher-
geht. Jedenfalls scheint mir die Sache nicht so zu liegen, daß
spezifische Erbanlagen sich nur in Stillunfähigkeit und keinen
andern Zeichen äußern. Bekannt ist, daß Unterernährung Still-
schwäche zur Folge hat. Entsprechend können vermutlich man-
cherlei Schwächezustände auch Stillschwäche verursachen.
k) Erbliche Nervenleiden
Unter Nervenleiden sind hier solche Krankheiten des Nervensystems
verstanden, die sich vorwiegend in körperlichen Erscheinungen äußern. Jene
Störungen des Zentralnervensystems, die sich hauptsächlich seelisch äußern,
werden unter den erblichen Psychopathien besprochen, mögen sie auch wie
die Neurasthenie und die Hysterie schönfärberisch als „Nervenleiden" be-
x ) Bluhm, Ä. Zur Frage nach der generativen Tüchtigkeit der deut-
schen Frauen. ARGB. 1912.
504
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
zeichnet werden. Einige echte Nervenleiden sind schon in früheren Kapiteln
behandelt worden, so die Ptosis des Oberlids, die Sehnervverödung und das
Gliom der Netzhaut unter den Augenleiden, die Ilörnervverödung unter den
Ohrenleiden, die Neurofibromatose, die Raynaudsche Krankheit und das
erbliche chronische Ödom unter den Hautleiden, das Quinckesche Ödem
und die Migräne unter den Diathesen; die Epilepsie wird unter den Psycho-
sen besprochen.
Über die erblichen. Nervenleiden liegt eine zusammenfas-
sende Darstellung von Curtius 1 ) vor.
Zu den erblichen Nervenleiden werden herkömmlichcr-
weise auch die fortschreitenden M uskeldy s tr o phien ge-
rechnet, weil che Analogie mit andern Formen fortschreitenden
Muskelschwundes dafür spricht, daß es sich im Grunde um ein
Versagen von Teilen des Nervensystems handelt. Die fort-
schreitenden Muskeldystrophien äußern sich in einem allmäh-
lichen Schwächerwerden gewisser Muskelgruppen, das im Lauf
von Jahren oder Jahrzehnten bis zu völliger Hilflosigkeit füh-
ren kann. Es gibt aber auch leichtere Formen, bei denen das
Leiden nur sehr langsam fortschreitet oder zu einem gewissen
Stillstand kommen kann. Äußerlich können die befallenen
CP Q
9
er
Q
— j —
er
CS CT
ö*
—\—i 1
f O O CT
Fig. 168.
Progressive Muskeldystrophie
(fortschreitender Muskelschwund) nach Kehr er 3 )
Muskelgruppen infolge Vermehrung des Fettgewebes in eigen-
artig unharmonischer Verteilung teilweise an Umfang zuneh-
men ( Pseudohypertrophie) .
Es sind mehrere Sippen bekannt geworden, in denen fort-
schreitende Muskeldystrophie einfach dominanten Erbgang
zeigt. Ein Beispiel ist die abgebildete Sippe nach Kehrer 2 ). In
diesen Sippen werden in der Regel zuerst und hauptsächlich
1 ) Curtius, F. Die Erbkrankheiten des Nervensystems. Stuttgart
1935. Erike.
2 ) K e h r e r , F. A. Beitrag zur Lehre von den hereditären Muskelatro-
phien. Dissertation. Frciburg i. E. 1908.
ERBLICHE NERVENLEIDEN.
505
die Muskeln des Schultergürtels, der Oberarme und des Ge-
sichts befallen ; auch pflegt das Leiden verhältnismäßig leicht
zu verlaufen und erst gegen das dritte Jahrzehnt zu beginnen,
so daß es in dominantem. Erbgang weitergegeben werden kann.
Männliche und weibliche Kranke sind in diesen Sippen unge-
fähr gleich häufig.
Häufiger sind Sippen, in denen fortschreitende Muskel-
dystrophie eine oder mehrere Generationen überspringt. Und
zwar sind gesunde Überträger, der Anlage meist weiblichen Ge-
schlechts, während männliche Anlageträger regelmäßig selbst
zu erkranken pflegen. Weitz 1 ) und Davidenkow 2 ) neh-
men an, daß es sich in diesen Sippen um dominante Anlagen
von teilweise geschlechtsbcgrenzter Äußerung handle. Da in
diesen Sippen etwas über doppelt so viele kranke Männer als
Frauen vorkommen, scheint die Anlage im weiblichen Ge-
schlecht sich bei nicht ganz der Hälfte der Anlageträgerinnen
zu äußern. Das Leiden beginnt in diesen Sippen oft schon im
Kindesalter an den Muskeln des Beckengürtels und der Ober-
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^9^9^99®9®9
Fig. t 69. Muskeldystrophie nach K ostako w.
schenke!, die auch später hauptsächlich, befallen sind. Meist
besteht ausgesprochene Pseudohypertrophie. Gegen geschlechts-
gebundenen Erbgang spricht gelegentliches gleichzeitiges Vor-
kommen des Leidens bei Vater und Sohn.
Es sind allerdings einige wenige Sippen bekannt geworden, die sich
nur recht gezwungen mit diesem Erbgang vereinigen lassen, die vielmehr
das typische Bild des rezessiven geschlechtsgebundenen Erbgangs zeigen,
so insbesondere eine von Kostakow 3 ) angegebene Sippentafel. Diese
r ) Weitz, W. Über die Vererbung bei Muskeldystrophie. Deutsche
Zcitschr. für Nervenheilkundc 192 1 .
s ) Davidenkow, S. Über die Vererbung der Dystrophia musculo-
rum progressiva und ihrer Unterformen. ARGE. Bd. 27. H. 2. S. 169. 1930.
3 ) Kost a k o w , H. Die progressive Muskeldystrophie, ihre Verer-
bung und Glykokollbehandlung. Deutsches Archiv für klinische Medizin.
Bd. 176. H. 5. S. 467, 1934.
506 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Sippe ist aber klinisch und genealogisch nicht so gründlich beschrieben, wie
es wünschenswert wäre. Das sollte womöglich nachgeholt werden.
Daß es außer den genannten Formen auch (nicht ge-
schlechtsgebundene) rezessive Muskeldystrophien gibt, scheint
mir sicher zu sein. Schon ein Teil der von Weitz beigebrach-
O* q ten Sippentafeln erklärt sich
* — . » so am ungezwungensten. Eine
6 6 6" q 6 c ö solche sippe zeigt Fi& - I7 °-
er 9 g er
9
9 9
9 er ö* #"9
Dafür spricht insbesondere
auch die schon von Weitz
festgestellteüberdurchschnitt-
liehe Häufigkeit von Bluts-
verwandtschaft bei den El-
tern der Kranken. Offenbar
rezessiven Erbgang zeigt auch
die von Minkowski und
Srdler 1 ) sorgfältigerforschte
Sippe. Sie umfaßt 13 Kranke, die sämtlich aus Verwandten-.
ehen hervorgegangen sind, die aber in keinem Fall einen kran-
ken Elter oder sonst einen kranken Vorfahren hatten. Dreimal
trat in dieser Sippe das Leiden bei zwei Geschwistern auf.
Fig. 170.
Muskeldystrophie nach Weitz.
Ein gemeinsames Ahnenpaar
L_j i 5 1 3 1 5 1 I
9 9 äl f? f 9 f 9
999JC? $äc?c?Q ä
9
Fig. 171. Muskeldystrophie nach Minkowski und S i d 1 e r.
(Ausschnitt, umgezeichnet.)
Rezessiv erbbedingt sind vermutlich auch die meisten isolierten Fälle
von Muskeldystrophie, d. h. solche, in deren Sippe keine weiteren Fälle
aufgefunden wurden. Nach Weitz kamen auf 54 „isolierte" Fälle 12 „fami-
liäre", d. h. Geschwisterreihen mit 2 oder mehr Kranken. Unter der An-
!-) Minkowski, M. und S i d 1 e r , A. Klinische und genealogische
Untersuchungen zur Kenntnis der progressiven Muskeldystrophie. Archiv
der Julius-Klaus-Stiftung. Bd. 3. S. 239. 1927/28.
ERBLICHE NERVENLEIDEN.
507
nähme, daß die Familie im Durchschnitt 3 Kinder hat, wären bei einfach
rezessivem Erbgang auf 54 isolierte Falle 20+4 familiäre zu erwarten.
W e i t z ist geneigt, die isolierten Fälle als neue Mutationen aufzufassen, die
bei grundsätzlich dominantem Erbgang nur deshalb isoliert blieben, weil
sie wegen ihres Leidens nicht zur Fortpflanzung kämen. Meiner Ansicht nach
bedarf es aber dieser Annahme nicht, da sich das verhältnismäßig häufige
Vorkommen isolierter Fälle ungezwungen aus rezessiver Erbbcdingtheit er-
klärt. Zu entscheiden wäre die Frage durch systematische Erforschung der
Blutsverwandtschaft der Eltern; insbesondere wären die „isolierten" Fälle in
dieser Hinsicht mit den „familiären" zu vergleichen.
Jedenfalls ist die klinische Gruppe der Muskeldystrophien genetisch
ziemlich heterogen. Curtins ruft zwar aus: „Ist es tatsächlich berechtigt,
Erb's mit großem Scharfblick und genialer Intuition geschaffenes Lebens-
werk, den Nachweis der Einheit der verschiedenen Dystrophieformen, preis-
zugeben P" 1 ) Man darf aber vermuten, daß die Lehre E r b s wesentlich
anders aussehen würde, wenn zu seiner Zeit schon die moderne Erblchre
existiert hätte. Curtius sagt übrigens gleich darauf: „Daß verschiedene
Erbgänge der Dystrophie vorkommen, scheint sicher zu sein." Und dann
wieder: „An der tieferen Verwandtschaft der verschiedenen klinischen und
erbbiologischen Formen der Dystrophie muß u. E. vorläufig festgehalten
werden." Es fragt sich, was hier die Worte „tiefer" und „vorläufig" zu be-
deuten haben. Wenn das Wort „tiefere Verwandtschaft" eine grundsätzlich
gleichartige Pathogenese in morphologischer und funktioneller Hinsicht oder
eine praktisch-klinische Zusammengehörigkeit bedeuten soll, so ist nichts
dagegen zu sagen. Genetisch aber gibt es sicher verschiedene Biotypen der
Muskcldystrophie. Jeder Sippe kommt ein bestimmter Durchschnittstypus
zu, der je nach der sonstigen Erbmasse individuelle Abweichungen zeigen
kann und der auch wohl bis zu einem gewissen Grade entwicklungslabil ist,
während die Umweltlabilität gering zu sein scheint.
Die neutrale Muskel- m (5
atrophie beginnt meist schon '— r— 1
im Kindesalter mit einem
Schwächerwerden und Schwund
der Muskeln der Unterschenkel
und Füße; einige Jahre später
werden auch die Unterarme und
Hände mit einbezogen. Gleich-
zeitig veröden die entsprechen-
den Nerven.
Weitz 2 ) berichtet in einer zusammenfassenden Bearbeitung über 30
Sippen mit einfach dominantem Erbgang. Eine solche Sippe zeigt Fig. 172
nach Davidenkow 3 ), In diesen schreitet das Leiden nur sehr langsam
ä
9
o 9 f o ö f 9
Fig. 172.
Neurale Muskelatrophic
nach Davidenkow.
*) A.a.O. S. 90.
2 ) Weitz, W. Über die Vererbung der neurotischen Muskelatrophie
Charcot-Marie. Bibliographia geneüca Bd. 6. S.91. 1930.
3 ) Davidenkow, S. Über die neurotische Muskelatrophie Charcot-
Marie. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 107 und
10S. 1927.
508
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
fort, ohne das Leben direkt zu bedrohen. Beide Geschlechter sind gleich
hauüg befallen. Übertragung durch Gesunde kommt in der Regel nicht vor.
Für die Ansicht Davidenkows, daß die dominante Muskelatrophie
vorwiegend auf das männliche Geschlecht begrenzt sei, finde ich keine ge-
nügenden Belege.
Dagegen kommt offenbar, wenn auch sehr selten, eine rezessive ge-
schlechtsgebundene Muskelatrophie vor. Die Sippen tafcl von H er ring-
harn 1 ) scheint mir nicht
wohl anders gedeutet wer-
den zu können (Fig. 173).
Die linke Seite der Sip-
pentafel zeigt das Bild
dieses Erbgangs ganz
typisch. Fünf Töchter
eines kranken Mannes, die
selbst phänotypisch ge-
sund sind, übertragen das
Leiden auf einen Teil
ihrer Söhne, während vier
Söhne des kranken Vaters
gesund bleiben. Auf der
rechten Seite der Sippen-
tafel hat allerdings einmal
ein kranker Vater einen
kranken Sohn; da über die Mutter des kranken Sohnes in Herringlia m s
Arbeit nichts berichtet ist, steht nichts der Annahme im Wege, daß diese
mit ihrem Manne blutsverwandt und selbst Trägerin der Anlage war. Daß
die Sippentafel Hcrringhams in den älteren Generationen nicht genau
ist, geht übrigens auch daraus hervor, daß
die Geschwister nicht in der Reihenfolge
der Geburt sondern zuerst die männlichen
und dann die weiblichen eingezeichnet sind.
Daß es auch progressive Mus-
kelatrophie von einfach rezessivem
Erbgang gibt, zeigt neben einigen
anderen Sippentafeln besonders
typisch eine von Margarete
S teinthal 2 ) auf Veranlassung
von Weitz veröffentlichte Sippe.
Bemerkens werterweise verläuft
diese rezessive Muskelatrophie
schwerer bzw- schneller als die
dominante. In der von Steinthal
Neurale M u s k e 1 a t r o p h i c
nach H erri n g h a m.
1 9
9 d cf
I II LI
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9
1 1 ij 1 1
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Fig. 174. Neurale Muskel-
a t r o p h i e nach M argarete
S t e i 11 1 h al.
1 ) II e r r i n g h a m. Muscular atrophy of the peroncal type affecting
many members of a family. Brain. Bd. 11. S. 230. 1889.
2 ) S teinthal, M. Zur Vererbung der neuralen progressiven Muskel-
atrophic. ARGB. Bd. 21. H. 4. S. 425. 1929.
ERBLICHE NERVENLEIDEN.
)09
beschriebenen Sippe waren die kranken Mitglieder schon im
dritten Jahrzehnt an Händen und Füßen so gut wie ganz ge-
lähmt. In anderen Sippen ist rezessive Muskelatrophie mit Ver-
dickung der Nerven und schweren zcntralnervösen Symptomen
(Pupilicnstarre, Nystagmus, Ataxie) beobachtet worden.
D a v i d e n k o w hat j 2 verschiedene Biotypen neuraler Muskelatrophie
unterscheiden zu können gemeint und die Vermutung ausgesprochen, daß
diese im Verhältnis multipler Allelie standen. Es kann zwar sein, daß das
für einzelne zutrifft; eine Möglichkeit des Beweises besteht indessen nicht;
und es ist genau so gut möglich, daß die verschiedenen Erbanlagen zu
neuraler Muskelatrophie zueinander nicht allel sind, sondern verschiedene
Gene betreffen. Der geschlechtsgebundene Biotypus ist den autosomalen ja
sicher nicht allel. Der normale Zustand der betreffenden Teile des Zentral-
nervensystems ist nicht durch ein einziges sondern durch zahlreiche Gene
bedingt; und durch Mutation jedes dieser Gene kann möglicherweise Muskel-
atrophie verursacht werden. Die Zald der möglichen Erbleidcn ist daher un-
begrenzt; und es wäre nicht verwunderlich, wenn jede Sippe, in der Muskel-
atrophic überhaupt vorkommt, ihren besonderen Biotypus hätte.
Ob die „familiäre hypertrophische Neuritis", bei der
keine fortschreitende Muskelatrophie eintritt, von der Gruppe der neuralen
Muskelatrophien grundsätzlich zu trennen ist, ist wohl fraglich.
Zu den neuralen Muskelatrophien kann man auch die sogenannte
spinale Muskelatrophie rechnen, die im 4. Jahrzehnt mit einem
Schwunde der Handmuskeln zu beginnen pflegt und die auf einer Verödung
der Vorderhornzellcn des Rückenmarks und der von dort ausgehenden Ner-
ven beruht. Da sie öfter als Spätfolge einer spinalen Kinderlähmung be-
obachtet worden ist, liegt es nahe anzunehmen, daß hier zu einer schwachen
Erbanlage eine äußere Schädlichkeit hinzukommt. Möglicherweise bedeutet
die erbliche Schwäche der Vorderhörner schon eine Disposition zu Polyo-
myelitis; denn von allen mit dem betreffenden Virus infizierten Kindern er-
krankt offenbar nur ein kleiner Teil.
Schließlich gibt es eine schon im Säuglingsalter beginnende bald zum
Tode führende rezessive spinale Muskelatrophie, die als W e r d 11 i g - II o f f -
m a n n s c h c Krankheit bezeichnet wird. Auch die sogenannte B u 1 -
bärparalyse, die auf einem Zugrundegehen der Kerne der Medulla
oblongata beruht, ist wohl sicher erbbedingt. Auch das Endstadium der
spinalen Muskelatrophie kann als Bulbärparalyse erscheinen.
Die spastische Spinalparalyse (krampfige Rük-
kenmarkslähmung) äußert sich in einer meist im 2. Jahrzehnt
beginnenden, langsam im Laufe der Jahre zunehmenden spa-
stischen (krampfigen) Lähmung und Versteifung der Beine.
Das Leiden beruht auf einem Zugrundegehen von Leitungs-
bahnen des Rückenmarks, zumal der Pyramidenseitenstrang-
bahnen. Bremer 1 ) hat eine Sippe beschrieben, in der es
durch 6 Generationen in ununterbrochener Linie verfolgt wer-
l ) Bremer, F, W. Klinischer und erbbiologischer Beitrag zur Lehre
von den Heredodegenerationen des Nervensystems. Archiv für Psychiatrie
66. 1922. Nr. 3/4.
510 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
den konnte. Auch sonst sind einige Sippen mit dominantem
Erbgang bekannt geworden 1 ). Häufiger aber sind anscheinend
rezessive Fälle. Nach Bremer fand sich bei 100 Fällen 2omal
Blutsverwandtschaft der Eltern. Auch liier pflegen die rezes-
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9
9
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Fig. 175. Spastische Spinalparalyse. Nach Bremer. (Ausschnitt.)
siven Fälle schwerer als die dominanten zu verlaufen. Das Bild
rezessiver Erbbedingtheit zeigt z. B. die abgebildete Sippen-
tafel nach Erb 2 ). :
Das Bild spastischer Spinalparalyse kann anscheinend auch durch
äußere Ursachen entstehen. Ich vermute indessen, daß isolierte Fälle oft zu
Unrecht auf äußere Schädlichkeiten zurückgeführt worden sind.
Die amyotrophisc he Lateralsklerose
vereinigt in sich Symptome der spastischen Spinalpara-
lyse mit solchen progressiver Muskelatrophie. Sie würde
wohl zweckmäßiger als spastische Muskelatro-
phie bezeichnet werden. Familiäres Auftreten ist nur in
verhältnismäßig wenigen Fällen beobachtet worden.
Über Blutsverwandtschaft der Eltern ist nichts Zuver-
lässiges bekannt. Das Bild der amyotrophischen Lateral-
sklerose kann auch durch Syphilis des Zentralnerven-
systems entstehen.
Zerebrale Kinderlähmung („Littleschc
Krankheit"), die sich in spastischer Starre der Beine
äußert, kann durch Zerstörung gewisser Teile des Ge-
hirns, z. B. infolge von Verletzungen bei der Geburt,
entstehen, in andern Fällen aber auf Grund erblicher
Anlage, wie das Vorkommen bei Geschwistern zeigt.
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9
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Fig. 176.
Spastische
S p i n a 1 p a r a 1 y s e
Nach Erb.
*) T h ums, K. Zur Klinik und Erbbiologie der spastischen Heredode-
generation des Nervensystems. Zeitschrift für Konstitutionslehre. Bd. 16.
H. 5. 1932.
2 ) Erb. Über hereditäre spastische Spinalparalyse. Deutsche Zeitschr.
für Nervcnheilkundc. Bd. 6. S. 137. 1895.
ERBLICHE NERVENLEIDEN.
511
Die erbliche spastische Paraplegie (Diplegie, Beidseitenlähmung),
die mit Starre der Beine, Augenzittern, Schielen, Abnahme des Sehvermö-
gens und der geistigen Fähigkeiten einhergeht, scheint meist rezessiv zu sein.
Anscheinend gibt es verschiedene Formen, die teils im Säuglingsaltcr, teils
im Kindesalter und teils erst im späteren Jugendalter beginnen. In einer von
Wolfslast 1 ) erforschten Sippe zeigt das Leiden rezessiven geschlechts-
gebundenen Erbgang.
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Fig. 177.
Spastische Paraplegie (Beidseitenlähmung). Nach D avidenkow 2 ).
Die Pelizaeus-Merz bach ersehe Krankheit beginnt in
früher Jugend mit Zittern und Bewegungsstörungen, denen sich weiterhin
spastische Lähmungen und geistige Schwäche hinzugesellen. Gegen Ende
des zweiten Jahrzehnts pflegt der Tod einzutreten. Das Leiden beruht auf
einem frühzeitigen Zugrundegehen (oder angeborenen Mangel ?) der Mark-
scheiden der Pyramidenbalmen. Es ist bisher nur in zwei Sippen beobachtet
worden. ' ' ; , . ,
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Fig. 178.
Pelizaeus-Merzbacher sehe Krankheit. Nach Merz bach ei 3 ).
Die hier abgebildete Sippentafel paßt zum Bilde des rezessiven ge-
schlechtsgebundenen Erbgangs mit einer Ausnahme: den zwei kranken
Schwestern in einer Geschwisterreihe der letzten Generation. Da der Vater
gesund war, kann es sich nicht um homozygote Trägerinnen der Anlage
handeln. Man darf wohl annehmen, daß die krankhafte Anlage nicht ganz
regelmäßig rezessiv ist, sondern sich ausnahmsweise auch heterozygot im
weiblichen Geschlecht äußern kann, wie Entsprechendes z. B. bei der erbli-
1 ) Noch nicht veröffentlicht, nach persönlicher Mitteilung.
2 ) Mitgeteilt von Dr. S. Weisse nberg im ARGB. ]g. 19. 1927.
3 ) Merzbacher, L. Gesetzmäßigkeiten in der Vererbung und Ver-
breitung verschiedener hereditär-familärer Erkrankungen. ARGB. 1909. PI. 2.
512 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
chen Optikusatrophie vorkommt, ich verdanke Frau Dr. F a 1 1 s e n s t c i n
in Gotha eine Mitteilung über eine weitere Generation dieser Sippe, in der
sich noch je zwei kranke Söhne zweier gesunder Mütter finden. Eine von
Weilz erörterte Deutung, daß die Anlage nicht geschlechtsgebunden sondern
nur in ihrer Äußerung ganz überwiegend auf das männliche Geschlecht be-
grenzt sei, muß immerhin als möglich anerkannt werden. Da die männlichen
Träger des Leidens niemals zur Fortpflanzung kommen, ist eine Weiterver-
erbung in männlicher Linie, die sonst eine Unterscheidung von dem ge-
schlechtsgebundenen Erbgang gestatten würde, ausgeschlossen. Eine weitere
hypothetische Erklärungsmöglichkeit, daß es sich bei den kranken Mäd-
chen um Individuen gehandelt habe, die trotz Heterogamede (d. h. Besitz
von nur einem Gcschlechtschromosom) sich zu vorwiegend weiblichen Indi-
viduen entwickelt hätten, wage ich nur eben anzudeuten.
Bei der multiplen Sklerose, die auf Krankheitsher-
den im Gehirn und Rückenmark beruht und sich in fortschrei-
tender spastisch-a taktischer Lähmung und Abnahme der gei-
stigen Fälligkeiten äußert, ist Erbbedingtheit zwar vermutet,
bisher meines E rächt ens aber nicht bewiesen worden. Cur-
t i u s *) hat trotz eifriger Fahndung- keine deutliche familiäre
Häufung feststellen können. Die Nachforschung vonThums 2 ),
der bei mehreren Paaren eineiiger Zwillinge das Leiden stets
nur bei dem einen Zwilling fand, spricht gegen eine entschei-
dende Bedeutung der erblichen Veranlagung für die Entste-
hung der multiplen Sklerose. Manche Autoren halten sie für
eine Infektionskrankheit; aber auch der angebliche Befund be-
sonderer Spirochäten hat sich nicht bestätigt. So müssen wir
einstweilen bekennen: wir kennen die Ursachen der multiplen
Sklerose nicht.
Die rezessiv erbliche Wilsons che Pseudosklerose, die ähn-
liche Symptome wie die multiple Sklerose macht, die aber im späteren Kin-
desalter beginnend zunächst das Bild einer Leberschrumpfung zu machen
pflegt, ist schon unter den erblichen inneren Leiden besprochen worden.
Die diffuse Sklerose, ein seltenes tödlich endendes Leiden, das
ähnlich der Pelizacusschen Krankheit auf einer Verödung des weißen Gehirn-
mar'kes (des Leitungsapparates) beruht, ist in einigen Fällen bei Kindern aus
derselben Geschwisterreihe beobachtet worden. Es seheint rezessiv erblich
zu sein. In einer von Scholz 3 ) beschriebenen Sippe hatten beide Groß-
väter zweier aus einer Vetternchc stammender Brüder an leichteren spasti-
schen Störungen gelitten. Es liegt nahe, diese Störungen als Äußerungen
der heterozygoten Anlage zu deuten.
1 ) Curtius, F. Multiple Sklerose und Erbanlage. Leipzig 1933.
2 ) Thuffls, K. Vorläufige Mitteilung über Zwillingsuntersuchungeu
bei multipler Sklerose. Zentralblatt für die gesamte Neurologie der Psych-
iatrie. Bd. 78. FL 1/2. S. 157. 1935.
3 ) Scholz, W. Klinische, pathologisch-anatomische und erbbiologi-
sche Untersuchungen bei familiärer diffuser Flirnsklerose im Kindesaller.
Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 99. Ii. 5. 1925.
ERBLICHE 'NERVENLEIDEN.
513
Die tuberöse Sklerose, die durch geschwulstartige Knoten im
Gehirn, an der Flaut und in verschiedenen anderen Organen gekennzeichnet
ist, scheint nach Siemens auf einer dominanten Anlage zu beruhen. Kli-
nisch pflegt sich das Leiden in epileptischen Anfällen und Schwachsinn
zu äußern. Die naevusartigen Knoten an der Plaut ähneln denen bei der
Kecklinghausensehen Neurofibromatose. Es handelt sich anscheinend um eine
stark entwicklungslabile Anlage, die zu recht verschiedenen Bildern führen
kann, ähnlich wie gewöhnliche Naevi in sehr verschiedener Zahl und Lokali-
sation auftreten können. Die epileptischen Anfälle bei diesem Leiden werden
vermutlich durch naevusartige Herde in der Hirnrinde verursacht.
Die Friedreich sehe Krankheit oder erbliche
spinale Ataxie (ausfahrende Rückenmarkslähmung) be-
ruht auf der Verödung der Hinterstränge und Hinterwurzeln
des Rückenmarks, von Nervenbahnen, die von den Glied-
maßen zum Gehirn
führen. Demgemäß
fallen die Empfin-
dungen aus, mittels
derer die Bewe-
gungenkontrolliert
werden. Das Lei-
den beginnt in der
Kindheit undpf legt
im Verlauf von
Jahrzehnten zum
Tode zu führen.
Um die Erfor-
schung des Erb-
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Fig. 179.
Fried reich sc he Ataxie
Nach H a n h a r t. (Ausschnitt, umgezeichnet.)
(Ausfahrende Rückenmarksiähmung).
gangs der atakti-
schen Rücken-
marksiähmung hat
sich besonders
Hanhart 1 ) verdient gemacht. Eine Sippentafel nach Han-
hart gebe ich in Fig. 179 wieder.
In 21 Geschwisterreihen fand Hanhart unter 118 Ge-
schwistern 29 kranke, das sind 25 + 4%- Noch entscheiden-
der spricht die große Häufigkeit der Blutsverwandtschaft der
!) Hanhart, E. Beiträge zur Konstitutions- und Vcrerbungsfor-
schung an Hand von Studien über hereditäre Ataxien. Schweizerische med.
"Wochenschrift 1923. Nr. 6.
II anhart, E. Weitere Ergebnisse einer Sammelforschung über die
Friedrciehsche Krankheit in der Schweiz. Schweizer Archiv für Neurologie
und Psychiatrie. Bd. 13. S. 297. 1923.
H anhart, E. Über die Bedeutung der Erforschung von Inzuchtsge-
bieten. Schweizerische med. Wochcnschr. 1924. Nr. 50.
; a 11 r - J? i s c li e r - 1, e 11 z I-
33
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
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1903 1Sm. 131h 1921
Eltern für rezessiven. Erbgang. Von 46 Fällen Hanharts
stammten 8, das sind 17 -j- 5 o/ 0j aus Ehen von Geschwister-
kindern und 26; das sind 56 + 7%, aus nachweisbaren Ver-
wandtenehen überhaupt. Der ganzen Sachlage nach ist aber
anzunehmen, daß in weiter zurückliegenden Generationen beide
Eitern in jedem Falle gemeinsame Vorfahren haben, von denen
sie die rezessive Anlage überkommen haben. Auch wo das Lei-
den nur ein einziges Kind in einer Geschwisterreihe befällt, ist
es daher ais ererbt anzusehen. Einen solchen Fall zeigt Fig. 180.
In diesem Falle Hegt das gemeinsame
Stammelternpaar, von dem beide Ei-
tern des kranken Kindes die rezessive
Erbanlage bekommen haben, fünf Ge-
nerationen zurück. Obwohl das Leiden
weder bei jenem Stammeltcrnpaar noch
in den Generationen seitdem beobachtet
worden ist, muß man annehmen, daß
die Erbanlage schon so lange in der
Sippe vorhanden war; und es ist na-
türlich nicht gesagt, daß sie gerade
zur Zeit jenes „Stammelternpaares" um
Fig. 180. die Mitte des 18. Jahrhunderts neu ent-
Friedreichsche Ataxie, standen sei; sie kann vielmehr noch
Jahrhunderte weiter zurückreichen, ohne
sich jemals geäußert zu haben. Es ist
sogar nicht unwahrscheinlich, daß aile
Fälle von Friedrcichscher Ataxie in der
Schweiz letzten Endes auf eine gemeinsame Quelle zurück-
gehen. Dafür spricht der Umstand, daß das Leiden keineswegs
überall vorkommt. Gerade in der Schweiz aber ist es verhält-
nismäßig häufig. Hanhart hat 18 schweizerische Sippen, in
denen Friedreichsche Ataxie vorgekommen ist, in der Haupt-
sache auf vier Herde zurückführen können. Besonders in
einigen abgelegenen Tälern, in denen die Bevölkerung sich
in ziemlich enger Inzucht fortpflanzt, hat er gehäufte Fälle ge-
funden.
Außer der rezessiven Ataxie kommt eine dominante vor,
die später zu beginnen und leichter zu verlaufen pflegt, so daß
die Träger der Anlage heiraten und Kinder haben können. Eine
solche Sippe zeigt Fig. 181 nach Valentin 1 ). In England
x ) Valentin, B. Konstitution und Vererbung in der Orthopädie.
Stuttgart 1932. S. 24.
Nach PI a 11 h a r t.
Die Zalilen geben die
Geburtsjahre an.
ERBLICHE -NERVENLEIDEN.
515
d
scheint dominante Ataxie eher häufiger als rezessive zu sein
(Gowei's, Brown) 1 ). ■ '
Dominanten Erbgang zeigt auch die zerebellare Ata-
xie oder Mariesche Krankheit, bei der hauptsächlich
Kleinhirnb ahnen zugrundegehen und die sich in taumelndem
Gang äußert. In einer von C lassen 2 ) beschriebenen Sippe
setzte das Leiden erst im 6. Jahrzehnt ein.
Während die typische Fried- j\
reichsche Krankheit sich rezessiv j
und die typische Mariesche Krank-
heit sich dominant zu verhalten
pflegt 3 ), hat Triebe l 1 ) eine
Sippe mit dominanter Ataxie be-
schrieben, bei der spinale und zc-
" rebellare Symptome zugleich vor-
kamen, Andererseits hat H an-
haut in einer Schweizer Fried-
reichsippc einen Fall mit vorwie-
gend zerebcllaren Symptomen be-
obachtet. Solche Erfahrungen dür-
fen aber nicht im Sinne einer
Gleichheit aller Ataxieanlagcn gedeutet werden. Sie zeigen im Gegenteil,
daß die Gruppe der erblichen Ataxien recht heterogen ist und jedenfalls
mehr als zwei Biotypen umfaßt. In einigen Sippen mit anscheinend dominan-
ter Ataxie ist regelmäßig Optikusatrophie im Verlaufe des Leidens beobach-
tet worden 5 ). Anscheinend handelt es .sich dabei, um eine besondere Art
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Fig. 181.
Spinale Ataxie nach Valentin.
1 — r — i 1 — r~H — 1 1 — 1 — H — 1 t r -1 — t
o"9 9 0*999 ifcf9 9§ ^9 «Tf
Fig. 182.
KleinhirnlÜlimung. (Zerebellare Ataxie.) Nach Classen.
a ) Brown. On hereditary ataxy with a series of twenty-oiie cases.
Brain. Bd. 15. S. 250. 1S92.
2 ) Classen, K. Vererbung von Krankheiten und Krankheitsanlagen
durch mehrere Generationen. ARGB. Bd. 13. H. 1. 1918.
3 ) Kalinowsky, L. Zur Frage der Fricdrcichschen und Marie-
schen familiären Ataxie. Deutsche Zcitschr. für Nervenheilkunde. Bd. 108.
H. 4/5. 1929.
ä ) Triebel, H. Die Familie K. Eine Studie über die Vererbung der
Fricdreichschen Krankheit. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. Bd.
75. H. 1/3. 1922.
5 ) Nach Wilbrand und Saenger. Handbuch der Neurologie des
Auges. Erkrank, des Optikus-Stammes. Bd. 5. Wiesbaden 1913. Bergmann.
516 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
der erblichen Ataxie. Auch die durch Syphilis verursachte fortschreitende
Atrophie des zentripetalen Nervensystems (Tabes) führt nicht selten zu
Atrophie des Optikus, der ja auch zu den zentripetalen Nerven gehört.
Die Paralysis agitans (P arkins ort sehe Krank-
heit, Schüttellähmung) ist ein ziemlich häufiges Erb leiden,
das im sechsten Jahrzehnt mit eigentümlichen gleichförmigen
Zitterbewegungen der Hände zu beginnen pflegt. Die Hände
sind dauernd in einer Bewegung wie beim Münzenzählen oder
Pillendrehen. Im Verlauf des langsam fortschreitenden Lei-
dens entwickelt sich eine eigentümliche Muskelsteifheit, die
dem Gesicht einen maskenartigen Ausdruck verleiht und die
Kranken zu einer nach vorn gebeugten Haltung zwingt. Es
sind eine Reihe von Sippen bekannt geworden, die für domi-
nanten Erbgang sprechen 1 ). Da es sich um ein Altersleiden
handelt, erleben offenbar viele Träger der Anlage den Aus-
bruch des Leidens nicht. So erklärt es sich, daß der Erbgang
oft unterbrochen erscheint und daß in vielen Fällen eine
gleichartige Belastung überhaupt nicht gefunden wird. Es ist
auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die Krankheitsan-
lage sich öfter nur in verhältnismäßig leichten Tcilerscheinun-
gen des Leidens äußert.
Nach Gutmann 2 ) soll die Schüttellähmung in der jüdischen Bevöl-
kerung mehrfach so häufig als in der nichtjüdischen sein.
Mit unwillkürlichen Bewegungen ganz anderer Art geht die
erbliche Chorea (Veitstanz) oder H un t i n g t o n s che
Krankheit einher. Das Leiden beginnt im 4. oder 5. Jahr-
zehnt mit zuckenden, oft eigentümlich theatralischen Bewegun-
gen der verschiedensten Körperteile. Im Verlaufe des unheil-
baren Leidens tritt meist auch fortschreitende Verblödung ein.
Der Erbgang ist einfach dominant. Davenport 3 ) hat über
962 Fälle aus vier Sippen berichtet. In den verschiedenen Sip-
pen war das Bild ein etwas verschiedenes. In einer Sippe nahm
die Bewegungsstörung kaum an Schwere zu, in einer anderen
brach das Leiden ungewöhnlich früh aus ; in einer dritten ver-
lief es ohne geistige Schwäche ; und in der vierten entwickelte
sich umsrekchrt die geistige Schwäche ohne choreatische Zuk-
x ) K c h r c r , F. Der Ursachenkreis des Parkinsonismus. Archiv für
Psychiatrie. Bd. 91. PL 2. S. 187. 1930.
3 ) Gut mann, M. j. Die Rasse- und Krankheitsfrage der Juden.
München. Müller und Sleinicke 1920.
3 ) Davenport, Ch. B. and Muncey, E. B. Huntington' s chorca
in relation to heredity and eugenics. Bulletins of the Eugcnics Record
Office. Nr. 17. 1916.
ERBLICHE NERVENLEIDEN.
517
9
c?
9
O ?
kungen. Es handelte sich offenbar um verschiedene dominante
Erbanlagen. Den ausnahmslos dominanten Erbgang konnte
auch Entrcs 1 ) bestätigen, der alle Sippen in Bayern, in
denen Fälle Huntingtonscher Chorea vorge- *
kommen sind, genau genealogisch erforscht t
hat, ebenso Sjögren 2 ) in Schweden.
Beobachtungen an den Kindern von Huntington-
kranken sprechen dafür, daß bei Anlageträgern dem
Ausbruch der Krankheit jähre- oder vielleicht jahr-
zehntelang leichtere Zeichen vorausgehen können: Be-
wegungsunruhe, Unbeholfenheit, undeutliche Sprache,
Eigensinn, Reizbarkeit 3 ).
Anatomisch liegen der Huntingtonschen Krank-
heit Verödungen in den Stammganglien des Gehirns,
zumal dem Corpus striatum und pallidum zugrunde.
Wie Patzig" ' J: ) in ebenso mühevollen
wie aufschlußreichen Untersuchungen ge-
zeigt hat, gibt es Sippen, in denen domi-
nante krankhafte Erbanlagen sich in gering-
fügigen choreatischen Bewegungen äußern.
Neben solchen meist als gesund geltenden
Anlagcträgern kommen in denselben Sippen
Fälle von chronischer Chorea, chronischer
Versteifung und auch von Chorea minor (vorübergehender
Chorea) vor. Es scheint sich um mehrere genetisch verschie-
dene Anlageschwächen des striatopallidaren Systems zu han-
deln, die sich gewöhnlich nur in leichten unwillkürlichen Be-
wegungen äußern, unter Mitwirkung äußerer Schäden (syphi-
litische, rheumatische Infektion, Arteriosklerose) aber zur Ver-
ödung dieses Systems und damit zu schweren Krankheitsbil-
dern führen können.
Auch die progressive A the tose, die mit choreaahnlichen ver-
zerrten Bewegungen hauptsächlich der Arme und Beine einhergeht, und die
o € d m
9 f 9
Fig. 183.
Chorca.
Nach Enires.
x ) E n t r e s , L. Zur Klinik und Vererbung der Huntingtonschen
Chorea. Berlin, Springer 1 92 1 .
s ) Sjögren, T. Vererbungsmedizinische Untersuchungen über Hun-
tingtons Chorca in einer schwedischen Bauernpopulation. Zeitschrift für
menschliche Vcrcrbungs- und Konstitutionslehre. Bd. 19. IL 2. S. 131.
*935- '
3 ) Reise h. Studien an einer Huntington-Sippe. Archiv für Psychiatrie.
Bd. 86. 1929.
4 ) Patzig, B. Vererbung von Bewegungsstörungen. Bericht über die
11. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissen-
schaft. Leipzig 1935. Bornträger.
518 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
T i c - K r a n k h c i t , die schon im jugendlichen Alter mit: zuckenden Be-
wegungen im Gesicht beginnt, scheinen auf dem Boden derartiger striato-
pallidären Hypoplasien zu erwachsen. Durch äußere Schäden wie Kopf-
traumen oder Encephalitis entstehen solche Krankheit sbildcr, wenn über-
haupt, so jedenfalls nur ausnahmsweise.
Goldsmith 1 ) hat eine Sippe mit einem harmlosen, nicht fortschrei-
tenden Gesichtstic beschrieben, der sich in unwillkürlichen Zitterbewegun-
gen bzw. Zuckungen am Kinn äußerte und in dominantem Erbgang durch
5 Generationen verfolgt werden konnte. Über die Erbbedingtheit der Ge-
sichtstics, die vorzugsweise die mimische Muskulatur um die Augen zu be-
treffen pflegen, scheint sonst nichts bekannt zu sein. Dominanz ist anschei-
nend nicht die Regel.
Die Torsionsdystonic oder Torsionsdyskinesie, welche
sich in langsamen „korkzieherar rigen" Drehbewegungen des Kopfes und
Rumpfes äußert, kommt fast nur bei Ostjuden vor. Sie scheint ebenfalls auf
einer Anomalie des striato-pallidären Systems zu beruhen. Eine Sippentafcl
von Davidenkow legt rezessive Erbbedingtheit nahe.
K ehre r a ) sah eine ,,torsionsdystonische Idiotie" mit Netzhautver-
ödung bei drei unter vier aus einer Vetternehe stammenden Kindern, die im
Anfang des zweiten Jahrzehnts ihrem Leiden erlagen.
Die M y o c 1 o n u s - E p i 1 e p s i e , die man auch zu den Dyskinesien
stellen könnte, wird im Zusammenhang mit der Epilepsie besprochen.
Erbbedingtes Zittern (Tremor) kommt als Teilerscheinung verschie-
dener Erbleiden (z. B. Basedowdiathese) vor. Es scheint aber auch einen
„essentiellen Tremor" als dominante Anomalie zu geben, die sich im Ent-
wicklungsalter zu äußern beginnt und durch das ganze Leben zu be-
stehen pflegt 3 ). Das mit Augenzittern (Nystagmus) einhergehende erbliche
Kopf zittern ist schon im Zusammenhang mit den Augenleiden erwähnt
worden.
Auch der S chreibkrampf und andere „Intentions"- oder Beschäf-
tigungskrämpfe scheinen unter Mitwirkung der erblichen Veranlagung zu
entstehen. Ebenso sind schmerzhafte Muskelkrämpfe (z. B. Wadenkrämpfe),
familiär beobachtet worden.
Die Myotonie oder Thomsensche K r a n k h e i t ist
ein angeborenes Leiden, bei dem Muskeln, die nach längerer
Ruhe in Tätigkeit gesetzt werden, in einen Zustand angespann-
ter Steifheit geraten, der sich erst allmählich wieder löst. Außer-
dem kommen bei den Kranken stundenlange Zustände von
Muskelatonie vor, in denen die Hände wegen völliger Erschlaf-
fung nicht gebraucht werden können. Beide Krankheitserschei-
nungen treten hauptsächlich in der Kälte auf. In einer von
1 ) Goldsmith, J. B. The inheritance of „facial spasm". Journal of
Heredity. Bd. 18. Nr. 4. S. 185. [927.
2 ) Kehr er, F. Ursachen und Erblichkcitskreis von Chorea, Myotonie
und Athetose. Berlin 1928. Springer.
3 ) Miner, O. Über das erbliche Zittern. Zeitschrift für die gesamte
Neurologie. Bd. 90. S. 586. 1925 und Bd. 110. S. 207. 1927.
\RBLICHE NERVENLEIDEN.
519
Thomsen beschriebenen, später von seinem Großneffen Nis-
sen 1 ) weiterverfolgten Sippe zeigt das Leiden klar dominanten
Erbgang; es ist ununterbrochen durch 7 Generationen verfolgt
worden. Eine zweite derartige Sippe hat Sanders 2 ) in Hol-
land beschrieben.
Im übrigen scheint es verschiedene Biotypen erblicher Myotonie zu
geben. In einer von Statt raü 11er 3 ) beobachteten Sippe trat Myotonie
um die Zeit der beginnenden Geschlechtsreife auf, verlor sich aber nach
mehreren Jahren wieder fast völlig. Der Erbgang war dominant. Die soge-
nannte Myatonia congenita scheint mit der weiter oben erwähnten
rezessiven spinalen Muskelatrophie des Säuglingsalters identisch zu sein.
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Fig. 184.
Myotonie (Thomsensche Krankheit). Nach Nissen. (Ausschnitt.)
Die m y ot onis ch e Dystrophie (auch Myotoniaatro-
phica) oder Stein ertsche Krankheit beginnt gewöhnlich
im dritten oder vierten Jahrzehnt mit myo tonischen Erschei-
nungen an den Händen und einer Linsentrübung von eigentüm-
licher Form. Die Kranken können Gegenstände, die sie gefaßt
haben, nicht gleich wieder loslassen. Unter Krampf zuständen
und Atrophien in verschiedenen Muskelgruppen tritt schließ-
lich ein allgemeiner Verfall ein. Die Krankheit vereinigt Zei-
chen der Myotonie und der Myatrophie mit Störungen der in-
neren Sekretion (Atrophie der Keimdrüsen). Seit man auf die
myo tonische Dystrophie achten gelernt hat, sind in den letzten
Jahren schon gegen 200 Fälle beobachtet worden, in einer
1 ) Nissen, K. Beiträge zur Kenntnis der Thomsenschen Krankheit.
Zeitschrift für klinische Medizin. Bd. 97. H. 1—3. 1923.
2 ) Sanders, J. Eine Familie mit Myotonia congenita. Genetica. Bd.
17- S. 253. 1935.
3 ) S t a t t m ü 1 1 e r. Beobachtungen an einer Familie mit Thomsen-
scher Krankheit. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie.
Bd. 81. H. 1/2. 1923.
520 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
durch Fleischer 1 ) 2 ) bekanntgewordenen und durch H enke
und Seeger 3 ) weiter verfolgten Sippe fanden sich unter den
Geschwistern der Kranken ungefähr ebenso viele Gesunde wie
Kranke. Die Dominanz der krankhaften Anlage, auf die man
daraus schließen kann, ist allerdings nicht regelmäßig, da in
mehreren Fällen beide Kitern von kranken Kindern anschei-
nend gesund waren. Auch scheint sich die Anlage öfter nur in
Teilsymptomen des Krankheitsbildes zu äußern, teils in myo-
tonischen, teils in dystrophischen und verhältnismäßig häufig
nur in Linsentrübung.
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Fig. 185.
Myotonische Dystrophie nach F r e y 4 ). (Ausschnitt.)
Schraffierung bedeutet ein Leiden, das nicht mehr genau festgestellt werden
konnte, das der myo tonischen Dystrophie aber verdächtig war. Ein Punkt
im Kreise bedeutet Star.
Es wird von den Autoren angegeben, daß die krankhafte Anlage, die
nach dem Zusammenhang der Fälle bis zu acht Generationen zurückver-
folgt werden konnte, im Laufe der Generationen sich immer schwerer krank-
haft äußere. Aus den frühesten Generationen seien keine entsprechenden
krankhaften Erscheinungen bekannt geworden; in den mittleren Genera-
tionen sei bei den Trägern der Anlage im wesentlichen nur Linsentrübung
aufgetreten; und erst in den beiden letzten Generationen sei schließlich das
Vollbild der myotonischen Dystrophie beobachtet worden; dabei habe das
Leiden in der letzten Generation früher eingesetzt und einen schwereren
Verlauf genommen als in der vorletzten. Es soll also eine „Antizipation"
x ) Fleischer, B. Untersuchungen von sechs Generationen eines
Geschlechtes auf das Vorkommen von myotonischer Dystrophie. ARGB.
Bd. 14. H. 1. 1922.
2 ) Fleischer, B. Zur Vererbung nervöser Degenerationen. Zeitschr.
für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 84. 1923.
3 ) Henke, K. und Seeger, S. Über die Vererbung der myotoni-
schen Dystrophie. Zeitschrift für Konsütutionslehre. Bd. 13. H. 3. 1927.
4 ) Frey, C. Beitrag zur myotonischen Dystrophie. ARGB. Bd. 17.
Ii. 1. 1925.
ERBLICHE NERVENLEIDEN.
521
und „Progression" stattgefunden haben. Ein solcher Vorgang würde der
von Morel behaupteten aus inneren Gründen fortschreitenden Entartung
entsprechen, bis zu einem gewissen Grade auch der von manchen Paläonto-
logen vertretenen „Orthogenese". Bevor man das Vorliegen derartiger unge-
klärter Vorgänge im Falle der myotonischen Dystrophie annimmt, tut man
meines Erachtens gut, weitere Erfahrungen abzuwarten. Da die myotonische
Dystrophie überhaupt erst in den letzten Jahren als besonderes und eigen-
artiges Leiden erkannt worden ist, das den Ärzten der älteren Generationen
entgangen ist, obwohl es gar nicht besonders selten ist, so könnte es sein,
daß es in früheren Generationen einfach übersehen bzw. als „Auszehrung",
„Kachexie" usw. verkannt worden sei. Dann könnte es sich doch um eine
im ganzen dominante Anlage handeln, die aber je nach ihrem Zusammen-
treffen mit andern Erbanlagen einen mehr oder weniger schweren Zustand
bedingen könnte.
Während die T h o m s e n sehe Myotonie in den Küstenländern der
Nordsee und die Steinen sehe myotonische Dystrophie hauptsächlich in
Württemberg und der Schweiz beobachtet worden sind, hat B o e t e r s 1 )
über mehrere schlcsische Sippen berichtet, in denen eine offenbar domi-
nante Erbanlage sich teils in myotonischen, teils in muskelatrophischen und'
endokrinen Störungen äußert. Linsentrübung hat er nicht beobachtet, auch
keine ,, Antizipation" oder „Progression". Ich möchte vermuten, daß es sich
um einen besonderen in Schlesien verbreiteten Biotypus handelt.
Als T r o p h o 11 e u r o s e wird eine seltene Krankheit bezeichnet, die
sich in Bildung von Geschwüren und Hautatrophien an den Füßen, besonders
den Zehen, und öfter auch an den Händen äußert. Da das Leiden bisher
ausscldicßlich familiär auftretend (meist bei Geschwistern) beobachtet wor-
den ist, muß man an rezessive Erblichkeit denken 3 ).
Zu der Gruppe der trophoneurotischen Störungen kann man auch das
T r o p h o e d e m , die Sklerodermie, die Erythro in elalgie, die
R a y n a u d s c h e Krankheit und ähnliche Leiden rechnen, deren Erb-
lichkeit teils schon bei den Hautlciden erwähnt, teils noch nicht klarge-
stellt ist.
Die Syringoinyelie ist ein in manchen Gegenden (z. B.
Südwestdcutschland) nicht ganz seltenes Leiden, das auf Spalt-
bildungen und Stützzellenwucherung (Gliose) im Halsteil des
Rückenmarks beruht und das sich in einem langsam fort-
schreitenden Ausfall sensibler und trophischer Nervenfunktio-
nen (Verlust der Temperatur- und Schmerzempfindung, Stö-
rungen der Gewebsernährung), besonders an den Händen,
äußert. Meist findet sich kein weiterer Fall von Syringomyelie
in der Familie. Es ist allerdings zu bedenken, daß Spalten oder
Gliose des Rückenmarks gelegentlich bei der Sektion von Per-
sonen gefunden werden, bei denen keine Zeichen von Syringo-
x ) Boeters, PI. Über Myotonie. Leipzig 1935. Thicme.
z ) W e i t z , W. Kasuistisches zur familiären Trophoneurose an den
Füßen und Händen. Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde. Bd. 82.
H. 1/2. 1924.
522 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
myclie beobachtet worden sind. Henneberg- 1 ) hat gezeigt,
daß das Leiden als Folge einer „Hemmung der Raphebildung
des Rückenmarks" im Sinne eines mangelhaften Verschlusses
des embryonalen Medullär röhr es aufzufassen ist; und Bre-
mer 2 ) hat in den Sippen von Syringomyeliekranken nicht nur
Teilerscheinungen dieses Leidens, sondern auch andere dystro-
phische Anomalien, wie sie sich auch bei den Kranken öfter
finden, festgestellt : Trichterbrust, krummes Rückgrat, krumme
Finger, Überlänge der Arme, einseitige Brustdrüsenmängel,
Enuresis u. a. Man darf die Syringomyelie wohl als eine ex-
treme Manifestation einer hochgradig cntwicklungslabilen An-
lage ansehen, die sich meist nur in anderen dysraphischen Stö-
rungen äußert. D aller kann Syringomyelie sich bei eineiigen
Zwillingen diskordant finden (Fall von Weit z).
So aufschlußreich Bremers Entdeckung einer Korrelation der
Syringomyelie mit anderen dysraphischen Störungen ist, halte ich es doch
nicht für glücklich, alle dysraphischen Störungen als Ausdruck eines einheit-
lichen „Status dysraphicus" anzusehen;. Curtius 3 ) meint, der ,, Status
dysraphicus" sei „klinisch ein durchaus einheitlicher Konstitutionstyp". Sein
markantestes Symptom sei die Spina bifida oeculta, die sich bei 17%, viel-
leicht sogar bei 25% aller Erwachsenen finde. Ferner sieht er außer den im
vorigen Abschnitt genannten Anomalien Gaumenspalten, Klump- und Hohl-
fuß als Teilerscheinungen eines einheitlich gedachten „Status dysraphicus"
an. Daß solche Anomalien infolge mangelhafter Anlage des Rückenmarks
entstehen können, scheint mir einleuchtend zu sein. Nach dem, was sich bei
kritischer Nachprüfung anderer „Status" herausgestellt hat, glaube ich
aber nicht an einen „Status dysraphicus" als genetische Einheit. Der Be-
griff des „Status" stammt aus der älteren Konstitutionslehre; er bezeichnete
ursprünglich lediglich einen konstitutionellen Zustand im Unterschied von
einer vorübergehenden Krankheit. Später faßte mau dann allerlei Anomalien,
die miteinander in Korrelation standen oder zu stehen schienen, zu „Status"
zusammen. Wenn zwei Anomalien korreliert sind, so beruht das nach dem
heutigen Stande unseres Wissens meist darauf, daß sie ganz oder teilweise
durch dieselbe pathogene Erbeinheit bedingt sind. Man vergleiche das über
Korrelation von Diathcscn und über den „Status varicosus" Gesagte
(S. 432 f.). Dabei können die phänotypischen Manifestationen der verschiede-
nen pathogenen Erbeinheiten sich teilweise decken. Auf diese Weise dürften
die meisten jener mehrfachen Korrelationen Zustandekommen, die immer wie-
der zu der Aufstellung einheitlicher „Status" verführen.
Bettnässen (Enuresis nocturna) tritt sippenweise
gehäuft auf; es scheint meist auf einer dysraphischen Anomalie
*) Henneberg und Koch. Zur Pathogenese der Syringomyelie.
Monatsschrift für Psychiatric. Bd. 54. 1923.
s ) B r e m er, F. W. Klinische Untersuchungen zur Ätiologie der
Syringomyelie. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde Bd. 95. H. 1/2. 1926.
3 ) Curtius, F. und Lorenz, Irmgard. Über den Status dysraphi-
cus. Zeitschrift für die gesamte Neurologie. Bd. 149. H. 1 — 3. S. 1. 1933.
ERBLICHE NERVENLEIDEN.
523
des Rückenmarks zu beruhen. Nach Curtius haben rund
600/0 aller Bettnässer eine Spina bifida oeculta. Bei Schwach-
sinnigen und Epileptikern ist Bettnässen häufig. Verzögerte
Bettreinheit bei Kindern scheint ebenfalls sippenweise vorzu-
kommen.
Die als Stottern und Stammeln bezeichneten Sprach-
störungen treten ausgesprochen sippenweise auf. In der be-
kannten unter dem Namen der Jukes 1 ) beschriebenen Sippe
findet sich ein Zweig mit Stotterern, der geradezu für domi-
nanten Erbgang spricht. Etwa die Hälfte aller Stotterer haben
nach B r y a n t 2 ) stotternde Verwandte. Die Häufigkeit der
Stotterer in unserer Bevölkerung beträgt etwa i"/o. Das Stot-
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dm & d d d
Fig. 186.
Stottern nach Estabrook (Ausschnitt aus der Sippe Jukc).
tern der Kinder stotternder Eltern ist nicht etwa entscheidend
durch Nachahmung der Eltern bestimmt; es sind Fälle beob-
achtet worden, wo Kinder von Stotterern, die von Geburt an
von den stotternden Eltern getrennt waren, doch in derselben
Weise stotterten.
Bei Stotterern und ihren Verwandten sind psychopathischc Zustände
verschiedener Art (Epilepsie, Hysterie, Schwachsinn) überdurchschnittlich
häufig. Bei eineiigen Zwillingen ist Stottern mehrlach in übereinstimmender
Weise beobachtet worden; doch hat Siemens in einigen Fällen Stottern
auch nur bei einem von zwei eineiigen Zwillingen gefunden.
Auch die sogenannte Hörstummheit, wie man im Unterschied
von der Taubstummheit den Zustand von Kindern nennt, die trotz vorhan-
denen Gehörs nicht zur rechten Zeit zu sprechen beginnen, kommt sippen-
weise vor. In mehr als einem Drittel der Fälle hat man auch bei einem der
Eltern verspätete oder unvollkommene Entwicklung der Sprechfähigkeit ge-
funden.
*) Estabrook, A. H. The Jukes in 1915. Washington 1916.
2 ) B r y a 11 1 , F. A. Influenae of hcredity in stamnicring. The Journal
of Heredity Bd. 8. H. 2. 1 9 17.
524
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Die Erblichkeit ist auch für das Lispeln (Sigmatismus) von Bedeu-
tung; es besteht im Anlegen der Zunge an die Zähne beim Aussprechen
von Zischlauten. G u t z m a n n 1 ] fand bei Sigmatismus lateralis (seitlichem
Lispeln) in 38,50/0 dasselbe Sprachübcl in der Verwandtschaft. Zu einem
eigenartigen leichten Lispeln neigen viele Juden.
Angeborene Lähmung oder besser Funktionsunfähigkeit bzw. Funk-
tionsschwäche des Nervus facialis ist mehrfach anscheinend unregelmä-
ßig dominant erblich beobachtet worden. Andere angeborene Defekte
von Piirnncrvcn sind unter den Augenleiden und den Ohrenleiden erwähnt
worden.
A 1 i k h a n 3 ) hat Mangel des Geruchsinns, der auf einem angeborenen
Defekt des Geruchsnerven beruhen dürfte, in einer Sippe beobachtet. Sny-
d e r 3 ) hat eine anscheinend nicht seltene Gcschmacksblindheit für einen
Bitterstoff (Phenylthiocarbamid) auf Grund anscheinend rezessiver Erban-
lage beschrieben.
Auch vorübergehende Lähmungen einzelner Nerven (z. B. des Fazialis
oder des Radialis), die sich an leichte Infektionen wie Schnupfen anschlie-
ßen, kommen sippenweise gehäuft vor. Dasselbe gilt vom Muskelrheumatis-
mus, der auf einem Reizzustand von Muskelnerven beruht, und dem „Hexen-
schuß" (Lumbago).
Die meisten der besprochenen organischen Nervenleiden
wie die fortschreitenden Muskelatrophien, Ataxien und Dys-
kinesien beruhen auf einem Zugrundegehen von Teilen
des Zentralnervensystems. Man kann dieses Zugrundegehen
als ein vorzeitiges Altern dieser Organe auffassen, vergleich-
bar dem vorzeitigen Ergrauen der Haare und gewissen an-
deren Leiden, die auf dem vorzeitigen Altern bestimmter Or-
gane beruhen ( Zuckenkrankheit., Linsentrübung, Nierenschrump-
fung u. a.).
Man bezeichnet diese erblichen Nervenleiden nach dem Vorgang des
ungarischen Neurologen j e 11 d r a s s i k 1 ) oft als „heredodegenerative"
Krankheiten. In der Erbbiologie versteht man unter Entartung oder Dege-
neration sonst das Auftreten und die Ausbreitung erblicher Krankheitsan-
lagen. In diesem Sinne angewandt würde das Wort „Heredodegeneration"
also nur eine überflüssige Doppelbildung sein. Die meisten Autoren, die
dieses Wort gebrauchen, meinen damit vermutlich aber einfach ein Zugrunde-
gehen von Organtcilen auf erblicher Grundlage. In diesem Sinne würde
das Wort „Heredodegeneration" also nur erbbedingte Verödung bedeuten.
Vermutlich verdankt das Wort seine Beliebtheit zum guten Teil diesem
schillernden Doppelsinn. Dazu kommt eine magische Imponierwirkung. Es
2 ) Gutzmann, FL Die Vererbung von Sprachstörungen. In „Krank-
heiten und Ehe" von v. Noordcn und Kaminer. S. 470. Leipzig 1916.
a ) Alikhan. L'epilepsie et l'anosmie hereditaire. Schweizerische med.
Wochenschrift. 1920, S. 211.
3 ) Snyder, L. H. The inheritance of taste dcficicncy in man. The
Ohio Journal of Science. Bd. 32. Nr. 5. S. 436. 1932.
*) J e 11 d r a s s i k , E. Die hereditären Krankheiten. Im Handbuch der
Neurologie von Lewandowsky, Bd. 2. Berlin 191 1.
ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 525
klingt wissenschaftlich und unheimlich zugleich. Zweckmäßig ist es aber
trotzdem nicht.
Immerhin könnte es hingehen, wenn manchen Autoren dabei nicht —
wenn auch öfter nur halb bewußt — die Vorstellung vorschwebte, daß die
erblichen Nervenleiden überhaupt nicht durch beslimmle pathogene Erb-
einheiten verursacht würden, sondern daß es nur eine allgemeine „Here-
dodegeneration" gebe, die sich bald in diesem, bald in jenem Krankhcits-
bilde äußern könne, daß also alle erblichen Nervenleiden im Grunde wesens-
gleich seien. Es ist nach den Ausführungen dieses Kapitels eigentlich kaum
noch nötig, darauf hinzuweisen, daß es talsächlich zahlreiche verschiedene
erbliche Nervenleiden gibt, die ihre Eigenart innerhalb derselben Sippe
bewahren und die oft auch durch ihren Erbgang als besondere Biotypen
gekennzeichnet sind. J e n d r a s s i k selbst hat auf Grund seiner Erfahrung
betont, daß die erblichen Krankheiten in den verschiedenen Sippen recht
verschieden, innerhalb derselben Sippe aber gleichartig zu verlaufen pflegen.
Durch diese Talsachen wird die Lehre von einer einheitlichen Heredodegene-
ration eindeutig widerlegt. Wenn Jendrassik selbst diese Konsequenz
nicht gesehen hat, so muß man ihm zugute halten, daß ihm die Tatsachen
der wissenschaftlichen Genetik noch nicht bekannt waren. Die modernen
Heredodegenerationisten aber haben diese Entschuldigung nicht mehr. Es
wäre auch nicht abzusehen, weshalb es nur eine gemeinsame Quelle gerade
für Krankheiten und Anomalien geben solle und nicht auch für normale
Typen und Eigenschaften. Wenn aber Krankes und Normales unterschieds-
los daraus fließen würde, so würde eine Erbpathologie überhaupt keinen
Sinn mehr haben.
Das Trugbild einer einheitlichen „Heredodegeneration" dürfte auf fol-
gende Weise zustandegekommen sein: Die Neurologie fing mit der Aufstel-
lung zunächst weniger „Typen" erblicher Nervenleiden an, einer „progressi-
ven Muskeldystrophic", einer .spastischen Spinalparalysc", einer „Fricd-
reichschen Ataxie", einer „Thomsenschen Myotonie" usw. Im Laufe der
Zeit kamen aber immer mehr neue Bilder dazu, die „Übergänge" zwischen
den „Typen" zu sein schienen, z. B. die myotonische Dystrophie. Anderer-
seits fanden sich innerhalb einer Sippe gelegentlich Unterschiede im klini-
schen Bilde, z. B. zerebellare neben spinaler Ataxie. Und schließlich wurden
neben ausgeprägten Krankheitsbildern in derselben Sippe auch leichle gleich-
sinnige Anomalien beobachtet. Diese Tatsachen erklären sich zwanglos
daraus, daß eine bestimmte pathogene Erbeinheit sich bis zu einem gewissen
Grade verschieden äußern kann, und daß die Äußerungsmöglichkcitcn ver-
schiedener pathügener Erbeinheiten sich teilweise überschneiden können,
und soweit das Zusammentreffen wirklich wesensverschiedener Erbleiden
in einer Sippe nicht auf Zufall beruht, kann eine Häufung verschiedener
Erbleiden in einer Sippe durch negative geschlechtliche und soziale Aus-
lese Zustandekommen (vgl. S. 420). Für eine einheitliche „Heredodegenera-
tion" dagegen gibt es keine Belege.
1) Erbliche Geisteskrankheiten und Psychopathien.
Auf keinem andern Gebiet der Medizin steht die Erblich-
keit so im Vordergrunde der Ursachen wie auf dem der Psy-
chiatrie; zugleich aber begegnet die Erforschung des Erbgan-
ges im einzelnen in keinem andern Fach gleich großen Schwie-
526 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
rigkeiten. Schon über die Abgrenzung und Einteilung der erb-
lichen Seelenstörungen herrscht bisher keine volle Überein-
stimmung unter den Fachleuten. Kein Wunder daher, daß fast
bei keiner einzigen der Erbgang bisher völlig klargestellt wer-
den konnte. Sicher ist nur, daß die Erblichkeit alle anderen
Ursachen an Bedeutung übertrifft.
An zweiter Stelle ist die Syphilis zu nennen, die nicht nur progressive
Paralyse, sondern in ihrer angeborenen Form auch Schwachsinn und Epi-
lepsie verursachen kann. Die dritte Stelle nimmt der Alkohol ein, der einer-
seits bei den Trinkern selbst Delirium tremens und Säuferwahnsinn, anderer-
seits bei ihren Kindern anscheinend Schwachsinn zur Folge haben kann.
Man teilt die SeelenstÖrungcn aus praktischen Gründen in eigentliche
Geisteskrankheiten (Psychosen) und in Psychopathien ein,
und zwar nach dem Grade der Anpassungsfähigkeit oder Erhaltungsmög-
lichkeit ihrer Träger im praktischen Leben. Als geistig abnorm oder ge-
stört überhaupt ist ein Individuum anzusehen, das infolge seiner Seelen-
beschaffenheit vergleichsweise geringe Anpassungsmöglichkeiten hat. Wenn
die Störungen so hochgradig sind, daß kein Beruf ausgeübt werden kann,
so spricht man von Geisteskrankheit. Bei Störungen geringeren Grades,
die zwar mit' der Ausübung von Berufsarbeit noch vereinbar sind, die
aber doch entweder dauernd oder gelegentlich eine Beeinträchtigung
der eigenen Erhaltung oder der Gesellschaft mit sich bringen, spricht man
von Psychopathie.
Dieser Einteilung, die das praktische Leben erfordert, entspricht sehr
wenig jene, die die Erblichkeitsforschung anstreben muß. Das Ziel ist
hier, die einseinen krankhaften Erbanlagen (die „pathogenen Erbeinheiten")
in ihren verschiedenen Äußerungsmöglichkeiten zu erkennen und ihren Erb-
gang festzustellen. Von vornherein ist klar, daß es eine ganze Anzahl verschie-
dener erblicher SeelcnstÖrungen geben wird. Ebenso wie bei jedem andern
Organ gibt es natürlich auch zahlreiche erbliche Anomalien des Gehirns,
dessen Funktion ja die seelischen Vorgänge entsprechen.
Da eine erbbiologische Einteilung der Seelenstörungen heute noch nicht
möglich ist, kann die im folgenden gewählte Abgrenzung der einzelnen
Störungen, die sich an die übliche anschließt, nicht als endgültig angesehen
werden. Ich bin von fachmännischer Seite aufmerksam gemacht worden, daß
es unmöglich ist, mit ein paar Sätzen ein dem Nichtarzte verständliches
Bild der einzelnen Geistesstörungen zu umreißen. Dennoch schien es mir
nicht angängig, wesentlich mehr Raum darauf zu verwenden; und anderer-
seits möchte ich nicht nur die Namen aufzählen, die dem Nichtarzte gar
nichts sagen. Ich lege die Skizzierung daher etwa so an, daß der nicht
speziell psychiatrisch vorgebildete Arzt an die wesentlichsten Züge erinnert
wird und daß der Nichtarzt doch immerhin eine ungefähre Vorstellung von
der Schwere und Art der verschiedenen Zustände erhält, ohne daß er frei-
lich erwarten darf, nach meiner Schilderung dieselben im Leben etwa wie-
derzuerkennen.
Auch in früheren Abschnitten ist gelegentlich von Geistesstörungen
die Rede gewesen, z. B. hei der erblichen Chorea; da bei dieser die
körperlichen Störungen (zunächst wenigstens) im Vordergrunde stehen, ist sie
zu den Nervenleiden gestellt worden. Streng genommen handelt es sich auch
ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 527
bei der Taubheit, der Farbenblindheit und dem Mangel des
Riech Vermögens (A n o s m i e) um seelische Störungen, nämlich Mangel von
Sinnesempfindungen, während man über die körperliche Seite dieser Leiden
wenig oder gar nichts weiß. Entsprechendes gilt auch von der Migräne
und sonstigen erblichen Kopfschmerzen.
Unter dem Namen Schwachsinn oder Oligophre-
nie werden angeborene Geistesschwächen sehr verschiedenen
Grades zusammengefaßt. Der schwerste Grad wird als Idiotie
oder Blödsinn bezeichnet. Der nächste Grad ist die Imbe-
zillität (schwerer Schwachsinn); dann folgt die D e b i -
lität (leichter Schwachsinn). Die meisten Debilen können zur
Ausübung eines einfachen Berufs erzogen werden; ausgespro-
chen Imbezille dagegen nicht. Die Debilen stellen die Haupt-
masse der Hilfsschüler. Für die Häufigkeit des Schwachsinns
lassen sich wegen der fließenden Grenzen genaue Zahlen nicht
geben. Man kann vielleicht 2 bis 30/0 Debile, 1/2 °/o Imbezille
und 1/4% Idioten annehmen, im ganzen 3 bis 40/0 Schwachsin-
nige unter allen Geborenen.
Ein erheblicher Teil der Fälle von schwerem Schwach-
sinn wird durch Syphilis verursacht. Auch der elterliche
Alkoholismus scheint eine wesentliche Rolle zu spielen. Es ist
eine immer wieder bestätigte Erfahrung, daß unter den Eltern
von Schwachsinnigen viele Trinker und unter den Kindern von
Trinkern verhältnismäßig viele Schwachsinnige sind, obwohl die
Art des Zusammenhangs nicht klargestellt ist. In Kropfgegen-
den ist Schwachsinn eine häufige Teilerscheinung des Kretinis-
mus. Wie schon bei Besprechung der mongoloiden Idiotie er-
wähnt wurde, zeigt auch die sonstige Idiotie eine gewisse Kor-
relation zum Alter der Mutter; es kommen also dieselben Um-
weltwirkungen ursächlich in Betracht. Nach Abzug aller dieser
umweltbedingten Schwachsinnsfälle bleibt aber "immer noch
der größte Teil als erbbedingt übrig. Klinisch lassen sich wohl
manche Fälle als zweifellos umweltbedingt und andere als erb-
bedingt erkennen; allgemeingültige Kennzeichen dafür haben
aber nicht aufgefunden werden können.
Smith 1 ) hat in Dänemark 11 Paare eineiiger Zwillinge
aufgefunden, die beide übereinstimmend schwachsinnig waren.
Bei zwei weiteren anscheinend ebenfalls eineiigen Paaren war
es nur der eine. Unter 50 zweieiigen Zwillingspaaren dagegen
*) Smith, J. Ch. Das Ursachenverhältnis des Schwachsinns beleuch-
tet durch Untersuchungen von Zwillingen. Zeitschrift für Neurologie Bd 12^
S. 678. 1930.
528 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
waren nur 4 in dieser Hinsicht gleich und 46 verschieden. Dar-
aus folgt eindeutig, daß die weitaus meisten Fälle von Schwach-
sinn erbbedingt sind. Wenn der Umwelt größere Bedeutung
zukäme, so wäre eine viel größere Übereinstimmung der zwei-
eiigen Zwillingspaare zu erwarten. Die geringe Konkordanz der
zweieiigen Paare spricht auch gegen dominanten Erbgang, bei
dem ein konkordantes Paar auf zwei diskordante zu erwarten
wäre. Bei einfach rezessivem Erbgang wäre ein konkordantes
Paar auf 6 diskordante zu erwarten; und dieses Verhältnis ist
mit dem tatsächlich gefundenen innerhalb der Fehlergrenzen
vereinbar.
Brugger 1 ) hat die von 1875 bis 1929 in der thüringi-
schen Landesheilanstalt Stadtroda untergebrachten Schwach-
sinnigen genealogisch erforscht. In Fällen, wo eine äußere Ur-
sache nicht aufzufinden war, waren von den Geschwistern der
Schwachsinnigen 31 0/0, von ihren Eltern 27 0/0 ebenfalls schwach-
sinnig. Wenn beide Eltern frei von Schwachsinn waren, waren
von den Geschwistern 180/0 schwachsinnig; war einer der
Eltern ebenfalls schwachsinnig, so waren es 410/0, waren beide
Eltern schwachsinnig, gar 93 0/0. Auch diese Untersuchung
spricht für rezessive Erbbedingtheit des (schweren) Schwach-
sinns.
Der leichte Schwachsinn dagegen scheint zum großen Teil
dominant erblich zu sein. Reiter 2 ) und Osthoff, die 250 Kin-
der der Rostocker Hilfsschule, also nicht anstaltsbedürftige Fälle,
bearbeitet haben, haben gefunden, daß 60 (= 240/0 ) mit Schwach-
sinn des Vaters, 80 (= 32 0/0) mit Schwachsinn der Mutter
und 29 (= 11,60/0) mit Schwachsinn beider Eltern belastet
waren, im ganzen also mindestens zwei Drittel. Es handelt sich
dabei um Minimalzahlcn, da es sich nicht in allen Fällen fest-
stellen ließ, ob die übrigen Eltern wirklich über normale Gei-
steskräfte verfügten. Von den 140 Kindern, die mit Schwach-
sinn eines Eiters belastet waren, hatten 103 (= 73, 6<Vo)_ noch
1 oder mehrere schwachsinnige Geschwister. Die 29 Kinder,
die mit Schwachsinn beider Eltern belastet waren, hatten
sämtlich auch noch schwachsinnige Geschwister; von den Ge-
schwistern dieser Gruppe waren 90,70/0 schwachsinnig und nur
!) Brugger, C. Genealogische Untersuchungen an Schwachsinnigen.
Zeitschrift für Neurologie. Bd. 130. S. 66. 1930.
E ) Reiter, H. und Osthoff, H. Die Bedeutung endogener und
exogener Faktoren bei Kindern der Hilfsschule. Zeitschrift für Hygiene.
Bd. 94 (1921).
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 529
9,3 normal, in 2 Familien, wo einer der Eltern schwachsinnig
war, waren 8 schwachsinnige Kinder vorhanden (8 von 8, bzw.
8 von 9). Diese Tatsachen sprechen für das Vorliegen domi-
nanter Erbanlagen für Schwachsinn. Aber auch von 102
schwachsinnigen Kindern, bei deren Eltern kein Schwachsinn
nachgewiesen werden konnte, hatten 640/0 schwachsinnige
Geschwister, was für die Mitwirkung rezessiver Erbanlagen
spricht.
Sjögren 1 ) ist der Erblichkeit der Oligophrenie (Imbe-
zillität und Idiotie) in einem schwedischen Dorf nachgegangen;
seine Befunde sprechen ebenfalls für rezessive Erbbedingtheit
der schweren Geistesschwäche.
Es bestätigt sich hier die Regel, daß innerhalb einer klini-
schen Gruppe die leichteren Leiden dominant, die schwereren
rezessiv zu sein pflegen. Idiotie als dominantes Erbleiden könnte
sich ja nicht halten, da Idioten in der Regel nicht zur Fort-
pflanzung kommen. Im übrigen scheint gerade die hochgradige
Geistesschwäche in Form der Idiotie verhältnismäßig häufig
auch durch angeborene Syphilis und andere Umweltschäden
verursacht zu sein. Je leichter der Schwachsinn, desto größer
scheint der Anteil der erbbedingten Fälle und im besonderen
der dominanten zu sein.
Lokay 3 ) fand bei Schwachsinns fällen, die auf äußere Schäden zu-
rückgeführt wurden, eine nur wenig geringere familiäre Häufung als bei
Fällen, für deren Entstehung solche Umwelt schaden nicht angegeben wurden.
Daraus folgt, daß äußere Ursachen oft zu Unrecht angeschuldigt werden.
Der Anerkennung der Erbbedingtheit von Schwachsinn bei einem Kinde
stehen bei Eltern erfahrungsgemäß starke gefühlsmäßige Widerstände ent-
gegen. Viel lieber werden Kopfverletzungen bei der Geburt angenom-
men, die aber in Wirklichkeit nur sehr selten die Ursache von Schwach-
sinn sind.
Im Material Sjögrens stammten die meisten Fälle aus entfernten
Verwand teneheii, was allerdings in einem abgelegenen Dorf auch sonst die
Regel ist. Eine ausgesprochene Erhöhung der Häufigkeit naher Verwand-
tenehen bei den Eltern schwer Schwachsinniger ist bisher nicht festgestellt
worden. Eine starke Erhöhung wäre in Anbetracht der Häufigkeit dieses
Erblcidens auch bei rezessivem Erbgang nicht zu erwarten. Immerhin ist
mehrfach angegeben worden, daß aus Verwandtenehen idiotische oder
hochgradig schwachsinnige Kinder überdurchschnittlich häufig hervor-
!) Sjögren, T. Klinische und vererbungsmedizinische Untersuchun-
gen über Oligophrenie in einer nordschwedischen Bauernpopulation. Ko-
penhagen 1932.
2 ) Lokay, A. Über die hereditären Bezeichnungen der Imbezillität.
Zeitschrift für Neurologie. Bd. 122. H. 1 u. 2. S. 90. 1929.
Eaur-Fischer-I,eiiK T.
530
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
gehen, nach einer Zusammenstellung von Huth 1 ) in folgenden liundert-
sätzen :
Gralliaus
H o w e
Down
I r e 1 a 11 d
Commission of Connecticut
Bemiss
Mitchell
3,8% von 1388 Kindern
4,7% von
7,0% von
8,5% von
12,5% von
1 5,0% von
18,1% von
359 Kindern
852 Kindern
213 Kindern
160 Kindern
? Kindern
5 19 Kindern
Die Zahlen der letzten Reihe sind allerdings unwahrscheinlich hoch.
Leider fehlt es an systematischen Untersuchungen über die Kinder aus nahen
Verwandtenehen aus neuerer Zeit.
Außer einfach rezessiven scheinen auch geschlechtsgebundene Erban-
lagen Schwachsinn verursachen zu können. Unter den Schwachsinnigen über-
wiegt deutlich das männliche Geschlecht. Auch für Tlilfsschüler trifft das
regelmäßig zu. Andererseits werden die Mütter schwachsinniger Kinder häu-
figer ebenfalls schwachsinnig befunden als die Väter 3 ), wie sich auch indem
Material von Reiter und O s t h o £ f zeigt. Das kann allerdings auch daher
kommen, daß schwachsinnige Männer weniger zur Ehe kommen als schwach-
sinnige Mädchen.
f Ö* Q
\Narmale Nachkommenschaft]
c?
1~~ ~1.
9
9
9
cf
-t——\
<f & 9 9 9 9 er
Flg. 187. Schwachsinn nach G o d d a r d. (Ausschnitt aus der Sippe
„Kallikak".)
Die erste größere Arbeit über die Erblichkeit des Schwachsinns wurde
i. J. 1912 von dem Amerikaner Goddard 3 ), einem Nichtarzt (anschei-
nend einem Philologen), veröffentlicht. Ausgehend von einem debilen Mäd-
chen, das in einer Internatschuic für schwachsinnige Kinder untergebracht
war, konnte er eine Nachkommenschaft von 480 Köpfen auf eine debile
Stammutter zurückführen, die während des amerikanischen Freiheitskrieges
von einem geistig gesunden Mann geschwängert worden sein soll. Von den
Nachkommen waren 143 schwachsinnig und außerdem noch andere geistig
minderwertig. Aus der Ehe desselben Mannes mit einer geistig normalen
!) Ii u t h , A. II. The marriage of near kin. 2. Aufl. London 1887.
2 ) Kreyenbcrg. Zur Frage der Erblichkeit des „endogenen" und
„exogenen" Schwachsinns. Der Erbarzt Jg. 1. Nr. 7. S. 112. 1934.
3 ) Goddard, H. H. The Kallikak [amily. New York 1912. Deutsch
von K. Wilker. Die Familie Kallikak. 2. Aufl. Langensalza 1934.
| ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 531
f Frau gingen im Lauf der Generationen 496 Nachkommen hervor, unter denen
kein einziger Fall von Schwachsinn gefunden wurde. Diese Gegenüberstel-
lung hat seinerzeit großen Eindruck gemacht als Illustration des Satzes,
daß die Sünden der Väter heimgesucht würden an den Kindern bis ins dritte
und vierte Glied. Unter dem Einfluß dieser moralischen Tendenz hat
Goddard die Bedeutung der einen Stammutter überschätzt. Auch wenn
der Stammvater Martin Kallikak 1 ) das schwachsinnige Mädchen nicht ge-
schwängert hätte — vorausgesetzt, daß er überhaupt der Vater war — , wäre
vermutlich eine minderwertige Nachkommenschaft von ähnlichem Ausmaß
aus den übrigen minderwertigen Ahnen hervorgegangen. Die Erblichkeit
des Schwachsinns ist also nur eine Voraussetzung seiner Häufung in dieser
Sippe; die tatsächliche Häufung ist in der Hauptsache auf geschlechtliche
und soziale Auslese zurückzuführen, darauf, daß geistig Minderwertige in
der Regel nur ebensolche Ehegatten bekommen. In der „Familie Kallikak"
gingen aus 40 Ehen zweier Schwachsinniger 220 schwachsinnige und nur
2 normale Kinder hervor. Bei Dominanz der Anlage — und da es sich meist
um leichten Schwachsinn vom Grade der Debilität handelte, läge dominan-
ter Erbgang nahe — wären eigentlich mehr normale Kinder zu erwarten
(bis zu einem Viertel), bei Rezessivität dagegen lauter schwachsinnige. Es
ist aber mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die debilen Männer der Mütter
gar nicht die Väter der beiden normalen Kinder waren. Auch müßte der nor-
male Stammvater Martin Kallikak im Falle der Rezessivität selbst eine An-
lage zu Schwachsinn enthalten haben, da er andernfalls nicht den schwach-
sinnigen Sohn hätte haben können, den Goddard ihm zuschreibt Aus
diesen und andern Gründen kann die Arbeit Goddards nicht als ein-
wandfreies Material über die Erblichkeit des Schwachsinns gelten. Die Be-
deutung illegitimer Vaterschaft wird durch eine Mitteilung von Em -er ick 2 )
beleuchtet, der aus einer Schwachsinnigenanstalt des Staates Ohio den Fall
berichtet hat, daß zwei schwachsinnige weiße Eltern 10 schwachsinnige und
2 normale Kinder hatten; während die schwachsinnigen Kinder weiß waren,
waren die beiden normalen Mulatten.
Da die normalen Unterschiede der Begabung polymer be-
dingt sind, ist zu vermuten, daß auch die leichten Schwach-
sinnsformell an der Grenze der normalen Dummheit bis zu einem
gewissen Grade polymer sein werden. Außerdem aber gibt es
verschiedene krankhafte Erbanlagen, die teils schon hetero-
zygot, teils erst homozygot Schwachsinn verursachen. Der
Schwachsinn ist also keine biologische Einheit. Ebensowenig
wie alle Arten körperlicher Schwäche auf eine gemeinsame Erb-
anlage zurückgeführt werden können, darf man das von der
geistigen Schwäche erwarten.
Die meisten Schwachsinnigen sind auch körperlich als nicht
normal zn erkennen. Sie zeigen disharmonische Kopfbildung,
1 ) Kallikak ist ein Pseudonym; es bedeutet wörtlich gut - schlecht und
soll andeuten, daß die eine Hälfte der Sippe wertvoll, die andere minder-
wertig war.
2 ) Angeführt nach East, E. M. The inheritance of mental characteri-
stics. Mental Hygiene. Bd. 15. Nr. 45—51. 1931.
34*
532 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Asymmetrien, Mikrokephalie u. a. Höchstens ein Zehntel macht
äußerlich einen einigermaßen normalen Eindruck ; und das
sind meist Fälle, deren Geistesschwäche durch äußere Ur-
sachen wie Geburtsverletzung oder Hirnentzündung (Enzepha-
litis) verursacht ist. Abnorme Kleinheit des Kopfes läßt mit
Sicherheit auf Schwachsinn schließen. Es gibt zwar Schwach-
sinnige mit großem. Kopf; aber Individuen mit ausgesproche-
ner Mikrokephalie (Kopfumfang unter 52 cm) sind nach Zie-
ten regelmäßig geistesschwach.
Heilbar ist erbbedingter Schwachsinn nicht. Nur der als Teilerschei-
nung des Myxocdcms auftretende Schwachsinn kann durch Schilddrüsen-
präparate gebessert werden. Die vor einigen Jahren da und dort versuchte
Röntgentherapie des Schwachsinns ist mindestens Unfug. Man hat als Spät-
folgen solcher Bestrahlungen chronische Röntgenhaut und epileptische
Krämpfe auftreten sehen. Aufwendungen für Schwachsinnige, die über die
für normal begabte Kinder wesentlich hinausgehen ■ — Hilfsschule!" kosten
rund das Doppelte wie andere Volksschüler — , sind ein sozialer Mißstand.
Die häufigste Gruppe der Geisteskrankheiten ist die der
S chizophrenie 1 ) oder Dementia praecox 2 ) Das Lei-
den setzt gewöhnlich im 2. oder 3. Jahrzehnt, öfter aber auch
erst später ein. Es kann sich in recht verschiedenen Formen
darstellen; allen gemeinsam ist eine weitgehende Verödung des
Gefühls- bzw. Willens leb ens. In den meisten Fällen entwickelt
sich auch eine mehr oder weniger weit gehende Geistesschwäche.
Die Kranken werden von sinnlosen Antrieben und sinnlosen Hemmun-
gen beherrscht. Regellose Bewegungsantriebe können zu unbezähmbarem
Toben führen, und andererseits können die Kranken lange Zeit in eine ganz
unzugängliche Starre und Willcnssperrung verfallen, so bei einer der schwer-
sten Formen, der Katatonie. Andererseits kann das Leiden auch von
vornherein unter dem Bilde einer einfach schleichenden Verblödung ver-
laufen: Dementia siraplex. Durch eine besondere Zerfahrenheit des
Denkens ist die Hebephrenie gekennzeichnet. In andern Fällen können
Sinnestäuschungen und systemlose Wahnbildungen das Bild beherrschen:
Dementia paranoides. Ist die Walmbildung mehr systematisch und
beständig, so spricht man von P a t a p h reni e. In den meisten Fällen
verläuft die Schizophrenie in Schüben mit ziemlich plötzlichen Verschlim-
merungen, die gelegentlich von Besserungen unterbrochen sein können, bis
das Leiden schließlich zu einem gewissen Stillstand zu kommen pflegt.
1 ) Der Name Schizophrenie stammt von F. Bleuler und heißt wört-
lich „Spaltung des Geistes"; er besagt, daß die geistige Einheit zerspalten
ist; die Teile der geistigen Persönlichkeit sind gewissermaßen selbständig
geworden und widerstreben einander, so daß keine einheitliche Willensbil-
dung mehr erfolgt.
H ) Der Name Dementia praecox stammt von E. K r a e p e 1 i n
und bedeutet wörtlich ,, Verblödung im jugendlichen Alter"; er trifft eigent-
lich nur gewisse Endzustände des Leidens.
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 533
Die schizophren Veranlagten zeigen meist schon vor dem
Ausbruch einer eigentlichen Geisteskrankheit leichtere Ano-
malien mit Abstumpfung des Gefühls- und Willens leb ens, und
andererseits kommen in den Familien Schizophrener in der
Regel auch noch andere derartige „schizoide" Psychopathen
vor, bei denen es aber zum Ausbruch einer ausgesprochenen
Geisteskrankheit nicht zu kommen braucht und meist auch nicht
kommt. J. Lange 1 ) sagt von den schizoiden Psychopathen:
„Ihr Persönlichkeitsbild sieht oft genug dem ähnlich, was ein
erster oder einige leichte schizophrene Krankheitsschübe erst
aus einer ursprünglich vielleicht wenig auffälligen Persönlich-
keit schaffen. Es handelt sich um Sonderlinge, eigenartige, ab-
geschlossene, in sich versponnene Menschen, ohne sichtbare
Resonanz für ihre Mitmenschen, mit seltsamen religiösen, poli-
tischen, weltanschaulichen Ideen, mit dieser oder jener Feind-
schaft, mit Mißtrauen oder Abgunst im Herzen, oft zugleich
empfindlich, gelegentlich brutal oder stumpf und unberührt."
Lux enbu rge r 2 ) hat für die Bevölkerung Münchens
eine Wahrscheinlichkeit von 0,850/0 errechnet, im Lauf des
Lebens an Schizophrenie zu erkranken. Brugger 3 ) hat für
Basel eine fast doppelt so große Gefährdung gefunden, näm-
lich rund 1,5%. In der alemannischen Bevölkerung scheint
Schizophrenie deutlich häufiger als in der bayerischen zu sein.
Vermutlich ist auf dem Lande die Häufigkeit der Schizophrenie
etwas größer als in der Stadt, da schizoide Psychopathen sieb
dort eher halten können und Verwandtenehen auf dem Lande
häufiger sind. Für die deutsche Bevölkerung im Durchschnitt
wird man wohl mit einer Gefährdung von 1 o/ rechnen müssen,
an ausgesprochener Schizophrenie zu erkranken. Das würde auf
die Reichsbevölkerung rund 650000 machen. Da die Schizo-
phrenen im Kindes- und Jugendalter zunächst gesund zu er-
scheinen pflegen, ist die Zahl der manifest Schizophrenen zu
einer gegebenen Zeit jedoch nicht ganz halb so groß. Rüdin 4 )
schätzt sie auf 280 000. Zu diesen manifest Kranken kommen
1 ) Lange, J. In „Die Eugenik im Dienste der Volkswohlfahrt". Ver-
öffentl. aus dem Gebiet der Medizinalverwaltung. Bd. 38. Ii. 5. 1932.
2 ) Luxenburgcr, H. Demographische und psychiatrische Unter-
suchungen der engeren biologischen Familie von Paralytikerehegatten. Zeit-
schrift für Neurologie. Bd. 112. S. 330. 1928.
3 ) Brugger, C. Zur Frage einer Belastungsstatistik der Durch-
schnittsbevölkerung. Zeltschr. für Neurologie. Bd. 1 1 8. FL 3. 1929. S- 459.
4 ) Gütt,A., Rüdin,E-, Ruttke, F. Kommentar zum Gesetz zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses. München 1934. J. F. Lehmann.
534 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERDANLAGEN
aber noch viele leicht Erkrankte, j. Lange 1 ) ist überzeugt,
es gebe viel mehr im Grunde schizophrene Menschen, als die
Auszählung der offensichtlich Kranken es annehmen lasse.
Diese Tatsachen sind auch für die Beurteilung der Erbbedingt-
heit der Schizophrenie wichtig,
Die Erhebungen an dem von Rüdin geleiteten Kaiser Wil-
helm-Institut für Genealogie der Deutschen Forschungsanstalt
für Psychiatrie in München haben ergeben 2 ), daß von den Ge-
schwistern der Schizophrenen 7,5 o/o ebenfalls schizophren, 9,70/0
schizophrenieähnliche Psychopathen und 16,3% andere Psycho-
pathen, im ganzen also ein Drittel nicht normal waren. Unter den
Kindern waren 9,1 o/ Schizophrene, 17,6% schizophrenieähnliche
Psychopathen und 22,6% andere Psychopathen, im ganzen also
fast die Hälfte abnorm. Diese Zahlen sprechen eher für domi-
nante oder intermediär sich äußernde Erbanlagen als für
eigentlich rezessive, die Rudi n 3 ) zunächst vermutet hatte.
Bei rezessivem Erbgang wäre ein wesentlich größerer Hundert-
satz unter den Geschwistern als unter den Kindern zu erwarten,
Wenn beide Eltern schizophren waren, wurden 5 3 0/0 der Kinder
als schizophren und 29 0/0 als schizophrenieähnliche Psycho-
pathen befunden. Auch das paßt besser zu unregelmäßig do-
minantem als zu rezessivem Erbgang. Auch der Umstand, daß
Rüdin unter 700 Fällen I4mah d. h. in 2+0,5%, Vetternehe
der Eltern fand, genügt nicht, um Rezessivität zu belegen. Die
Zahl ist innerhalb der Fehlergrenzen mit der in jener Genera-
tion durchschnittlichen Häufigkeit der Vetternehen (rund i°/o)
vereinbar. Bei der großen Häufigkeit der Schizophrenie wäre
allerdings auch bei rezessiver Erbbedingtheit kein hoher Hun-
dertsatz von Vetternehen zu erwarten. Unter 21 Paaren ein-
eiiger Zwillinge fand Luxenburger 4 ) I4mal beide Zwil-
linge schizophren, 7 mal nur den einen, unter 3J Paaren zwei-
eiiger Zwillinge immer nur den einen. An der wesentlichen
Erbbedingtheit der Schizophrenie kann also auch auf Grund
der Zwillingsforschung kein Zweifel sein. Aus dem Umstände,
daß die 37 zweieiigen Zwillingspaare diskordant befunden wer-
2 ) A. a. O.
3 ) Luxenburger, H. Die Ergebnisse der Erbprognose in den vier
wichtigsten Erbkreisen. Zeitschritt für psychische Hygiene 1933.
3 ) R ü d i n , E. Zur Vererbung und Neucntstchung der Dementia prae-
cox. Berlin 19 16. Springer.
4 ) Luxenburger, H. Psychiatrisch-neurologische Zwillingspatho-
logie. Zentralblatt für Neurologie. Bd. 56. S. 145. 1930.
ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 535
den, folgt natürlich nicht, daß die Diskordanz 100 0/0 betrage.
Bei einer Häufigkeit von 7,50/0 unter den Geschwistern wäre
ein konkordantes Paar auf 25 diskordante zu erwarten; das
Fehlen eines solchen Paares ist also vermutlich Zufall. Die Dis-
kordanz bei 7 eineiigen Paaren zeigt, daß die schizophrene
Erbanlage nicht unter allen Umständen zur manifesten Er-
krankung zu führen braucht; unter der Annahme, daß das
Zahlenverhältnis 14 konkordant: 7 diskordant allgemein gelte,
würde daraus folgen, daß die Schizophrenieanlage bei etwa
einem Fünftel ihrer Träger nicht zum Ausbruch komme (vgl.
d. Abschn. über Methoden). Legras 1 ) fand 6 Paare eineiiger
Zwillinge konkordant schizophren und 10 Paare zweieiiger dis-
kordant. Die Mitwirkung von Umwelteinflüssen als auslösenden
Ursachen ist nicht sicher auszuschließen; doch kennt man
außer der erblichen Veranlagung bisher keine Ursachen der
Schizophrenie. Einstweilen wird man vermuten dürfen, daß die
Anlage bis zu einem gewissen Grade entwicklungs- oder viel-
leicht auch umweltlabil ist.
R ü d i n , Hoffraann 2 ), Strolimayer und andere haben die Ver-
mutung ausgesprochen, daß Anlagen, die homozygot Schizophrenie verur-
sachen, sich heterozygot vielleicht als schizoide Psychopathie äußern würden.
Solche Anlagen würden also als intermediär anzusehen sein. Wenn man nur
die ausgesprochene Geisteskrankheit ins Auge faßt und die Psychopathen
in der Verwandtschaft zu den Gesunden rechnet, würde die Krankheit sich
als rezessiv erblich darstellen. Wenn man dagegen die Psychopathen mit
den eigentlichen Geisteskranken zusammenrechnet, würde sich das Bild
dominanten Erbgangs ergeben. Für die Hypothese, intermediären Verhal-
tens spricht der Umstand, daß zwei psychopathische Eltern oft schizo-
phrene Kinder haben. Andererseits sind aber nicht in jedem Falle beide
Eltern eines Schizophrenen schizoid; auch sind nicht sämtliche Kinder von
Schizophrenen schizoide Psychopathen, wie es die Hypothese intermediären
Verhaltens einer Erbanlage erfordern würde.
S t r o h m a y e r 3 ) hat den Erbgang der schizoiden bzw. schizophrenen
Anlage in der Geschichte deutscher Fürstengeschlcchter über Jahrhunderte
verfolgen können. Fürstliche Familien sind für solche Studien besonders
geeignet, weil über ihre Mitglieder auch aus früheren Jahrhunderten beson-
ders viele Nachrichten vorliegen. So finden sich in der Nachkommenschaft
des im J. 1535 geborenen Wilhelm des Jüngeren von Braunschweig-Lüne-
burg 4 ), der offensichtlich an Schizophrenie litt, eine ganze Anzahl schizoider
1 ) Legras, A. M. Psychose en criminalität bij tweelingen. Disser-
tation Utrecht. 1932.
2 ) HoEfmann, H. Die Nachkommenschaft bei endogenen Psychosen.
Berlin, Springer 1921.
3 ) Stiühmayer, W. Die Ahnentafel der Könige Ludwig II. und
Otto I. von Bayern. Archiv für Rassen- u. Gesellschaftsbiologie 1910. FI. 1.
4 ) Genealogische Angaben über seine Nachkommenschaft verdanke ich
Herrn Dr. Friedrich Lehmann in München.
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o 7 d 1
536 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Psychopathen, so Georg I. von Hannover und sein Sohn Georg IL, ferner
Friedrich Wilhelm I. von Preußen und sein Sohn Friedrich II. Das Beispiel
der beiden Letzteren zeigt, daß die schizoide Anlage sich nicht notwendig
unheilvoll auszuwirken braucht. In den bayerischen Königen Ludwig IL
und Otto I, dagegen ist die krankhafte Anlage anscheinend von beiden Eltern
- her zusammengetroffen. Otto I. litt an
® typischer Schizophrenie (Dementia Sim-
plex). Bei Ludwig II. ist Paranoia ange-
nommen worden. Da sich bei ihm indessen
auch Sinnestäuschungen des Gehörs und
Gesichts sowie Verfall der Verstandes-
kräfte einstellten, kann auch bei ihm
Schizophrenie (in der Form der Para-
phrenie) als sichergestellt gelten. Fig. i 88
zeigt, wie von Wilhelm dem Jüngeren
verschiedene Linien ausgehen, auf denen
die krankhafte Anlage weitergegeben
worden sein kann, bis nach g bzw. io
Generationen zwei derartige Anlagen wie-
der zusammengetroffen sein mögen. Psy-
chopathie findet sich auch in der elter-
lichen und großelterlichen Generation; in
den früheren Ist sie genealogisch natürlich
schwer zu verfolgen, was aber keineswegs
ihr Vorhandensein ausschließt.
Eine Sippentafel, die gut zu der
Annahme paßt, daß gewisse krankhafte
Erbanlagen heterozygot schizoide Psy-
chopathie, homozygot dagegen Schizo-
phrenie bedingen können, hat auch Han-
h a r t 1 ) in einem Inzuchtgebiet der
Schweiz erheben können. Ebenso paßt
das Ergebnis einer Sippenforschung von
Lange 2 ) zu dieser Hypothese.
Im übrigen ist die klinisch,
abgegrenzte Gruppe der Schizo-
phrenie sicher keine biologische
Einheit. Auch Kretsc h m e r 3 )
er nicht behaupten wolle, daß
der schizophrene bzw. schizoide Formenkreis etwas biolo-
gisch Einheitliches sein müsse. Ebenso sieht Bleuler 4 ), von
dem der Name Schizophrenie stammt, in der Gruppe der
? 9 ?
Fig. 188.
Die Abstammung der bayerischen
Könige Ludwig II. (* 1845) miQl
Ottol. (* 1848") von Wilhelm dem
Jüngeren von Braunschweig-Lüne-
burg (* 1535)-
bemerkt ausdrücklich, daß
*) Nach persönlicher Mitteilung.
a ) Lange, J. Genealogische Untersuchungen an einer Bauernsipp-
schaft. Zeit sehr. f. d. ges. Neurologie und Psychiatrie. Bd. 97. H. 3/4. 1925.
3 ) Kretschmer, E. Körperbau und Charakter. 3. Aufl. Berlin 1925.
Springer.
4 ) Bleuler, E. Lehrbuch für Psychiatrie. Berlin. J. Springer.
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 537
T~~r
0^5
Fig. 1S9.
Schizophrenie und schizoide
Psychopathie (Ausschnitt)
Nach Hanliar t.
Schizophrenien eine Anzahl von biologisch nicht gleichartigen
Anomalien.
Zu der Gruppe der Schizophrenien haben die paranoiden Geistesstö-
rungen enge Beziehungen. R ü d i n x ) rechnet auch die chronische Para-
noia mit zur Schizophrenie. Man spricht von Paranoia oder Ver-
rücktheit, wenn sich langsam ein unerschütterliches Wahnsystem her-
ausbildet ohne besondere Störung der sonstigen Klarheit des Denkens. Es
gibt allerlei Übergänge zur Gesundheit. Die paranoiden Psychopa-
then zeichnen sich durch eigentümliches Mißtrauen gegen ihre Umgebung
aus, das mit mehr oder weniger auffälliger Selbstüberschätzung einherzu-
gehen pflegt. Sie fühlen sich verkannt, angefeindet, beeinträchtigt, unge-
nügend beachtet. Besonders der
Q u e r u I a n t e n w a h 11 , der ^71
sich in äußerst hartnäckigen +
und langwierigen Anstrengun- ' — i — '
gen zur Durchsetzung eingebil-
deter oder öfter auch wirklicher
Rechtsansprüche zu äußern
pflegt, scheint nach v. Eco-
n o m s ) biologisch zu den
Schizophrenien zu gehören, v.
E c o n o m o fand, daß in einer
Anzalü ausgesuchter Familien
von den Kindern von Queru-
lanten ein Viertel bis ein Drittel
an Schizophrenien erkrankte
und kaum ein Drittel geistig gesund war, während der Rest psycho-
pathisch (schizoid) war. Lange 3 ) andererseits ist zu dem Ergebnis ge-
kommen, daß es eine besondere Veranlagung zu Paranoia bzw. paranoider
Psychopathie gibt. Beide Ansichten brauchen sich nicht zu widersprechen;
es kann sein, daß die Paranoia etwas biologisch Besonderes in der klini-
schen Gruppe der Schizophrenien darstellt.
Zusammenfassend kann man heute wohl sagen, daß der
einzelne Fall von Schizophrenie in der Regel nicht durch eine
einzige pathogene Erbeinheit bedingt ist, daß vielmehr in der
Regel zwei, sei es allele, sei es nicht allele, Erbeinheiten zu-
sammentreffen müssen, um das Bild einer schizophrenen Psy-
chose zu erzeugen. Die einzelnen pathogenen Erbeinheiten die-
ser Gruppe sind offenbar nicht wesensgleich; je nachdem sie
mit dieser oder jener anderen Erbeinheit der Gruppe zusammen-
treffen, entstehen vermutlich verschiedene Krankheitsbilder;
und durch weitere Erbanlagen, die für sich allein nicht patho-
gen sind, sowie durch Umwelteinflüsse können weitere Ab-
*) Gütt, Rüdin, Ruttke. Vgl. S. 533.
2 ) v. Economo, C. Über den Wert der genealogischen Forschung
für die Einteilung der Psychosen usw. Münchn. med. Wochenschr. 1922.
3 ) Lange, J. Über die Paranoia und. die paranoische Veranlagung.
Zeitschr. für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 94. 1924.
cf ? cf 9
CT
?
538 f^/rZ 1.C/VZ, D/£ KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Wandlungen entstehen. Eine Polymerie in dem Sinne anzu-
nehmen, daß in jedem Falle mehr als zwei pathogene Erbein-
heiten vorhanden sein müßten, besteht kein Anlaß.
In der jüdischen Bevölkerung sind Geisteskrankheiten doppelt bis drei-
mal so häutig als in der nichtjüdischen; insbesondere gilt das für die
Schizophrenien 1 ).
Die Dementia senilis oder Altersverblödung scheint nach
einer Arbeit von Weinbcrger 2 ) aus dem Rüdinschen Institut keine
genetischen Beziehungen zur Schizophrenie zu haben; dagegen war die
gleichartige Belastung mit Dementia senilis deutlich größer als in der
Durchschnittsbevölkerung. Sippenforschungen darüber begegnen großen
Schwierigkeiten, da die meisten Menschen vorzeitig sterben und da man von
den lebenden Nachkommen noch nicht weiß, wie sie im Greisenalter be-
schaffen sein werden. Präscnilc Verblödungen, die im 6. oder 7. Jahrzehnt
auftreten und wesentlich seltener sind, als die meist
erst im 8. Jahrzehnt auftretende senile Demenz
scheinen nach Schottky 3 ) ebenfalls erbbedingt zu
sein.
Die Vergreisung scheint zwar durch schwere
körperliche und geistige Arbeit, durch Sorgen und
Aufregungen sowie durch Mißbrauch von Genuß-
giften beschleunigt zu werden; in noch höherem
Maße aber ist ihr Eintritt offenbar durch die Erb-
masse bedingt, Sie tritt durchaus nicht bei allen
Leuten im gleichen Alter und im gleichen Ausmaß
auf. Ich kannte in meiner Studentenzeit zwei Brü-
der von etwa 80 Jahren, denen ich mit 20 Jahren
im Schachspiel kaum gewachsen war, obwohl ich
eine beträchtliche Übung hatte. Der Höhepunkt geistiger Leistungsfähig-
keit wird bei den meisten Menschen wohl schon mit 40 Jahren überschritten.
Zu der Gruppe der erblich bedingten Verblödungen ist
auch die sog. amaurotische Idiotie zu rechnen. Die
infantile Form äußert sich bei anscheinend normal, geborenen
Kindern im ersten oder zweiten Lebensjahr und führt unter
zunehmender Verblödung, Krämpfen, Lähmung der Gliedma-
ßen und Erblindung zum Tode. Mit den sonstigen Idiotien,
die in angeborenen, nicht fortschreitenden Zuständen von Gei-
stesschwäche bestehen, gehört das Leiden also nicht zusammen,
eher mit den unter den Augenleiden besprochenen erblichen
Cf Cf
1
Fig. 190.
Infantile amauro-
tische I diotic.
Nach v. S tarck 4 ),
i) Lang, Th. Die Belastung des Judentums mit geistig Auffälligen.
Nationalsozialistische Monatshefte. Jg. 3. H. 24. 1932.
a ) Weinberger, H. L. Über die hereditären Beziehungen der seni-
len Demenz. Zeit sehr, für Neurologie. Bd. 106. H. 4/5. S. 666. 1926.
3 ) Schottky, J. Über präsenile Verblödungen. Zeitschrift für Neu-
rologie. Bd. 140. H. 3/4. S. 333. 1932-
4 ) v. S tarck. Zur Kasuistik der familiären amaurotischen Idiotie.
Monatsschrift für Kinderheilkunde. Bd, 18. H. 2.
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN Ü. PSYCHOPATHIEN. 539
MaculaverÖdungen. Man könnte von Dementia amauro-
ticans sprechen. Bemerkenswert ist, daß dieses Leiden, das
anscheinend einfach rezessiv ist, fast ausschließlich in jüdischen
Familien vorkommt.
Die juvenile amaurotische Idiotie (treffender
Dementia am au r tic an s juvenilis) setzt meist um
die Zeit des Zahnwechsels, also um das sechste Lebensjahr ein.
Die Kinder werden im Lauf einiger Jahre blind und verblöden;
sie werden schließlich völlig lahm und sterben meist mit 14
bis 16 Jahren. Das Leiden ist in Deutschland sehr selten, in
Schweden häufiger; bei jüdischen Kindern ist es im Ge-
gensatz zu der in-
<?9 <?9
JQ
? Q
9f 99
o
c?c?9
Fig. 191.
Juvenile amaurotische Idiotie.
Nach Sjögren.
fantilen amaurotischen
Idiotie bisher über-
haupt nicht beobachtet
worden. Es ist also ein
von jener genetisch ver-
schiedenes Leiden.
Sjögren 1 ), der in
jahrelanger Arbeit
den Erbgang vorbild-
lich erforscht hat, Ist
zu dem Schluß ge-
kommen, daß es sich
um ein einfach rezessives Erbleiden handelt. 250/0 der damit
behafteten Kinder stammen aus Verwandtenehen (bis zu Vet-
ternehen 2. Grades gerechnet), aus Vetternehen 1. Grades
allein 150/0. Die Geschwistermethode ergibt rund 250/0 gleich-
artig erkrankte Geschwister.
Die Anzahl der heterozygoten Anlageträger hat Sjögren näherungs-
weise auf l,2°/o berechnet; das entspricht einer Häufigkeit des Leidens von
rund 1:30000. Es wurde in 59 schwedischen Sippen festgestellt, die sich
auf 22 geographische Herde verteilen.
Für die Entstehung der Dementia paralytica oder progres-
siven Paralyse (wenig treffend auch „Gehirnerweichung" genannt) ist
die erbliche Veranlagung nicht wesentlich. Es handelt sich dabei vielmehr
um eine besondere Verlaufsform der Syphilis.
Als Epilepsie (Fallsucht) werden Zustände abnormer
Anfälligkeit der Hirnrinde zusammengefaßt, die sich in Anfäl-
len von Bewußtlosigkeit mit eigentümlichen Krämpfen äußern.
Auch infolge äußerer Ursachen wie Hirnverletzungen oder in-
1 ) S j ö g r e n , T. Die juvenile amaurotische Idiotie. Hereditas. Bd. 14.
S. 197. 1931.
540 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLAGEN
fektiöser Gehinierkrankungen im Kindes alter kann das Bild
der Epilepsie sich entwickeln. Als „genuine Epilepsie" bezeich-
net man solche Formen, bei der äußere Anlässe nicht aufge-
funden werden, in schweren Fälle führt das Leiden zu Verblö-
dung, die sich anatomisch in Verödung der Hirnrinde darstellt.
Ein erheblicher Teil aller Fälle von Epilepsie soll durch
Alkoholmißbrauch ausgelöst werden („Alkoholepilepsie"), Die
epileptische Veranlagung soll sich auch unter dem Bilde ande-
rer geistiger Störungen äußern können, z. B. in Anfällen unbe-
zähmbarer Unruhe oder in Bewußtseinstrübungen ohne Krämpfe
(sogenannten Dämmerzuständen).
Ein Teil der Kinder von Epileptikern geht früh an
„Krämpfen" zugrunde. Andererseits gibt es Epileptiker, bei
denen nur ganz wenige oder nur ein einziger Anfall im Leben
beobachtet wird (Oligoepilepsie nach J. Lange). Vermutlich
gibt es auch Anlageträger, die nie einen Anfall bekommen.
Rund ioo/o aller Epileptiker stammen von einem epilep-
tischen Elter ab, und von den Kindern der Epileptiker sind
rund 10 o/o ebenfalls epileptisch. Unter den Geschwistern der
Epileptiker sind in Rüdins Institut nur 30/0 Epileptiker ge-
funden worden, dagegen 19 0/0 epileptische Psychopathen und
160/0 andere Psychopathen. Boening und Konstantinu 1 )
fanden unter 428 Probandengeschwistern 4 bis 50/0 Epileptiker.
Es ist nicht wohl möglich, aus diesen Befunden auf einen ein-
heitlichen Erbgang zu schließen. Nach Rüdin 2 ) soll es rezes-
sive Erbanlagen für Epilepsie geben, außerdem vielleicht auch
seltene dominante. Indessen spricht der Umstand, daß unter
den Geschwistern der Epileptiker weniger gleichartig Kranke
gefunden werden als unter den Kindern, gegen rezessiven Erb-
gang. 10 «/o gleichartig kranke Kinder finden sich auch bei
Schizophrenie. Da die Epilepsie höchstens ein Drittel so häufig
wie die Schizophrenie ist, wären bei rezessivem Erbgang beider
Leiden lange nicht 10 0/0 epileptische Kinder zu erwarten. Auch
daß Blutsverwandtschaft der Eltern nicht überdurchschnittlich
häufig festgestellt werden konnte, spricht gegen rezessive Erb-
bedingtheit.
A ) Boening, H. und Konstantinu, Th. Encephalographische
und erbbiologische Untersuchungen an gesunden Epileptikern. Archiv für
Psychiatrie. Bd. 100. H. 2. S. 171. 1933.
2 ) Rüdin, E. Der gegenwärtige Stand der Epilcpsicforsclmng. Genea-
logisches. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 89.
FI. 1/3. 1924.
ERBE. GEISTESKRANKHEITEN ü. PSYCHOPATHIEN. 541
Ger um 1 ) hat dieses Argument durch den Hinweis auf große Häufig-
keit gesunder Anlageträger entkräften zu können gemeint. Er schätzt diese
auf 1 : 100 bis 1 ; 200. Nun sind aber bei der rezessiven Taubstummheit ge-
sunde Anlageträger sogar noch häufiger; und doch kommt .Blutsverwandt-
schaft der Eltern dort bei rund einem Drittel vor. Erst wenn eine rezessive
Erbanlage in mehr als jedem Zehnlei aller Menschen vorhanden sein würde,
würde der Nachweis einer erhöhten Zahl blutsverwandter Eltern Schwierig-
keiten machen. Da nur bei rund 3 0/0 der Geschwister Epilepsie beobachtet
wird, müßte man bei rezessivem Erbgang weiter annehmen, daß die Anlage
sich auch homozygot nur in einem Achtel der Fälle äußere. Bei einer Häufig-
keit der Epilepsie von 1 : 400 würde das eine Häufigkeit homozygoter An-
lageträger von 1 : 50 geben; jeder vierte Mensch wäre dann als heterozygoter
Träger einer Anlage zu Epilepsie anzusehen. Und selbst bei einer solchen
Häufigkeit wären nur rund 1,5% epileptische Kinder zu erwarten, während
es tatsächlich 10 0/0 sind. Die Annahme, daß Epilepsie hauptsächlich durch
rezessive Erbanlagen bedingt sei, macht also Schwierigkeiten.
L e g r a s 2 ) berichtet über zwei konkordante und ein dis-
kordantes Paar einenger Zwillinge. Schulte 3 ) hat 8 diskor-
dante und 2 konkordante Paare eineiiger Zwillinge gefunden.
Eine Sammelforschung von Conrad 4 ) aus dem Rüdin-
sehen Institut, die 253 Zwillingspaare umfaßt, hat dagegen bei
eineiigen Zwillingen eine ■Konkordanz von 660/0 und bei zwei-
engen eine solche von 3,1% ergeben. Wenn die nach der Vor-
geschichte und dem klinischen Bilde als genuin erscheinenden
Fälle für sich betrachtet wurden, so betrug die Konkordanz bei
eineiigen Zwillingen sogar 86,30/0. Diese Zahlen sprechen da-
für, daß die allermeisten Fälle von Epilepsie genuin im Sinne
von erbbedingt sind und daß eine Erbanlage zu Epilepsie in
der Regel sich auch äußert.
In den Sippen von Epileptikern pflegen auch Psychopathen
und Schwachsinnige gehäuft vorzukommen. Seit Ro einer 5 )
eine derartige Sippe beschrieben hat, ist das immer wieder be-
stätigt worden. Unter den Geschwistern der Epileptiker fanden
sich nach Luxenburger 190/0 epileptoide Psychopathen
und 160/0 weitere abnorme Typen. Zum Teil dürfte das daher
kommen, daß geistig minderwertige Anlagen in manchen Sip-
1 ) Gerinn, K. Beitrag zur Frage der Erbbiologie der genuinen Epi-
lepsie. Zeitschrift für Neurologie. Bd. 115. H. 3/4. S. 319. 1928.
2 ) A. a. O. S. 100.
3 ) Schulte, H. Zwillingserhebungcn bei genuiner Epilepsie. Monats-
schrift für Psychiatric. Bd. 88. S. 341. 1934.
4 ) Noch nicht veröffentlicht. Nach dem Manuskript mitgeteilt von K, IL
S t a u d e r in den Fortschritten der Neurologie usw. Jg. 8. H. 1. 1936.
B ) Roemer, H. Zur Symptomatologie und Genealogie der psychi-
schen Epilepsie und der epileptischen Anla,ge. Allgem. Zeitschrift für Psy-
chiatrie. Bd. 67. S. 588. 1910.
&
542 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
pen durch (negative) soziale Auslese gehäuft werden. Anderer-
seits aber ist zu vermuten, daß gewisse krankhafte Erbanlagen
sich meist in sonstiger Psychopathie und nur gelegentlich in
der Form der Epilepsie äußern.
Ein wohlgekennzeichnetes Erbleiden ist die Myoklonus-
epilepsie. Diese geht mit eigentümlichen Reihen von Mus-
kelzuckungen einher, deren einzelne Zuckungen so kurz sind,
daß größere Bewegungen nicht zustande kommen. Die epilep-
tischen Anfälle erfolgen meistens bei Nacht; schließlich kommt
es zu Verblödung. Lundborg 1 ) beobachtete 17 Fälle bei Kin-
dern blutsverwandter Eltern. Das von ihm gefundene Zahlen-
verhältnis entspricht sehr gut dem einfach rezessiven Erbgang,
so daß dieser als sichergestellt gelten kann.
Lundborg konnte alle 1 7 in Schweden bekanntgewordenen Fälle
von Myoklonusepilepsic auf ein einziges Ahnenpaar im 18. Jahrhundert
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c?
cf
1 I.
cf # c- cT cf if cfcf^tfjcffgcr
Fig. 192.
Myoklonusepilepsic nach Lundborg (Ausschnitt).
zurückführen; außerdem sind nur noch im Baltikum Fälle bekannt gewor-
den; und diese stehen möglicherweise in genealogischem Zusammenhang
mit den schwedischen. Aus der von Lundborg erforschten Sippe gebe ich
einen Ausschnitt nach einer übersichtlichen Darstellung von Hanhart 8 )
wieder.
Ein derart eindeutiges Bild rezessiver Erbbedingtheit zeigt die sonstige
genuine Epilepsie zweifellos nicht. Man tut gut, sich zu erinnern, daß die
Möglichkeit zu epileptischen Krampfanfällen auch in der normalen Erbmasse
r ) Lundborg, H. Medizinisch-biologische Familienforschungen usw.
Jena 1913. G. Fischer.
a ) Nach persönlicher Mitteilung.
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 543
angelegt sein muß; denn infolge von Hirnverletzungen und lokalen Hirn-
erkrankungen kann das Bild traumatischer Epilepsie auch bei normalen
Menschen entstehen. Vermutlich gibt es eine erbbedingte erhöhte Krampf-
bereitschaft chemisch-physiologischer Natur, die mit einer allgemeinen er-
höhten motorischen Erregbarkeit einhergeht. Außerdem mag es entwick-
lungsbedingte lokale Hirndefekte geben, die ähnlich wie Defekte nach Ver-
letzungen zu epileptischen Krämpfen disponieren.
Es gibt mehr als doppelt so viele männliche als weibliche Epileptiker.
Die Ursache dieser unterschiedlichen Geschlech tsver teilung ist nicht bekannt.
Ob rezessive geschlechtsgebundene Erbanlagen daran beteiligt sind, ist frag-
lich. Vermutlich handelt es sich um eine teilweise geschlechtsbegrenztc Äuße-
rung, wobei die größere Neigung des männlichen Geschlechts zu motori-
schen Entladungen eine Rolle spielen mag. Die allgemeine Häufigkeit der
genuinen Epilepsie ist ungefähr l /^/o. Unter Juden ist das Leiden wesent-
lich seltener.
Bei dem sogenannten manisch-depressiven oder
( sprachlich einheitlicher) manisch-me .1 ancholischen
Irresein oder (kürzer und treffender) der Z ykloph r enie
handelt es sich um eine Gruppe von Seelenstörungen, die
durch krankhafte Störungen der Stimmungslage gekennzeich-
net sind. D ahin gehört die Melancholie, die sich in
schwerster Hemmung des Seelenlebens durch tiefste traurige
Verstimmung äußert, weiter die Manie, bei der das Seelen-
leben durch unbändige heitere Erregung krankhaft gestört
ist, das zirkuläre oder periodische Irresein, bei
dem Zeiten von manischen, melancholischen und normalen Zu-
ständen abwechseln. Auch die Zustände einfacher Melancholie
oder Manie pflegen nach kürzerer oder längerer Zeit wieder
einer normalen oder annähernd normalen Seelenverfassung zu
weichen. Eine dauernde Zerstörung des Seelenlebens tritt also
nicht ein. In der Hegel zeigen sich auch in den verhältnis-
mäßig gesunden Zeiten leichtere Anomalien der Veranlagung,
die auch für sich bestehen können, ohne daß es jemals zu
schweren Geistesstörungen zu kommen braucht.
Die leichteren Anomalien dieser Gruppe, soweit sie nur den Grad der
Psychopathie, nicht den der ausgesprochenen Geisteskrankheit erreichen,
werden nach Kretschmcr als zykloid bezeichnet, der ganze Formen-
kreis als zyklothym. Ich habe in der ersten Auflage dieses Buches als
zusammenfassende Bezeichnung für die manisch-melancholischen Scelcnstö-
nmgen den Namen P a r a t h y m i e vorgeschlagen, ein Wort, das Meg-
gendorfer um dieselbe Zeit unabhängig davon, allerdings in anderem
Sinne gebraucht hat. Lange-Eichbaum hat von Zyklophrenie
gesprochen, Bumke von Thyraopathie. Es wäre zu wünschen, daß
sich eines dieser kurzen Worte an Stelle des umständlichen „manisch-de-
pressives Irresein" einbürgern würde. Die Bezeichnung „Irresein" für die
zyklophrencn Seelenstörungen ist auch irreführend, da die Kranken auch in
schweren Phasen ihres Leidens nicht eigentlich „irre" sind.
544 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Zyklophrene Geistesstörungen können in der Regel durch
mehrere Generationen verfolgt werden. Unter den Geschwistern
der Kranken werden rund ein Siebentel ebenfalls Zyklophrene
gefunden, unter den Kindern ein Drittel und außerdem ein
Drittel zykloide und andere Psychopathen 1 ). Wenn beide El-
tern krank waren, so wurden unter den Kindern über ein Drit-
tel gleichartig Kranke und außerdem fast die Hälfte zykloide
Psychopathen gefunden, im ganzen neun Zehntel Abnorme.
Anscheinend sind die meisten pathogenen Erbeinheiten, die
zyklophrene Seelenstörungen verursachen, dominant. Vettern-
ehen sind bei den Eltern nicht in überdurchschnittlicher Zahl
gefunden worden, was gegen Beteiligung rezessiver Erban-
lagen spricht.
Es sind rund 30 Paare eineiiger Zwillinge beschrieben
worden, von denen beide an zyldophrenen Störungen erkrank-
ten. Bei zweieiigen Zwillingen dagegen kam auf 16 Paare nur
ein konkordantes. Im einzelnen kann das Krankheitsbild bei
einengen Zwillingen erhebliche Unterschiede im zeitlichen Auf-
treten der Phasen und in ihrer Ausprägung aufweisen, wie
Luxenburger 2 ) gezeigt hat. Man muß also an die Mitwir-
kung von Umwelteinflüssen denken.
Bei einem Zwillingsschwesternpaar Luxenburgers, bei deren
einer sich ein großer Kropf und ein schwerer melancholischer Dauerzustand
entwickelte, bezweifle ich die Annahme der Eineiigkeit, die nur auf anamne-
stische Angaben nach dem Tode begründet wurde. Nicht zuzustimmen
vermag ich auch Luxenburgers Ansicht, daß das Manisch-Depres-
sive „eine biologische Einheit, einen Biotypus" darstelle. Ein Biotypus im
Sinne Johannsens setzt die gleiche Erbformel bei allen dazugehörigen
Individuen voraus. Das aber scheint mir in diesem Falle ausgeschlossen zu
sein. Auch eine „hochgradige Polymerie", die Luxenburger für das
manisch-melancholische Irresein annimmt, will mir nicht einleuchten, wenig-
stens, was die beteiligten krankhaften Erbeinheiten betrifft. Hochgra-
dige Stimmungs Schwankungen kommen gelegentlich ja auch bei normalen
Menschen vor — „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt" — ; nur treten
sie beim. Normalen nicht ohne entsprechenden Anlaß auf und sie dauern bei
ihm nicht Monate oder Jahre. Ein stoischer Gleichmut in allen Lebenslagen,
wie er gewisse „wurstige" Schizoide kennzeichnet, ist gewiß nicht normal.
Die Fälügkeit zu normalen Gemütsbewegungen (wie die zu allen sonstigen
normalen Fähigkeiten) ist sicher hochgradig polymer. Insofern kann ich
Luxenburger beistimmen. Eine krankhafte Labilität der Stim-
mungslage entsteht meiner Ansicht nach aber nur, wenn einzelne krank -
*■) Luxenburger, H. Die Ergebnisse der Erbprognose in den vier
wichtigsten psychischen Erbkreisen. Zeitschrift für psychische Hygiene. 1933.
3 ) Luxenburger, IL Über einige praktisch wichtige Probleme aus
der Erbpathologie des zyklothymen Kreises. Zeitschrift für die gesamte
Neurologie. Bd. 146. H. 1 u. 2. S. 87. 1933.
ERBL. GEISTESKRANKE! EITEN U. PSYCHOPATHIEN. 545
hafte Erbanlagen hinzukommen. Daß Homozygotie wesentlich sei, wie Lu-
xenburger vermutet, halte ich für unwahrscheinlich; sie wäre gleichbe-
deutend mit Rezessiv! tat. Daß (monomere) Teilanlagcn zykloide Psychopathie
bedingen, halte auch ich für wahrscheinlich.
Die Häufigkeit des manisch-melancholischen Irreseins hat Luxen-
burger für München auf nicht ganz l / 2 /<s festgestellt. Es ist aber mög-
lich, daß sie in Norddeutschland kleiner sei als in der zu zyklothymem Tem-
perament neigenden bayerischen Bevölkerung. Bei Juden kommen zyklo-
9
1 1
Fig 193.
Zyklophrenie („manisch-
depressives Irresein").
Nach H offman n.
= hyperthy mische Psychopathen.
d
cf
cT
&
9 f f 9- ®
Fig. 194.
Sclbsttötung
nach Bremer
(Ausschnitt).
phrene Störungen häufiger als bei NichtJuden vor 1 ). Daß etwa doppelt so
viele Frauen als Männer in zyklophrene Zustände verfallen, scheint nicht
auf Geschlechtsgebundenheit der krankhaften Anlage zu beruhen, sondern
darauf, daß die weibliche Seele überhaupt mehr zu Stimmungs Schwankungen
neigt. Entsprechend neigt auch der weibliche Körper mehr als der männ-
liche zu rundlichen („pyknischen") Formen, die in Korrelation mit zykloi-
der Veranlagung stehen.
Ein recht erheblicher Teil der zyklophren veranlagten Menschen geht
durch eigene Hand zugrunde, zumal von denen, die zu melancholischer
Verstimmung neigen. Die Neigung zu Selbsttötung tritt überhaupt
ausgesprochen gehäuft in manchen Sippen auf, wobei die Wirkung des Bei-
spiels anscheinend nur eine untergeordnete Rolle spielt. Eine Sippentafel
nach Bremer 3 ) gebe ich in Fig. 194.
Als Psychopathie werden im Vergleich zu den Gei-
steskrankheiten oder Psychosen leichtere seelische Anomalien
bezeichnet, und zwar Anomalien des Charakters und Tempera-
ments, wahrend Verstandesschwäche nicht dazugereclmct zu
werden pflegt. Da es zweifellos eine Anzahl klinisch und gene-
tisch verschiedener Arten von Psychopathie gibt, gebrauche ich
das Wort lieber in der Mehrzahl. Während ein erheblicher Teil
1 ) Lange, J. Über manisch-depressives Irresein bei Juden. Münchn.
med. Wochenschr. 1921.
2 ) B r c m e r , F. W. Zur Vererbung der Sclbstmordneigung. Archiv für
Psychiatrie. Bd. 73. H. 2/4. 1925.
B a 11 r - F i s c h e r - 1, e u % I. 35
546 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
der ausgesprochenen Geisteskrankheiten durch äußere Ursachen
entsteht (z. B. die Paralyse durch Syphilis), kommen äußere
Schädlichkeiten als Ursachen von Psychopathien viel weniger
in Betracht. Immeririn kann z.B. nach einer Enzephalitis
(Hirnentzündung) das Bild einer Psychopathie bestehen blei-
ben. Außerdem kann Psychopathie Teilerscheinung organi-
scher Nervenleiden sein, z. B. der multiplen Sklerose und der
Huntingtonschen Chorea („organische Psychopathien").
Ich würde am liebsten alle leichteren seelischen Anomalien einschließ-
lich der leichteren Geistesschwäche als Psychopathien bezeichnen. Eine Ab-
grenzung der Geisteskrankheiten als „Prozesse" von den Psychopathien als
„Zuständen" halte ich nicht für durchführbar, sondern nur eine solche der
Schwere der Krankhaftigkeit nach. Von den Psychopathien gibt es alle
Übergänge zur Gesundheit. Es ist daher bis zu einem gewissen Grade willkür-
lich, wo man die Psychopathien beginnen lassen will. Daher ist auch die Zahl
der Psychopathen nicht eindeutig bestimmbar. Volle seelische Gesundheit
ist wohl nicht häufiger als volle körperliche Gesundheit. Aber auch wenn
man nur solche Seelenvcrfassungen als Psychopathien ansieht, die offensicht-
lich eine unterdurchschnittliche Erhaltungstüchtigkeit bedingen, kommt man
auf einen recht erheblichen Bruchteil der Bevölkerung. Der Medizinal Stati-
stiker Prinzing 1 ) nimmt an, daß etwa 10% der Bevölkerung psychisch
nicht vollwertig sind. Luxenburgcr 8 ) hat in der Münchener Durch-
schnittsbevölkcrung 160/0 „eugenisch bedenkliche Typen" gefunden. Das ist
fast ein Sechstel der Bevölkerung. Wenn man die Zahl der ausgesprochen
Geisteskranken und die der Schwachsinnigen davon abzieht, bleiben für che
Psychopathen rund 12%.
Eine klare Abgrenzung der verschiedenen Psychopathien ist den Psy-
chiatern bisher ebensowenig gelungen wie bei den ausgesprochenen Gei-
steskrankheiten. Zum großen Teil handelt es sich um Äußerungen von An-
lagen, die schon bei Gelegenheit der Geisteskrankheiten besprochen worden
sind, nämlich der schizoiden, der paranoiden, der e p i 1 e p t i -
den und der zykloiden Veranlagung. Diese gehören zusammen mit den
gleichgerichteten Psychosen und können ebensowenig ohne diese wie diese
ohne jene biologisch betrachtet werden. Jene Psychopathien können daher
in diesem Zusammenhange als erledigt gelten.
Die Psychopathien sind für das soziale Leben noch bedeu-
tungsvoller als die eigentlichen Geisteskrankheiten; denn wäh-
rend die Geisteskranken in der Regel ziemlich bald aus dem
sozialen Leben ausscheiden, beeinflussen die Psychopathen das
Leben der Gesellschaft in der allereinschneidendsten Weise.
Psychopathen ziehen einander an. Da sie bei normalen Menschen kein
Verständnis für ihre Vorstellungen und Bestrebungen zu finden pflegen,
schließen sie sich zusammen. Sie bilden religiöse, okkultistische, astrolo-
gische Sekten, Bewegungen, die von irgendeiner einseitigen Lehre die Hei-
lung aller Krankheiten, die Gesundung des persönlichen und politischen
v ) Prinzing, F. Die statistischen Grundlagen der sozialen Hygiene.
Im Handbuch der sozialen Hygiene von Gottstein u. a. Berlin 1925.
2 ) Die Ergebnisse der Erbprognose usw., a.a.O.
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN, 547
Lebens erhoffen. Natürlich geraten sie oft auch gegenseitig in fanatischen
Streit. Auch in der Ehe finden sich oft zwei psychopathische Persönlichkeiten
zusammen; sie empfinden sich selbst und einander als besondere, vom ge-
wöhnlichen Durchschnitt abweichende Menschen; und sie kommen um so
leichter zusammen, als sie von geistig normalen Menschen meist als sonderbar
empfunden und instinktiv abgelehnt werden. In der Ehe vertragen sie sich
natürlich meist auch nicht auf die Dauer. Obwohl die Psychopathen viel
Unheil in der Welt anrichten, darf man andererseits doch nicht verkennen,
daß die von ihnen getragenen Bewegungen gelegentlich auch gute Fol-
gen haben können. Davon soll noch bei Betrachtung des psychopathischen
Genies die Rede sein.
Von ganz besonderer Bedeutung für das private und soziale
Leben ist die hysterische Veranlagung. Ich halte es
daher für angezeigt, auf diese ausführlicher als auf andere
Anomalien einzugchen. Die Einsicht in den Mechanismus der
Hysterie ist nicht nur für den Arzt, sondern auch für den
Erzieher, den Politiker, den Volkswirt, den Historiker und
nicht zum wenigsten auch für den Rassenhygieniker geradezu
unerläßlich.
Unter Hysterie versteht man in erster Linie gewisse
scheinbar körperliche Krankheitszustände, für die aber ehre
körperliche Grundlage nicht aufgefunden werden kann und die
wieder spurlos verschwinden oder wechseln können. So kom-
men hysterische Lähmungen von Gliedmaßen vor, Gefühllosig-
keit umschriebener Körperstellen, „rheumatische" und andere
Schmerzen, Blindheit, Taubheit, S tummheit, Ohnmächten und
eine bunte Reihe anderer Erscheinungen. Sehr charakteristisch
sind eigentümliche Krampf anfalle mit Bewußtlosigkeit, die
äußerlich epileptischen Anfällen recht ähnlich sein können.
Ich möchte die Hysterie definieren als eine
mehr oder weniger unbewußte und unwillkür-
liche Nachahmung von Krankheitsbildern.
Es ist dabei nicht nötig, daß der Hysteriker das nachgeahmte Krank-
heitsbild schon gesehen habe; er bietet vielmehr ein Bild dar, wie er sich
vorstellt, daß ein bestimmter Krankheitszustand aussehen möge. Man kann
die Hysterie der Mimikry vergleichen; ein mimetisches Tier, das durch
Nachahmung eines andern giftigen oder sonst gefährlichen Tieres Eindruck
auf seine Verfolger macht, weiß auch nicht, daß es nachahmt. Die Rebhuhn-
muUcr stellt sich flügellahm, um die Aufmerksamkeit eines Feindes von den
Jungen abzulenken. Auch bei Singvögeln habe Ich mehrfach ein entsprechen-
des Verhalten beobachtet. Hier geschieht die Nachahmung von Krankheit
auf Grund eines von der Natur herausgezüchteten, also normalen Instinkts.
Aus dem Verhalten dieser Vogelmütter habe ich den Eindruck gewonnen,
daß die Tiere sich des Zweckes der Krankheitsnachahmung bis zu einem
gewissen Grade bewußt sind.
Die Auslösung der einzelnen hysterischen Erscheinungen erfolgt durch
lebhaftes Verlangen nach einem Gegenstande oder Ziele, zu dessen Er-
548
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
rcichung der Hysteriker den dargebotenen Krankheitszustand mein- oder
weniger unbewußt als geeignetes Mittel empfindet. So führte während des
Krieges der Wunsch, dem feindliehen Feuer zu entgehen und in die Heimat
zu kommen, zu allerhand hysterischen Krankheitserscheinungen, besonders
oft zu hartnäckigen Zuständen von Zittern und Zappeln. Bei der Renten-
hystciie ist es der Wunsch, eine Rente zu erlangen, der die zu diesem Zweck
als geeignet erscheinenden Krankheitsbikler hervorruft. Immer aber ist die
Verknüpfung mit dem Wunschziel dem Hysteriker mehr oder weniger unbe-
wußt bzw. aus dem Bewußtsein verdrängt. Im gewöhnlichen Leben ist es oft
der Wunsch, sich unangenehmen Pflichten zu entziehen, Mitleid zu erregen,
sich interessant zu machen, jemanden ins Unrecht zu setzen (er soll schuld
an der Krankheit sein). Darum ist die Nachahmung epileptischer Krämpfe,
die erfahrungsgemäß auf den Laien immer großen Eindruck machen, bei
Hysterikern so beliebt. Die Epilepsie wurde ja lange Zeit als „heilige Krank-
heit" (morbus sacer) angesehen. Wenn der Hysteriker in Krämpfen daliegt,
so verwandelt sich etwaiger Zorn gegen ihn, weil er seine Pflichten vernach-
lässigt hat, gewöhnlich in Mitleid oder in abergläubische Scheu. Auch das
eindrucksvolle Bild der Chorea wird gern nachgeahmt. Aber nicht nur kör-
perliche, sondern auch seelische Krankheitszustände sind der hysterischen
Mimikry zugänglich; durch melancholische Zustände wird Mitleid hervor-
gerufen, durch Erregungszustände Einschüchterung versucht. Bei hysterisch
veranlagten Angeklagten tritt Verstandesschwäche oder Gedächtnisschwäche
ein, wenn es vorteilhaft erscheint. Weil die Krankheit Mittel zur Erreichung
eines lebhaft begehrten Zieles ist, wird sie in den Willen aufgenommen.
Während die Auslösung der hysterischen Krankheitserschei-
nungen durch äußere Ereignisse, die zu lebhaften Wünschen
Anlaß geben, geschieht, ist die konstitutionelle Grundlage in
einer wesentlich erbbedingten abnorm starken Bestimmbarkeit
der Vorstellungen, Urteile, Gefühle und selbst Empfindungen
durch Wünsche zu suchen. Diese abnorme Wunschbe-
stimmbarkeit braucht sich durchaus nicht nur in der Nach-
ahmung von Krankheitsbildern zu äußern; viel öfter führt sie
einfach zur Verdrängung unangenehmer Vorstellungen oder Er-
innerungen aus dem Bewußtsein oder auch positiv zu allerlei
Einbildungen oder Wunschillusionen 1 ). So kommt es immer
wieder vor, daß entsprechend veranlagte Personen sich ohne
Grund einbilden, daß eine bestimmte Person des andern Ge-
schlechts oder auch mehrere zugleich verliebt in sie seien. Die
Flucht vor den Tatsachen in die Illusion ist kennzeichnend für
die hysterische Wunschbestimmbarkeit.
Hysterisch veranlagte Frauen suchen durch Durchblickenlassen per-
sönlichen Leidens, durch unausgesprochene Drohung mit dem Fortbestand
dieses Leidens ihren Willen durchzusetzen. Tränen und stumme Leidens-
miene sind beliebte Mittel dazu. Ohnmächten dagegen sind nicht mehr so
*) Das Wort „Illusion" ist hier nicht im Sinne von Sinnestäuschung
gebraucht, wie es entgegen dem sonstigen Sprachgebrauch in der Psychiatrie
üblich ist.
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 549
modern wie zur Zeit unserer Väter. Wirksam sind diese Mittel natürlich
nur gegenüber Personen, die durch Liebe oder Pflicht an die hysterische
Person gebunden sind und die unter ihrem Leiden selber zu leiden haben.
Im übrigen ist die hysterische Durchsetzung des Willens besonders leicht in
einer moralischen Umwelt, in der Leiden als ein Verdienst gilt, wo die Anschau-
ung verbreitet ist, daß durch Leiden und Askese als solche etwas geleistet
werden könne. Die hysterische Mimikry ist daher eine Art von Schmarotzer-
tum auf dem Boden der asketischen Wertlehre und der Mitleidsmoral.
Ausdrücklich sei betont, daß eine gewisse Wunschbestimmbarkeit nor-
mal ist. Der Mensch würde vielleicht das Leben ohne wunschbestimmte Illu-
sionen gar nicht aushalten. Auch der gesunde Mensch glaubt gern das, was
er wünscht; aber die Wahrnehmungen der Erfahrung und das logische
Denken setzen dieser Wunschbestimmbarkeit doch gewisse Grenzen. Eine
gewisse Wunschbestimmbarkeit der Seele ist offenbar erhaltungsgcmäß fin-
den Einzelnen wie für die Gesamtheit. Sic ermöglicht es, daß Anschauungen
und Willensrichtungen, die im Leben einer Gemeinschaft als erhaltungs-
gemäß erprobt sind, von den einzelnen Mitgliedern in ihren Willen aufge-
nommen werden. Das ist für die Gemeinschaft von Vorteil im Daseinskampf.
So hat im Weltkriege die Illusion, Deutschland sei allein schuldig am
Kriege und jeder Deutsche sei ein Schuft, ohne Zweifel bei den Feinden die
Kraft zum Durchhalten und zum Siege gestärkt. Man wird solche Illusionen
nicht notwendig als Ausfluß krankhafter Veranlagung ansehen können, ob-
wohl hysterisch veranlagte Personen ihnen am stärksten ausgesetzt sind.
Es ist eine bekannte Erfahrung, daß starke Suggestivkraft in der
Regel mit Neigung zu Autosuggestionen einhergeht. Hysterisch Veranlagte
können sich und andern ungeheure Versprechungen machen, öfter ohne alle
Worte und ohne klares Bewußtsein. Hysterisch veranlagte Demagogen ver-
danken ihre Erfolge zum guten Teil der Fähigkeit, „an ihre eigenen Lügen
zu glauben". Die Seele der Massen reagiert analog wie die des hysterischen
Individuums. Wenn der einzelne Mensch sieht, daß andere seine Illusionen
nicht teilen, so ist das sehr heilsam für seine Selbstbesinnung. Wenn aber
gemeinsame Not oder gemeinsame Begehrlichkeit in Vielen zugleich solche
Illusionen entstehen laßt, so empfindet der Einzelne die Übereinstimmung
mit den andern als Bestätigung und Rechtfertigung seiner Illusionen und
läßt ihnen die Zügel, schießen. Auf diese Weise verstärken sich die Wunsch-
illuslonen der Vielen gegenseitig, bis schließlich alle Hemmungen fallen.
Es wäre aber einseitig und folglich falsch, anzunehmen, daß nur schäd-
liche Massenüberzeugungen auf diese Weise Zustandekommen könnten. Auch
gesunde, d. h. erhaltungsgemäße religiöse, weltanschauliche, moralische
Überzeugungen können sich auf diesem irrationalen Wege ausbreiten. Sic
wenden sich an die Fähigkeit, nicht zu sehen und doch zu glauben. Die
Wunschbestimmbarkeit als Fähigkeit, Dinge zu sehen, wie sie nicht sind, ist
eine Grundlage der Liebe, der Moral, der Religion und der Kunst. Liebe,
Glaube, Hoffnung gelten als die höchsten Kräfte der Seele. Und über das
Schicksal der Religionen bzw. Weltanschauungen entscheidet die natürliche
Auslese. Nur die, welche dem Leben der Rasse dienen, bleiben auf lange
Dauer erhalten. Und so konnte eine normale Wunschbestimmbarkeit, die
zum Glauben befähigt, gezüchtet werden. Unter diesem Gesichtspunkt er-
scheint die hysterische Veranlagung als eine krankhafte Steigerung einer
an und für sich normalen seelischen Reaktionsmöglichkeit.
Die bestimmenden Wünsche, die zu hysterischen Reaktionen Anlaß
geben, können sehr verschieden sein, je nach Umständen und sonstiger
550 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Veranlagung. Oft sind es erotische Wünsche; von den ,, Psychoanalytikern"
ist aber die Erotik viel zu einseitig in den Vordergrund geschoben worden.
Sic steht nur in satten Zeiten im Mittelpunkt der menschlichen Wünsche.
Während des großen Krieges war der Lebenstrieb bzw. die Todesfurcht die
Hauptcjuclle der Hysterie. Mit dem Geschlechtstrieb und dem Lebenstrieb
wetteifert der Geltungstrieb in der Hervorbringung hysterischer Erscheinun-
gen. Hysterisch Veranlagte verfallen auf die sonderbarsten Mittel, um Auf-
sehen zu erregen und sich mit einem besonderen Nimbus zu umgeben. Es
sind mehrere Fälle berichtet worden, wo eine „stigmatisierte Jungfrau" die
Wundmale Christi darbot. Die großen Versprechungen, die hysterisch Ver-
anlagte sich und andern mit oder ohne Worte machen, werden in der Regel
natürlich nicht erfüllt. Sie pflegen über immer neue Anläufe, große Worte
und Gesten nicht hinauszukommen, sind aber auch nie um eine Ausrede
verlegen und verstehen es meisterhaft, die Schuld auf andere abzuwälzen
und ihre Schwäche zu verbergen. Durch Anwandlungen von Gewalt-
tätigkeit, durch Aufbrausen und Halsstarrigkeit wird Charakterstärke vor-
getäuscht. Das ganze Leben der hysterisch Veranlagten hat etwas Thea-
tralisches; man könnte von einer Psychologie des „Ms Ob" reden,
Menschen, denen sie gut bekannt sind, können die Hysteriker natür-
lich auf die Dauer nicht imponieren. So entsteht die „unverstandene"
Frau und der Prophet, der in seinem Vaterlande nichts gilt. Wenn die
hysterische Veranlagung mit bösartigem Charakter verbunden ist, so ent-
steht hysterischer Haß gegen die eigenen Angehörigen oder gegen den
eigenen Staat. Den Menschen, die ihre Illusionen nicht teilen, wird die
Schuld zugeschoben, daß die Illusionen bisher nicht verwirklicht werden
konnten.
Die Erforschung der Erbbedingtheit der hysterischen
Veranlagung begegnet besonderen Schwierigkeiten. In gro-
ben Fällen ist die Erkennung einer Hysterie zwar einfach; in
vielen andern ist die Aufdeckung der Wunschbedingtheit einer
krankhaften Erscheinung aber schwierig und oft nur aus der
ganzen Lebensbewährung bzw. aus der Art des Versagens ge-
genüber den Forderungen des Lebens möglich. Es liegt auf der
Hand, daß Familienanamnesen und Aussagen Dritter in dieser
Hinsicht unzuverlässig sind. Medow 1 ) hat in einigen Fällen
von Hysterie direkte gleichartige Vererbung der zugrunde-
liegenden Konstitution feststellen zu können geglaubt. Krau-
lis 2 ) hat einerseits Sippen von Hysterikern, die sozial geschei-
tert, kriminell oder anstaltsbedürftig waren, erforscht und
andererseits Sippen von Individuen, die nur gelegentlich hyste-
rische Reaktionen darboten. Von den Geschwistern der sozial
gescheiterten Hysteriker war rund ein Sechstel ebenfalls sozial
abnorm und ein Drittel leichtere Psychopathen. Von dieser
1 ) Medow, W. Zur Erblichkeitsfrage in der Psychiatrie. Zeitschrift
für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 26. S. 493. 1914-
2 ) Kraulis, W. Zur Vererbung der hysterischen Reaktionsweise. Zeit-
schrift für Neurologie. Bd. 136. S. 174. 1931.
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 551
psychopathischen Hälfte der Geschwister wiesen zwei Fünftel
hysterische Reaktionen auf. Von den Eltern war ein Drittel
ebenfalls sozial abnorm und ein weiteres Drittel leichtere_ Psy-
chopathen. Von 7 0/0 der Eltern wurden hysterische Reaktionen
berichtet, was natürlich nur eine Mindestzahl ist. Die Gruppe
der Individuen mit nur gelegentlichen hysterischen Reaktionen
war viel weniger familiär belastet.
Da wunschbestimmte Reaktionen ihrer Möglichkeit nach auch in der
normalen Erbmasse angelegt sind und die Versuchung zu hysterischer Flucht
in die Krankheit besonders dann entsteht, wenn jemand einer Aufgabe nicht
gewachsen ist, so wirken allerlei seelische und auch körperliche Schwächen
disponierend für hysterische Reaktionen. Das gilt z.B. von der zykloiden Ver-
stimmung, der schizoiden Affektlahmheit, der epileptischen Psychopathie,
ganz besonders aber vom Infantilismus, der Neurasthenie und dem Schwach-
sinn. Bei urteilsschwachen Personen treten hysterische Zustände häufiger
und plumper als bei einsichtigeren in die Erscheinung, weil bei einer ge-
wissen Selbstkritik manches doch als unmöglich durchschaut wird. So ent-
steht die häufige Kombination von Schwachsinn mit Hysterie. Bei hochbe-
gabten Personen ist die hysterische Mimikry andererseits um so feiner und
raffinierter. Das spricht dafür, daß es auch spezieile Anlagen gibt, die
abnorme Wunschbestimmbarkeit bedingen. Andererseits liegt jede Neigung,
auf Kosten anderer Vorteile zu erreichen, in der Richtung der Hysterie.
Man hat von einem , .hysterischen Charakter" gesprochen. Es ist aber eigent-
lich nicht die Hysterie, die zu asozialem Verhalten führt, sondern der asoziale
Charakter, der zur Hysterie führt. Im übrigen sind keineswegs alle Hyste-
riker bösartig von Charakter; es gibt mindestens ebenso viele gutmütig-
schwache Charaktere, die in Lagen, denen sie nicht gewachsen sind, aus
einer Art Notwehr hysterisch reagieren.
Hysterie wird mehrfach so häufig im weiblichen als im männlichen
Geschlecht beobachtet. Das hängt mit dem verschiedenen Charakter der
Geschlechter zusammen. Der Mann, wenigstens der männliche Mann, sucht
das Leben durch eigene Leistung zu meistern. Auch die normale, instinkt-
sichere Frau wird nicht hysterisch. Aber Krankheitsnachahmung als Mittel,
den Willen durchzusetzen, Hegt eben doch für das weibliche Geschlecht näher
als für das männliche. Im übrigen haben die Erfahrungen des Weltkrieges
gezeigt, daß viel mehr Männer zu hysterischen Reaktionen fähig sind als
man früher annahm. Es sind natürlich hauptsächlich unmännliche und un-
soziale Männer.
Bei Juden scheint Hysterie wesentlich häufiger als bei Germanen vor-
zukommen 1 ); das dürfte damit zusammenhängen, daß die Juden im Durch-
schnitt einen weniger ausgesprochen männlichen Charakter haben. Unter
den gewöhnlich weich und passiv veranlagten Russen habe ich Hysterie
häufiger als unter Juden beobachtet. Auffallend häufig ist aber Krankheits-
furcht (,, Nosophobie") und Hypochondrie unter den Juden; auch melan-
cholische Zustände bei Juden sind nach Lange auffallend oft hypochon-
drisch gefärbt.
!) Gutmann, M. J. Die Rasse- und Krankheitsfragc der Juden.
München, Müller u. Steinickc 1920.
552 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Unterbewußte Wünsche als Quelle der hysterischen Reaktionen hat zuerst
der jüdische Psychiater Freud gelehrt. Er hat in der „Psychoanalyse"
auch eine wirksame (wenn auch nicht unbedenkliche) Art der Behandlung
hysterischer Zustände gefunden. Wenn es gelingt, den hysterisch Kranken
zu überzeugen, daß die Krankheitserscheinungen nur aus unterbewußten
Wünschen entsprungen sind, so ist ihnen damit eben ihre Grundlage ent-
zogen, und sie verschwinden, natürlich aber nicht die hysterische Veranla-
gung als solche. Es war ein raffinierter Gedanke Freuds, den Hysterikern
zu sagen, daß sie in der Triebbefriedigung zu kurz gekommen seien; das
leuchtet ein; und tatsächlich entspringen die hysterischen Krankheitserschei-
nungen und sonstigen Mätzchen ja aus unbefriedigter Triebhaftigkeit; der
Hysteriker sucht eben auf diesem Wege seine Wünsche durchzusetzen. Die
Bedeutung der erblichen Veranlagung für die Hysterie ist von Freud
und seinen Nachfolgern nicht gebührend gewürdigt worden. Ihrer ganzen
psychologischen Struktur nach ist die „Psychoanalyse" zu einseitig auf
Umweltwirkungcn, speziell psychische Erlebnisse, als Ursachen eingestellt.
Da nun die Erlebnisse des späteren Lebens nicht ausreichten, die hyste-
rische Veranlagung, die offensichtlich bei manchen Personen viel stärker
als bei andern ist, zu erklären, so suchte man nach einem „psychischen
Trauma", einem schädigenden Erlebnis in früher Jugend; und da man
danach suchte, so fand man es auch meist, und zwar gewöhnlich in irgend-
einem geschlechtlichen oder doch ins Geschlechtliche gedeuteten Erlebnis.
Tatsächlich aber dürfte es sich bei derartigen Kindheitserlebnissen meist
nur um die erste Auslösung einer Anlage handeln, die ohnehin über kurz
oder lang durch andere Gelegenheitsursachen ausgelöst worden wäre und
deren eigentliche Ursache noch viel weiter zurück, nämlich in der Erb-
masse liegt.
Besonders hartnäckig geleugnet werden die erblichen Unterschiede der
Veranlagung von dem ebenfalls jüdischen Nervenarzt Adler, Begründer
der sogenannten „Individualpsychologie", einer Untersekte der „Psycho-
analyse". Adler führt die neurotischen Zustände hauptsächlich auf „Ent-
mutigung" zurück, und daran ist insofern etwas Wahres, als das Gefühl
eigener Unzulänglichkeit zu hysterischem Verhalten disponiert. Tatsächliche
Unzulänglichkeit aber kann durch „Mutfassen" natürlich nicht beseitigt wer-
den. Durch die Anerkennung der Erbbedingtheit der meisten Unzulänglich-
keiten würde die „Psychoanalyse" bzw. die „Individualpsychologie" stark
an Boden verlieren.
Es ist zu hoffen, daß der Sieg der nationalsozialistischen Weltanschau-
ung, die das Starke und Gesunde wertet und der Krankheit und Schwäche
als wertfeindlich gelten, eine Abnahme der Hysterie als einer unbewußten
Krankheitsnachahmung zur Folge haben wird.
Die Neurasthenie oder 'Nervosität besteht in einer
abnorm starken seelischen Ermüdbarkeit und damit zusammen-
hängenden abnorm starken Reizbarkeit. Da es sich um eine
seelische Anomalie handelt, wäre der von Koch 1 ) eingeführte,
später von Janet leider in engerem Sinne gebrauchte Aus-
druck Psychasthenie eigentlich treffender. Der Name
r ) Koch, J. L. A. Die psychopathischen Minderwertigkeiten. Ra-
vensburg 1891—93.
ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 553
Neurasthenie ist aber schonender, höflicher und darum ge-
bräuchlich, Im Gegensatz zu der als Schwachsinn bezeichneten
Geistesschwäche handelt es sich bei der Neurasthenie um eine
seelische Schwäche ganz anderer Art. Die geistige Regsamkeit
pflegt überdurchschnittlich zu sein, aber die Ausdauer ist ge-
ring. Gewöhnlich wird zwischen einer konstitutionell bedingten
Nervosität und einer durch Überanstrengung erworbenen Neur-
asthenie unterschieden; in beiden Fällen wirken aber die erb-
liche Veranlagung und äußere Ursachen zusammen. Wenn
schon durch die gewöhnlichen Anstrengungen des Berufslebens
nervöse Erschöpfung ausgelöst wird, so ist die erbliche Anlage
praktisch wichtiger, wenn dagegen erst durch außergewöhnlich
aufreibende Anstrengungen und Sorgen diese äußeren Ursachen.
In der Regel sind die einzelnen nervösen Erschöpfungszustände, die
auf dem Boden neurasthenischer Veranlagung durch Überarbeitung ent-
stehen, in kurzer Zeit der Erholung wieder vollständig ausgleichbar. Ande-
rerseits scheint durch dauernde Überarbeitung auch konstitutionelle Neur-
asthenie entstehen oder mindestens verstärkt werden zu können. Es ist
freilich erstaunlich, welches Maß an 'geistiger Arbeit manche Menschen
leisten können, ohne neurasthenisch zu werden.
Die konstitutionelle Grundlage der Neurasthenie kann auf zwei ver-
schiedene Arten gedacht werden. Einerseits kann der Vorrat geistiger Energie
gering sein, wobei unter Energie die Fähigkeit, Arbeit zu leisten, verstanden
ist. Andererseits kann die geistige Energie, auch wenn sie in normaler
Menge vorhanden ist, zu leicht verausgabt werden; die Stoffe, aus denen das
Zentralnervensystem die Energie seiner Arbeit bestreitet, können gleichsam
zu schnell verbrennen. Mittel, die den Ablauf seelischer Vorgänge hemmen
(z. B. Brom), können daher Erleichterung bringen, während anregende Mit-
tel fz. B. Kaffee) die Erschöpfung beschleunigen. Geistig regsame Menschen
sind leichter der Neurasthenie ausgesetzt als geistig trage. Neurastheniker
sind zum Teil zu glänzenden Leistungen befähigt, aber ohne Ausdauer. Ihre
Leistungen sind einem Feuerwerk vergleichbar, das rasch abbrennt. Bei
körperlicher Schwäche führt geistige Anstrengung leichter zu nervöser Er-
schöpfung als bei robustem Körperbau. Daher zeigen Neurastheniker oft
asthenischen Körperbau.
Neurasthenische Veranlagung beeinträchtigt das Wohlbefinden im
Leben schwer, zumal wenn geistige Überarbeitung zu quälender Schlaflosig-
keit führt, die ihrerseits die Erholung hindert. Im Leben vieler Neurasthe-
niker liegt eine schmerzliche Tragik darin, daß sie infolge ihrer sonstigen
Begabung und geistigen Regsamkeit sich zu Aufgaben berufen fühlen, denen
sie infolge ihrer leichten Erschöpfbarkcit doch nicht gewachsen sind.
Rund ein Drittel der Neurastheniker stammt von ebenfalls
neurasthenischen oder sonst psychopathischen Eltern ab. Wenn
die seelische Beschaffenheit der Eltern immer genau bekannt
wäre, so würde man vermutlich zu noch höheren Zahlen kom-
men. Neurasthenie kommt so ausgesprochen sippenweise vor,
daß die Beteiligung dominanter Erbanlagen naheliegt.
554 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
Wie schon bei Besprechung" der Hysterie kurz erwähnt wurde, dispo-
niert das neurasthenische Gefühl des Unvermögens gegenüber den Anfor-
derungen des Lebens und die tatsächliche seelische Schwäche der Neur-
astheniker zur hysterischen Flucht in die Krankheit. Auf diese Weise ent-
steht das Bild der „Hysteroneurasthcnic". Unter den Ncurasthcnikcrn in
ärztlicher Behandlung sind viel mehr Männer als Frauen. Die stärkeren
Anforderungen, die das Leben an die geistige Leistungsfähigkeit des Mannes
zu stellen pflegt, lassen eine abnorme Ermüdbarkeit bei ihm offenbar häu-
figer in die Erscheinung treten. Andererseits entspricht die hysterische
Flucht in die Krankheit weniger dem. Charakter und der sozialen Lage des
Mannes. Daher können eventuell dieselben Erbanlagen im männlichen Ge-
schlecht 211 Neurasthenie, im weiblichen zu Hysterie führen.
Ein ähnlicher Zusammenhang scheint zwischen Epilepsie und Hysterie
zu bestehen. Kraul is hat unter den nächsten Verwandten der Hysteriker
fast cbcnsoviele Epileptiker gefunden wie unter denen der Epileptiker; und
umgekehrt hat L u x c n b u r g e r unter den Geschwistern der Epileptiker
rund achtmal so viele Hysteriker als im Durchschnitt der Bevölkerung ge-
funden. Möglicherweise besteht zwischen epileptischen und hysterischen
Krämpfen doch mehr als eine bloß äußerliche Ähnlichkeit. Es ist denkbar,
daß eine erbbedingte motorische Erregbarkeit bzw. Krampf bereit schaft im
Zusammentreffen mit gewissen andern Anlagen zu epileptischen, im Zu-
sammentreffen mit wieder andern zu hysterischen Krämpfen führt. So mag
ein epileptoider Psychopath durch seine physische Krampfbereitschaft auch
zu hysterischen Krämpfen disponiert sein („Hysteroepilcpsic").
Schneider 1 ), der das Vorkommen epileptoider Psychopathen be-
streitet, hat eine besondere Gruppe als explosible Psychopathen unterschie-
den. K ehre r 2 ) sieht auch die sogenannte „Affektepilepsie" oder die Affekt-
krämpfe als Äußerung einer derartigen seelischen Übererregbarkeit an.
Sommer 3 ) hat auf das familienweise Vorkommen solcher Veranlagungen
hingewiesen.
Die Zwangsneurotik e r , denen sich gewisse Vor-
stellungen aufdrängen und wider bessere Einsicht behaupten,
z. B. eine bestimmte verbotene Handlung begehen zu müssen,
ohne sie doch tatsächlich zu begehen, gehören nach Luxen-
burgers Untersuchungen in den Formenkreis der schizoiden
Psychopathie. Piltz 4 ), Stock er 5 ), M eggendo r f e r 6 ) ha-
*) Schneider, K. Die psychopathischen Persönlichkeiten. In Aschaf-
fenburgs Handbuch der Psychiatrie Abt. 7. Teil 1. Leipzig und Wien 1923.
2 ) Kehr er, F. und Kretschmer, E. Die Veranlagung zu seeli-
schen Störungen. Berlin 1924. J. Springer.
3 ) Sommer, R, Familienforschung und Vererbungslehre. 2. Aufl.
Leipzig 1922. J. A. Barth.
4 ) Piltz, J. Über homologe Heredität bei Zwangsvorstellungen. Zeit-
schr. f.d. ges. Neur. Bd. 43. S. 134. 1918.
5 ) Stocket. Über Genese und klinische Stellung der Zwangsvorstel-
lungen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. Bd. 23. S. 121. 1914.
e ) Meggeudorfer, F. Über spezifische Vererbung einer Angst-
und Zwangsneurose. Zentralbl. f. d. ges. Neurologie und Psychiatric. Bd. 30.
S. 221. 1922.
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 555
ben die Anlage zu Zwangsvorstellungen durch mehrere Gene-
rationen verfolgen können. Verwandt damit ist auch die Angst -
neurose, die sich in unbegründeter aber unbezwinglichcr Angst
vor bestimmten Dingen oder Vorgängen äußert, z. B. vor dem
Überschreiten eines freien Platzes („Platzangst") oder vor
Menschen oder vor dem Alleinsein in geschlossenen Räumen.
Die willenlosen Psychopathen (Schneider),
von Kraepelin als PI altlose bezeichnet, sind charakter-
schwache, leicht und wechselnd beeinflußbare Menschen. S om-
ni er bemerkt, daß starke psychische Beeinflußbarkeit in man-
chen Familien einen hervorstechenden Charakterzug bildet. Es
scheinen Beziehungen zur hysterischen Veranlagung zu bestehen.
Die Gruppe der gelt ungsbe dürftigen Psychopathen bei
Schneider fällt weitgehend mit der der hysterisch veranlagten zusammen,
bei denen ich das „Geltungsbedürfnis" als treibende Kraft hervorgehoben
hatte (1921).
Die ge mutlosen Psychopathen sind durch Mangel
des Mitgefühls mit andern Menschen gekennzeichnet. Bleuler 1 )
hat bei Gemütlosen regelmäßig gleichartige Belastung gesehen.
Diese und andere geistige Anomalien bedeuten zugleich
eine erbliche Veranlagung zu Verbrechen. Unter
Verbrechern verschiedener Art findet sich ein großer Teil
schizoider Psychopathen. Schizophrene begehen gelegentlich
kaltherzige Grausamkeiten oder sinnlose Gewalttaten ; man
pflegt unzurechnungsfähige Geisteskranke zwar nicht als Ver-
brecher, sondern eben als Kranke anzusehen; eine scharfe
Grenze gibt es aber nicht. Paranoiker werden gelegentlich in
der Verteidigung gegen eingebildete Verfolgung kriminell. Pa-
ranoide Psychopathen werden nicht selten zu Überzeugungs-
verbrechern aus politischen oder religiösen Gründen. Die Epi-
leptiker sind in hohem Maße an Gewalttätigkeiten beteiligt.
Geltungsbedürftige Hysteriker stellen einen großen Teil der
Schwindler und Hochstapler 2 ). Schwachsinnige kommen leicht
zu Verbrechen, weil sie die Folgen ihres Tuns nicht genügend
voraussehen können. Gemütlosigkeit und Anomalien des Trieb-
lebens führen daher besonders leicht zu Verbrechen, wenn sie
mit Schwachsinn verbunden sind. Nach einer Untersuchung
von Williams 3 ) an 470 männlichen Jugendlichen, die mit
a ) Bleuler, E. Lehrbuch der Psychiatrie. Berlin. J. Springer.
s ) Vgl. v. Baeyer, W. Zur Genealogie psychopathischer Schwindlcr
und Lügner, Leipzig 1935. Thieme.
a ) Williams, J. H. The intclligence of l:he dclinquent boy. Jour-
nal of Delinquency, Monograph Nr. 1. Whittier (Col.) 1919.
556 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN
dem Gesetz in Konflikt gekommen waren, waren 300/0 davon
ausgesprochen schwachsinnig; und auch der Rest zeigte eine
deutlich geringere Intelligenz als andere Jugendliche gleichen
Alters. Williams sieht in der mangelnden Einsicht geradezu
die Hauptursache ihres gemeinschädlichen Verhaltens. Auch
Goddard hat sich in seiner Studie über die Debilensippe
Kallikak in diesem Sinne geäußert. J. Lange hat mittels
Intelligenzpriifungen an Zuchthausgefangenen festgestellt, daß
Rückfälle um so häufiger sind, je geringer die Intelligenz ist.
Andererseits gibt es freilich auch gewisse Arten von Verbre-
chen, z. B. raffinierte Betrügereien und Hochstapeleien, die ein
großes Maß von Klugheit erfordern. Man erinnere sich an den
Fall des schwedischen Zündholzkönigs Kreuger und den des
französisch -jüdischen Großbankiers Stavisky. In solchen Fäl-
len darf man auf einen stark asozialen Charakter schließen.
Im übrigen zeigt die Erfahrung des Lebens, daß die Neigung
zur Erringung von Vorteilen auf Kosten anderer oder der Ge-
meinschaft sehr verbreitet ist und daß viele derart Veranlagte
sich nur wegen der sonst zu befürchtenden persönlichen Fol-
gen veranlaßt sehen, einigermaßen im Rahmen des Erlaubten
zu bleiben.
Ein großer Teil aller Vergehen wird unter dem Einfluß
des Alkohols begangen; und* da zum Zustandekommen des Al-
koholmißbrauchs mancherlei krankhafte Seelenverfassungen
beitragen können, wirkt auch auf diesem Wege die erbliche Ver-
anlagung mit. Zykloide Psychopathen hyperthymischer Färbung
neigen zu Vergehen aus Leichtsinn. Nicht selten sind haltlose
Psychopathen, die ohne eigentlich bösartig zu sein, hingegeben
dem unmittelbaren Sinneseindruck einfach ihren jeweiligen
Triebregungen folgen, die z. B. einfach alles stehlen, was ihnen
gerade begehrenswert erscheint, die keinen Sinn für Wahrheit
haben und die auch ihren geschlechtlichen Regungen ohne
Rücksicht auf die Folgen nachgehen. Erziehbar sind solche In-
dividuen wenig oder gar nicht. Andererseits stellt die Gruppe
der gemütlosen Psychopathen „geborene Verbrecher", denen
ohne sonstige Geistesstörung eine grenzenlose Gemütsroheit
eigen ist und deren Leben von Verbrechen und Freiheitsstrafen
mehr oder weniger ausgefüllt zu werden pflegt. Selbstverständlich
erwächst diese, glücklicherweise nicht häufige, schwere seelische
Abnormität im wesentlichen aus der erblichen Veranlagung.
Man hat vielfach von einem besonderen „m oraiischen Irresein"
(auch „moralischen Schwachsinn" oder „moral insanity") gesprochen. Der
ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 557
Begriff des „Moralischen" ist indessen zur biologischen Abgrenzung einer
besonderen Art von Geistesstörung nicht geeignet. Ein großer Teil dessen,
was man so genannt hat, gehört nach M c g g en d o r f e r ins Gebiet der
schizoiden Psychopathie bzw. der Schizophrenie. Im übrigen können biolo-
gisch recht verschiedene geistige Anomalien zum Verbrechen führen. Das
Wort „moral insanity" ist nach Schneider zuerst von Prichard
('835) gebraucht worden, und zwar sollte es im Gegensatz zu „intellectual
insanity" krankhafte Störungen des Gemüts und Charakters bezeichnen,
also durchaus nicht nur „moralisches Irresein" in dem später diesem Worte
untergelegten Sinne. Das Wort „moral" im Englischen bedeutet ja nicht
dasselbe wie das Wort „moralisch" im Deutschen.
Die Erbbedingtheit des Verbrechens ist schla-
gend auf dem Wege der Zwillingsforschung aufgezeigt wor-
den, j. Lange 1 ) hat im Jahre 1929 eine epochemachende
Arbeit unter dem Titel „Verbrechen als Schicksal" veröffent-
licht. Er verfügte über die Lebensgeschichte von 13 Paaren
eineiiger und 17 Paaren zweieiiger Zwillinge gleichen Ge-
schlechts, von denen mindestens einer kriminell geworden war.
Unter den eineiigen waren bei 10 Paaren beide Zwillinge Ver-
brecher, bei 3 Paaren nur der eine, unter den zweieiigen da-
gegen nur bei 2 Paaren beide, bei 15 nur einer. Eher noch ein-
drucksvoller ist der Vergleich der Lebensgeschichten der Zwil-
linge. Bei den eineiigen Zwillingen waren auch Art, Umfang
und Zeit der verbrecherischen Betätigung ganz auffallend ähn-
lich. In zwei von den drei Fällen, wo nur der eine von zwei ein-
eiigen Zwillingen verbrecherisch' geworden war, war dieser
von einer groben Hirnschädigung betroffen worden. Unter-
schiede der seelischen und der sozialen Umwelt dagegen er-
gaben keine wesentliche Verschiedenheit des Verhaltens in
krimineller Beziehung.
Legras 2 ) fand 4 Paare eineiiger Zwillinge konkordant kriminell,
5 Paare zweieiiger sämtlich diskordant. Kranz 3 ) fand von 27 eineiigen
Paaren 17 konkordant und 10 diskordant, von 37 gleichgeschlechtigen zwei-
eiigen 18 konkordant und 19 diskordant. Der Unterschied gegenüber den
Befunden Langes erklärt sich daraus, daß Langes Material haupt-
sächlich Rückfallvcrbrecher, jenes von Kranz dagegen mehr einmalige
Rechtsbrecher ■enthalt, bei denen die Erbanlage nicht im gleichen Maße
entscheidend ist.
Stumpfl 4 ) fand unter den Brüdern von Rückfallver-
brechern über ein Drittel ebenfalls straffällig, unter den Brü-
') Lange, "f. Verbrechen als Schicksal. Leipzig 1929. G. Thieme.
sVA.a. O.vgl.S. 535-
3 ) Kranz, H. Die Kriminalität bei Zwillingen. Zeitschrift für induk-
tive Abstämmlings- und Vererbungslehre. Bd. 67. S. 308. 1934.
4 ) Stumpfl, F. Erbanlage und Verbrechen. Zeitschrift für die ge-
samte Neurologie, Bd. 145. LI. 1/2, S. 283. 1933.
558
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
dem einmaliger Vertreter dagegen nur io% ; auch war der An-
teil der rückfälligen unter den verbrecherischen Verwandten
der Rückfallvcrbrecher größer als unter denen der einmaligen.
Fctsclier 1 ) fand unter den Geschwistern von Sexualverbrechern
einen erhöhten Hundertsatz von Kriminellen, insbesondere wieder Sexual-
verbrechen!. R a t h 3 ) hat in einer Anzahl Sippen verbrecherische Veran-
lagung durch mehrere Generationen verfolgen können. Einige große Ver-
brecher- und Vagabundensippen, die in der rassenbiologischen Literatur be-
schrieben worden sind (Jukc, Zero, Markus u. a.) sind ebenso wie die schon
erwähnte Sippe Kallikak mehr unter dem Gesichtspunkt der sozialen Aus-
lese als der Erblichkeit von Interesse; über diese wird daher im zweiten
Bande berichtet. Dasselbe gilt von der erblichen Belastung entgleister Ju-
gendlicher, die von G r u h 1 e , L u n d und andern studiert worden ist.
An den meisten Verbrechen sind Männer viel mehr als Frauen beteiligt,
insbesondere an Mord, Körperverletzung, Betrog. Das liegt offenbar zum Teil
an der aktiveren Natur des Mannes, zum Teil aber auch an seiner stärkeren
Beteiligung am Berufsleben, die eine größere Versuchung mit sich bringt.
Der Psychiater Aschaf f cnburg 1 ') hat die biologischen Ursa-
chen des Verbrechens zusammenfassend dargestellt; und Birnbaum 1 )
hat die psychopathischen Verbrecher geschildert. Besonders verwiesen sei
auch auf die gründliche Studie von Stumpf! 6 ).
Zu den Psychopathien sind auch die Anomalien der
geschlechtlichen Triebe zu rechnen. Krankhafte Stärke
des Begattungstriebes kommt deutlich familienweise vor, an-
dererseits auch abnorme Schwäche oder völliges Fehlen. Die
wichtigste Anomalie des Fortpflanzungstriebes ist die soge-
nannte H omosexualität, bei der sich die geschlechtli-
chen Triebe auf Personen des gleichen Geschlechts richten.
In einem Teil der Fälle ist diese wohl als Äußerung geschlecht-
licher Zwischenstufen 6 ) (vgl. S. 403) aufzufassen, da bei homo-
sexuellen Personen sich auch in der körperlichen Erscheinung
häufiger als bei andern Anklänge an das andere Geschlecht
zeigen. Bei einem größeren Teil ist aber gerade der Gegen-
satz zwischen der körperlichen Ausstattung und der seelischen
Triebrichtung auffallend. Zum Teil scheint Homosexualität auch
1 ) E c t s c h e r , R. Erbbiologische Studien an Sexualverbrechen!.
ARGE. Bd. 17. II. 3. S. 256.
s ) R a t h , C. Über die Vererbung von Dispositionen zum Verbrechen.
Stuttgart 1 9 1 4.
3 ) Aschaffenburg, G. Das Verbrechen und seine Bekämpfung.
3. Aufl. Heidelberg 1923.
4 ) Birnbaum, K. Die psychopathischen Verbrecher. 2. Aufl. Leipzig
1926. Thieme.
5 ) Stumpft, F. Erbanlage und Verbrechen. Berlin 1935. Springer.
G ) Goldsch m i d t , R. Die biologischen Grundlagen der konträren
Sexualität und des Hermaphroditismus beim Menschen. ARGB. Bd. 12.
H. r. 19 r 6.
ERBL. GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 559
durch Verführung, Beispiel und Gewöhnung entstehen oder
doch verstärkt und befestigt werden zu können, zumal auf dem
Boden psychopathischer Bestimmbarkeit und Haltlosigkeit. Die
Erlebnisse in der Zeit der Pubertät scheinen hier von erheb-
lichem Einfluß zu sein. Nicht wenige jugendliche beiderlei
Geschlechts haben in diesem Alter gleichgeschlechtliche Nei-
gungen (schwärmerische Freundschaften, Schwärmen vonMad-
chen für Lehrerinnen) ; aber nur bei einem kleinen Teil von die-
sen kommt es zu einer dauernden Fixierung der Neigung zum
gleichen Geschlecht. Die meisten Jugendlichen haben von vorn-
herein eine klare Neigung zum andern Geschlecht. Schließlich
aber gibt es einen glücklicherweise kleinen Hundertsatz, der
ebenso eindeutig von vornherein auf das gleiche Geschlecht
eingestellt ist ; es mögen vielleicht 2 0/0 in beiden Geschlechtern
sein, Anderweitige Psychopathie (Hysterie, schizoide Psychopa-
thie) ist bei Homosexuellen häufig; bei einem Teil von ihnen
ist die Gleichgeschlechtlichkeit aber die einzige Anomalie 1 ). Als
normale Variante, wie ihre Verteidiger es wollen, kann diese
aber natürlich nicht angesehen werden, da sie der Erhaltung
der Rasse widerstreitet Daß familiäre Häufung nur verhält-
nismäßig selten beobachtet 2 ) worden ist, kann an der Schwie-
rigkeit der Feststellung dieser als Laster geltenden Veranla-
gimg liegen. Auch Zwillingsuntersuchungen in dieser Richtung
sind schwierig, jedenfalls meint auch der Psychiater Keh-
rer 3 ): „An dem Vorkommen einer isolierten Perversion des
Geschlechtstriebes, die ausschließlich durch die Keimanlage
bedingt ist, meist von der Pubertät und mehr oder minder un-
abhängig von psychogenen Einflüssen der Umwelt zum Durch-
brach kommt und zeitlebens bestehen bleibt, kann wohl nicht
mehr gezweifelt werden,"
Ein ,,E n t a r t u n g s i r r e s e i n" läßt sich ebensowenig wie ein „mo-
ralisches Irresein" als besondere Geisteskrankheit aufrechterhalten 4 ). Wes-
halb z. B. die Schizophrenie oder die Epilepsie nicht zur Entartung gehören
sollten, ist nicht ersichtlich. Gegen den Begriff eines ,, Entartungsirreseins"
gelten dieselben Gründe wie gegen den Begriff des ,, Status degenerativus"
und den der „Heredodegeneration" als biologischer Einheit (vgl. S. 419).
1 ) Kronfeid, A. Sexualpsychopathologie. In Aschaffenburgs Hand-
buch der Psychiatrie. Leipzig und Wien 1923.
3 ) Piltz, J. Homologe Vererbung der Homosexualität. Ref. im Zen-
tralbl. f. d. gesamte Neurologie und Psych. Bd. 26. S. 76. 1921.
3 ) K e h r e r , F. Über Wesen und Ursachen der PI omosexualität.
Deutsche med. Wochenschr. 1924. Nr. 19.
4 ) Vgl. Rüdin, E. Korreferat über „Degenerationspsychosen". Archiv
für Psychiatrie. Bd. 83. H. 2. S. 376 1928.
560
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Geistige Störungen oder Anomalien äußern sich gewöhn-
lich auch in körperlichen Zeichen, und zwar nicht nur in sol-
chen, die als Folgen der geistigen Störung zu betrachten sind
(Mienenspiel u. a.), sondern auch in körperlichen Anomalien
bzw. Entwicklungsstörungen. Bei der Besprechung des Schwach-
sinns wurde bereits auf die Kleinköpfigkeit und das disharmo-
nische Äußere der Idioten und Imbezillen hingewiesen. Darauf
beruht die Lehre von den Entartungszeichen. Es ist
zwar nicht möglich, in jedem einzelnen Falle aus der Erschei-
nung eines Menschen die Art seiner Geistesstörung zu erken-
nen; wenn aber die verschiedenen Geisteskranken einer An-
stalt gruppenweise gesondert würden, so würde niemand,
der einige psychiatrische Erfahrung hat, im Zweifel sein, wel-
ches die Gruppe der Schizophrenen, der Zyklophrenen, der
Epileptiker, der Idioten sei. Auch viele Psychopathen kann
man schon an ihrem Äußeren erkennen, z. B. in der Eisen-
bahn, auch wenn sie nicht das Haar lairg tragen oder durch
sonstige auffallende Aufmachung sich abzuheben suchen.
Man kann direkte und indirekte Entartungszeichen unterschei-
den. Ein direktes ist z. B. die Mikrokephalie, die mit Sicherheit
auf Schwachsinn zu schließen gestattet. Direkte Entar-
tungszeichen sind von denselben Erbanlagen abhängig,
die die krankhaften Geistesverfassungen bedingen. Dahin ge-
hören gewisse Mißbildungen des Auges, die an Zahl und
Schwere in demselben Maße zunehmen wie der geistige De-
fekt 1 ). Es ist indessenzu bedenken, daß ein Zusammenbestehen
eines körperlichen mit einem geistigen Defekt im Einzelfall
keine ursächliche Verknüpfung durch eine gemeinsame krank-
hafte Erbanlage beweist. Ein solches Zusammentreffen kann
natürlich in Einzelfällen auch zufällig sein. Weiter können auch
nichterbliche Fälle von Geistesschwäche mit Mißbildungen des
Auges, der Zähne oder anderer Organe einhergehen. Dieselben
äußeren Schäden, die auf früher Embryonalstufe die Entwick-
lung des Zentralnervensystems hemmen, können auch die des
Auges und anderer Organe stören. In solchen Fällen aber ist
die körperliche Anomalie kein wirkliches Entartungszeichen,
da Entartung sich immer nur auf die Erbmasse bezieht. Bei
den „Degenerationszeichen", die Curtius 2 ) und andere be-
i) Vgl. Gelpke, Th. Über die Beziehungen des Sehorgans zum
jugendlichen Schwachsinn. Halle 1904. C. Marhold.
z ) Curtius, F. Über Degeneraüonszeichen. Eugenik. Jahrgang 3.
H. 2. 1933.
ERBE GEISTESKRANKHEITEN U. PSYCHOPATHIEN. 561
schrieben haben, ist der Zusammenhang mit der Erbmasse oft
fraglich.
Indirekte Entartungszeichen sind solche, deren
Zusammenhang mit geistigen Defekten durch selektive Häu-
fung verschiedener Erbanlagen in derselben Erbmasse bedingt
Ist. Individuen mit entstellenden Fehlern oder Mißbildungen
werden hauptsächlich von ebensolchen und von geistig nicht-
vollwertigen Personen geheiratet. So kommt es, daß man auch
aus der Häufung körperlicher Mängel, die nicht von denselben
Erbanlagen abhängen wie geistige, mit einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit auf solche schließen kann, wenn auch natürlich
mit viel geringerer als im Falle direkten Zusammenhangs. Da
psychopathische oder sonst geistig minderwertige Menschen
meist keine vollwertigen Ehegatten bekommen und daher vor-
zugsweise untereinander heiraten, so entsteht auch eine Kor-
relation verschiedener psychopathischer Anlagen. Seelische
Anomalien können daher bis zu einem gewissen Grade auch
„Entartungszeichen" in bezug auf andere sein. Diese Häufung
von geistiger Minderwertigkeit in gewissen Sippen und Bevöl-
kerungsschichten wird im zweiten Bande im Zusammenhang
mit der sozialen Auslese näher besprochen.
Als besonders bedeutungsvoll hat sich eine von Kretsch-
mer 1 ) entdeckte Korrelation zwischen dem geistigen und dem
körperlichen Habitus erwiesen. Er hat durch zahlreiche Mes-
sungen belegt, daß unter den Geisteskranken der schizophre-
nen Gruppe der schlanke „leptosome" und der athletische Ha-
bitus weit überwiegen, daß die Kranken der zyklophrenen
Gruppe dagegen in der Regel von untersetztem „pyknischen"
Habitus sind. Die Schizophrenen haben ferner im Durchschnitt
kleinere Köpfe, schmalere Gesichter, stärker vorspringende
Nasen und kleinere Unterkiefer als die Zyklophrenen. Diese
Befunde sind seitdem allgemein bestätigt worden. Auch
die mit den genannten Hauptgruppen der Geistesstörun-
gen gleichgerichteten Psychopathien stehen nach Kr et Sch-
mer in Korrelation mit den entsprechenden Formen des
Habitus. Schließlich meint Kretschmer, diese Beziehun-
gen auch im Bereich, der normalen Charakterunterschiede ver-
folgen zu können. Er faßt die schizoiden Psychopathien mit
den in gleicher Richtung ausgeprägten nicht krankhaften Cha-
rakteren zu der Gruppe der schizothymen Charaktere zu-
2 ) Kretschmer, E. Körperbau und Charakter. 3. Aufl. Berlin
1925. J. Springer.
Baur-Fisclier-I,eiizl, 36
562 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
sammen, die zykloiden Psychopathien mit den entsprechenden
nicht krankhaften Charakteren zu der Gruppe der zyklo-
thymen Charaktere. Er hat aber selbst betont, daß die Men-
schen sich nicht etwa glatt in diese beiden Gruppen aufteilen
lassen. Selbstverständlich ist ein Mensch durch die Einordnung
in diese Gruppen nach Charakter und Temperament noch kei-
neswegs vollständig gekennzeichnet. So wenig wie man alle
Farben in die Reihe Schwarz-Weiß einordnen kann, so wenig
ist Entsprechendes auf dem Gebiete der seelischen Konsti-
tutionen möglich 1 ).
Die besprochenen Beziehungen zwischen Körperbau und seelischer
Eigenart sind vermutlich zum großen Teil durch die individuelle Besonder-
heit der inneren Sekretion bedingt. In diesem Zusammenhang sei darauf lim-
gewiesen, daß auch die Unterschiede der Geschlechter den Kretschm ersehen
Befunden entsprechen. Der Mann neigt körperlich mehr zu leptosomem
und athletischem Bau, seelisch zu schizothymem Charakter, das Weib kör-
perlich zu pyknischem Bau, seelisch zu zyklothymem Temperament, übri-
gens auch mehr zu zyklophrenen Störungen. Auch in den Unterschieden
der Lebensalter lassen sich entsprechende Beziehungen verfolgen. Kleine
Kinder zeigen mehr pyknischen Körperbau und zyklothyme Seelenverfas-
sung. In der Zeit der Pubertät nimmt der Körper mehr leptosome For-
men an; zugleich sind diese Jahre durch mehr schizothyme Seelenregungen
gekennzeichnet, und auch der Ausbruch schizophrener Psychosen fällt mit
Vorliebe in diese Zeit. Später nach der Mitte des Lebens ändert sich der
Körperbau wieder mehr in der Richtung auf den pyknischen Habitus, die
Seele in der Richtung auf zyklothyme Verfassung. Auch in den körperlichen
und seelischen Unterschieden der großen Rassen finden sich Anklänge an
diese Zusammenhänge, wovon weiter unten noch zu reden sein wird.
Alle krankhaften Erbanlagen müssen natürlich zu irgend
einer Zeit erstmalig entstanden sein. Man kann zwar gewisse
Krankheitsanlagen durch zahlreiche Generationen zurückver-
folgen, so z.B. die Nachtblindheit in einer Sippe durch mehr
als drei Jahrhunderte; rezessive Anlagen können auch schon
viele Generationen lang überdeckt, in einer Bevölkerung vor-
handen gewesen sein, ehe sie sich zum ersten Male äußern;
aber irgend wann einmal müssen auch sie natürlich neu ent-
standen sein. In der Erbmasse der ersten. Menschen sind selbst-
verständlich noch nicht alle jene erblichen Krankheit s anlagen
vorhanden gewesen, mit denen die gegenwärtigen Bevölkerun-
i ) Mayer-Groß, W. Grundsätzliches zur psychiatrischen Kon-
stitutions- und Erblichkeitsforschung. Zeitschrift für die gesamte Neuro-
logie und Psychiatrie. Bd. 100. H. 2/3. 1926.
DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 563
gen durchsetzt sind. Da biologisch kein Wesensunterschied
zwischen krankhaften und normalen Anlagen besteht, so ver-
halten sich die krankhaften Erbanlagen natürlich auch hin-
sichtlich ihrer Entstehung nicht anders wie die sogenannten
normalen. Da die Erbmasse als chemisch-physikalisch bestimmt
vorgestellt werden muß, so muß sie auch durch chemisch-
physikalische Einflüsse änderbar sein; und da die einzelnen
Erbeinheiten wegen ihrer Molekularstruktur nicht fließende
Übergänge haben können, so muß auch ihre Änderung in
mehr oder weniger großen Sprüngen oder „stoßweise", durch
Verlust, Anlagerung oder Umlagerung von Molekeln oder Mo-
lekelgruppen erfolgen. Wir bezeichnen nun jene chemischen
oder physikalischen Einflüsse, welche Änderungen der Erb-
masse zur Folge haben, als idiokinetis che Einflüsse, die'
Verursachung solcher Erbänderungen oder Idio Variationen seh
ber als I diokinese 1 ).
Das Wort I diokinese ist nicht gleichbedeutend mit dem von Forel
gebrauchten Ausdruck „Blastophthorie" (Keimverderb}, da dieser auch nicht -
erbliche Änderungen bezeichnete und andererseits auf schädliche Änderungen
eingeschränkt war. Den Vorgang der Verursachung nie h [erblicher Änderun-
gen, sei es nun der fertigen Lebewesen oder der Keimzellen, bezeichnen wir
mit Siemens als Parakinese; und wir sprechen demgemäß auch von
para kinetischen Einflüssen im G-egensatz zu den idiokine tischen.
Mit Sicherheit ist eine idiokinetische Wirkung von den
Röntgenstrahlen und ebenso von den Strahlen der radio-
aktiven Stoffe, die mit jenen ja wesensverwandt sind, nach-
gewiesen.
Schon O s k a r H e r t w i g 2) 3) nat Samen und Eizellen von Amphibien
mit radioaktiven Stoffen bestrahlt und gefunden, daß auch in jenen Versu-
chen, wo nur die Samenfäden allein bestrahlt wurden, die aus der Befruch-
tung normaler Eier mit solchen Samenfäden hervorgehenden Individuen
allerlei Mißbildungen und Schwächezustände zeigten. Ganz ähnliche Ergeb-
nisse erzielte er durch Einwirkung von Chemikalien (Methylenblau, Chloral-
hydrat, Chinin) auf reife Samenfäden. Er hat damals auch bereits geschlos-
sen: „Durch die mitgeteilten Versuche mit radioaktiven und mit chemisch
wirkenden Substanzen wurde der nicht anzufechtende experimentelle Nach-
weis erbracht, daß durch sie das Idioplasma der Keimzellen dauernd ver-
ändert werden kann." Da die erzielten Veränderungen indessen (aus äußeren
Gründen) nicht weitergezüchtet werden konnten, hat die, wie wir heute
wissen, richtige Ansicht O. Hcrtwigs keine allgemeine Anerkennung ge-
funden. Dazu dürfte allerdings auch der Umstand beigetragen haben, daß
x ) 10 Idiov = das Eigene, das innere Wesen; xivelv = etwas Fest-
stehendes erschüttern, verändern.
3 ) Hcrtwig, O. Die Radiumkrankheit. Archiv für mikroskopische
Anatomie 1911.
5 ) Derselbe. Das Werden der Organismen. 2. Aufl. Jena, Fischer 1918.
36"
564 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
O. Hcrtwig den Vorgang der Idiokincse in unklarer Weise als eine „Ver-
erbung erworbener Eigenschaften" zu deuten suchte.
Ich habe i. j. 1912 den Schluß gezogen, daß Mutationen durch che-
mische und physikalische Einflüsse verursacht würden und daß insbesondere
die krankhaften Erbanlagen auf diese Weise entständen. Damals habeich das
Wort Idiokincse für diesen Vorgang cingeführti). r} a ß insbesondere Röntgen-
strahlen und Radiunistrahlen Erbanderungen verursachen könnten, habe ich
auch in den früheren Auflagen dieses Buches bereits als sicher dargestellt.
Das Verdienst, in einwandfreier und umfassender Weise
gezeigt zu haben, daß man durch Röntgenstrahlen Erbände-
rungen in beliebiger Anzahl verursachen kann, kommt dem
amerikanischen Genetiker H. J. Muller, Professor der Zoo-
logie an der Universität Texas, einem früheren Mitarbeiter Th.
H. Morgans, zu. Muller 3 ) 3 ) 4 ) hat durch Bestrahlung so-
wohl von Männchen als auch von Weibchen der Obstfliege
Drosophila mclanogaster zahlreiche Mutationen erzeugen kön-
nen, die durch beliebig viele Generationen weitergezüchtet
werden konnten. Die verursachten Mutationen folgten in ihrer
Erblichkeit dem Mendehschen Gesetz genau so wie jene, die
man unter den gewöhnlichen Lebensbedingungen („spontan")
auftreten sieht.
Die große Mehrzahl der erzeugten Mutationen ist letal,
und zwar meist rezessiv bzw. homozygot letal. Einige waren
semiletal, d, h. sie konnten wegen großer Lebensschwäche nur
mühsam weitergezüchtet werden. Auch „dominant" letale Mu-
tationen hat Muller auftreten sehen; da diese schon auf
früher Entwicklungsstufe zum Absterben des befruchteten Eies
oder des Embryos führen, bedingen sie eine partielle Sterilität
der bestrahlten Tiere; sie können nur nachgewiesen werden,
wenn die befruchteten Eier alle einzeln beobachtet werden.
Nächst den letalen Mutationen waren Sterilität bedingende am
häufigsten 5 ).
Mutationen, die die Lebensfähigkeit weniger beeinträch-
tigen, die also nicht letal, sondern nur krankhaft sind, sind ent-
1 ) Lenz, F, Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes. Jena 1912.
G. Fischer.
2 ) Muller, H.J. Artificial transmutaüon of the gene. Science. Bd. 66.
Nr. 1699. I927.
3 ) Patterson, J. T. and Müller, H. J. Are „progressive" muta-
tions produeed by X-rays ? Genetics. Bd. 15. S. 495. 1930.
4 ) Muller, H. J. Radiation and Genetics. American Naturalist. Bd.
64. S. 220. 1930.
6 ) Diese bei den Nachkommen auftretende Sterilität ist natürlich nicht
mit der bei den bestrahlten Tieren auftretenden partiellen Sterilität zu ver-
wechseln.
DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 565
schieden in der Minderzahl. Sie sind aber immer noch viel
häufiger als solche, bei denen eine Beeinträchtigung der Le-
benstüchtigkeit nicht besteht oder doch nicht beobachtet wer-
den konnte. Bei genauer Untersuchung ergab sich, daß auch
nicht wenige Mutationen entstanden, die nur ganz geringfügige
phänotypische Änderungen bedingen. Unter diesen „kleinen"
Mutationen werden natürlich am ehesten solche sein, die die
Lebenstüchtigkeit nicht beeinträchtigen und die von der natür-
lichen Auslese daher unter Umständen ausgebreitet werden
können, zumal wenn eine Änderung der Umwelt eine neue An-
passung der Rasse erfordert.
Die meisten der bei Drosophila durch Röntgenstrahlen er-
zeugten Mutationen waren auch früher schon in den Unter-
suchungen Morgans und seiner Mitarbeiter beobachtet wor-
den. Es wurde sogar die Mehrzahl der früher schon beobach-
teten Mutationen bei den Röntgenversuchen wieder erhalten,
viele davon mehrfach. Man kann das so deuten, daß durch
Herausschlagen von Bausteinen aus der Erbmasse oft wieder
dieselben Defekte entstehen.
Von den lebensfähigen Mutationen verhalten sich die mei-
sten einfach rezessiv, d. h. sie äußern sich erst, wenn bei der
Weiterzucht zwei gleichartige Erbanlagen zusammentreffen.
Zuerst in die Augen fallen die rezessiven geschlechtsgebun-
denen Mutationen, da sie sich bereits an den direkten männ-
lichen Nachkommen bestrahlter Weibchen äußern. Auch eine
nicht ganz unbeträchtliche Minderheit der nicht geschlechts-
gebundenen (autosomalen) Mutationen äußert sich schon in der
nächsten Generation, cl. h. heterozygot. Diese werden gewöhn-
lich als „dominant" angesehen, was aber eigentlich voraus-
setzen würde, daß sie sich im homozygoten Zustand nicht we-
sentlich anders als im hetcrozyg'oten äußern; tatsächlich sind
aber manche von diesen noch homozygot letal.
Außer der Abänderung einzelner Gene, d. h. der Mutation im engeren
Sinne, werden auch Störungen in der Anordnung der Gene durch Röntgen-
strahlen verursacht; diese geben sich in einer Störung des Austausches'
(des Crossing-over) zu erkennen. Auch Ausschaltung größerer Teile von
Chromosomen (deficiency) kann durch Röntgenstrahlen entstehen.
je intensiver und länger die Erbmasse von Röntgenstrah-
len getroffen wird, desto mehr Erbänderungen werden ver-
ursacht. Bei der schwersten Bestrahlung, nach der überhaupt
noch Nachkommenschaft erzielt wurde, hatte nach M u 1 1 e r un-
gefähr jede zweite Samenzelle eine Erbänderung erlitten. Auch
durch ganz schwache Bestrahlung können letale Mutationen
566
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
entstehen. Der Grad der Krankhaftigkeit ist also nicht etwa
der Intensivität der Bestrahlung proportional. Auch gibt es
keinen Schwellenwert der Bestrahlung, unterhalb dessen keine
Erbänderungen vorkämen. Lediglich die Häufigkeit der Mu-
tationen wird mit abnehmender Stärke der Bestrahlung ge-
ringer. Die Zahl der entstehenden Mutationen ist proportional
der Quantität der Strahlung, gemessen an der Ionisation. Ob
eine bestimmte Strahlendosis auf einmal oder über lange Zeit
verteilt einwirkt, ist, was die Zahl der verursachten! Mutationen
betrifft, gleichgültig.
Durch starke Röntgenbestrahlung entsteht dauernde Un-
fruchtbarkeit in beiden Geschlechtern, und zwar im weiblichen
leichter als im männlichen. Nach schwächerer Bestrahlung
tritt bei Drosophilaweibchen ebenso wie bei Säugetieren und
beim Menschen vorübergehende Sterilität ein. Die nach dem
Wiedereintritt der Fruchtbarkeit reifenden Eier sind aber nicht
etwa unversehrt ; sie enthalten vielmehr zum Teil defekte Erb-
anlagen.
Es ist darüber gestritten worden, ob die an der Obstfliege
Drosophila festgestellten Tatsachen auch für den Menschen
gelten. Die Frage ist praktisch wichtig, weil bei der diagnosti-
schen und therapeutischen Anwendung von Röntgenstrahlen
zum Teil auch die Keimdrüsen getroffen werden; ja, von man-
chen Frauenärzten wird die sogenannte temporäre Sterilisie-
rung sogar ziemlich häufig als Heilmethode angewandt 1 ). Einige
Frauenärzte und Röntgenärzte haben sich auf den Standpunkt
gestellt, daß die temporäre Sterilisierung unbedenklich sei, weil
durch Beobachtungen am Menschen und durch Versuche an
Säugetieren bisher eine Erbschädigung durch Röntgenstrahlen
nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. Gewiß, der Mensch
ist keine Fliege; aber niemand, der mit den Grundlagen der
Genetik vertraut ist, zweifelt daran, daß die an der Obstfliege
gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich auch für den Menschen
gelten. Im einzelnen können die Verhältnisse beim Menschen
natürlich besonders liegen; es ist z, B. möglich, daß Erbände-
rungen durch Röntgenstrahlen beim Menschen leichter oder
schwerer als bei Drosophila entstehen. Ein direkter Nachweis
durch Erfahrungen am Menschen ist allerdings kaum zuführen.
Wenn bald nach der Bestrahlung eines menschlichen Eier-
stocks eine sogenannte Frühbefruchtung eintritt, so entstehen
*■) D o e d c r I c i n , A. Strahlenbehandlung und Nachkommenschaft.
Deutsche Med. Wochenschr. 1928. Nr. 48.
DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 567
daraus so häufig lebensschwache Kinder, daß gerade auch An-
hänger der sogenannten temporären Sterilisierung die Unter-
brechung der Schwangerschaft in solchen Fällen gefordert
haben, worauf z. B. H. Martius 1 ), der selbst ein Gegner sol-
cher Bestrahlungen ist, hinweist. Es ist nun allerdings kaum
zu entscheiden, wieweit es sich dabei um Schädigungen der
Erbmasse und wieweit um bloße Modifikationen handelt. Nach
sogenannter Spätbefruchtung, d. h. wenn die Empfängnis erst
mehrere Monate oder länger nach der Bestrahlung eintrat, hat
man an den Kindern meist keine krankhaften Zeichen beob-
achtet. Daraus folgt aber durchaus nicht, daß die Erbmasse in
diesen Fällen unversehrt geblieben sei. Der größte Teil der
Mutationen verhält sich ja rezessiv; d. h. es tritt erst bei Zu-
sammentreffen zweier solcher Erbanlagen ein krankhafter Zu-
stand in die Erscheinung. Da in der Erbmasse des andern El-
ternteils nicht gerade dieselbe krankhafte Erbanlage vorhanden
zu sein pflegt, so ist nicht zu erwarten, daß schon die Kinder
einer bestrahlten Frau erbliche Defekte zeigen. Das möge an
einem Schema veranschaulicht werden.
O O
O
.Zeitpunkt der Entstehung einer
rezessiven krankhaften
Erbanlage.
o o o © o
O0OO0O0O
f ■■■ ■ I T ~~>
o ©
Zeitpunkt ihres
Offenbarwerdens.
Fig. 195.
Schema des ersten Auftretens einer rezessiven krankhaften Anlage.
Angenommen, eine bestimmte Erbanlage in einer Keim-
zelle werde durch Röntgenstrahlen zerstört. Dann wird ein
Kind der bestrahlen Person eine entsprechende rezessive krank-
hafte Anlage überdeckt enthalten (dargestellt durch einen Punkt
im Kreise). Da das Kind in der Regel einen Ehegatten bekom-
men, wird, der nicht denselben Defekt in der Erbmasse enthält,
so wird sich die krankhafte Anlage auch an den Enkeln noch
nicht äußern. Aber die Hälfte der Enkel wird die Anlage über-
!) Martius, H. Röntgenstrahlen und Keimschädigung. Strahlenthe-
rapie. Ed. 37. S. 164. 1930.
568
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
deckt enthalten. Da die Träger der krankhaften Anlage in der
Enkelgeneration alle Geschwister sind, kommen solche nicht
für die Kindererzeugung miteinander in Betracht; auch in der
Urenkelgeneration wird die Anlage daher nicht in die Erschei-
nung treten, jene Enkel, die Träger der Anlage sind, werden
aber unter ihren Kindern wieder zur Hälfte Träger der Anlage
haben. In der Urenkelgeneration können daher Geschwister-
kinder die Anlage überdeckt enthalten; und in der Ururenkel-
generation können aus Vetternehen der Urenkelgeneration
Kinder hervorgehen, die nun wirklich mit dem Leiden behaftet
sind, dessen Anlage schon in der Erbmasse ihrer Ururgroß-
mutter oder ihres Ururgroßvaters entstanden ist. Die erbbio-
logischen Folgen einer Röntgenbestrahlung werden also oft
erst nach mehr als 100 Jahren oder noch viel später in die Er-
scheinung treten.
Dieses von mir gegebene Schema ist dahin mißverstanden worden,
als ob Erbschäden infolge von Röntgenstrahlen, überhaupt erst nach so vielen
Generationen aultreten könnten. Geschlechtsgebundene Erbschäden können
schon bei den Söhnen einer bestrahlten Mutter in die Erscheinung treten;
dominante Erbschäden, die nach den Befunden an Drosophila in einer nicht
ganz geringen Minderheit entstehen, würden in der Regel schon an den
Kindern beobachtet werden. Außerdem ist zu erwarten, daß durch Erbschä-
digung zum großen Teil dieselben rezessiven krankhaften Erbanlagen ent-
stehen, die auch sonst schon in der Bevölkerung vorhanden sind. Folglich
können auch neu entstandene rezessive Erbanlagen unter Umständen infolge
Zusammentreffens mit gleichartigen schon in der nächsten bzw. den näch-
sten Generationen manifest werden. Die obigen Überlegungen sollen nur
zeigen, daß man aus der Geburt anscheinend gesunder Kinder nicht schließen
darf, daß die Erbmasse unversehrt geblieben sei.
Andererseits ist das Auftreten erbkranker Kinder kein Beweis für eine
in der oder den letzten Generationen stattgehabten Erbschädigung. Unsere
Bevölkerung ist derart mit rezessiven Krankheit sanlagen durchsetzt, daß
ohnehin mit dem Auftreten von Fallen rezessiver Erbleiden gerechnet werden
muß. Unter diesen Umständen ist ein Nachweis stattgehabter Erbschädigung
beim Menschen im Einzelfall nicht wohl möglich; noch weniger aber ist eine
solche Erbschädigung auszuschließen. Es wäre daher keine dankbare Auf-
gabe, ein Verzeichnis der bestrahlten Frauen anzulegen, um unter ihren
Nachkommen nach mehr als hundert Jahren nach rezessiven Erbleiden zu
suchen. Sinnvoll ist es dagegen, Kinder bestrahlter Frauen und ebenso Kin-
der von Röntgenärzten und Röntgentechnikern zu untersuchen und die Be-
funde, wenn eine genügend große Zahl beisammen ist, mit denen der Durch-
schnittsbevölkerung zu vergleichen. Im Hinblick auf gelegentliche Mittei-
lungen ist zu bedenken, daß nach Bestrahlungen lieber über gesunde als
über kranke Kinder berichtet wird.
Zuchtversuche an Säugetieren (Mäusen, Kaninchen) zur Klärung der
Frage der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen sind bisher niemals mit
einer genügend großen Zahl von Versuchs- und Kontrolltieren angestellt
worden. Daher sind sowohl die anscheinend positiven als auch die ansehe!-
DIE NEUENTSTEHUNG KRANKIT AFTER ERBANLAGEN. 569
nend negativen Versuche nicht eindeutig. Wie Paula Hertwig 1 ) aus-
gerechnet hat, würde ein einziger Versuch rund 50 000 Mäuse erfordern.
Sie hat jetzt einen derartigen Versuch, der natürlich große Mittel und jahre-
lange Arbeit erfordert, im Gange.
Für die wissenschaftliche Entscheidung der Frage, ob überhaupt Erb-
änderungen infolge von Röntgenbestrahlung vorkommen, sind solche Säuge-
tierversuche eigentlich nicht nötig. Diese Frage ist durch die Untersuchungen
an Drosophila und Anürrhinum eindeutig positiv entschieden. Es kann sich
nur noch um die Häufigkeit handeln, mit der solche Erbänderungen bei
Säugetieren und Menschen zu erwarten sind. Auch ist von Säugetierver-
suchen ein größerer Eindruck auf Ärzte, die nicht genetisch zu denken
gewohnt sind, zu erwarten.
Letale Mutationen, die ja die große Mehrzahl ausmachen, sind im.
Säugelierversuch viel schwerer als im Drosophllaversuch aufzufinden, weil
man bei Säugetieren das Absterben einzelner Eier nicht feststellen kann.
Nur aus einer verminderten Wurfgeschwisterzahl, aus Fehl- und Totgeburten
kann man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf schließen. Auch in
Bezug auf Mutationen der Augenfarbe, der Flügelform usw. ist Drosophila
ein viel dankbareres Objekt. Erbkrankheiten wie beim Menschen sind bei
weißen Mäusen und Kaninchen auch nur schwer oder gar nicht auffindbar.
Man ist bei diesen Tierversuchen daher in der Hauptsache auf den Vergleich
der Wur[geschwi5terzahl, der Sterblichkeit der Jungen und der Häufigkeit
steriler Tiere angewiesen.
Die von Muller an Drosophila entdeckten Gesetzmäßig-
keiten der Idiokinese sind von Baur 2 ) und Stubbc 3 ) am
Löwenmaul, Antirrhinum majus, bestätigt worden; und nichts
spricht dafür, daß der Mensch sich in dieser Hinsicht grund-
sätzlich anders verhalten sollte, als Fliegen und Pflanzen.
Ärzte, denen eine eigene Röntgeneinrichtung zur Verfügung steht, wen-
den diese natürlich zu Untersuchungs- und Behandlungszwcckcn häufiger an
als andere Ärzte. Es ist auch begreiflich, daß solche Ärzte sich gegen die
Vorstellung wehren, sie könnten in Unkenntnis der Gefahr Erbschädigungen
verursacht haben. Besonders in dem von Doederlein herausgegebenen
Archiv für Gynäkologie sind Veröffentlichungen dieser Tendenz erschienen.
So ist Borak infolge ungenügender Kenntnis der genetischen Tatsachen
zu dem Satz gekommen; „Bei weiblichen Individuen der Säugetierreihe gibt
es demnach überhaupt keine Möglichkeit einer Keimschädigung, sondern
lediglich die einer Fruchtschädigung als Folge der Bestrahlung*)." Und
!) Hertwig, P. Wie muß man züchten, um bei Säugetieren die
natürliche oder experimentelle Mutationsrate festzustellen? ARGB. Bd.
27. H. 1. S. 1. 1933.
2 ) B aur , E. Der Einfluß von chemischen und physikalischen Reizun-
gen auf die Mutationsratc von Antirrhinum majus. Zeitschi-, für induktive
Abstammung.?- und Vererbungslehre. Bd. 60. H. 4. S. 467. 1932.
3 ) Stubbe, H. Untersuchungen über experimentelle Auslösung von
Mutationen bei Antirrhinum majus. Ebenda. Bd. 56. H. 1 und 2. 1930. Bd.
60. Ii. 4. 1932.
") Borak, J. Archiv für Gynäkologie. Bd. 147. Ii. 2. S- 304. 1931.
570 FRITZ LENZ, DIE KRÄNKHAFTEN ERBANLAGEN.
P e L I e r 1 ) hat auf Boralcs Veranlassung eine „Berechnung" angestellt,
nach der in Deutschland nach Ovarialbestrahlung von 50000 Frauen unter
einer Million F 2 -Nachkommen weniger als 0,2 infolge der Bestrahlung als
erbkrank zu erwarten wären. Dieser Trugschluß rührt hauptsächlich daher,
daß P e 1 1 e r nur ein Paar von Erbeinheiten, je Frau angenommen hat,
während es in Wirklichkeit mindestens Hunderte, wahrscheinlich sogar Tau-
sende sind. Mit der Möglichkeit geschlechtsgebundener und dominanter Mu-
tationen hat er überhaupt nicht gerechnet.
Irrige und nicht unbedenkliche Vorstellungen werden auch durch den
Satz B oraks erweckt: ,,Die durch Röntgenstrahlen ausgelösten Mutationen
können durch neuerliche Bestrahlung zurückgebildet werden." Es fehlt nur
noch, daß die Behauptung aufgestellt wird, alle krankhaften Erbanlagen
könnten durch Röntgenstrahlen wieder in gesunde verwandelt werden. Leider
hat auch T i m o f e e f f -R e s s o v s k y 2 ) dieser gefährlichen Illusion Vor-
schub geleistet durch den Satz: „Da die Röntgenstrahlen verschieden ge-
richtete, zum Teil entgegengesetzte Geno Variationen hervorrufen können,
kann ihre Einwirkung nicht destruktiv, sondern eher rekonstruktiv sein, wie
es schon früher von Müller und mir vermutet wurde." Er beruft sich hier
zu Unrecht auf Müller. Dieser bahnbrechende Forscher, dessen Arbeiten
ja die Kenntnis der Erbänderung durch Röntgenstrahlen überhaupt zu danken
ist, hat schon in seiner ersten Veröffentlichung über diesen Gegenstand auf
die Gefahren hingewiesen, die der Erbmasse von der Röntgentherapie drohen.
Er hat in seiner Arbeit von 1930 nur zu zeigen gesucht, daß die verursachten
Erbändenmgen nicht ausnahmslos Defektmutationen bzw. krankhaft zu sein
brauchen. Daß die übergroße Mehrzahl letal oder krankhaft ist, daran kann
gar kein Zweifel sein. Und selbst wenn es möglich wäre, Rückmutationen
ebenso häufig zu verursachen wie sonstige Mutationen, so würde durch Be-
strahlung einer mutierten Sippe nur ein ganz verschwindender Bruchteil
der mutierten Gene wieder rekonstruiert werden können. Zugleich aber wür-
den zahlreiche andere Gene ungünstige Erbänderungen erleiden.
Die allermeisten Erbänderungen sind, und bleiben Defekte.
Diese Tatsache ist nicht nur durch die besprochenen Arbeiten
Mullers, sondern auch durch die umfassenden Erfahrungen
Morgans 3 ) und Baurs*) sichergestellt; und es ist auch
unter allgemeinbiologischen Gesichtspunkten gar kein anderer
Sachverhalt zu erwarten. Die verschiedenen Arten der Lebe-
wesen sind seit ungezählten Jahrtausenden so weitgehend an
ihre Lebensbedingungen angepaßt, daß in der Regel — wenn
auch nicht ausnahmslos — eine Änderung der Erbmasse eben
1 ) V e 1 1 e r , S. Über die Wahrscheinlichkeit von Erbschädigungen nach
Ovarialbestrahlungen. Archiv für Gynäkologie. Bd. 147. H. 2. S. 360. 1931.
2 ) Tiraofeeff-Rcssovsky, N. W. Rückgenovarialion und die
Genovariabilität in verschiedenen Richtungen. Archiv für Entwicklungsme-
'chanik. Bd. 115. S. 620. 1929.
3 ) Morgan, Th. FL, Bridges, C. B. und Sturtevant, A,
FI. The Genetics of Drosophila. Haag 1925. Nijhoff.
4 ) B a u r , E. Untersuchungen über das Wesen, die Entstehung und
die Vererbung von Rassenunterschieden bei Antirrhinum majus. Bibliotheca
Genetica. Bd. 4. Leipzig 1924.
DIE NEUENTSTEHUNO KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 571
eine Beeinträchtigung der Lebenstüchtigkeit mit sich bringt.
Bei einem Lebewesen, das absolut vollkommen an seine Lebens-
bedingungen angepaßt wäre, würden überhaupt nur ungün-
stige Erbänderungen noch möglich sein. Bei den wirklichen
Lebewesen, die nur relativ vollkommen angepaßt sind, werden
also die allermeisten, wenn auch nicht grundsätzlich alle, Erb-
änderungen ungünstig sein. So faßt auch Morgan 1 ) die Sach-
lage auf.
In der Literatur werden die Erbänderungen durch Röntgenstrahlen
meist als Reizwirkungen und die Röntgenstrahlen als auslösender Reiz be-
zeichnet. Ich halte das für grundsätzlich falsch. Reizwirkungen sind Ant-
worten des Organismus auf Einflüsse der Umwelt auf Grund von Reaktions-
möglichkeiten, die der Anpassung dienen. Die Summe dieser Reaktionsmög-
lichkeiten ist letzten Endes in der gesunden Erbmasse begründet. Außer den
Reiz-Wirkungen gibt es aber auch andere Änderungen von Organismen. Der
Verlust eines Armes durch eine verstümmelnde Verletzung ist keine Reizwir-
kung. Einen Reiz übt die Verletzung nur insofern aus, als der Wundreiz zur
Heilung führt. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die Verstümmelung
als solche. So sind auch Erbänderungen keine Reizwirkungen; sie erfolgen
nicht auf Grund der bisherigen Reaktionsmöglichkciten und nicht im Sinne
der Anpassung. Sie stellen vielmehr direkte Änderungen infolge von physika-
lischen oder chemischen Ursachen dar, welche die Anpassung in der Regel
beeinträchtigen. Sie geschehen passiv und daher ziellos.
Außer durch Röntgen- und Radiumstrahlen hat man Erb-
änderungen auch durch verschiedene andere physikalische und
chemische Einflüsse verursachen können. Schon Muller hat
eine Steigerung der Mutationshäufigkeit bei hoher Temperatur
beobachtet; und seitdem ist es einwandfrei gelungen, bei Dro-
sophila durch Einwirkung einer Temperatur von 35 bis 37 Mu-
tationen zu verursachen. Stubbe 2 ) hat bei Antirrhinum außer
durch Röntgenstrahlen auch durch Zentrifugieren und verschie-
dene Chemikalien (Chloralhydrat, Alkohol u. a.) Erbänderun-
gen erzielt. „Innerhalb jeder Sippe traten nach den verschie-
denartigen Behandlungen im allgemeinen die gleichen Formen
auf." Die Natur der Mutationen ist also weniger von der Art
der idiokinetischen Einflüsse als von der bisherigen Beschaf-
fenheit der Erbmasse abhängig. Es gibt Sippen, die leicht, und
andere, die schwer mutieren. BeiDrosophila funebris treten zum
Teil dieselben, zum Teil, aber auch andere Erbänderungen als
bei Drosophila melanogaster auf.
Eine willkürliche Erzeugung bestimmter oder bestimmt ge-
richteter Mutationen ist, wie ich das vorliegende Tatsachen-
material beurteile, bisher nicht gelungen und meines Erachtens
x ) Morgan, Th. I-I. Evolution and genetics. 1925.
a ) A. a. O.
572 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN,
auch nicht zu erwarten. Daß man unter einer großen Zahl ziel-
loser Krbänderungen schließlich auch solche in erwünschter
Richtung erhält, ist natürlich etwas anderes.
JoJlos 1 ) hat allerdings angegeben, er habe durchwärme von 35 bis
36" bei Drosophila gerichtete Mutationen erhalten. Die normale rote Augen-
farbe der Drosophila sei auf diese Weise in mehreren Mutationsschritten
über hellrot und gelblich schließlich in weiß übergegangen. Die Beobachtun-
gen erklären sich meines Erachtens einfach dadurch, daß das Gen für rote
Augenfarbe durch Defekte eben in der Richtung auf hellere Farbe und
schließlich Weiß abgeändert wird. Daß gerade diese Mutationen sehr leicht
erfolgen, war schon aus den Untersuchungen Morgans und seiner Mit-
arbeiter bekannt; meist entsteht Weiß unmittelbar aus Rot; es kann aber
auch aus Hellrot und Gelblich entstehen. Umgekehrt dagegen entsteht aus
Weiß nicht wieder Rot. Weiß beruht eben auf einem Defekt jenes Gens, das
normale rote Augenfarbe bedingt. Ich fasse die Beobachtungen von Tollos
einfach als einen stufenweisen Abbau auf. Seine Schlußfolgerungen für die
Phylogenese sind auf jeden Fall verfehlt. Er meint nämlich, er habe durch
den Nachweis gerichteter Mutationen das Znstandekommen orthogenetischer
Entwicklungsreihen unserem Verständnis nähergebracht. Ich kann auf die
Erscheinung der Orthogenese in diesen Zusammenhang nicht naher eingehen,
möchte aber doch darauf hinweisen, daß orthogenetische Entwicklungen
sich im Lauf von Jahrmillionen abspielen und nicht in ein paar Generationen
wie bei J o 1 1 o s. Weißäugige Drosophilastämme haben eine geringere Er-
haltungswahrscheinlichkeit als rotäugige. Sie bleiben daher nur in der Hand
des Züchters erhalten. In der freien Natur hilft eine ,, gerichtete" Muta-
tion gar nichts, wenn sie nicht erhaltungsmäßig ist. Für das Zustandekommen
einer Orthogenese im Lauf von Jahrmillionen aber bietet auch ziellose
Mutation eine Handhabe. Wenn ein früherer Mutationsschritt erhaltungsge-
mäß ist, so wird es in manchen Fällen ein späterer, der in der gleichen
Richtung über den ersten hinausgeht, ebenfalls sein, obwohl er rein zufällig
unter einer großen Zahl nicht erhaltungsmäßigcr Mutationen auftritt. Ortho-
genetische Entwicklungen erklären sich also durch Naturzüchtung in be-
stimmten Richtungen, nicht aber durch eine angeblich gerichtete Mutation 2 ).
J oll os ist bezeichnenderweise mit der Frage an die Arbeit gegangen, ,,ob
die Mutationen wirklich ganz richtungslos entstehen oder aber durch die
Einwirkung gleichsinnig 3 ) veränderter Umweltfaktoren auf viele aufeinander-
folgende Generationen in der einmal eingeschlagenen Auswirkungsrichtung
weitergetrieben werden können"; und entsprechend dieser seiner Erwartung
hat er dann seine Befunde gedeutet.
Für die menschliche Rassenhygiene ist die Frage von be-
sonderer Bedeutung, ob der Alkohol Schädigungen der Erb-
] ) Jollos, V. Über die experimentelle Hcrvorrufung und Steigerung
von Mutationen bei Drosophila melanogaster. Biologisches Zentralblatt. Bd.
50. S. 541. 1930.
a ) Vgl. Lenz, F. Der phylogenetische Aufbau der Erbmasse. Kapitel
im Abschnitt „Erblichkeitslehre". Handbuch der Physiologie von Bethe
u. a. Bd. 17. S. 951. Berlin 1926. Springer.
3 ) Was heißt liier „gleichsinnig"? Das Wort verrät lamarc Iris tische
Tendenzen.
DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 573
masse verursache oder nicht. Eine eindeutige Beantwortung
dieser Frage ist auf Grund von Erfahrungen in menschlichen
Bevölkerungen kaum möglich. Bei den Nachkommen von Al-
koholikern finden sich zwar allerlei geistige Störungen und
Schwächezustände, die zum großen Teil erblich sind. In vielen
Fällen dürfte der Zusammenhang aber so liegen, daß die
Trunksucht der Eltern (meist des Vaters) schon eine Äußerung
derselben Erbanlage war, die sich bei den Kindern als Schwach-
sinn, Epilepsie oder Psychopathie darstellt. Ob der Alkohol-
mißbrauch die Ursache oder die Folge geistiger Minderwertig-
keit in der Sippe ist, ist im Einzelfall nicht zu entscheiden. Da-
mit entfällt aber auch die Möglichkeit, die Frage durch stati-
stische Sammelforschung eindeutig zu klären.
Immerhin bleibt das häufige Vorkommen von Schwachsinn und Epi-
lepsie bei Alkoholikernachkommen ein Verdachtsmoment gegen den Alkohol.
Ein weiteres Verdachtsmoment ist der Schwund des Keimgewebes, der sich
bei den meisten Leichen schwerer Trinker findet 1 ). Damit hängt es zusam-
men, daß Trinker über kurz oder lang unfruchtbar zu werden pflegen. Es
wäre nun geradezu ein Wunder, wenn ein Gift", das die Keimgewebe völlig
zerstören kann, bei schwächerer Einwirkung nicht auch gelegentlich Ände-
rungen der darin enthaltenen Erbmasse zur Folge haben würde. Der ser-
bische Histologe Kostitch 2 ) hat nach längerer Verabfolgung von täglich
1,4 cem Alkohol an weiße Ratten regelmäßig Unfruchtbarkeit auftreten
sehen und Störungen der Kernteilung in der Keimdrüse gefunden.
Die meisten Tierversuche, die man zur Frage der Erbschä-
digung durch Alkohol angestellt hat, sind ebensowenig bewei-
send wie die erwähnten Säugetierversuche zur Frage der Erb-
schädigung durch Röntgenstrahlen. Auch Alkoholversuche die-
ser Art würden die Aufzucht und genaue Beobachtung von Zehn-
tausenden von Tieren erfordern. Verhältnismäßig am wenigsten
Einwänden ausgesetzt sind die in jahrelanger hingebungsvoller
Arbeit durchgeführten Versuche von Agnes Bluhm 3 )an
32 000 weißen Mäusen.
Es wurden nur Männchen alkoholisiert. Da die männlichen Keimzellen
außer dem Kern nur sehr wenig anderes Plasma enthalten, war auf diese
Weise am ehesten zu erwarten, daß eine Schädigung der Erbmasse von
einer bloßen Plasmaschädigung unterschieden werden konnte. 1 14 Ausgangs-
tierc erhielten längere Zeit hindurch an sechs Tagen der Woche je 0,2 cem
*) Bertholet, E. Die Wirkung des chronischen Alkoholismus auf
die Organe des Menschen, insbesondere auf die Geschlechtsdrüsen. (Deutsch
von A. Püeiderer.) Stuttgart 1913.
2 ) Kostitch, A. Action de l'alcool sur les ccllules seminales. Inter-
nationale Zeitschrift gegen den Alkoholismus. 1922. H. 2.
3 ) Bluhm, A. Zum Problem „Alkohol und Nachkommenschaft".
ARGB. Bd. 24. S. 12. 1930. Erweitert auch als Sonderdruck erschienen.
München 1930. J. F. Lehmann.
574 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
einer 150/oigen Alkohollösung unter die Haut eingespritzt. Sie wurden dann
mit unbehandelten Weibchen gepaart. Außerdem wurde die Nachkommen-
schaft von 114 unbehandelten Kontrollpaaren aufgezogen.
Frau Dr. Bluhm ist der Ansicht, daß durch ihre Versuche der Nach-
weis einer erbschädigenden Wirkung des Alkoholismus erbracht sei und daß
ihr eine willkürliche Mulationserzcugung bei Säugetieren gelungen sei. So-
weit ich mir ein Urteil zu bilden vermochte, scheinen mir die Ergebnisse
nicht eindeutig zu sein. Daß erbliche Mißbildungen oder sonstige leicht er-
kennbare Eigenschaften nicht beobachtet wurden, ist nicht zu verwundern;
ich habe schon bei Besprechung der Rontgenmutationen auf die Schwierig-
keit der Erfaßbarkeit solcher Eigenschaften bei weißen Mäusen hingewiesen.
Das Augenmerk ist also hauptsächlich auf letale und Sterilität bedingende
Mutationen zu richten. Vorgeburtliche Sterblichkeit würde sich in Verringe-
rung der Wurfgröße äußern. Diese betrug bei den Kontrolltieren im Durch-
schnitt rund 5,5. Die Alkoholikernachkommen der F r Generation bekamen
im Durchschnitt von 239 Würfen 4,5 junge. Allerdings war in dieser Gene-
ration auch bei den Kontrolltieren die Wurfgröße nur 4,78. In der F a - Gene-
ration war die Wurfgrößc bei den Alkoholikernachkommen 4,90, bei den
Kontrolltieren 4,85. Ein Unterschied, der über den Fehler der kleinen Zahl
hinausginge, bestand also nicht, obwohl bei den Früchten der aus Geschwi-
sterpaarung gewonnenen F 2 -Generation Letalwirkungen bereits hätten er-
wartet werden können. Bei Drosoplnla sind Letalwirkungen besonders leicht
von den geschlechtsgebundenen Anlagen nachweisbar. Da das Geschlechts-
chromosom des alkoholisierten Männchens auf die Töchter übergeht, hätten
in Agnes B 1 u h m s Versuchen Letalwirkungen an den Früchten dieser
Töchter erwartet werden können. Solche Töchter erzeugten mit Kontroll-
männchen gepaart im Durchschnitt 5,07 Junge je Wurf, Alkoholikersöhne
mit Kontrollweibchen gepaart 5,32. Ein deutlicher Unterschied ergab sich
also nicht. In den späteren Generationen hatten die Alkoholikernachkommen
zum Teil eine erheblich verminderte Wurfgröße, die sehr wohl auf rezessiven
Letalanlagen beruhen könnte; doch ist deren Ausbleiben in F 2 auffällig.
Bei den Totgeburten zeigte sich kein deutlicher Unterschied.
Ein Absterben der jungen Mäuschen in den ersten beiden Lebenstagen
wurde als Ausdruck von Lebensschwäche aufgefaßt. In diesem Sinne starben
in Fi 12,100/0 (60 unter 496) der männlichen Alkoholikernachkommen und
8,560/0 der Kontrollmännchen an Lebensschwäche; im weiblichen Geschlecht
waren die entsprechenden Zahlen 10,33 UIK 1 IO >3 5- Da in den Kontrollen
die Sterblichkeit der Männchen im Vergleich zu der der Weibchen um etwa
ebensoviel vermindert ist, wie sie unter den Alkoholikernachkommen erhöht
erscheint, kann man zufällige Schwankungen nicht ausschließen. Die männli-
chen Jungen der mit Kontrollmännchen gepaarten Alkoholikertöchter zeigten
sogar eine auffallend niedrige Sterblichkeit an Lebensschwäche (2,170/0),
obwohl gerade an ihnen letale geschlechtsgebundene Anlagen sich hätten
äußern können.
Die Beobachtungen über die Säuglingsterblichkeit scheinen mir nicht
verwertbar zu sein, da diese nach Agnes Bluhm infolge Überlastung des
Hilfspersonals und ungenügender Häufigkeit des Käfigwechsels sehr hoch
war. Auffallendcrweise war sie gerade in den späteren Generationen der
Alkoholikernachkommen niedriger als in den Kontrollzuchten. Der Deutung
Agnes Bluhms, daß es sich hier um eine erworbene Immunität des
Plasmas gegen die Alkoholwirkung handle, vermag ich mich nicht anzu-
DIE NEU ENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 575
schließen. Die vorgeburtliche Sterblichkeit, beurteilt an der Wurfgröße, war
ja in denselben Generationen vermindert.
Der Iiundertsatz unfruchtbarer Männchen betrug in F x bei den Alko-
holikernachkommein 26,41, bei den Kontrollen 18,54, in F 2 entsprechend
38,06 gegen 16,15. Unfruchtbare Weibchen fanden sich in F t 27,54
gegen 21,52% und in F a 39,19 gegen 19,47(1/0. Diese Unterschiede der
Fruchtbarkeit zuungunsten der Alkoholikernachkommen sind vermutlich auf
die Entstehung von Sterilitätsanlagen zurückzuführen. Unter den Nachkom-
men aus Kreuzungen zeigten die Söhne der Alkoholikertöchter den höchsten
Hunderstaz von Unfruchtbarkeit (36,670/0), was für die Beteiligung rezessiver
geschlechtsgebundener Anlagen spricht. Bei 1498 Tieren (27%) konnte
leider nicht festgestellt werden, ob sie fruchtbar waren oder nicht.
Ich habe die Arbeit von Agnes Bluhm so ausführlich
besprochen, weil es die bisher umfassendste Untersuchung die-
ser Art ist. Sie spricht im ganzen für das Vorkommen von Erb-
schädigungen durch Alkohol. Andererseits ergibt sich aus den
Befunden, daß auch chronischer Alkoholismus nicht so regel-
mäßig und nicht in dem Umfang erbschädigend wirkt,
wie Forel, Bunge, Kraepelin und andere angenommen
haben.
Aus sehr umfangreichen Versuchen an vielen Tausenden
von Kaninchen, die Alfred Ploetz, der Begründer der
deutschen Rassenhygiene, durchgeführt hat, folgt, daß ein
malige Alkoholvergiftung bzw. Zeugung im Rausch in der Re-
gel eine Schädigung der Erbmasse nicht zur Folge hat. In-
wieweit die Versuche von Ploetz etwa erbändernde Wirkun-
gen chronischer Alkoholvergiftung ergeben, bleibt abzuwarten.
Es ist zu vermuten, daß mancherlei Gifte, die chronische Schä-
digung und schließlich dauernden Verfall des Körpers zur
Folge haben, auch die Erbmasse schädigen. Praktisch kommen
hauptsächlich Stoffe in Betracht, die als häufige Ursachen ge-
werblicher Vergiftungen bekannt sind. Als solche sind zu nennen
Blei, Quecksilber, Phosphor, Nikotin, Schwe-
felkohlenstoff, Benzol, Anilin und verwandte Stoffe.
Diese Gifte können zum Absterben der Frucht im Mutterleibe
und damit zur Fehlgeburt führen. Auch Unfruchtbarkeit ist
eine häufige Folge solcher chronischer Vergiftungen.
Frauen, die gewerblich mit Blei zu tun hatten, hatten in etwa der Hälfte
der Fälle in der Ehe keine Kinder. Fehlgeburten und Lebensschwäche der
Kinder waren häufig 1 ). Während man dies auch als Folgen direkter Ver-
giftung der Früchte oder der Keimdrüsen ansehen kann, spricht Lebens-
schwäche der Kinder von Bleiarbeitern, deren Frauen einer Bleivergiftung
nicht ausgesetzt waren, mit großer Wahrscheinlichkeit für echte Schädigung
x ) S e i s e r , A. und Litzncr, H. Bleivergiftung. Ergebnisse der ge-
samten Medizin. Bd. 13. H. 3/4. 1929. S. 370.
576 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
der Erbmasse. So fand Renner! 1 ) in 11 derartigen Familien unter 79
Kindern 56 kranke; besonders Krämpfe und eigentümliche Vergrößerung des
Kopfes kommen bei Kindern von Bleiarbeitern häufig vor. Auch Tierver-
suche mit Blei sind gemacht worden. Professor C o 1 e 2 ) von der Universität
Wisconsin ließ Kaninchenweibchen zugleich von einem mit Blei behandelten
und einem nicht vorbehandeltcn Männchen von anderer Rasse belegen; es
zeigte sich, daß die Nachkommen des mit Blei behandelten Männchens
schwächer und kränklicher waren als ihre Halbgeschwister aus demselben
Wurf. Wenn Hahne mit Blei vergiftet wurden, so starben von ihnen befruch-
tete Eier viel häufiger als andere in der Entwicklung ab; auch die Küken
hatten eine erhöhte Sterblichkeit. Well er 3 ) fand, daß die Nachkommen
bleivergifteter Meerschweinchenmännchen um ein Fünftel leichter waren als
Vergleichstiere, eine verzögerte Entwicklung und höhere Sterblichkeit als
Vcrgleichsticre hatten. In diesen Versuchen wie auch in denen von C o I c
wurden allerdings nur die Nachkommen erster Generation beobachtet. Was
das Nikotin betrifft, so wird vielfach angegeben, daß bei Tabakarbeiterin-
nen Fehlgeburten und Unfruchtbarkeit besonders häufig seien. U m b a u e r 4 )
konnte im Tierexperiment Schädigung der Eierstöcke feststellen. Jedenfalls
ist das Nikotin erb schädigender Wirkung entschieden verdächtig. Umfas-
sende Tierversuche wären erwünscht.
Auch von einer Anzahl von Arzneimitteln, zumal den proto-
zoentötenden wie Chinin, Quecksilber, Jod, Arsen
sind idiokinetische Wirkungen nicht von der Hand zu weisen,
Im Tierversuch wird schon durch verhältnismäßig geringe Ga-
ben von freiem Jod, die sonst keinen merklichen Einfluß auf
das Befinden haben, vorübergehende und durch größere Men-
gen dauernde Unfruchtbarkeit bewirkt 5 ) 6 ). Die genannten Gifte
werden ja alle dazu angewandt, tierische Krankheitserreger
im menschlichen Körper abzutöten, z. B. die Erreger der Ma-
laria und der Syphilis; und daß dadurch auch menschliche Zel-
len getötet werden können, folgt aus der Tatsache, daß durch
diese Gifte auch die Frucht im Mutterleibe abgetötet werden
kann. Es ist nun nicht anzunehmen, daß Keimzellen dadurch
immer nur entweder völlig abgetötet oder unversehrt bleiben.
Zwischen diesen beiden Möglichkeiten liegt vielmehr die einer
1 ) Renner tj O. Über eine hereditäre Form chronischer Bleivergif-
tung. Archiv für Gynäkologie. Bd. 18. S. 109. 1881.
2 ) Cole, L. J. and Bachhub er, L. F. The effect of lead on the
germ cells of the male rabbit and fowl as indicated by their progeny.
Proceedings of the Society of Experimental Biol. Bd. 12. S. 24. 1914.
3 ) Weller, C. V. The biastophthoric effect of chronic lead poisoning.
Journal of Mcdical Research. Bd. 33. S. 271. 191 5.
4 ) Archiv für Gynäkologie 1 93 1 . S. 147 und 371.
s ) Adler. Über die Jodschädigungen der Blöden. Archiv für experim.
Pathologie u. Pharmakologie. Bd. 75. H. 5.
8 ) Loebu. Zoeppritz. Die Beeinflussung der Fortpflanzungsfähig-
ke.it durch Jod. Deutsche med. Wochenschr. 1914.
DIE NEUENTSTEI1UNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 577
mehr oder weniger weitgehenden Schädigung der Zellen und
ihrer Erbmasse.
Kostitch 1 ) berichtet, daß er bei weißen Ratten nach Jodbehand-
lung schwere Störungen der Samenzellcnbildung histologisch nachweisen
konnte, ähnlich auch nach Arsenbehandlung und nach Bleibehandlung bei
weißen Mäusen.
Idiokinetische Änderungen können anscheinend am leichte-
sten während der Reifung der Keimzellen entstehen, weil dann
deren Kerne nicht in dem relativ geschützten Ruhezustand,
sondern in komplizierten Teilungsvorgängen begriffen sind.
Dafür spricht auch die Tatsache, daß unter der Einwirkung von
Jod und ähnlich wirkenden Giften einerseits, von Röntgenstrahlen anderer-
seits am leichtesten die Keimzellen während der Reifung und junge Früchte,
in denen fast alle Zellen dauernd in Teilung sind, abgetötet werden. Auch
durch chemische Abtreibungsmittel, als welche einige der oben genannten
Gifte, aber auch andere, wie z. B. Aloe und Juniperus sabina mißbraucht
werden, dürften gelegentlich idiokinetische Schäden entstehen, sei es an
der Erbmasse des Kindes (bei mißlungenem Ab treibungs versuch), sei es
an der der Mutter. Auch die Möglichkeit einer Schädigung der Erbmasse
durch chemische Mittel, die der Verhütung der Empfängnis dienen sollen,
ist nicht von der Hand zu weisen. Alle diese Mittel sind mehr oder weniger
unsicher in der Wirkung; und wenn ,einmal ein Samenfaden nicht ganz
abgetötet wird, sondern noch zur Befruchtung kommt, so können außer
unmittelbarer Schädigung des Kindes (Idiotie ?) möglicherweise auch un-
ausgleichbare Schäden der Erbmasse die Folge sein.
Oft wird auch die Syphilis als Ursache erblicher Ent-
artung genannt. Es ist auch gewiß nicht unmöglich, daß Sloff-
wechselprodukte, die im Verlaufe der Krankheit entstehen, ge-
legentlich idiokinetisch wirken. In der Hauptsache dürfte aber
die Ähnlichkeit in der Wirkung der Syphilis und der idiokineti-
sehen Gifte äußerlich sein. Wenn bei Syphilis der Eltern kranke
Kinder geboren werden, so liegt das daran, daß die Kinder im
Mutterleibe selber mit dem Syphiliserreger angesteckt sind. Nun
wird freilich angegeben, daß die Kinder syphilitischer Eltern
auch dann, oft schwächlich und kränklich sind, wenn sie selber
frei von eigentlicher Syphilis sind. Peiper 2 ) hat diese Anga-
ben, die meist aus älterer Zeit stammen, kritisch beleuchtet und
ist zu dem Schluß gekommen, daß sichere Belege für das Vor-
kommen einer Idiokinese durch Syphilis nicht vorhanden sind.
Das braucht natürlich nicht zu heißen, daß sie nicht vorkomme. Wenn
auch syphilisfreie Kinder von Syphilitikern verhältnismäßig oft schwächlich
und wenig widerstandsfähig sukI, so liegt es zur Erklärung dieser Erschei-
nung aber viel näher, an schädliche Nebenwirkungen der gegen die Syphilis
1 ) Veröffentlichungen aus den Jahren 1927, 1931 und 1932 in serbi-
scher Sprache, die ich vom Verfasser als Sonderdrucke erhielt.
2 ) Peiper, A. Ist Syphilis ein Keimgift? Med. Klinik. 1922. Nr. 12.
Baur-FiscIier-l,enzI. 37
578 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLÄGEN.
als Heilmittel angewandten Gifte (Quecksilber, Jod und Arsenverbindungen)
zu denken, Bei der Behandlung der Syphilis wurden früher oft schwerlös-
liche Quecksilbersalze in ziemlich großen Mengen in die Muskeln einge-
spritzt, wo sie lange Zeit liegen bleiben und dauernd etwas Quecksilber in
den Kreislauf senden, wodurch das Wachstum der SypliiLiserreger gehemmt
wird. Davon kann natürlich ebenso eine Schädigung der Nachkommenschaft
ausgehen wie von der Einatmung von Quecksilberdampf und Staub in ge-
werblichen Betrieben. Von den Arsenverbindungen (Salvarsan u. a.) ist eine]
Schädigung der Erbmasse nicht in gleichem Maße wahrscheinlich, weil das
Arsen viel schneller ausgeschieden wird.
Nicht jede konstitutionelle Schwäche oder Kränklichkeit,
die bei syphilisfreien Kindern von Syphilitikern beobachtet
wird, braucht auf einer Schädigung der Erbmasse zu beruhen.
Es ist vielmehr anzunehmen, daß es auch Dauermodifikationen
beim Menschen gibt, d. h. umweltbedingte Eigenschaften, die
mehr oder weniger das ganze Leben hindurch bestehen, aber
doch nicht erblich sind. Der Ausdruck Dauermodifikationen ist
von J oll os 1 ) eingeführt worden. Dieser sah nach Einwirkung
arseniger Säure bei Protozoen (Paramaecium) Abwandlungen
entstehen, die sich zum Teil durch zahlreiche ungeschlechtliche
Generationen erhielten, aber nach (einer oder in seltenen Fällen
nach einigen) Konjugationen (Paarungen) wieder in den Aus-
gangstypus zurückschlugen, sich dadurch also von Mutationen
unterschieden. Beim Menschen, dessen einzelne Körperzellen
den Individuen der Protozoen entsprechen, wird man als Dauer-
modifikationen solche ansehen dürfen, die sich durch zahl-
reiche Zellgenerationen erhalten und bis ans Lebensende be-
stehen bleiben, die aber in der Regel nicht auf die nächste Ge-
neration übergehen. Als Dauermodifikationen möchte ich auch
die normalen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gewe-
ben auffassen; diese entstehen ja nicht durch erbungleiche Tei-
lung, wie Weismann einst meinte, sondern durch Differen-
zierung unter Bewahrung gleicher Erbmasse der Zellen. Auf
ähnliche Weise können vermutlich auch erworbene Schwäche-
zustände der befruchteten oder auch der unbefruchteten Ei-
zelle oder späterer embryonaler Zellen sich durch die weitere
Individualentwicklung erhalten und dem Individuum ihren
Stempel aufdrücken, ohne daß die Ursache dieser Zustände in
der Erbmasse liegt. So könnten Kinder von Syphilitikern, Al-
koholikern und Bleivergifteten infolge von Keim- oder Frucht-
schädigung schwach oder kränklich sein, ihrerseits aber wieder
gesunde Kinder haben.
1 ) J o 1 1 o s , V. Experimentelle Protistenstudien. Archiv für Entwick-
lung sniechanik 1921. Auch als Buch bei Fischer, Jena.
DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 579
Derartige nichterbliche Schäden entstehen vermutlich im
wesentlichen nur auf dem Wege über eine Vergiftung oder
Erkrankung der Mutter, während Schädigungen von Seiten
des Vaters stets des echten Erbschadens verdächtig sind. Das
menschliche Ei enthält eine Menge von Plasma, die die Masse
des Samenfadens millionenfach übertrifft; der Samenfaden da-
gegen enthält außer der Kernmasse Plasma nur in verschwin-
dender Menge; und man stellt sich vor, daß erbliche Schä-
den durch die Beschaffenheit des Kerns, nichterbliche dagegen
durch die des Plasmas bedingt sind.
Auch aus einem anderen Grunde könnten kenn schädig ende
Einflüsse, sowohl idiokinetische als auch parakinetische, in bei-
den Geschlechtern verschieden wirken. Während die männ-
lichen Keimzellen im geschlechtsreifen Alter aus den Stamm -
zellen in den Hoden durch Teilung dauernd neugebildet wer-
den, sind die weiblichen Keimzellen in den Eierstöcken schon
in ihrer endgültigen Zahl vorgebildet (40000 bis 100 000 nach
verschiedenen Schätzungen). Da wir nun Anlaß haben, anzu-
nehmen, daß idiokinetische Schädigungen hauptsächlich wäh-
rend der Reifungsteilungen statthaben können, so werden im
weiblichen Geschlecht solche Schäden vielleicht weniger wäh-
rend des erwachsenen Lebens als während der Embryonaient-
wicklung entstehen.
Außer den bisher besprochenen erbändernden Ursachen,
die im wesentlichen nur in der menschlichen Kultur vorkom-
men (Röntgenstrahlen, Gifte), gibt es vermutlich noch man-
cherlei andere mit der „Domestikation' ' verbundene erbändernde
Einflüsse. Wenn freilebende Tiere unter die Verhältnisse künst-
licher Zucht gebracht werden, so scheint das schon zu genügen,
um krankhafte Erbanlagen in großer Zahl entstehen zu lassen.
Wenn man z. B. eine Schmetterlingsart in der Gefangenschaft
fortzüchtet, so tritt regelmäßig schon nach wenigen Genera-
tionen eine so starke Entartung ein, daß die weitere Fortzüch-
tung große Schwierigkeiten macht oder gar nicht mehr mög-
lich ist, wovon ich mich an zahlreichen Zuchten überzeugt
habe. Auch die vielen Erbänderungen, die Morgan und
seine Mitarbeiter bei der Obstfiiege Drosophila fanden, sind
vielleicht zum großen Teil auf die unnatürlichen Verhält-
nisse der künstlichen Zucht zurückzuführen. Aber auch in
der freien Natur treten immer wieder Mutationen in nicht ge-
ringer Zahl auf. Idiokinetische Einflüsse sind also auch dort
wirksam.
580
FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Man ist geneigt, hier an jene Strahlen zu denken, die von dem Gehalt
an Radium und ähnlichen Stoffen in manchen Gesteins- und Bodenarten
ausgehen, sowie an die sogenannten kosmischen Strahlen, die man beson-
ders in höheren Luftschichten nachgewiesen hat. Babcock und C o 1 1 i n s 1 )
haben Drosophilakulturcn in einem Tunnel gezogen, in dem die radio-
aktive Bodenstrahlung etwa doppelt so stark wie an der Erdoberfläche war;
und sie fanden auch ungefähr doppelt so viele Mutanten wie in gewöhnlichen
Zuchten. Hanson und Heys 2 ) erhielten in einem Bergwerk in Colorado
eine Steigerung- der Mutationshäufigkeit auf etwa das Dreifache. Mullor
und Mott-Smith 3 ) sind aber zu dem Ergebnis gekommen, daß solche
Strahlungen von den in der freien Natur vorkommenden Mutationen weniger
als ein Tausendstel verursachen.
Was die Häufigkeit von Mutationen unter gewöhnlichen
Lebensbedingungen betrifft, so begegnet man sowohl der An-
sicht, daß sie sehr selten, als auch der andern, daß .sie sehr
häufig seien. Da „häufig" und „selten" relative Begriffe sind,
tut man gut zu fragen, wie häufig sie sind. Muller 4 ) hat
schon in seiner ersten einschlägigen Arbeit, die in dieser Hin-
sicht bahnbrechend war, gefunden, daß bei Drosophila unter
den gewöhnlichen Bedingungen der Zucht mehrere Prozent
aller Individuen Träger neuer Mutationen sind. Auf eine eben-
so hohe Zahl hat Baur auf Grund seiner Erfahrungen an
Antirrhinum geschätzt. Timofeeff 5 ) hat bei seinen Ver-
suchen o,i bis 0,2 o/o letale Mutationen für das X-Chromosom
der Drosophila gefunden. Wenn man bedenkt, daß in den
übrigen Chromosomen Mutationen in gleicher Häufigkeit zu
erwarten sind und daß zu den letalen Mutationen noch die
sterilisierenden und die krankhaften hinzukommen, so sprechen
auch diese Befunde für eine Mutationshaufigke.it von mehreren
Prozent. Meiner Ansicht nach besteht kein Anlaß anzunehmen,
x ) Babcock, E. B. and C o 1 li n s , J. L. Does natural ionizing radia-
tion control rate of mutation? Proceedings of the National Academy of
Sciences. Bd. 15. S. 625. 1929.
2 ) H a n s o n, F. E. and Heys, A. A possible relation berween natural
(earth) radiaüon and gene mutations. Science Bd. jv. S. 43. 1930.
3 ) Müller, H. J. and Mott-Smith, L. M. Evidence that natural
radioactivity is inadequate to explain the frequency of ,, natural" mutations.
Proceedings of the National Academy of Sciences. Bd. 16. Nr. 4. S. 277.
1930.
") Müller, IL J. und A 1 1 c 11 b u r g , E. The rate of change of
hcreditary factors in Drosophila. Proceedings of the Society for Experimenlal
Biology and Medicine. Bd. 17. S. 10. [919.
5 ) T i m o f e e f f - R e s s o v s k y , N. W., Zimmer, K. G. und D el-
brück, M. Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur. Nach-
richten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. r. Nr. 13.
Berlin 1935. Weidmann.
DIE 'NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 581
daß Mutationen beim Menschen grundsätzlich viel seltener
seien als bei der Obstfliege und dem Löwenmaul. Solange nicht
Belege für das Gegenteil beigebracht werden, wird man also
auch für den Menschen eine Mutationshäufigkeit von einigen
Prozent für wahrscheinlich halten müssen. Die letalen und die
sterilisierenden Mutationen — und das sind die meisten —
haben allerdings eine verhältnismäßig geringe Bedeutung, da
sie sich immer wieder selbst ausmerzen. Auch wenn man diese
abrechnet, bleibt für die krankhaften Mutationen aber noch
eine Häufigkeit von rund 1%. In einer Bevölkerung von über
60 Millionen kommen in einer Generation also vielleicht einige
Hunderttausend Mutationen vor, die zum größten Teil in dem
Auftreten krankhafter Erbanlagen bestehen.
Wenn man nicht die Individuen sondern die einzelnen
Gene ins Auge faßt, erscheint die Häufigkeit der Mutationen
viel geringer, obwohl im Grunde beides auf dasselbe hinaus-
kommt. Muller kam zu dem Schluß, daß in seinen Droso-
philazuchten im Durchschnitt ein Gen etwa alle 2000 Jahre
oder alle 50000 Generationen mutiere. Beim Menschen, ist die
Zahl der Gene vermutlich größer als bei Drosophila; auch die
Zahl der Chromosome beim Menschen ist ja größer. Wenn
man die Häufigkeit krankhafter Mutationen beim Menschen
auf 1 0/0 aller Individuen schätzt und einige Tausend Gene für
die Erbmasse des Menschen annimmt, so würde sich für das
einzelne Gen eine Mutationshäufigkeit von eins auf einige Hun-
derttausend ergeben. Da ein Gen in verschiedenen Richtungen
mutieren kann, würde die Wahrscheinlichkeit einer Genmuta-
tion in bestimmter Richtung noch wesentlich geringer sein,
vielleicht eins auf viele Millionen.
Nicht selten begegnet man der Ansicht, daß übermäßige
geistige Arbeit, wie sie in manchen Berufen die Regel ist,
zur Entartung und zum Aussterben der Familie führe. Bewie-
sen ist ein solcher Zusammenhang aber nicht ; vielmehr kann
das Aussterben der Familien geistiger Arbeiter sehr wohl haupt-
sächlich durch Gonorrhoe, Syphilis und absichtliche Geburten-
verhütung verursacht sein, und krankhafte Erbänderungen in
diesen Familien können durch ungesunde Einflüsse des städti-
schen Lebens entstehen; andererseits möchte ich aber auch die
Möglichkeit einer direkten schädlichen Wirkung übermäßiger
geistiger Arbeit auf die Erbmasse nicht ganz in Abrede stellen.
Wir wissen eben, bisher nichts Sicheres darüber, und vorsichti-
ger ist es, auch mit der schlimmeren Möglichkeit zu rechnen.
582 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
Entgegen einer verbreiteten Ansicht ist „Inzucht" keine
Ursache der Entartung im Sinne der Erbänderung. Die ein-
zige schädliche Wirkung der Inzucht, die wir kennen, besteht
in der Homozygotici'ung letaler, sterilisierender und sonstiger
krankhafter Erbanlagen (vgl. S. 499 f.). Gerade in jenen Fällen,
wo engste Inzucht durch mehrere Generationen berichtet wird,
wie von der Sippe der Ptolcmäer und dem altperuanischen Herr-
scherhause der Inkas, sind schädliche Folgen der Inzucht nicht
berichtet worden. Thu.tm.ose III., der nach Ruffer aus einer
fünf Generationen langen engsten Inzucht (Geschwisterehen)
der 18. ägyptischen Dynastie hervorgegangen ist, soll der tat-
kräftigste und weitschanendste aller ägyptischen Pharaonen
gewesen sein 1 ).
Miss King 3 ) hat weiße Ratten 25 Generationen hindurch in In-
zucht weitergezüchtet und keinerlei schädliche Folgen feststellen können;
im ganzen umfaßte die Zucht 25000 Ratten. Dabei fand allerdings eine
scharfe Auslese der kräftigsten Tiere für die Weiterzucht statt; das aber hat
sich jedenfalls mit Sicherheit ergeben, daß auch lange fortgesetzte engste
Inzucht als solche bei Ratten nicht zur Entartung zu führen braucht. Castle 3 }
hat die Obstfliege Drosophila sogar 59 Generationen hindurch in engster
Inzucht fortgezüchtet, ohne schädliche Folgen feststellen zu können.
Ein „Altern" einer Sippe und eine „Verjüngung" durch
„Blutauffrischung" gibt es nicht. Auch die „ältesten" Adels-
geschlechter sind ja biologisch nicht älter als alle anderen Sip-
pen. Schon beim Einzelmenschen beruht durchaus nicht jede
fortschreitende Schwäche auf Altern; erst recht nicht bei einer
Sippe oder einer Rasse, die ein „Altern" aus inneren Grün-
den überhaupt nicht kennt.
Auch die Ansicht, daß zu niedriges Alter der Eltern Minderwer-
tigkeit der Nachkommen zur Folge habe, läßt sich nicht aufrechterhalten.
Wenn die Kinder sehr junger Eltern (unter 17 Jahren) im Durchschnitt
minderwertiger befunden werden, so kommt das daher, daß unter unsom
Lebensverhältnissen Individuen, die in so früher Jugend zur Fortpflanzung
kommen, meist selber minderwertig sind (schwachsinnige Mädchen). Ande-
rerseits stellen auch alte Erstgebärende, deren Kinder ebenfalls oft minder-
wertig sein sollen, eine ungünstige Auslese dar; und alte Väter, zumal spät
heiratende, haben im Durchschnitt häufiger Syphilis erworben als junge
und sind allerlei Schädlichkeiten (Alkohol, Tabak u. a.) viel länger ausge-
setzt gewesen. Die mongoloidc Idiotie (s. d.), die sich vorzugsweise bei
Kindern alter Mütter findet, ist vermutlich kein echtes Erbleiden, sondern
eine Dauermodifikation.
1 ) Nach Popcnoe, P. Modern Marriage. New York 1925. S. 62 — 64.
s ) King, H. D. Studies 011 Inbreeding. Journal of Experimcntal
Zoology. Bd. 26. Nr. 1 u. 2, Bd. 27. Nr. 1 u. Bd. 29. Nr. 1 (1918—-I9).
3 ) Castle, VV. E. Genetics and Eugenics. Cambridge (Mass.) 1922.
S. 230,
DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 583
Auch eine angebliche „Minderwertigkeit der Erstgeborenen", von der
in der älteren rassenhygienischen Literatur viel die Rede ist, hat sich nicht
bestätigt. Zwar sind die Erstgeborenen im Durchschnitt etwas leichter als
die folgenden Kinder, vermutlich weil die Gebärmutter das erste Mal an ihre
Aufgabe noch nicht ganz so gut angepaßt ist wie später; aber dieses ge-
ringere Geburtsgewicht gleicht sich später aus. Die statistischen Belege, die
man für eine „Minderwertigkeit der Erstgeborenen" in bezug auf Geistes-
krankheiten, Kurzsichtigkeit, Tuberkulose u. a. hat beibringen wollen, halten
der Kritik nicht stand. Daß unter den Minderwertigen sich verhältnismäßig
viele Erstgeborene finden, kommt erstens daher, daß es überhaupt mehr
Erstgeborene als Kinder von irgendeiner andern Geburtennumrner gibt. Zwei-
tens trägt der Umstand, daß kranke Familien im Durchschnitt weniger
Kinder haben als gesunde, zu jener Erscheinung bei 1 ). Sodann sind Leiden
wie Geisteskrankheiten, Kurzsichtigkeit, Tuberkulose, die erst im Laufe des
Lebens zur Entwicklung kommen, öfter schon bei Erstgeborenen ausgebil-
det, wenn sie bei später geborenen Geschwistern noch nicht gefunden wer-
den. Wenn in Familien von gleicher Kinderzahl Individuen von gleichem
Lebensalter verglichen wurden, hat sich nichts von einer „Minderwertigkeit
der Erstgeborenen" gezeigt 3 ).
Auf großen Beifall pflegt die Behauptung rechnen zu kön-
nen, daß die Entartung vor allem durch Unterernährung ent-
stehe und daß sie also vermieden werden könne, wenn mehr
gegessen und getrunken werde. Durch Unterernährung im
Kindes- und Jugendalter kann das Wachstum nicht nur vor-
übergehend, sondern bis zu einem gewissen Grade auch dauernd
gehemmt werden. Ein derartiger Kummer wuchs ist aber als
Dauermodifikation aufzufassen; er bedeutet also keine Erb-
änderung oder Entartung. Die Unterernährung der deutschen
Bevölkerung in der Hungerzeit der späteren Kriegs- und der
ersten Nachkriegsjahre hat zwar zweifellos eine gesundheit-
liche Schädigung des Nachwuchses zur Folge gehabt, und die
betreffenden Jahrgänge sind etwas kleiner und leichter ge-
blieben, als sie unter anderen Umständen geworden wären; es
besteht aber glücklicherweise gar kein Grund zu der Annahme,
daß dadurch eine wirkliche Entartung bewirkt worden sei. So-
weit erbbedingte Schwächezustände in jenen Jahrgängen häu-
figer sind als in andern, ist das darauf zurückzuführen, daß der
Nachwuchs der Kriegs- und Nachkriegszeit vorzugsweise von
schwächlichen und kränklichen Vätern, die nicht kriegs tauglich
waren, stammt. Die Stellungnahme in solchen Fragen wird
bei unkritischen Köpfen gar zu leicht durch politische, mora-
1 ) Ploetz, A. Neomalthusianismus und Rassenhygiene. ARGB. Bd.
10. II. 1/2. S. 169.
2 ) Vgl. auch Weinberg, W. Über die Frage der Minderwertigkeit
der Erstgeborenen. Öffentliche Gesundheitspflege. Jg. 1. FI. 6. 191 6.
584 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
lische oder sonstige Gefühlsregungen beeinflußt. Aus ähn-
lichen Gründen ist übrigens offenbar oft auch die erbschä-
digende Wirkung des Alkohols und der Syphilis übertrieben
worden; und andererseits wird die Gefahr einer Schädigung
der Erbmasse durch Röntgenstrahlen und Arzneimittel aus
Gefühlsgründen gern geleugnet. Es besteht vielfach die Nei-
gung, die Entartung als Folge unmoralischen Verhaltens anzu-
sehen und alle Dinge, die als moralisch einwandfrei gelten, als
unschädlich auch in dieser Hinsicht. Die Natur aber kennt
keine moralischen Wertunterschiede, sondern nur Notwendig-
keit. Es sind keineswegs immer „Sünden der Väter", die im
Sinne der Entartung wirken; oft ist es vielmehr gerade die
Aufopferung der Besten, z. B. im Kriege oder im Röntgen-
betrieb. Gerade darin liegt eine besondere Tragik. Hinter der
Behauptung einer Entartung durch Unterernährung, Überarbei-
tung usw. verbergen sich oft auch lamarekistische Unklarhei-
ten, indem die durch solche äußeren Schäden erworbenen Er-
schöpfungszustände einfach als erblich angenommen werden.
Nahe Beziehungen zu dem lamar elastischen Aberglauben hat auch das
sogenannte „Versehen der Schwangeren". Wenn z. B. ein Kind mit einem
behaarten „Muttermal" zur Weit kommt, so wird das vom Vülksabcrglauben
darauf zurückgeführt, daß die Mutter während der Schwangerschaft durch
eine Maus erschreckt worden sei. Entsprechend sollen „Feuermäler" von
dem Anblick eines Feuers oder vom Anblick roter Erdbeeren herrühren.
Wenn ein Kind auffallend häßlich ist, so hat sich die Mutter z. B. an einem
Affen „versehen". Selbstverständlich handelt es sich in allen solchen Fällen
um nachträgliche Zurcchtdeutungen. Mißbildungen sind vielfach auf den
Anblick eines Verstümmelten zurückgeführt worden, oft auch einfach auf
einen heftigen Schreck, den die Mutter erlitt. Wenn ein Kind weinerlich
veranlagt ist, so soll das daher kommen, daß die Mutter während der Schwan-
gerschaft viel geweint habe, während der wirkliche Zusammenhang vielleicht
darin liegt, daß bei Mutter und Kind sich dieselbe Erbanlage äußert.
Seit man in weiteren Kreisen etwas von „innerer Sekretion"
gehört hat, begegnet man öfter der Ansicht, daß die Erbände-
rung auf diesem für viele mit dem Reiz des Pikanten umgebe-
nen Wege zustandekomme, so z. B. in der „Sozialbiologie" des
Juristen Elster 1 ). Derartige dilettantische Lehren werden von
Laien um so leichter kritiklos hingenommen, je weniger sie
sich eine Vorstellung von dem behaupteten Vorgang machen
können. Der Zusammenhang zwischen der Erbmasse und der
inneren Sekretion besteht nicht darin, daß die innere Sekretion
die Erbmasse ändere, sondern vielmehr umgekehrt darin, daß
die Organe der inneren Sekretion ihren Ursprung aus derErb-
1 ) Elster, A. Sozialbiologie. Berlin u. Leipzig 1923.
DIE NEUENTSTEHUNG KRANKHAFTER ERBANLAGEN. 585
masse nehmen. Die innere S-ekretion ist ein Weg, auf dem die
Erbmasse sich auswirkt, wie Morgan 1 ) sich ausgedrückt hat.
Sehr verbreitet ist der Aberglaube von einer Nachwirkung
früherer Befruchtungen; man hat dafür auch die als wissen-
schaftliche Fachausdrücke imponierenden Worte „Telegonie"
und „Imprägnation" geprägt. So soll eine Hündin von edler
Rasse, che einmal von einem unedlen Köter befruchtet worden
ist, in Zukunft auch von keinem Hunde ihrer eigenen Rasse
mehr reinrassige Nachkommen bekommen können. Wenn eine
derartige Nachwirkung wirklich stattfände, so würden natür-
lich auch erbliche Krankheiten auf ähnliche Weise verbreitet
werden können, und dieser Unsinn ist denn auch tatsächlich
behauptet worden. Anhaltspunkte für eine solche Möglichkeit
in Gestalt einwandfreier Tierversuche gibt es nicht; und nach
allem, was wir über die Gesetze der Erblichkeit wissen, kann es
sich nur um einen Aberglauben handeln. Dieser ist zu einer Zeit
entstanden, als man noch nicht wußte, daß die Befruchtung
durch Eindringen eines Samenfadens in die Eizelle zustande
kommt, daß also ein Tier nur einen Vater haben kann. Psycho-
logisch dürfte der Aberglauben von der „Telegonie" sich fol-
gendermaßen erklären :
Vor der Entdeckung des Mendelschen Gesetzes mußte es
als höchst auffallend erscheinen, wenn eine Hündin nach Be-
fruchtung durch einen Hund von demselben Typus gelegent-
lich Jung"e mit Merkmalen einer anderen Rasse warf. Heute
wissen wir, daß es sich dabei um Ausmencleln verborgener Erb-
anlagen handelt. Wenn die betreffende Hündin nun früher von
einem Hunde einer anderen Rasse oder gar von einem „Köter"
gemischter Rasse belegt worden ist, was meist nur gegen den
Willen und sehr zum Ärger des Hundezüchters geschieht, so
kommt dieser, wenn er nach dem für ihn nächstliegenden
Augenschein urteilt, zu der Annahme, daß der Erbwert der
Hündin durch fremde Befruchtung verdorben worden sei. Und
in der Tat setzt das Äusmendeln fremder Rassenanlagen eine
fremdrassige Beimischung voraus. Diese hat aber in früheren
Generationen stattgefunden und nicht durch die Begattung
seitens eines Hundes, von dem die abweichenden Jungen gar
nicht stammen.
In manchen Fällen mag der Trugschluß auch auf noch gröbere Weise
entstanden sein. Es kommt vor, daß eine Hündin in demselben Wurf Junge
J ) Morgan, Th. IT. Human inheritance. The American Naturalist.
Bd. 58. Nr. 65S. 1924.
586 FRITZ LENZ, DIE KRANKHAFTEN ERBANLAGEN.
von zwei verschiedenen Hunden bekommt. Da eine laufige Hündin nicht
leicht zu überwachen ist, weiß der Hundebesitzer, der die Hündin mit
einem Hunde paart, öfter nicht, daß sie am Tage vorher von einem andern
Hunde belegt worden ist. Und wenn er in dem Wurf Junge mit fremden
Rassenmerkmalen beobachtet, so schreibt er diese womöglich einer früher
von ihm beobachteten Begattung zu, die vor einem Jahr oder länger statt-
gehabt haben mag.
Eine dankenswerte Kritik angeblicher Belege einer Tele-
gonie hat Prof. Lothar Loeffler auf Veranlassung des
Rassenpolitischen Amtes in der Zeitschrift des Nationalsozia-
listischen Deutschen Ärztebundes veröffentlicht 1 ).
Der Aberglaube von der „Telcgonie" bildet eine Hauptgrundlage eines
antisemitischen Sensationsromans. (A. D int er, „Die Sünde wider das
Blut"), der in den ersten Jahren nach dem Kriege in Hunderttausende!!
von Exemplaren verbreitet worden ist. Es wird darin so dargestellt, als ob
infolge solcher Nachwirkungen das deutsche Volk mehr und mehr durch
jüdisches Blut vergiftet werde. Es liegt mir fern, die Vermischung deutscher
Sippen mit jüdischer Erbmasse etwa als unbedenklich hinzustellen; diese
Frage wird im zweiten Bande besprochen. Hier ist nur festzustellen, daß es
eine „Telcgonie" nicht gibt und daß ein derartiger Vorgang an der Rassen-
verschlechterung nicht beteiligt ist.
Vierter Abschnitt
>ie Methoden menschlicher
Erbforschung
Von
Professor Dr. Fritz Lenz.
2 ) Loeffler, L, Gegen Aberglauben in der Rassenfrage. Ziel und
Weg. Jg. 5. H. 20. S. 448, 1935.
Die menschliche Erblehre gründet sich in ihren allgemei-
nen Sätzen auf Analogieschlüsse aus Ergebnissen der
experimentellen Erbforschung an Tieren und Pflanzen und in
ihren speziellen Sätzen auf, direkte Erfahrungen am Menschen.
Der Erkenntniswert von Analogieschlüssen hat natürlich seine
Grenzen, aber doch nicht so enge wie öfter angenommen wird.
Gesetzlichkeiten, die bei Erbsen und Löwenmaulpflanzen, bei
Fliegen und Schmetterlingen, bei Hühnern und Kanarienvögeln,
bei Mäusen und Kaninchen in gleicher Weise Geltung haben,
die gelten selbstverständlich auch für den Menschen.
So kann die Geltung des M endeis clien Gesetzes
für den Menschen durch Analogieschluß als sichergestellt gel-
ten. Das heißt: Auch die Erbmasse des Menschen
bestellt ausgesonderten, in den Keimz eilen s to ff -
lieh angelegten Einheiten, die im Laufe der Ge-
nerationen unter Wahrung ihrer Eigenart sich
trennen und neu zusammenfügen und von denen
je zwei sich gegensätzlich verhalten in dem Sinne,
daß sie bei der Keimzellenbildung niemals in
dieselbe, sondern regelmäßig in verschiedene
Keimzellen gehen, von denen also jede die Wahr-
scheinlichkeit 1 / 2 h a t , am Aufbau eines bestimm-
ten Kindes mitzuwirken. Die mannigfachen direkten Er-
fahrungstatsachen über die Erblichkeit menschlicher Anlagen
stimmen durchaus damit überein, und wir kennen keine Tat-
sachen genealogischer oder statistischer Erfahrung, die einer
ausnahmslosen Geltung des Mendelschen Gesetzes für den Men-
schen etwa widersprächen. Was bei Pflanzen als sichere Tat-
sachen nichtmendelscher Vererbung vorgebracht worden ist
(Chromatophorenübertragung u. a.), hat beim Menschen keine
Analogie.
Aus den Erfahrungen an Tieren und Pflanzen darf man
auch schließen, daß auch beim Menschen keine „Vererbung
erworbener Eigenschaften" vorkommt. Es wäre widersinnig an-
zunehmen, daß der Mensch in dieser Hinsicht sich anders ver-
halten sollte als die Tiere.
Durch Analogieschluß aus Erfahrungen an Tieren in Ver-
bindung mit den Erfahrungen über geschlechtsgebundene Erb-
590
FRITZ LENZ, METHODEN.
anlagen ist auch die Geschlechtsbestimmung beim Menschen
aufgeklärt worden. In welchem Sinne, wurde ja weiter oben
auseinandergesetzt. Die Zahl der Chromosome beim Menschen
beträgt 48 in diploiden Zellen (befruchtete Eizelle, Körper-
zellen) und 24 in haploiden Zellen (Keimzellen). Beim Mann
ist nach Painter 1 ) außer einem X-Chromosom auch ein klei-
nes Y-Chromosom vorhanden. Die Zahl der Chromosome scheint
in allen menschlichen Rassen dieselbe zu sein 3 ). Im übrigen
ist die Zellforschung als Methode für die menschliche Erb-
lehre nur von sehr beschränkter Bedeutung.
Wo es sich nicht um die allgemeinen Gesetzlichkeiten han-
delt, sondern um spezielle Verhältnisse, da können diese beim
Menschen natürlich anders liegen als bei einem Tier, das den
Anlaß zur Prüfung einer Frage bezüglich des Menschen gab.
So ist der Anstoß zur Klarstellung der Geschlechtsbestimmung
beim Menschen ursprünglich nicht von den Befunden an der
Obstfliege Drosophila, die analoge Verhältnisse zeigt, ausge-
gangen, sondern von denen an Schmetterlingen, bei denen
nicht das männliche Geschlecht das heterogametische ist, son-
dern das weibliche. Aber auch das gerade umgekehrt-analoge
Verhalten genügte, um den richtigen Weg für die Lösung der
Frage beim Menschen zu weisen. In andern Fällen geht die
Analogie freilich viel weiter. Der vollständige Albinismus beim
Menschen ist in derselben Weise erblich, bedingt wie bei man-
chen Tieren, nämlich einfach rezessiv. Da man aber von vorn-
herein nicht weiß, wie weit die Analogie gehen wird, ist in
jedem Fall die Prüfung an menschlichem Erfahrungsmaterial
unerläßlich.
Der Hauptwert der Analogieschlüsse liegt darin, mögli-
che Hypothesenzu zeigen ; und unter diesen muß dann auf
Grund des unmittelbaren Erfahrungsmaterials am Menschen
eine Auslese getroffen werden. Ohne die Erkenntnis der Ge-
schlecht sbestimmung bei Tieren wäre die Lösung der Frage
beim Menschen schwerlich so bald gelungen. Man kann aber
nicht sagen, daß sie unmöglich gewesen wäre. Seit Jahrtausen-
den sind allerlei Hypothesen darüber aufgestellt worden, die
aber alle mit den Erfahrungstatsachen mehr oder weniger in
Widerspruch gerieten. Es ist jedoch durchaus nicht von der
1 ) Painter, T. S. Sex chromosomes of man. American Naturalist
Bd. 58, S. 506, 1924.
3 ) Evans, H. M. and Swezy, O. The chromosomes in man, sex
and somatic. Memoirs of the University of California. Bd. 9. 1929.
ANALOGIESCHLOSSE AUS EXPER1M. BEFUNDEN.
591
Hand zu weisen, daß schließlich auch einmal die richtige auf-
gestellt worden wäre, und diese würde der Kritik am Erfah-
rungsmaterial, zumal den Tatsachen über die geschlechtsge-
bundene Vererbung, dann standgehalten haben.
Der Fortschritt der Wissenschaft geschieht dadurch, daß
unter den möglichen Hypothesen durch das beigebrachte Er-
fahrungsmaterial eine Auslese getroffen wird, indem die einen
dadurch widerlegt werden, die andern an Wahrscheinlichkeit
gewinnen. Erst wenn unter einer großen Zahl von Erfahrun-
gen sich kein Widerspruch gegen eine Hypothese ergibt, wird
diese zu einem wohlbegründeten Besitz der Wissenschaft. Vor
voreiligen Schlüssen kann bis zu einem gewissen Grade die Be-
rechnung des Fehlers der kleinen Zahl bewahren (vgl. S. 616).
Irrige Tagesmeinungen entstehen öfter auf folgende Weise: Ein phan-
tasiebegabter Autor hat einen Einfall. Er macht ein paar Versuche, die zu-
fällig seiner Erwartung entsprechen und veröffentlicht sie schleunigst. Das
lesen minder phantasiebegabte Autoren, und es entsteht in ihnen der Wunsch,
an der Entdeckung beteiligt zu sein. Bei den meisten von ihnen haben die
Versuche kein deutliches oder ein entgegengesetztes Ergebnis; diese sehen
von einer Veröffentlichung ab, weil bei den Versuchen „nichts herausge-
kommen" ist. Andere Nachuntersucher, bei denen die Versuche zufällig auch
im Sinne der Erwartung ausfallen, veröffentlichen dagegen ihre Ergebnisse,
Dann schreibt jemand ein Sammelreferat, in dem festgestedt wird, daß die
Entdeckung bereits durch mehrere Nachuntersucher bestätigt worden sei.
Das wirkt auf weitere strebsame Autoren so suggestiv, daß sie ihre eigenen
Befunde nun auch im. „Lichte" der neuen Theorie sehen und deuten. Wenn
sich einzelne Gegenstimmen erheben, wird die Verfechtung der Entdeckung
zur Ehrensache; und es dauert unter Umständen viele Jahre, bis sie von
einer neuen abgelöst wird.
Die gewaltigen Erfolge, die die allgemeine Genetik der
Verwendung der Drosophila als Versuchstier verdankt, legen
den Gedanken nahe, daß auch der menschliche Erbforscher
gut tue, mit Drosophila zu arbeiten. Selbstverständlich muß der
menschliche Erbbiologe auf dem Gebiet der allgemeinen Ge-
netik beschlagen sein ; und es ist für ihn auch nützlich 1 , wenn
er mit der Biologie der Tiere und Pflanzen aus eigener Erfah-
rung vertraut ist, Die experimentelle Genetik ist aber bereits
so weit ausgebaut, und ihre Untersuchungen erfordern heute
einen so großen Aufwand an Material, Einzelarbeit und Fach-
kenntnissen, daß der menschliche Erbforscher nicht erwar-
ten darf, er könne gewissermaßen nebenher genetische Ent-
deckungen mit Drosophila machen. Dem Anfänger passiert
es nur zu leicht, daß er Befunde, die dem Fachgenetiker längst
bekannt, sind, für neue Entdeckungen hält. Er pflegt dann neue
anspruchsvolle Fachausdrücke dafür zu erfinden, und es gelingt
392
FRITZ LENZ, METHODEN.
ihm wohl auch, bei dem wissenschaftlichen .Publikum den Ein-
druck zu erwecken, daß er eine bedeutende wissenschaftliche
Entdeckung gemacht habe. Im Grunde aber hat er nur die baby-
lonische Sprachverwirrung der Erblehre um einige Fremdwörter
bereichert, die vielleicht nicht einmal klar definiert sind.
Selbst Säugetierversuche sind für die menschliche Erbfor-
schung nur in recht beschränktem Umfang verwendbar. Die Erb-
lichkeit bestimmter Krankheiten oder besonderer Eigenschaften
kann auf diese Weise nicht aufgeklärt werden. Wie "in dem Ab-
schnitt über die krankhaften Erbanlagen ausgeführt wurde,
können klinisch sehr ähnliche Krankheitsbilder teils dominant,
teils rezessiv, teils geschlechtsgebunden und teils rein umwelt-
bedingt sein. Analogieschlüsse vom Tier auf den Menschen sind
hier also nicht statthaft. Auf die großen Schwierigkeiten der
Feststellung von Erbänderungen bei Säugetieren wurde schon
bei Besprechung der Versuche zur Erzeugung von Mutationen
hingewiesen. Immerhin ist dies ein Gebiet, auf dem Untersu-
chungen an Säugetieren durch solche an Drosophila nicht voll
ersetzt werden können. Die grundsätzlichen und allgemeinen
Verhältnisse der Erbänderung können zwar an Drosophila
aufgeklärt werden. Im einzelnen, z.B. in quantitativer Hinsicht,
aber sind die Verhältnisse bei Säugetieren denen beim Men-
schen sicher ähnlicher (vgl. S. 568 f.).
Auf eine naheliegende Gefahr des Irrtums sei besonders
hingewiesen. Die gebräuchlichen Versuchstiere Mäuse, Kanin-
chen, Meerschweinchen stammen meist aus Inzuchtlinien; die
Individuen eines Stammes sind daher in viel höherem Maße
erbgleich als die Individuen einer menschlichen Bevölkerung,
Dieser Umstand macht die genannten Versuchstiere gerade
besonders geeignet für das Studium von 'Umweltwirkungen wie
Infektionen, Gift Wirkungen, Ernährungseinflüssen. Eben dar-
um aberhaben die Bakteriologen bei ihren Tierversuchen meist
keine erblichen Unterschiede der Widerstandsfähigkeit bzw.
Anfälligkeit gefunden.
Agnes Bhhm 1 ) hat in ihren Mäusezuchten keine wesentlichen erb-
lichen Unterschiede des Geburtsgewichts gefunden; in ihrem ingezüchteten
Mäusestamm trat daher die Erbbedingtheit des Geburtsgewichts gegenüber
den Einflüssen der Umwelt ganz zurück. Fahlbusch 3 ) dagegen, der auf
meine Veranlassung die Erbbedingtheit des Geburtsgewichts in verschiede-
] ) Blüh m , A. Über einige das Geburtsgewicht der Säugetiere beein-
flussende Faktoren. Archiv für Entwicklungsmechanik. Bd. 116. S. 348. 1929.
3 ) Fahlb usch, W. Wie weit ist das Geburtsgewicht erbbedingt?
Dissertation München 1934.
GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
593
nen Kaninchenrassen und ihren Kreuzungen untersucht und damit die Er-
fahrungen am Menschen verglichen hat, ist umgekehrt zu dem Schluß ge-
kommen, daß das Geburtsgewicht im wesentlichen erbbedingt ist und daß
die gewöhnlichen Unterschiede der Lebensbedingungen nur einen geringen,
kaum nennenswerten Einfluß darauf haben. Die Bestände der gezüchteten
Kaninchen entsprechen in ihrer genetischen Buntheit ungefähr der mensch-
licher Bevölkerungen, nicht aber ingezüchtete Stamme weißer Mäuse, natür-
lich auch nicht ingezüchtete Stämme von Kaninchenrassen.Man kann daher
aus den Befunden von Agnes Bluhra keine weitgehenden Schlüsse auf
die Bedeutung des Geburtsgewichts beim Menschen ziehen 1 ).
sgisch-
Während der experimentierende Erbforscher bestimmte
Kreuzungen absichtlich herbeiführt, sucht der menschliche Erb-
forscher sie auf. So hat Eugen Fischer die Nachkommen
von Hottentottenkreuzungen planmäßig aufgesucht (vgl. S. 288),
Rodenwaldt die von Malayenkreuzungen (S. 289). Über-
haupt ist anzunehmen, daß alle Kreuzungen, che praktisch von
Interesse sind, in den Millionenbevölkerungen der Menschen
irgendwo schon vorhanden sind ; und wenn man sie aufsucht,
so ist das ein vollwertiger Ersatz für ihre absichtliche Herbei-
führung, die noch den Nachteil haben würde, viel zeitraubender
zu sein. Auch bei krankhaften Anlagen ist dieser Weg ange-
zeigt. So hat Vogt systematisch nach £"amilien mit rotgrün-
blinden Töchtern gesucht und dabei wertvolle Aufschlüsse er-
halten (vgl. S. 363).
Wenn in der menschlichen Erbforschung die Erhärtung
der Hypothesen nicht an der Hand von experimentellen son-
dern nur von statistischen Erfahrungen erfolgen kann, so ist
das kein so grundsätzlicher Unterschied gegenüber der expe-
rimentellen Forschung, wie öfter angenommen wird. Auch die
Bestimmung einer chemischen oder physikalischen Zahl erfolgt
als Mittel aus einer Anzahl von Messungen und ist darum mit
einem wahrscheinlichen Fehler behaftet. Der Erkenntniswert
der Statistik ist von dem der experimentellen Methode nur dem
Grade nach verschieden; und die menschliche Erblehre kann
sich, was die Sicherheit der Erkenntnisse betrifft, neben der
sonstigen Heilkunde und Hygiene durchaus sehen lassen. Die
experimentell fundierte allgemeine Erblehre läßt gar nicht so
unübersehbar viele Möglichkeiten offen, und die Wahl unter
x ) B 1 u h m , A. Die Bedeutung des Geburtsgewichtes für die körperliche
Entwicklung des Individuums. Archiv für soziale Hygiene und Demographie.
1928. tieft 5.
Baur-FisclieF-I,eiiz I.
594
FRITZ LENZ, METHODEN.
GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
595
diesen kann in sehr vielen Fällen an der Hand statistischen
Materials beim Menschen mit einer praktisch völlig genügen-
den Sicherheit getroffen werden, einer Sicherheit, die gegen-
über den sonstigen Entscheidungen des praktischen Lebens
durchaus nicht zurückstellt.
Die Erfassung gegebener Tatsachen durch Maß und Zahl
und ihre Verarbeitung zum Zwecke der Gewinnung allgemein-
ner Regeln oder Gesetze macht das Wesen der statisti-
schen Methode aus. Auf dem Gebiete der menschlichen
Erblehre kann und muß diese auf zwei verschiedenen Wegen
betrieben werden, einerseits mehr individualstat istisch
oder genealogisch und andererseits mehr massenstati-
stisch oder biometrisch.
Die individualstatistische Erbforschung geht bestimmten
Erbanlagen innerhalb einzelner Verwandtschaftskreise nach.
Ihre Methode ist die der Sippengeschichte oder Ge-
nealogie. Der Historiker Kekule vonS t radonitz 1 ) hat
sogar gemeint, es sei die Hauptaufgabe der Genealogie, „für
die Vererbungswissenschaft, soweit sich diese mit dem Men-
schen beschäftigt, den Stoff heranzuschaffen". Danach wäre
die Genealogie im wesentlichen nur eine Hilfswissenschaft der
Erblehre. Mir scheint indessen, daß ihre eigentliche Bedeu-
tung nicht auf naturwissenschaftlichem sondern auf histori-
schem Gebiet liegt. Der Erblehre als Naturwissenschaft kommt
es auf das Allgemeine und Gesetzliche an, während ihr die
einzelnen Personen und Sippen als solche gleichgültig sind. Sie
will z. B. wissen, wie sich die Schizophrenie vererbt und nicht
eigentlich, wie diese gerade in den Sippen der Weifen und Wit-
telsbacher aufgetreten ist. Die historische Kenntnis ist ihr nur
Mittel zum Zweck der allgemeinen Erkenntnis. Die Genealogie
dagegen ist ihrem Wesen nach eine historische Disziplin; es
kommt ihr auf das Individuelle an, auf die einzelnen Personen
und Sippen und deren Zusammenhänge. Für sie ist die Erblehre
als Hilfswissenschaft unentbehrlich, während sie ihrerseits für
die Erblehre nur in beschränktem Maße als Hilfswissenschaft
in Betracht kommt.
Das von der Genealogie zusammengetragene Material ist
für die Erbforschung in der Regel unzulänglich. Aus früheren
Zeiten fehlen meist zuverlässige Unterlagen; und solche hätten
hinsichtlich der meisten Eigenschaften auch nur von medizini-
1920. Nr, i.
S t r a d o 11 1 1 z , St., Im „Deutschen Herold",
sehen oder psychologischen 'Fachleuten beschafft werden kön-
nen. Die historische Genealogie kann der Erbforschung daher
in der Hauptsache nur durch den Nachweis von Sippenzusam-
menhängen dienen und nur in zweiter Linie durch Berichte über
die Eigenschaften einzelner Personen.
DieFamilienforschung, die der Erbforscher betreiben muß,
ist naturwissenschaftliche Familienkunde oder
F a m i 1 i e n a n t h r o p o 1 o g i e. Zweckmäßige Anweisungen
dafür finden sich bei Seh ei dt 1 ) und Siemens 2 ).
Wenn die Eltern und Voreltern einer Ausgangsperson
(eines Probanden), zusammengestellt werden, so spricht
man von ihrer Ahnentafel, wenn alle Nachkommen eines
bestimmten Stammelternpaares aufgezeichnet werden, von einer
Nachkommentafel (Deszendenztafel) oder einem Stamm-
baum. Für che Kennzeichnung
<f
cf
<s
o
+
tf
9
*
cT
9
o
Fig. 196.
Schema einer A h 11 e 11 1 a f e 1.
der einzelnen Personen einer
Ahnentafel oder eines Stamm-
baums sind verschiedene Beziffe-
rungssysteme aufgestellt worden,
die bei S c h e i d t besprochen
sind. Siemens ordnet einfach
nach dem Namen in Form
einer Kartothek. Der vor Jah-
ren geführte Streit zwischen
Stammbaum und Ahnentafel
kann heute als dahin entschieden
gelten, daß beide Methoden einseitig und in dieser Einseitig-
keit für die Erbforschung unzulänglich sind. Für die erbbiolo-
gische Beurteilung eines Menschen sind nicht nur seine Vor-
fahren sondern auch seine Geschwister und andere nähere Sei-
tenverwandte sowie seine eventuellen Kinder von Bedeutung.
Durch Zusammenstellung aller dieser Blutsverwandten entsteht
eine S i p p e n t a f e 1 , die oft, wenn auch nicht ganz treffend,
ebenfalls als Stammbaum bezeichnet wird.
Die schematische Darstellung einer männlichen Person
durch einen Kreis mit oben schräg anschließendem Pfeil und
einer weiblichen durch einen Kreis mit unten anschließendem
Kreuz, wie sie in diesem Buch angewandt wird, ist die in
*) Scheidt, W. Einführung in die naturwissenschaftliche FamiHen-
kundc. München 1923.
8 ) Siemens, H. W. Bedeutung und Methodik der Ahnentafelfor-
schung. ARGB. Bd. 24. S. 185. 1930.
38*
596
FRITZ LENZ, /METHODEN.
Deutschland und England übliche. Daneben ist eine andere in
Gebrauch, hauptsächlich in Amerika, bei der eine männliche
Person durch ein liegendes Quadrat, eine weibliche durch einen
Kreis und eine Person unbekannten Geschlechts durch ein auf
der Spitze stehendes Quadrat oder durch ein Dreieck bezeich-
net wird.
Unter Verwendung dieser Symbole hat die International Föderation of
Eugenic Organizations ein standardisiertes System für alle Darstellungen
von Sippentafeln empfohlen 1 ). Zur Begründung ist angegeben worden, daß
solche Sippentafeln übersichtlicher seien. Ich kann das nicht finden; für
mich sind vielmehr die herkömmlichen, auch in der Biologie seit je gebräuch-
lichen Geschlcchtssymbole ungleich übersichtlicher. Just 2 ) erklärt die ame-
rikanischen Symbole geradezu für unpraktisch. Zum guten Teil ist es eine
Sache der Gewohnheit, welche Symbole man leichter lesen kann. Im übrigen
haben die uralten überlieferten Geschlechtssymbole eine Art von Prioritäts-
recht; sie stehen den amerikanischen jedenfalls in keiner Weise an Handlich-
keit und Deutlichkeit nach. Das oben gegebene Ahnentafel Schema nimmt
sich in der amerikanischen Art der Darstellung folgendermaßen aus:
Man muß sich hüten, die Bedeu-
O | | O EU O D O tuIi S einzelner Ahnen für die Beurtei-
i i i i i i i i lung der Erbbeschaffenheit eines Men-
_ sehen zu überschätzen. Ein großer Teil
I I \_) L_J \~J aller weit zurückreichenden Stammbäu-
! | I i ; ! me fängt mit Karl dem Großen an;
i — | r") und in der Tat stammt wohl ein gro-
, ; ßer Teil aller heute lebenden Deut-
schen irgendwie von diesem ab, viel-
leicht sogar alle Angehörigen alter
Adelsgeschlechtcr. Das besagt aber
l< ig. 197. se j lr wcn |g j wenn man bedenkt, daß
Dieselbe Ahnentafel in der amerikani- seitdem Über 30 Generationen verflos-
senen Art der Darstellung. sen sind und daß ohne Ahnenverlust
jeder unserer Zeitgenossen über 2 ;{I >,
d. h. mehr als eine Milliarde Ahnen jener Generation haben würde, die
grundsätzlich alle dasselbe Recht auf Berücksichtigung hätten. An diesem
Beispiel wird so recht klar, wie irreführend die herkömmliche Stammbaum-
forschung mit ihrer einseitigen Verfolgung einer Linie ist. Warum läßt man
jene Stammbäume übrigens nicht mit Pipin dem Kleinen beginnen? Von
diesem weiß man doch bestimmt, daß er der Vater Karls des Großen war.
Die Antwort liegt auf der Hand.
Wenn z. B. S o m m e r 3 ) eine auffallende Ähnlichkeit im Wesen Goe-
thes mit einem gewissen Ferdinand Lindheim er, der über den
Urgroßvater eines Urgroßvaters mit ihm verwandt war, gefunden zu haben
glaubt, so vermag ich diesem Umstände keinerlei Gewicht beizumessen, da
O
1 ) Z. B. in der Zeitschrift für ind. Abstammungs- und Vererbungslehre.
Bd. 43. S. 261. 1927.
s ) In ,, Methoden der Vererbungslehre" s. Literaturverzeichnis.
3 ) Som m er, R. Goethe im Lichte der Vererbungslehre. Leipzig 1 908.
J. A. Barth.
GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
597
dem Verwandtschaftsgrade nach nur zu erwarten wäre, daß beide Männer
einen verschwindenden Bruchteil mehr an Erbmasse gemeinsam hätten als
mit dem Durchschnitt der Bevölkerung.
Auf die Erforschung entfernter Vorfahren viel Zeit und
Mühe zu verwenden, lohnt sich für den Erbforscher meist nicht.
Die Kenntnis der Beschaffenheit von Nachkommen ist nicht
weniger wichtig als die von Vorfahren, und dasselbe gilt auch
von Verwandten in Seitenlinien. Mit jedem seiner Kinder hat
ein Mensch im Durchschnitt ebensoviel seiner Erbmasse ge-
meinsam wie mit einem seiner Eitern, mit einem Vetter ebenso-
viel wie mit einem Urgroßvater; und da man über Lebende
natürlich viel leichter etwas Sicheres feststellen kann als über
Verstorbene, so ist die Erforschung der Seitenverwandtschaft
sogar wichtiger als die vollständige Erforschung der Vorfah-
ren. Für die meisten Zwecke genügt es, wenn die Verwandt-
schaft bis zu den Großeltern und deren Nachkommen er-
forscht wird. Ganz besonders wichtig ist die Kenntnis der Ge-
schwister (s. u.).
Man begegnet öfter der Ansicht, daß ein Mensch mit jedem seiner
Eltern die Hälfte der Erbmasse gemeinsam habe, mit einem. Großeiter und
einem Elterngeschwistcr im Durchschnitt ein Viertel, mit einem Urgroßeltcr
und einem Vetter ein Achtel usw. Das ist insofern, nicht richtig, als man mit
einem Elter ja auch einen großen Teil jener andern Hälfte der Erbmasse
gemeinsam haben kann, den man nicht von ihm bekommen hat. In einer
völlig einheitlichen (isogenen.) Bevölkerung stimmen Eltern und Kinder in
ihrer ganzen Erbmasse überein; in einer gemischten mindestens in der halben.
Mit andern Verwandten hat man wenigstens theoretisch möglicherweise gar
keine gemeinsamen Erbanlagen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß man
von einem bestimmten Großeiter keine einzige Erbanlage habe; im Durch-
schnitt hat man mindestens ein Viertel mit ihm gemeinsam, mit einem Ge-
schwister im Durchschnitt mindestens die Hälfte. Aber theoretisch denkbar
ist es, daß in einem seltenen Ausnahmefall jemand mit einem Geschwister
überhaupt nicht erbverwandt, d. h. auch nicht „blutsverwandt" ist.
Für die Erbforschung ist es gleichgültig, ob jemand eine
Anlage von einem andern Mitglied der Sippe wirklich über-
kommen hat oder ob die (teilweise) Erbgemeinschaft auf an-
dere Weise zustandegekommen ist. Tatsächlich kann man eine
Erbanlage wohl von einem Großvater, nicht aber von einem
Onkel haben. Für die Erbforschung ist die „Belastung" durch
einen Onkel aber genau so bedeutungsvoll wie die durch einen
Großvater. Unter Belastung versteht man herkömmlich er-
weise das Vorkommen von erblichen oder der Erblichkeit ver-
dächtigen krankhaften Zuständen, bei Blutsverwandten. Man
hat dabei zunächst nur an die Eltern und Vorfahren gedacht,
dann aber den Begriff auch auf Seitenverwandte ausgedehnt.
598
FRITZ LENZ, METHODEN.
GENE ALOGISCH -STATISTISCHE METHODEN.
599
Man kann also auch durch Geschwister „belastet" sein, ja
sogar durch seine Kinder.
Die Merkmale, die auf Erblichkeit zu untersuchen sind,
kann man in morphologische, physiologische und psychologi-
sche einteilen. Ob man die psychologischen Merkmale als Un-
terabteilung der physiologischen betrachten oder sie den phy-
sischen im ganzen gegenüberstellen will, ist dabei nicht von
grundsätzlicher Bedeutung. Jedenfalls erfordern alle drei Grup-
pen von Merkmalen je ihre eigenen Methoden zu ihrer Fest-
stellung und Beschreibung. Auf diese kann hier nicht einge-
gangen werden; sie sind ja nicht auf die Erbforschung be-
schränkt, sondern müssen auch sonst in der Morphologie,
Physiologie und Psychologie angewandt werden. Krankhafte
Merkmale, die je eine Unterabteilung der genannten drei
Gruppen ausmachen, bedürfen zu ihrer Feststellung und Be-
schreibung der Methoden der verschiedenen klinischen Fächer.
Wenn Hilfskräfte, die mit der Untersuchung von Sippen
in der Bevölkerung beauftragt sind (in Amerika fiele! wor-
kers genannt), die zu erforschenden Zustände nicht richtig
zu erkennen vermögen, so ist der Wert der ganzen Arbeit von
vornherein in Frage gestellt. Viele Krankheiten und Anomalien
können nur von damit vertrauten bzw. eigens eingearbeiteten
Ärzten richtig erkannt werden. Die Erforschung der erblichen
Krankheiten ist daher in erster Linie eine Aufgabe der Fach-
arzte. Da diese aber in der Regel nicht über die genügenden
Kenntnisse auf dem Gebiete der allgemeinen Erblehre und der
statistischen Methodik verfügen, so empfiehlt sich die Zusam-
menarbeit mit einem Erbforscher. Andererseits sollten nicht
unnötig zunftmäßige Schranken errichtet werden. Viele erb-
liche Leiden können auch von nicht spezialistisch vorgebildeten
Ärzten richtig erkannt werden, manche sogar von Laien, deren
Angaben für die Erbforschung unter Umständen sehr wertvoll
sein können und auf die sie nie ganz wird verzichten können.
Die sogenannten Familienanamnesen, die der Arzt
durch Ausfragen eines Kranken oder eines ihn begleitenden
Angehörigen erhält, können zwar wertvolle Hinweise geben;
als Grundlage für die Erbforschung sind sie aber unzulänglich.
Wie besonders Curtius 1 ) gezeigt hat, wird auf diese Weise
nur ein kleiner Bruchteil der tatsächlich in einer Sippe vorkom-
menden Krankheiten und Anomalien erfaßt. Mütter neigen
! ) Curtius, F. Familienanamnese und Familienforschung. Münch.
Med. Wach. 1931. Nr. 14,
dazu, den Zustand ihrer Kinder zu beschönigen. Fälle von Gei-
stesstörungen und andern Leiden in der Familie werden gern
verschwiegen, weil man davon Nachteile für Lebende befürch-
tet, z.B. für die Heiratsaussichten von Töchtern 1 ). Diese Nei-
gung zur Verheimlichung ist neuerdings durch die Furcht vor
Zwangssterilisierung und durch den Wunsch nach Ehestands -
beihilf en noch verstärkt worden. Zum großen Teil ist die Un-
zulänglichkeit der Familienanamnesen auch einfach eine Folge
von Unwissenheit der Kranken und ihrer Angehörigen über
die in der Familie vorgekommenen Krankheiten. Kluge und
gewissenhafte Personen können daher stärker „belastet" er-
scheinen als dumme und weniger wahrheitsliebende. Auch sind
um so mehr B elas tu ngs fälle zu erwarten, je köpf- bzw. kinder-
reicher die Sippe ist, je weiter die Nachforschung ausgedehnt
wird und je weiter der Untersucher den Kreis der „belasten-
den" Merkmale ausdehnt. Prozentangaben über die Höhe der
„Belastung" sind daher ziemlich wertlos. Mit dem Kleinerwer-
den der Familien infolge des Geburtenrückgangs ist übrigens
eine Abnahme der „Belastung" zu erwarten.
Das Ideal ist die Untersuchung aller Sippenmitglieder
durch sachkundige Fachleute, auf dem Gebiet der medizini-
schen Erbforschung also durch sachkundige Ärzte. In Ver-
öffentlichungen sollte stets deutlich angegeben werden, wel-
che Sippenmitglieder ärztlich untersucht worden sind und wel-
che nicht. Auch von den gesunden oder anscheinend gesunden
Mitgliedern muß die körperliche und seelische Beschaffenlie.it
möglichst genau festgestellt werden, wenigstens in Bezug auf
alle Merkmale, die mit dem Gegenstande der Nachforschung
in Zusammenhang stehen könnten. So müssen bei der Erfor-
schung der Erbbedingtheit der Geisteskrankheiten nicht nur
die psychopathischen sondern auch die normalen Sippenglieder
genau berücksichtigt werden.
Es liegt auf der Bland, daß die Befolgung aller dieser
Richtlinien einen großen, von einem einzelnen Forscher meist
nicht zu bewältigenden Aufwand an Zeit, Mühe und Kosten er-
fordert. Am nächsten sind der Erfüllung dieser idealen Forde-
rungen bisher Rüdin und seine Mitarbeiter im Kaiser-Wil-
helm-Institut für Genealogie der Deutschen Forschungsanstalt
für Psychiatrie in München gekommen.
x ) In einem Falle von Curtius hatte eine Frau in i5jähriger Ehe
ihrem Manne mit Erfolg verheimlicht, daß sie drei hochgradig schwach-
sinnige Geschwister hatte („Multiple Sklerose und Erbanlage." S. 39).
FRITZ LENZ, METHODEN.
Die Untersuchung der gesunden oder anscheinend gesun-
den Sippenmitglieder ist eher noch schwerer durchführbar als
die der kranken. Von den Kranken liegen meist mehr oder
weniger ausführliche Krankengeschichten schon vor; oder sie
können doch in einer Klinik genau untersucht werden. Alle ge-
sunden Sippenmitglieder für schwierigere Untersuchungen zu
bekommen, die wie z. B. Stoff Wechseluntersuchungen den
Aufenthalt in einer Klinik erfordern, ist praktisch fast un-
möglich'.
Für die Zukunft ist eine erbbiologische Bestands-
aufnahme der gesamten Bevölkerung zu fordern, nicht nur
aus wissenschaftlichen Gründen sondern auch aus solchen der
praktischen Rassenhygiene (Sterilisierung, Eheberatung u. a.).
Von jedem Staatsbürger bzw. Einwohner sollte eine erbbio-
logische Akte geführt werden. Diese hätte mit der Ge-
burt zu beginnen, Aufzeichnungen über die Befunde des Schul-
arztes, die Leistungen in der Schule, im Arbeitsdienst und im
Militärdienst zu enthalten. Krankheiten und gegebenenfalls
Straffälligkeit wären einzutragen. Mindestens ebenso wich-
tig aber wären Aufzeichnungen über die positiven Eigen-
schaften und die Leistungen in körperlicher und mehr noch in
geistiger Hinsicht. Diese erbbiologischen Akten, die zweck-
mäßig in erbbiologischen Abteilungen der Gesundheitsämter
aufzubewahren wären, würden im Lauf der Jahre eine sehr
zuverlässige Grundlage für die menschliche Erbforschung bie-
ten. Die Aufzeichnungen über den ganzen Lebenslauf sind in
dieser Hinsicht einmaligen Erhebungen zu einer bestimmten
Zeit weit überlegen. Wegen der besonderen Bedeutung, die
die Verwandtenehen und die Zwillinge für die menschliche
Erbforschung haben, sollte in den erbbiologischen Archiven
eine besondere Kartei der Verwandtenehen und eine
Kartei der Zwillinge geführt werden.
Vom Kaiser -Wilhelm -Institut für Genealogie
der Deutschen Forschungsanstalt für Psychia-
trie in München werden nach Möglichkeit Krankengeschich-
ten aus Irrenanstalten und andern Krankenhäusern benutzt.
In der bayerischen Kriminalbiologischen Sammel-
stelle liegen Tausende von erbbiologisch bearbeiteten Le-
bensgeschichten von Verbrechern bereit. Die gesammelten Ak-
ten der Erbgesundheitsgerichte bilden in Zukunft ein ähn-
liches hauptsächlich Material über Schwachsinnige und Gei-
steskranke.
GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
60]
Besonders bei einem Material, das durch einmalige Unter-
suchung gewonnen worden ist, ist damit zu rechnen, daß ge-
wisse Krankheiten oder sonstige Merkmale, die erst in einem
gewissen Alter in die Erscheinung zu treten pflegen, bei einem
Teil der Anlageträger noch nicht vorhanden sind. Daher muß
das Lebensalter aller Sippenmitglieder genau aufgezeichnet
werden. Die Schwierigkeit, die die Bearbeitung eines solchen
Materials macht, läßt sich nur durch Aufstellung einer Erkran-
kungstafel für das betreffende Leiden nach Art der bekannten
Sterbetafeln überwinden, wie Weinberg in Rüdin s Arbeit
über die Dementia praecox gezeigt hat. Die von J. Bauer und
B. Aschner angegebene „Kompensations- und Exklusions-
methode" ist nur scheinbar exakt, da aus dem Alter der Er-
krankenden nicht ohne Kenntnis der Gesamtbesetzung der
Altersklassen die Krankheitsgefährdung erschlossen werden
kann 1 ). Eine abgekürzte Methode zur Berücksichtigung des
Erkrankungsalters hat Luxenburger 2 ) angegeben; und
Curtius 3 ) hat sich um eine genauere Erfassung bemüht.
Wegen der Wichtigkeit für die Erkennung rezessiven Erb-
gangs muß stets auch festgestellt werden, ob die Eltern von
Merkmalsträgern in nahem Grade blutsverwandt sind oder nicht.
Für gewöhnlich genügt die Feststellung der Blutsver-
wandtschaft bis zu Vetternehen ersten Grades. In besonde-
ren Fällen kann aber auch die Feststellung von entfernter
Blutsverwandtschaft der Eltern aufschlußreich sein (vgl. z. B.
S.514). Blutsverwandtschaft der Großeltern ist in dieser Hin-
sicht bedeutungslos, weil in den Merkmalsträgern Anlagen nur
von beiden Eltern her zusammentreffen können.
Daß man durch die Erfahrungen an einer einzigen Sippe
den Erbgang einer Eigenschaft feststellen kann, ist nicht die
Regel sondern die Ausnahme. Es ist nur bei regelmäßig domi-
nantem und bei rezessivem geschlechtsgebundenen Erbgang
möglich.
Bei regelmäßig dominantem Erbgang findet
sich das betreffende Merkmal stets auch bei einem der Eltern
eines Merkmalträgers (abgesehen von dem ganz seltenen Fall
l ) Vgl. Weinberg, VV. Methoden und Technik der Statistik. In
dem „Handbuch der sozialen Hygiene" von Gottsteinu. a. Berlin 1925,
J. Springer. Bd. I. S. 107 und 138.
a ) Luxenburger, H. Demographische und psychiatrische Untersuchun-
gen in der engeren Familie von Paralytikerehegatten. Berlin 1928. Springer.
3) Curtius, F. Multiple Sklerose und Erbanlage. Leipzig 1933.
Thieme. S. 67 ff.
602
FRITZ LENZ, METHODEN.
GENEALOGISCHSTATISTISCHE METHODEN.
603
der Neuentstehung des Merkmals auf dem Wege der Muta-
tion.). Das Merkmal ist also in ununterbrochenem Erbgang
durch die Generationen zurück zu verfolgen. Von den Kindern
eines Merkmalträgers sind im Durchschnitt die Hälfte eben-
falls mit dem Merkmal behaftet. Da die Wahrscheinlichkeit
des Behaftetseins für jedes Kind 1 / 2 beträgt, können die Kin-
der eines Merkmalträgers unter Umständen auch frei davon
bleiben; d. h. der Erbgang kann in absteigender Linie jeder-
zeit abreißen. Diese Zweige der Sippe sind dann für immer
frei von dem Merkmal. Ein Beispiel, wie schon durch die Er-
fahrungen an einer einzigen Sippe regelmäßig dominanter
Erbgang festgestellt werden kann, ist die von Nettleship
erforschte Sippe mit Nachtblindheit (vgl. S. 356).
Streng genommen setzt der Begriff der Dominanz eigent-
lich voraus, daß eine dominante Erbeinheit sich im heterozygo-
ten Zustande ebenso wie im homozygoten äußert. Tatsächlich
kennen wir aber fast alle krankhaften Erbanlagen, die wir beim
Menschen als dominant bezeichnen, nur im heterozygoten Zu-
stande, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß viele davon sich
im homozygoten Zustande ganz anders darstellen würden, und
zwar viel schwerer krankhaft. In solchen Fällen würde es sich
also nicht um eigentliche Dominanz, sondern um intermediäres
Verhalten handeln. Bei seltenen Anomalien kommt dieser Un-
terscheidung keine besondere Bedeutung zu, da homozygote
Träger solcher Anomalien wenig oder gar nicht vorkommen.
Bei häufigeren Anomalien dagegen kann die Unterscheidung
zwischen dominantem und intermediärem Verhalten auch prak-
tisch wichtig sein. Intermediäres Verhalten wurde z. B. bei der
schizoiden Psychopathie erörtert (vgl. S. 535 f.). Die methodi-
schen Gesichtspunkte für den Nachweis intermediären Verhal-
tens ergeben sich teils aus dem Gesagten, teils entsprechen sie
denen, die für den Nachweis rezessiven Erbgangs gelten, näm-
lich soweit es sich um die stärkere Ausprägung des Merkmals
bei Homozygotie handelt; man vergleiche damit das über die
Erbbedingtheit der Schizophrenie Gesagte.
Häufiger als regelmäßig dominante Anlagen sind solche,
die bei im ganzen dominantem Erbgang doch Generationen
überspringen können. Man. spricht dann von unregelmäßig
dominantem Erbgang. Derartige Sippentafeln können
folgendermaßen Zustandekommen: Es gibt krankhafte Erban-
lagen, die sich erst im mittleren oder höheren Alter äußern;
und wenn ein damit behaftetes Individuum vor dem Ausbruch
des Leidens stirbt, so wird es in der Sippentafel leicht fälsch-
lich als normal geführt. Sodann gibt es Anlagen, die der Aus-
lösung durch äußere Einflüsse bedürfen; bleiben diese Ein-
flüsse aus, so entsteht ebenfalls das Bild des Überspringens von
Generationen. Auch an die Entwicklungslabilität gewisser An-
lagen ist hier zu erinnern (vgl. S. 390). Schließlich können
gewisse Erbanlagen durch andere an der Manifestation gehin-
dert werden. Das Auftreten des Merkmals hängt hier also
eigentlich nicht nur von einer, sondern von mehreren Erban-
lagen ab, d. h. es handelt sich um Polymerie, von der noch zu
reden sein wird.
Wie der regelmäßig dominante so ist auch der rezes-
sive geschlechtsgebundene Erbgang oft schon an
den Erfahrungen einer einzigen Sippe zu erkennen. Man ver-
gleiche z. B. die Blutersippe nach S chloeßmann auf S. 442.
Meist sind nur Männer befallen, die in weiblicher Linie ver-
wandt sind, Frauen nur ausnahmsweise, nämlich dann, wenn
sie die Anlage homozygot enthalten, wie es bei der Rotgrün-
blindhe.it nicht ganz selten vorkommt, oder wenn die Rezessivi-
tät nicht regelmäßig ist, wie es in manchen Sippen mit Sehnerv-
verödung beobachtet worden ist. Niemals aber geht eine ge-
schlechtsgebundene Erbanlage vom Vater auf den Sohn über.
Rezessive geschlechtsgebundene Anlagen dürfen nicht mit
solchen verwechselt werden, die sich nur im männlichen Ge-
schlecht äußern können, wie dieHypospadie (s.S. 402). Früher
pflegten beide Möglichkeiten als „geschlechtsbegrenzte
Vererbung" bezeichnet zu werden. Nach dem Vorgange
Morgans nennt man jetzt aber die im Geschlechtschromosom
lokalisierten Erbanlagen nicht mehr geschlechtsbegrenzt, son-
dern geschlechtsgebunden. Auch der Dominanzwechsel
nach dem Geschlecht ist nicht gleichbedeutend mit der
Erscheinung, daß sich gewisse Erbanlagen überhaupt nur in
einem Geschlecht äußern können. Man kennt gewisse Erban-
lagen bei Schafen, die im männlichen Geschlecht auch bei hete-
rozygotem Vorhandensein Hornbildung bewirken, im weibli-
chen Geschlecht aber nur bei homozygotem. Eine solche Erb-
anlage verhält sich im männlichen Geschlecht also dominant,
im weiblichen rezessiv. Eine im männlichen Geschlecht domi-
nante Anlage zu Hypospadie dagegen könnte sich im weibli-
chen auch bei homozygoter Anwesenheit nicht äußern. Erb-
anlagen mit Dominanz Wechsel nach dem Geschlecht sind beim
Menschen nicht bekannt. Im Zweifelsfall könnten sie von den
FRITZ LENZ, METHODEN.
geschlechtsgebundenen dadurch unterschieden werden, daß sie
vom Vater auf den Sohn übergehen können. Die Geschlechts-
begrenztheit eines Merkmals ist oft unvollständig, d. h. es tritt
bei einem Geschlecht nur stärker oder häufiger auf als bei dem
andern; in diesem Falle wird die Äußerung der Erbanlage
durch das Geschlecht also nur begünstigt.
Die Unterscheidung dominanter geschlechtsge-
bundener Erbanlagen von rezessiven geschlechtsgebun-
denen ist leicht dadurch, daß diese sich auch im weiblichen
Geschlecht äußern und daher in ununterbrochenem Erbgang
Verfolgt werden können. Die Unterscheidung einfach dominan-
ten und geschlechtsgebundenen dominanten Erbganges ist an
einigen wenigen Stammbäumen meist nicht sicher möglich.
Stärkeres Überwiegen weiblicher Kranker spricht für Ge-
schlechtsgebundenheit einer dominanten Anlage; Übergang
vom Vater auf den Sohn schließt sie aus, da ja ein Mann sein
Geschlechtschromosom immer nur von der Mutter bekommt.
Praktisch spielt der dominante geschlechtsgebundene Erbgang
im Vergleich zum rezessiven nur eine untergeordnete Rolle. Ei-
lst bisher nur in wenigen Fällen nachgewiesen bzw. wahr-
scheinlich gemacht worden und auch da nicht in reiner Aus-
prägung, insofern als die Dominanz nur unvollständig oder
unregelmäßig war. Wenn die weiblichen Träger einer ge-
schlechtsgebunden erblichen Anlage das Merkmal in stark
abgeschwächter Form zeigen, so liegt intermediäres ge-
schlechtsgebundenes Verhalten vor.
Anmerkungsweise sei der theoretischen Möglichkeit eines Erbgangs in
ausschließlich männlicher oder ausschließlich weiblicher Linie gedacht. Man
hat öfter gemeint, daß gewisse Züge sich vorwiegend im Manncsstamm (in
der Namcnslinic) vererben würden; sichere Erfahrungstatsachen für einen
solchen Erbgang sind aber nicht beigebracht worden. Theoretisch möglich
wäre er indessen. Anlagen, die im Y-Chromosom lokalisiert waren, würden sich
nämlich so verhalten. Einen Erbgang in ausschließlich weiblicher Linie hat
man bei gewissen krankhaften Zuständen von Pflanzen und etwas Ähnliches
auch bei einem Schmetterling gefunden. Falls beim Menschen ein Erbgang
in ausschließlich weiblicher Linie gefunden werden sollte, müßte man an
Übertragung durch das Plasma (nicht durch den Kern) der Eizellen denken.
Während die Feststellung regelmäßig dominanten und re-
zessiven geschlechtsgebundenen Erbgangs verhältnismäßig ein-
fach ist, stößt die Klarstellung anderer Arten erblicher Bedingt-
heit auf mehr oder weniger große Schwierigkeiten; sie ist auf
Grund der Erfahrungen an einer Sippe meist überhaupt nicht
möglich Wenn man auch hier die Erbbedingtheit analysieren
will, so ist es nötig, die Erfahrungen vieler Sippen zusammen-
GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
605
V
zuzählen und festzustellen, ob eine gesetzmäßige Häufung des
Merkmals oder anderer möglicherweise damit zusammenhän-
gender Merkmale besteht.
Eine große Schwierigkeit liegt darin, daß es in vielen Fäl-
len nicht von vornherein möglich ist, zu sagen, welche Merk-
male wirklich genetisch zusammengehören. So können Krank -
heitszustände, die sehr ähnlich und klinisch nicht sicher unter-
scheidbar sind, auf der Auswirkung verschiedener Erbeinheiten
beruhen. Es gibt z. B. in der Gruppe der Muskelatrophien
dominante, einfach rezessive und rezessive geschlechtsgebun-
dene Arten, ohne daß diesen genetischen Unterschieden auch
Unterschiede im klinischen Bilde zu entsprechen brauchen. In
der Gruppe des Schwachsinns gibt es neben erbbedingten auch
rein umweltbedingte Fälle. Wenn man in solchen Gruppen zum
Zweck der Feststellung bestimmter Zahlen Verhältnisse die Erfah-
rungen an verschiedenen Familien zusammenzählt, so läuft man
Gefahr, Heterogenes zu summieren und irreführende Zahlen
zu erhalten. Eine solche Summierung heterogener Erfahrungen
läßt sich öfters gar nicht vermeiden. Die klinische Medizin ist
in manchen Fällen nicht in der Lage, gleichsam die Blind-
schleichen unter den Krankheiten von den Schlangen zu unter-
scheiden. Der Erbforscher muß sich daher des nur vorläufigen
Wertes derartiger Zahlenergebnisse bewußt sein; dann wird
er Fehlschlüsse vermeiden. Und dann darf er auch hoffen, die
klinisch zusammengefaßten Gruppen von Erbleiden allmählich
genetisch aufzulösen und womöglich die einzelnen pathogenen
Erbeinheiten in ihren Auswirkungsmöglichkeiten gesondert zu
verfolgen.
Eine weitere Gefahr des Irrtums entsteht dann, wenn ein
zusammengetragenes Material eine einseitige Auslese darstellt,
die nicht für das durchschnittliche Verhalten zutreffend ist, Oft
werden „interessante Fälle" von Vererbung veröffentlicht, wo
in einer Sippe auffallend viele Mitglieder mit einer Anomalie
behaftet sind, was aber mit dem Erbgang als solchem nichts
zu tun zu haben braucht, sondern zufällig bedingt sein kann.
Wenn man durch Summierung der Erfahrungen an solchen Fa-
milien eine familäre Häufung feststellen wollte, so würde man
zu hohe Zahlen erhalten. Familien mit wenigen Fällen sind von
nicht geringerer Bedeutung wie solche mit vielen. Das muß
schon bei der Sammlung des Materials beachtet werden; denn
Fehler, die dabei gemacht werden, lassen sich später auf keine
Weise mehr ausgleichen. Familien, in denen nur ein einziger
606
FRITZ LENZ, METHODEN.
GENE ALOGISCH -ST AT IST ISCHE METH ODEN.
607
Fall vorgekommen ist, dürfen nicht etwa mit der Begründung
weggelassen werden, daß „Erblichkeit nicht vorliege". Es ist
durchaus nicht nötig, daß ein Erbleiden, das bei einem Men-
schen angetroffen wird, sich auch bei andern Mitgliedern, der
Familie finden müsse. Wenn nicht mehr als 4 bis 6 Kinder
vorhanden sind, so wird besonders bei rezessiven Leiden in den
meisten Fällen nur eines damit behaftet sein. Das veranschau-
licht Fig. 198, die nach der Theorie des rezessiven Erbgangs
konstruiert ist. Mit der Kinderzahl nimmt die Zahl der „heredi-
OO 0O OO
OOO ©OO0 OOOO
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Fig. 198.
Schema des Erb-
gangs einer rezessi-
ven Anlage mit iso-
liertem Auftreten des
durch Zusammentref-
fen zweier Anlagen
bedingten Merkmals.
tären" und „familiären" Fälle ab, die der „isolierten" zu. In-
folge des Geburtenrückgangs sind daher heute verhältnismäßig
mehr vereinzelte Fälle zu erwarten als früher.
Fehlen von „Belastung" schließt also Erb-
lichkeit nicht aus; und Vorliegen von „Bela-
stung" beweist im Einzelfall nicht Erblichkeit, da
auch nichterbliche Zustände in einer Sippe zufällig mehrfach
vorkommen können. Infolgedessen ist der Nachweis, ob eine
Eigenschaft erbbedingt ist oder nicht, oft gar nicht leicht zu
führen. Wenn trotz sorgfältiger Nachforschung äußere Ur-
sachen nicht festgestellt und auch nicht wahrscheinlich ge-
macht werden können, so muß man immer an Erbbedingtheit
denken. Es bleibt aber oft sehr schwer auszuschließen, ob eine
familienweise Häufung einer Eigenschaft nicht durch gemein-
same äußere Einflüsse bedingt sei, z. B. bestimmte geistige
Fälligkeiten durch die geistige Umwelt und Überlieferung der
Familie oder eine Krankheit wie die Tuberkulose durch Über-
tragung des Erregers innerhalb der Familie. liier ist die
Z will ing sf o r s chung die maßgebende Methode, zu ent-
scheiden, ob ein Zustand im allgemeinen erbbedingt ist oder
nicht. Die Zwillingsmethode, die weiter unten im Zusammen-
hang dargestellt wird, setzt ein großes Material von Zwillings-
paaren voraus, von denen mindestens einer das auf Erblichkeit
zu untersuchende Merkmal aufweist. Ein solches Material ist
zwar von häufigen Merkmalen zu beschaffen, von seltenen
aber nur schwer oder gar nicht, jedenfalls nicht beliebig. Glück-
licherweise läßt sich gerade bei seltenen Merkmalen die Erb-
bedingtheit auch durch familiäre Häufung nachweisen, insbe-
sondere durch regelmäßige Häufung unter den Geschwistern,
während bei häufigen Merkmalen familiäre Häufung auch bei
reiner Umweltbedingtheit oft zufällig sein wird.
Ein sicheres Zeichen von Erbbedingtheit ist deutlich über-
durchschnittliche H auf igkeit von Blutsverwandtschaft
der Eltern. Eine solche ist zwar nur bei seltenen rezessiven
Zuständen zu erwarten, aber gerade bei diesen ist ja Erblich-
keit auf andere Weise schwer nachzuweisen.
Häufung von Merkmalen in einzelnen Sippen hat schon oft zu voreiligen
Schlüssen auf Erbbedhigthcit verführt. Man lernt die Vermeidung solcher
Fehler am besten an einigen Beispielen. So scheint die alltägliche Erfahrung
zu lehren, daß es Familien gibt, in denen vorwiegend Knaben und andere,
in denen vorwiegend Mädchen geboren werden; und es ist leicht, entspre-
chende Familien zu sammeln. Aber auch, wenn die Wahrscheinlichkeit einer
Knabengeburt stets nur 1 / 3 ist, sind Familien zu erwarten, in denen nur Kna-
ben und andere, in denen nur Mädchen geboren werden. Bei sechs Kindern
beträgt die Wahrscheinlichkeit z. B. rund (}j 2 f = i/ Sil daß es lauter Knaben
sind; d.h. unter 64 Familien mit je 6 Kindern ist im Durchschnitt eine mit
lauter Knaben zu erwarten; in weiteren 6 Familien auf 64 würden 5 Knaben
und 1 Mädchen zu erwarten sein. Durch Zusammentragen solcher Fälle
kann eine erbliche Anlage zu Geburten eines Geschlechts also nicht nach-
gewiesen werden. Es muß vielmehr sorgfältig berechnet werden, ob im
großen Durchschnitt ein Junge wirklich häufiger Brüder als Schwestern hat.
Eine Berechnung auf Grund eines Materials von fast 40 000 Geburten, die
Baumann unter meiner Leitung durchgeführt hat, hat keine wesentliche
608
FRITZ LENZ, METHODEN.
GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
609
Abweichung von dem durchschnittlichen Geschlechtsverhältnis 106: roo, unter
den Geschwistern von Knaben ergeben 1 ). Die landläufige Vorstellung von
Knabenfamilien und Mädchenfamilien ist also irrig.
Auch die verbreitete Ansicht, daß Zwillingsgeburten in erbbedingter
familiärer Häufung vorkämen, ist bisher mindestens nicht bewiesen. Die
Häufigkeit von Zwillingsgeburten bei Schwestern und Müttern von Zwülings-
müttern, ja. auch die unter weiteren Geburten von Zwillingsmüttern selber,
ist gegenüber der allgemeinen Häufigkeit von Zwillingsgeburten nur ganz
wenig erhöht; die Unterschiede sind nicht deutlich größer als die zwischen
jungen und älteren Müttern, zwischen Stadt und Land und zwischen ver-
Fig. 199.
Eine Sippe mit 32 Zwillingspaaren.
schiedenen Klima ten. Sie können daher wie diese umweltbedingt sein. Ich
hatte in der vorigen Auflage dieses Buches selbst noch die landläufige An-
sicht geteilt^ daß es eine erbliche Veranlagung zu Zwillingsgeburten gebe;
eine kritische Nachprüfung hat mir dann aber gezeigt, daß es keine Belege
dafür gibt 2 ).
Lehrreich ist z. B. obige Sippentafel. Der „gesunde Menschenver-
stand", d. h. ein von Fachkenntnissen nicht beeinflußtes Urteil, meint in
solchen Fällen, es sei ganz klar, daß die Zwillings anläge erblich sein müsse,
wenn 32 Zwillingspaare in einer Sippe gefunden werden. Der Autor, der noch
1 ) Ba umarm, R. Über die Frage einer familiären Häufung von Ge-
burten desselben Geschlechts. ARGB. Bd. 18. S. 152. 1926.
2 ) Lenz, F. Zur Frage der Ursachen von Zwillingsgeburten. ARGB.
Bd. 27. H. 3, S. 285. 1933.
zahlreiche ähnliche Sippentafeln zusammengestellt hat, hat zu der hier ab-
gebildeten geschrieben : „Das Vorhandensein eines Erbfaktors auf bei-
den Seiten ist eindeutig: der Vater ist selbst Zwilling, eine Brudertochter der
Mutter hat Zwillinge, ein Bruder des Großvaters hat Zwillinge." Wenn
man indessen in dem Gesamtmaterial die Häufigkeit des Auftretens von Zwil-
lingsgeburten bei den Schwestern der Zwillingsmütter mit der sonstigen
Zuillingshäufigkcit des betreffenden Ortes vergleicht, so ergibt sich kein
Unterschied, der über die Grenzen des Fehlers der kleinen Zahl hinaus-
ginge. Das Bild der Sippentafel täuscht also eine Häufung vor, der min-
destens in diesem Grade auch nicht annähernd eine gesetzmäßige sippen-
maßige Häufung zugrunde liegt. Der Schein einer Häufung ist noch dadurch
verstärkt worden, daß der Autor aus Gründen der Raumersparnis Zweige
der Sippen, die ihm unwesentlich erschienen, -weggelassen hat. So sind
die Zwillinge in den Sippentafcln künstlich angereichert worden. Wenn in
jedem Falle eine „Belastung" beider Zwillingseltern mit Zwillingsgeburten
nachgewiesen werden konnte, so folgt daraus keineswegs rezessive Erbbe-
dmgtheit; denn bei einem so häufigen Ereignis muß die „Belastung" jedes
Menschen damit nachgewiesen werden können, wenn man nur genügend weit
nachforscht. Man kann auch in der Verwandtschaft jedes Menschen das
Vorkommen von Unfällen nachweisen, ohne daß diese darum erbbedingt zu
sein brauchen,
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c?
A 7\ s\ /"\ 7\ 7K /\ /\ 7\
5 2 cf 2 2 cf
Fig. 200.
Angebliche Vererbung der Zwillings schwanger schalt durch den Mann.
Ein anderer Autor hat obige Sippcntafel veröffentlicht, die die
Vererbung der Zwillingsschwangerschaft durch den Mann dartun sollte.
Sie war auf Grund der Angaben der angeblichen Zwillingsmutter aufgestellt
worden. Offenbar handelt es sich um ein hysterisches Phantasiegcbilde. Spielt
schon die Schwangerschaft als solche eine große Rolle in den Phantasien
hysterischer Frauen, so scheint die mehrfache Zwillingsschwangerschaft ein
ganz besonders wirksames Mittel zu sein, sich interessant zu machen. Ent-
sprechend sind vermutlich auch einige noch fabelhaftere Fälle aus der älte-
ren Literatur zu beurteilen, z. B. folgender Bericht: „Eine Mutter und Toch-
ter, beide epileptisch, hatten je 32 Kinder, die Mutter 6mal Zwillinge, 4mal
Drillinge, 2 mal Vierlinge, die Tochter mit 40 Jahren 3mal Zwillinge, 6mal
Drillinge, 2mal Vierlinge und ging mit Mehrungen schwanger."
Ich bekam einmal ein Manuskript vorgelegt, in dem die Erblichkeit
der Lebensdauer behandelt war. Der Verfasser hatte in einer Gegend Familien
gesammelt, deren Mitglieder im Durchschnitt ein hohes Alter erreicht hatten,
und andere, deren Mitglieder meist früh gestorben waren. Das mag gewiß
Baiir-Fischcr-Leiia I.
39
610
FRITZ LENZ, METHODEN.
zum Teil auf erblichen Unterschieden beruht haben; aber auch wenn die
Lebensdauer ausschließlich von äußeren Zufällen abhängig wäre, würde
sich in manchen Familien rein nach der Wahrscheinlichkeit der Zulallshäu-
fung ein höheres durchschnittliches Lebensalter als in andern finden. Die
Erbbedingtheit der Lebensdauer kann also auf diese Weise nicht nachge-
wiesen werden. Eher ist das dadurch möglich, daß man feststellt, ein wie
hohes Alter im Durchschnitt die Eltern und die Geschwister der Achtzig-
jährigen, der Siebzigjährigen usw. erreicht haben. Die Korrelation zwischen
dem erreichten Lebensalter von Eltern und Kindern oder von Geschwistern
kann indessen zu einem gewissen, wenngleich kleinen Teil durch gemeinsame
Umwelt bedingt sein. Die beste Methode zur Feststellung der teil weisen
Erbbedingtheit ist auch hier die Zwiliingsmethode.
Belastung mit häufigen Krankheiten oder Anomalien läßt
sich' für jeden Menschen feststellen, wenn man den Kreis
der Nachforschung entsprechend weit zieht. Das gilt z. B. für
Psychopathie, die sich bei mehreren Prozenten der Bevölkerung
findet. Noch stärker erscheint die „Belastung", wenn man
das Vorkommen der verschiedensten krankhaften Zustände
als „Belastung" rechnet (z. B. „Belastung" von Polysklero-
tikera mit Psychopathie, Suicid, Potatorium, Dementia senilis
und Zyklophrenie I). Verschiedene Anomalien, die in derselben
Sippe vorkommen, brauchen durchaus nicht durch gemeinsame
Erbanlagen bedingt zu sein. In manchen Sippen sammeln sich
vielmehr allerlei erbliche Anomalien und Schwächezustände
infolge negativer sozialer und gcsclilechthcher Auslese. Das
neuerdings wieder aufgetauchte Bestreben, ein solches Zusam-
mentreffen im Sinne einer allgemeinen neuropathischen oder
gar einer überhaupt allgemeinen krankhaften Belastung auf-
zufassen, bedeutet einen Rückfall in die unklare Belastungs-
statistik der vormendelschen Zeit.
In allen Gärten kommen neben Blumen die verschiedensten
Unkräuter vor, und zwar mehr oder weniger dieselben Un-
kräuter. Wenn es nun nicht statthaft wäre, die spezifische Erb-
bedingtheit der einzelnen Unkrautarten im Züchtungsversuch
aufzuklären, so könnte ein Gartenpraktiker, der von der gene-
tischen „Theorie" nichts wissen wollte, auf den Gedanken kom-
men, alle Unkräuter erwüchsen aus demselben Samen, weil sie
immer wieder miteinander vorkämen. Am meisten sind jene
Gärten mit Unkraut belastet, in denen zu wenig gejätet wird.
Die Belastung der Gärten mit sehr verschiedenem Unkraut be-
ruht also nicht auf genetischer Einheit des Unkrauts, sondern
auf besonderen Auslesebedingungen. Vor einem entspre-
chenden Trugschluß muß der medizinische Erbforschcr sich
hüten.
GENEÄ L OGISCHS TA T IST ISCHE METH ODEN.
611
Die Trugschlüsse, die von manchen Autoren aus einzelnen
Sippentafeln mit gehäuften Fällen gezogen worden sind, haben
andere Autoren gegen das Sammein von Sippentafeln über-
haupt mißtrauisch gemacht. Das geht nun aber auch wieder
zu weit. Die Erforschung der Sippen wird immer eine unent-
behrliche Grundlage der menschlichen Erbforschung bilden.
Wie schon erwähnt, kann in gewissen Fällen die Erbbedhigt-
heit eines Merkmals schon durch eine einzige Sippcntafel weit-
gehend geklärt werden.
Im übrigen ist es nötig, ein möglichst im aus gelesenes Ma-
terial über Sippenerfahrungen zu beschaffen. Von allen Trä-
gern eines Merkmals, z. B. von allen Kranken mit einem be-
stimmten Leiden, die in die Behandlung eines Arztes oder einer
Klinik kommen, sind zu diesem Zweck der Reihe nach Erhe-
bungen über die näheren Blutsverwandten anzustellen. Im Hin-
blick auf die Erkennung rezessiven Erbgangs ist die Unter-
suchung der Geschwister besonders wichtig. Seltenere rezes-
sive Eigenschaften finden sich ja in der Regel nicht bei Eltern
und Kindern gemeinsam; "wohl aber kommen sie unter Ge-
schwistern gehäuft vor.
Der quantitativen Erfassung dieser Häufung unter den Ge-
schwistern dient die von Weinberg eingeführte Geschwi-
stermethode 1 ). Eine einfache Auszählung der behafteten
und der nicht behafteten Geschwister ergibt nämlich falsche
Werte, und zwar einen zu hohen Hundertsatz behafteter. Wenn
für jedes Kind eine bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht, mit
einem Merkmal behaftet zu sein, so sind auch Geschwisterreihen
ohne Merkmalsträger zu erwarten. Wenn nun auch die Eltern
frei von dem Merkmal sind, wie das bei rezessiven Anlagen die
Regel ist, so können diese „leeren" Geschwisterreihen nicht er-
faßt werden. Aber auch von den übrigen Geschwisterreihen
haben die mit verhältnismäßig vielen Merkmalsträgern eine
größere Wahrscheinlichkeit erfaßt zu werden als die mit weni-
gen. Eine Geschwisterreihe mit mehreren Schwachsinnigen z. B.
hat größere Aussicht, bei einer Sammelforschung erfaßt zu
werden als eine mit nur einem Schwachsinnigen. Aus ihr wird
eben mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Fall zur Beobach-
tung eines Arztes oder in eine Anstalt kommen und damit den
: ) W einberg, W. Über Methode und Fehlerquellen der Untersu-
chung auf Mendelsche Zahlen beim Menschen. ARGB. Bd. 9. 1912. Auslcsc-
wirkungen bei biologisch-statistischen Problemen. Ebenda Bd. 10. 191 3. Die
Darstellung Weinbergs ist allerdings recht undurchsichtig.
612
FRITZ LENZ, METHODEN.
GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
613
Anlaß zu einer Erhebung über die Sippe geben. Man nennt
solche Ausgangsfälle der Forschung Probanden.
Die Geschwistermethode in der allgemeinen Form
der Probandenmethode beruht auf der Voraussetzung,
daß für die Geschwister der Probanden dieselben Wahrschein-
lichkeiten der Kombination der Erbanlagen der Eltern bestan-
den wie für die Probanden, daß die Geschwister aber einer ein-
seitigen Auslese im Sinne einer Pläufung der Merkmalsträger
nicht ausgesetzt seien. Wenn man also das Zahlenverhältnis
unter den Geschwistern mit Ausschluß der Probanden feststellt,
so muß man dem wahren Zahlenverhältnis nahe kommen.
Wenn in einer Familie mehrere Probanden vorhanden sind,
d. h. wenn mehrere Kranke zur Behandlung kamen, so daß sie
nicht erst bei der Nachforschung erfaßt werden, so muß auch
jeder Proband als Geschwister gezählt werden, und zwar sooft,
als weitere Probanden außer ihm vorhanden sind. Und wenn alle
Familien mit Trägern des Merkmals in einer Bevölkerung er-
faßt sind oder wenn ein gleichartig zusammengesetztes Mate-
rial vorliegt, so ist so zu verfahren, als ob sämtliche kranken
Individuen Probanden wären.
Es dürfte angezeigt sein, diese Methode an einem analyti-
schen Beispiel zu erläutern. Wenn die Wahrscheinlichkeit, daß
bei gegebener Erbkonstitution der Eltern ein bestimmtes Kind
erkrankt, 1 / <i ist, so werden beim Vorhandensein von je zwei
Kindern im Durchschnitt erst in jeder 16. Ehe beide Kinder
erkranken. Die Verteilung gesunder und kranker Kinder in
@©@#oooooooooooo
@OOO@@0OOOOOOOOO
Fig. 20 1.
Wahrscheinliche Verteilung von gesunden und kranken Kindern in Zweikinder-
ehen, wo beide Eltern eine rezessive krankhafte Erbanlage überdeckt enthalten.
Zweikinderehen ergibt sich' aus der binomischen Formel
( 1 k -|- 3 g) 2 . = 1 kk -j- 3 kg + 3 gk ~j~ 9 gg. Sie wird also durch
folgendes Schema dargestellt, in welchem je zwei unterein-
anderstehende Kreise zwei Kinder einer Ehe bedeuten.
Das Verhältnis zwischen kranken und gesunden Geschwi-
stern ist 1 : 3, wie es dem rezessiven Erbgang entspricht. Wenn
nun aber von der Sammelforschung nur jene Familien erfaßt
werden, in denen mindestens ein krankes Kind vorhanden ist,
so entgehen die letzten neun Familien der Erfassung, und man
erhält das Zahlenverhältnis 8 : 6, was ganz und gar nicht dem
rezessiven Erbgang entspricht, nach dem doch die Zusammen-
setzung der Familien konstruiert wurde. Das richtige Zahlen-
verhältnis dagegen erhält man, wenn man die Zahl der kranken
Geschwister kranker Kinder in Beziehung zu der Zahl der ge-
sunden Geschwister kranker Kinder setzt. In der ersten Familie
hat jedes der beiden Kinder ein krankes Geschwister (das zweite
ist ein krankes Geschwister des ersten und das erste ein kran-
kes Geschwister des zweiten). In den übrigen sechs Familien,
wo kranke Kinder vorkommen, haben diese nur gesunde Ge-
schwister, nämlich im ganzen sechs. Setzt man zu dieser Zahl
die der kranken Geschwister kranker Kinder, nämlich zwei, in
Beziehung, so erhält man das richtige Zahlenverhältnis 2 : 6
-=1:3, wie es dem rezessiven Erbgang mit der Wahrschein-
lichkeit 7 4 für jedes Kind entspricht. Ganz Entsprechendes läßt
sich für Familien mit größerer Kinderzahl zeigen.
Eine Voraussetzung der Anwendbarkeit dieser Geschwister-
methode ist, daß entweder in der durchforschten Bevölkerung
wirklich alle Familien mit Trägern des Merkmals, auf das die
Forschung sich bezieht, erfaßt sind, oder doch, daß das tat-
sächlich vorliegende Material eine entsprechende Zusammen-
setzung hat. Es muß also eine .Summe repräsentativer Familien-
stichproben, nicht eine Auslese nach Individuen vorliegen. Die
Geschwistermethode in der geschilderten Form ist ein Grenz-
fall der Probandenmethode. Auf ein von Merkmalsträgern (Pro-
banden) aus gewonnenes Material angewandt, würde auch sie
noch ein zu hohes Zahlenverhältnis geben, wie leicht einzu-
sehen ist.
In dem obigen Schema hat die Familie 1 eine doppelt so
große Wahrscheinlichkeit, in eine Individualauslese hineinzu-
kommen als jede der 6 folgenden Familien. In einer Individual-
auslese aus einer entsprechend zusammengesetzten Bevölkerung
würden also auf eine Familie mit 2 kranken Kindern nur 3
mit einem kranken kommen (bei der Familienauslese dagegen
eine auf 6), und daher ergibt bei Individualauslese auch die ge-
schilderte Geschwistermethode noch zu hohe Werte, in dem ge-
dachten Beispiel 2:3 (statt 1 13).
Hier ist die allgemeinere Probandenmethode angezeigt.
Unter den Geschwistern der Probanden stehen in den Familien
1 bis 4, die einer „Individualauslese" entsprechen, einem kran-
ken drei gesunde gegenüber; es ergibt sich also das für rezes-
sive Anlagen mit einer Wahrscheinlichkeit des Auftretens von
FRITZ LENZ, METHODEN.
GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
615
V4 bei jedem Kinde typische Verhältnis 1:3. Der Ausdruck
„Proband" stammt aus der Genealogie und bezeichnete ur-
sprünglich eine Person, deren Abstammung geprüft werden
sollte, also die Ausgangsperson einer Nachforschung. Auch Ge-
schwister von Probanden können Probanden sein, dann näm-
lich, wenn sie ebenfalls unmittelbar erfaßt werden, z. B. wenn
sie selbst als Kranke in die Behandlung kamen. Mit fort-
schreitender Erfassung aller Merkmalsträger in einer Bevölke-
rung als Probanden geht die Individualauslese in die vollstän-
dige Erfassung aller Familien über und die Probandenmethode
in die spezielle Geschwistermethode.
Man begegnet öfter dem Mißverständnis, als sei die Ge-
schwistermethode nur zur Prüfung auf rezessiven Erbgang
brauchbar. Das ist nicht der Fall. Sie ist gerade so gut bei do-
minantem Erbgange anwendbar, ja auch ohne Rücksicht auf
Erblichkeitsfragen überall da, wo es sich um die Feststellung
eines Zahlenverhältnisses unter Geschwistern handelt, z. B. zur
Entscheidung der Frage, ob in manchen Familien Knaben, in
andern Mädchen häufiger vorkommen, als der allgemeinen
Wahrscheinlichkeitsverteilung entspricht (vgl. S. 607).
Die Geschwistermethode hat eine Zeitlang in der mensch-
lichen Erbforschung eine beherrschende Rolle gespielt. Dann
aber hat sich herausgestellt, daß sie erhebliche Mängel hat.
Ihre Voraussetzung, daß die Geschwister der Probanden einer
Auslese nicht ausgesetzt seien, trifft nämlich nicht zu, wenig-
stens nicht genau. Vielmehr wird ein Mitglied einer Geschwi-
sterreihe mit größerer Wahrscheinlichkeit in die Behandlung
eines Arztes oder einer Klinik kommen, wenn schon ein ande-
res Geschwister erfolgreich behandelt worden ist; und bei un-
heilbaren Leiden wird andererseits die Tatsache einer erfolg-
losen Behandlung weitere Geschwister weniger geneigt machen,
sich in Behandlung zu begeben. Da das Ausmaß einer der-
artigen positiven oder negativen Auslese nicht genau erfaßt
werden kann, darf man von der Geschwistermethode auch keine
genauen Zahlen erwarten.
Ein weiterer Mangel besteht darin, daß alle Geschwisterreihen mit nur
einem Merkmals trag er bei der Berechnung ausfallen. Diese pflegen bei
rezessivem Erbgang gerade in der Mehrzahl zu sein. Dadurch wird der
Fehler der kleinen Zahl verhältnismäßig hoch. Es ist entschieden ein Schön-
heitsfehler, daß die Geschwistermethode, die den durch Häufung von Merk-
malsträgern entstehenden Fehler beseitigen soll, sich gerade auf die Ge-
schwisterreihen mit gehäuften Merkmalsträgern stützt. Eine Methode zur
Prüfung auf Verhältniszahlen unter Geschwistern, die diesen Fehler vermei-
det, dafür jedoch einen andern in Kauf nimmt, hat Bernstein 1 ) angege-
ben. Bernstein bringt den Anteil der auf Grund der Hypothese rezessi-
ven Erbgangs zu erwartenden leeren Geschwisterreihen auf der Seite der
Erwartung in Ansatz und vergleicht damit das talsächlich gefundene Zah-
lenverhältnis. Geschwisterlose Merkmalsträger beeinflussen auf diese Weise
das Ergebnis im Sinne der Erwartung, während sie tatsächlich für die Fest-
stellung eines Zahlenverhältnisses gar nicht verwertbar sind. Man müßte die
Bernstein sehe Methode also dahin abändern, daß man die einzigen
Kinder einfach wegläßt. Die Bernsteinsche Methode ergibt meist nur, daß
das gefundene Verhältnis mit dem bei einfach rezessiver Bedingtheit zu
erwartenden nicht in Widerspruch stehe und verführt dazu, diesen Erbgang
dann als erwiesen anzunehmen. Bernstein selbst hat den Schluß gezo-
gen, alle Erbkrankheiten seien monomer bedingt, was zweifellos übertrieben
ist. Die Bernstein sehe Methode setzt auch voraus, daß alle Geschwistcr-
reihen mit gleicher Wahrscheinlichkeit im Material vertreten sind, also ohne
Abhängigkeit von der Zahl der Mcrkmalsträgcr, eine Voraussetzung, die
an tatsächlich zur Verfügung stehenden Materialien in der Regel nicht er-
füllt ist. Eine Methode, die die Mängel der Weinbergschen und der Bcrn-
steinschen Methode zu vermeiden sucht, habe ich angegeben 2 ). Ich sehe in-
dessen davon ab, sie hier zu schildern, da auch sie keine genauen Zahlen
erwarten läßt. Die Unsicherheit ist dadurch bedingt, daß weitere Mcrkmals-
trägcr einer Geschwisterreihe mit größerer oder geringerer Wahrscheinlich-
keit zur Beobachtung kommen können als die ersten. Die Weinbergsche Ge-
schwistermethode habe ich ausführlicher besprochen, weil auf diese Weise die
Fehlerquellen, zu deren Überwindung sie dienen sollte und die der mensch-
liche Erbforscher auf alle Fälle kennen muß, besonders deutlich werden.
Eine , .empirische Prüfung der Geschwistermethode" mittels Drosophila-
experimenten, auf die ein Autor jahrelang viel Mühe verwandt hat, ist grund-
sätzlich unmöglich. Der betreffende Autor hat aus Larven einer Drosophila-
kultur, die ein bestimmtes Zahlenverhältnis erwarten ließ, künstliche Ge-
schwisterreihen von der Kleinheit menschlicher Geschwisterreihen gebildet
und durch Auszählung der daraus hervorgehenden Fliegen mittels der Ge-
schwistermethode dann annähernd dasselbe Zahlenverhältnis erhalten, das
die ganze Zucht ergab. Er hätte seine Versuche genau so gut mit toten wie
mit lebenden Fliegen machen können. Es waren also bei Licht besehen
gar keine biologischen Versuche. Auch ein Beutel mit schwarzen und weißen
Kugeln hätte dieselben Dienste getan; er hätte daraus blindlings Kugelgrup-'
pen in der Größe menschlicher Geschwisterreihen herausgreifen und diese
dann bei Licht nach der Geschwistermethodc auszählen können. Ich könnte
mir denken, daß das eine nützliche Übung in der Anwendung der Geschwi-
stermethode für Anfänger sei. Zur Begründung oder Nachprüfung einer erb-
statisüschen Methode aber ist ein solches Verfahren nicht geeignet.
x ) Bernstein, F. Variations- und Erblichkeitsstatistik. Lieferung 8
des Handbuchs der Vererbungswissenschaft, herausgegeben von E. Baur
und M. Hartmann- Berlin 1929.
3 ) Lenz, F. Methoden der menschlichen Erblichkeitsforschung. Im
Handbuch der hygienischen Untersuchungsmethoden. Herausgegeben von E.
Gotschlich. Jena 1929.
Die von mir angegebene Methode ist auch dargestellt und an einem
Beispiel erläutert in dem Buch von Erna Weber, Variations- und Erb-
lichkeitsslatistik. München 1935. Lehmann. S. 203 ff.
FRITZ LENZ, METHODEN.
GENEÄLOGISCH-S TA TIS TISCHE ME TH ODEN.
617
Bei der Feststellung des Zahlenverhältnisses zwischen Trä-
gern und Nichtträgern eines Merkmals sollte in jedem Falle
der mittlere Fehler der kleinen Zahl berücksichtigt
werden. Es ist hier nicht der Ort, die Theorie der Fehlerbe-
rechnung abzuleiten 1 ). Es scheint mir aber nötig zu sein, we-
nigstens die Formel des mittleren Fehlers von Prozentzahlen
anzugeben und seine Berechnung an einem Beispiel zu zeigen.
Wenn von n Individuen p°/o ein Merkmal aufweisen und die übrigen
(100 — p)o/o nicht; so ist der mittlere quadratische Fehler =
p(100-p)
o/o.
Oder im Beispiel: Wenn unter einer großen Zahl von Individuen 25% ein
Merkmal haben, die übrigen 75% nicht, und 300 Individuen wahllos heraus-
gegriffen werden, so ist zu erwarten, daß das an diesen 300 Individuen fest-
gestellte Prozentverhältnis mit einem mittleren quadratischen Fehler von
'. 1 = 2, 5° L behaftet ist. Man rechnet meist mit der Möglichkeit des dreifa-
300 /0
chen quadratischen Fehlers und demgemäß in dem angenommenen Fall mit der
Möglichkeit einer Abweichung von 7,5% von dem. theoretischen Verhältnis.
Wie die Analyse der Gaußschen Fehlerkurve zeigt, liegen außerhalb der
Grenzen der dreifachen mittleren quadratischen Abweichung nur noch etwa
Ya-jo aller Varianten. Es besteht in unserm Fall daher eine Wahrscheinlich-
keit von ^VäJO' daß das an 300 Fällen gefundene Zahlenverhältnis inner-
halb der Grenzen 17,5 und 32,50/0 Hege. Würde man das Verhältnis aus der
Verteilung von 30 000 Fällen berechnen, so würde der mittlere Fehler nur
noch \ ...win ~~ °' 2 5 /° betragen. Das an 30000 Fällen festgestellte Ver-
hältnis würde mit der Wahrscheinlichkeit 3e9 / 3 7o innerhalb der Grenzen 24,25
und 25,75% liegen. Die Vermehrung der Beobachtungen auf das Hundert-
fache hätte also eine Verminderung des mittleren Fehlers nur auf den zehnten
Teil zur Folge. Allgemein nimmt der Fehler der- kleinen Zahl mit der Wur-
zel aus der Zahl der Beobachtungsfälle ab. Man fügt der gefundenen Pro-
zentzahl gewöhnlich den einfachen mittleren Fehler an, schreibt also im
Falle des letzten Beispiels 25+ 0,250/0.
Wenn das wirkliche Zahlenverhältnis 25:75 ist, so beträgt der mittlere
Fehler bei 12 Fällen \ /-^— — 1,5 Fälle 2 ). Die Grenzen des dreifachen
Fehlers sind 3 ±4,5 Fälle. Ein rezessives Merkmal, das bei 2 5 0/0 der Ge-
schwister zu erwarten wäre, kann also in einer Reihe von 12 Geschwistern
1 ) Zur Einführung in die Fehl erber cclmung sei in erster Linie das Buch
von Erna Weber empfohlen (s. S. 615), sodann auch
P 6 I y a , G. Wahrscheinlichkeitsrechnung, Fehlerausgleichung, Stati-
stik. In Abderhaldens Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden Abt, 5,
Teil 2, H. 7. Berlin u. Wien 1925.
Zur praktischen Anleitung genügt auch
Just, G. Praktische Übungen zur Vererbungslehre. 2. Aufl. Berlin
1935. Springer.
3 ) 3 und 9 sind die beiden Summanden von 12, die sich wie 1:3 ver-
halten.
unter Umständen ganz fehlen und in einer andern Reihe bei 7 Geschwi-
stern von 12 auftreten. Allerdings wären das seltene Grenzfälle.
Wenn es sich darum handelt, zu prüfen, ob ein hypothetisches Zahlen-
verhältnis mit der tatsächlichen Erfahrung übereinstimmt oder nicht, be-
rechnet man den Fehler von dem hypothetischen und nicht von dem gefun-
denen Verhältnis aus. Auch das möge an einem groben Beispiel gezeigt
werden. Wenn die allgemeine Häufigkeit eines Merkmals 10% beträgt, so
wird man unter 10 Geschwistern am häufigsten eins damit behaftet finden.
Nicht viel seltener aber wird man gar kein behaftetes unter 10 Geschwistern
finden. Würde man aus diesem empirischen Verhältnis o: 10 nun den mittle-
ren Fehler berechnen wollen, so würde man diesen = o finden. Von dem
hypothetischen Verhältnis 10:100 ausgehend, würde man für 10 Fälle da-
gegen einen mittleren Fehler von fast 10 0/0 finden, woraus man ohne weite-
res sehen würde, daß das Verhältnis 0:10 sehr wohl mit der Erwartung
1:10 vereinbar ist. Diese Überlegung gilt übrigens nicht nur für die Erblich-
keitsstatistik, sondern überall dort, wo es sich darum handelt, auf Grund
von statistischem Material unter möglichen Hypothesen zu wählen, und das
macht den Hauptteil statistischer Forschung aus.
Oft erhebt sich die Frage, ob die Verschiedenheit zweier Prozent-
zahlen, die sich aus zwei verschiedenen Beobachtungsr einen ergeben haben,
eine biologische Verschiedenheit des Materials anzeige oder ob sie einfach
durch den Fehler der kleinen Zahl bedingt sein könne. Man berechnet in
solchen Fallen den mittleren quadratischen Fehler der Differenz der Prozent-
Wahlen. Dieser ist gleich der Wurzel aus der Summe der Quadrate der Fehler
der beiden Prozentzahlen, also f<i == ]/ f^ _|_ Q. Eine reale Grundlage der
Dilferenz kann mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, wenn
die Differenz der empirischen Zahlen größer als ihr dreifacher Fehler ist.
Auf weitere Einzelheiten der Fehlerberechnung kann hier
nicht eingegangen werden. Die hier besprochenen einfachen
Fälle der Fehlerberechnung' muß der menschliche Erbforscher
aber beherrschen.
Kant hat einmal geäußert, in einem Gegenstande sei nur
soviel echte Wissenschaft enthalten, als Mathematik darin ent-
halten sei. Er hat mit dieser überspitzten Formulierung offen-
bar die Wichtigkeit quantitativen Denkens betonen wollen. Lei-
der haben aber gewisse Erbforscher gemeint, sie müßten ihre
Arbeiten mit zahlreichen komplizierten Formeln und viele Sei-
ten langen Entwicklungen von Gleichungen spicken. Sie haben
mit gehäufter Anwendung des großen Summenzeichens (I>)
zwar einigen Lesern und vielen Nichtlesern ihrer Arbeiten zu
imponieren verstanden, zugleich aber viele Leute vom Lesen
ihrer Arbeiten und, was schlimmer ist, von eigener Forschungs-
arbeit auf dem Gebiet der Erblehre abgeschreckt. Diesen zum
Trost sei gesagt, daß die Beherrschung „höherer" Mathematik
keine Voraussetzung fruchtbarer Arbeit auf dem Gebiet der
Erbforschung ist. Auch die Korrelationsrechnung ist keine
618
FRITZ LENZ, METHODEN.
„höhere" Mathematik. Nur elementare Wahrscheinlichkeits-
rechnung ist nötig.
Bei rezessivem Erbgang sind unter den Geschwi-
stern von Merkmalsträgern, deren Eltern das Merkmal nicht
aufweisen, 250/0 Mcrkmalsträger zu erwarten, unter den Ge-
schwistern von Merkmalsträgcrn, deren einer Elter ebenfalls
das Merkmal hat, 500/0. Wenn man bei der Bearbeitung eines
Materials Zahlen erhält, die innerhalb der Fehlergrenzen mit
den genannten vereinbar sind, so ist damit rezessiver Erbgang
indessen noch nicht bewiesen. Auch bei dinier dominanten
Merkmalen, die im Unterschied von den einfach rezessiven
nicht auf dem Zusammentreffen zweier gleichartiger alleler,
sondern zweier verschiedener, nicht alleler Erbeinheiten be-
ruhen, ist zu erwarten, daß 250/0 der Geschwister Merkmals-
träger sind. Ähnliche Zahlen können sich auch bei unregel-
mäßiger Dominanz einer monomeren Erbanlage ergeben. Bei
dominanten Erbanlagen, die keiner starken Auslese unterwor-
fen sind, ist der Hundertsatz der Merkmalsträger bei Eltern
und Kindern ungefähr gleich dem unter den Geschwistern zu
erwarten; bei rezessiven Merkmalen dagegen ist der Hundert-
satz unter den Geschwistern wesentlich höher als der bei den
Eltern und den Kindern der Merkmalsträger. Ein solcher Un-
terschied spricht also für rezessiven Erbgang.
Bei rezessiven Erbleiden ist die große Mehrzahl der ent-
sprechenden Erbanlagen in der Bevölkerung überdeckt, tritt
also nicht in Erscheinung. Beträgt die Häufigkeit eines rezes-
siven Erbleidens in einer Bevölkerung z. B. 1:10000, so ist
unter der Voraussetzung wahlloser Paarung die Häufigkeit der
zugehörigen Erbanlage 1 :ioo; d. h. von allen alleien Erban-
lagen sind 1 0/0 Anlagen zu dem betreffenden Leiden. Da jeder
Mensch zwei Sätze von Erbeinheiten enthält, kommen auf
100 Individuen rund zwei heterozygote Träger der Erbanlage.
Ist die Häufigkeit eines rezessiven Erbleidens 1 : 100, so ist die
der Erbanlage rund 1:10. Ist die Häufigkeit eines rezessiven
Erbleidens n, so ist die_der entsprechenden Erbanlage unge-
fähr \/n; und gegen 2 \/n sind heterozygote Träger der Anlage.
Genau stimmt diese Beziehung nicht, da durch Verwandten-
ehen die Häufigkeit des homozygoten Zustandes gegenüber dem
heterozygoten etwas erhöht wird. Bei den Kindern (und ebenso
bei denEltern) der Erbkranken ist das Leiden mit der 1 Häufig-
keit V|n zu erwarten (gegenüber einer Häufigkeit von y 4 bei
den Geschwistern). Alle Kinder (und alle Eltern) der Erbkran-
GENEALOGISCH-ST ATISTISCHE METHODEN.
619
keil haben die Erbanlage ja mindestens einmal; und eine zweite
wird damit nach Maßgabe der allgemeinen Häufigkeit der An-
lage V 11 zusammentreffen.
In einer Publikation, die trotz ihrer Unwissenschaftlichkeit leider Auf-
nahme in die Annais of Eugen ics gefunden hat, behauptet Dr. Ewald
Bodewig 1 ) aus Leipzig, „Lenz und überhaupt alle anderen deutschen
Autoren" vertreten den Satz: „Ist ein Mensch unter 100 Träger eines
rezessiven Merkmals, so ist jeder 10. Mensch Träger eines solchen Gens."
Hier liegt ein grobes Mißverständnis vor, das auch schon D a h 1 b c r g
passiert ist und das ich bereits in einer Fußnote auf S. 434 der vorigen
Auflage zurückgewiesen habe. Tatsächlich würde die Häufigkeit der
entsprechenden Erbanlage ungefähr doppelt so häufig sein. Die Publikation
von Bodewig dient im Grunde nur der Stimmungsmache gegen die Ste-
rilisierung von Erbkranken im nationalsozialistischen Deutschland, die als
ein Schlag ins Wasser hingestellt wird. Der Verfasser hat seinen Wohnort
Inzwischen Ins Ausland verlegt; auf einem Sonderdruck dieser Publikation,
den ich von ihm erhielt, ist als Anschrift angegeben „Basel, Hauptpostlager."
Wenn beide Eltern Träger desselben rezessiven Merkmals
sind, so ist zu erwarten, daß auch alle Kinder das Merkmal auf-
weisen. Aus anscheinend entgegenstehenden Einzelerfahrungen
darf aber nicht unbedingt der Schluß gezogen werden, daß es
sich nicht um rezessive Anlagen handle ; denn es besteht die
Möglichkeit, daß die Merkmale beider Eltern biologisch nicht
gleichartig seien. So können z. B. aus der Kreuzung zweier ver-
schiedener rezessiver weißer Hühnerrassen farbige Nachkom-
men hervorgehen (vgl. S. 368).
Das entscheidende Kennzeichen rezessiven
Erbgangs bei seltenen Merkmalen, also bei den
meisten Erbleide 11, ist eine erhöhte Häufigkeit
von Blutsverwandtschaft der Eltern. In dem Ab-
schnitt über die krankhaften Erbanlagen wurde davon in vielen
Fällen Gebrauch gemacht. Die durchschnittliche Häufigkeit
der Verwandtcnchen, mit der die bei den Eltern der Merkmals-
träger zu vergleichen ist, beträgt in unserer Bevölkerung ge-
genwärtig rund 1 /^°/o ! vor einem Menschenalter noch rund 1 0/0,
gerechnet bis zu Vetternehen ersten Grades. Die Häufigkeit
blutsverwandter Ehen bei den Eltern ist um so größer zu er-
warten, je seltener das untersuchte Merkmal in der Bevölke-
rung ist 3 ). Wenn eine bestimmte rezessive Krankheitsanlage
überhaupt nur in einer einzigen Sippe überdeckt vorhanden
*) Bodewig, E. Mathematische Betrachtungen zur Rassenhygiene,
insbesondere zur Sterilisation. Annais of Eugcnics Bd. 5. H. 3/4. S. 339.
'933-
2 ) Lenz, F. Die Bedeutung der statistisch ermittelten Belastung mit
Blutsverwandtschaft der Eltern. Münch. med. Wochenschr. 191g. Nr. 47.
620
FRITZ LENZ, METHODEN,
OENE ALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
621
wäre, so würden zwei solcher Anlagen ausschließlich nur durch
Verwandtenehe zusammengeführt und damit offenbar werden
können; die Merkmalsträger würden in diesem angenommenen
Grenzfall also zu iooo/o aus blutsverwandten Ehen stammen,
Wenn dagegen eine rezessive Anlage in einer Bevölkerung sehr
verbreitet ist, so werden zwei solcher Anlagen oft auch ohne
Verwandtenelle zusammentreffen, und die Häufigkeit der Ver-
wandtenehen unter den Eltern der Kranken wird demgemäß
geringer sein. Bei sehr verbreiteten rezessiven Anlagen wie
denen zu blauer Augenfarbe wird man daher keine deutlich
überdurchschnittliche Häufigkeit der Verwandtenehen bei den
Eltern erwarten dürfen. Wenn man bei den Eltern gewisser
Kranker auch an großem Material keine überdurchschnittliche
Häufigkeit von Blutsverwandtschaft nachweisen kann, so
spricht das entschieden gegen die Bedingtheit des Leidens
durch rezessive Erbanlagen.
W ulz 1 ) hat in ländlichen katholischen Gemeinden in Oberbayern unter
16000 Ehen 0,60/0 nähere Verwandtenehen (bis zu Vctternelien 1. Grades)
feststellen können, in zwei kleinen Landstädten unter 5000 Ehen 0,20/0.
Orcl 3 ) hat in der katholischen Bevölkerung Österreichs eine Häufigkeit
von 0,5 bis 1 o/ gefunden. Während Spindler 3 ) in drei württembergischen
Dörfern unter 453 Ehen 9 Vetternehen ersten Grades fand {= 1,8 + 0,70/0),
konnte Reutlinger 4 ) in zwei hohenzollernschcn Kleinstädten unter 117
jüdischen Ehen nicht weniger als 19 (=16,2+3,40/0) Vetternehen ersten
Grades nachweisen. In katholischen Gegenden sind Verwandtenehen im allge-
meinen seltener als in evangelischen, weil nach katholischem Kirchenrecht
Verwandtenehen nur mit besonderer Genehmigung zulässig sind. Besonders
häufig sind Verwandtenehen in kleinen Gemeinden einer Konfession, die rings
von einer Bevölkerung anderer Konfession umgeben sind. In Preußen waren
nach den standesamtlichen Erhebungen Verwandtenehen 1907 0,450/0, 1908
0,480/0, 1909 0,440/0, 1910 0,420/0, 191 1 0,420/0, 1912 0,400/0, 1924 0,220/0
(bis zu Vetternehen ersten Grades). Auch dürften schwerlich alle Fälle von
den Standesämtern erfragt worden sein. Czellitzer hat auf Grund der
standesamtlichen Erhebungen in Berlin 1896-—1913 eine Häufigkeit der
Verwandtenehen von 0,620/0 (bis zu Vetterneben 1. Grades), von Vctternelien
1. Grades allein 0,570/0 gefunden. Um einigermaßen exakte Vergleiche zu
erhalten, ist es nötig, stets anzugeben, wie weit der Begriff der Verwandten- 1
ehe gefaßt ist, was bisher leider meist versäumt wurde. Verwandtenehen
bei den Großeltern sind für unsere Frage bedeutungslos, was ebenfalls noch
3 ) Wulz, G. Ein Beitrag zur Statistik der Verwandtenehen. ARGE.
Bd. 17. H. 1. 1925.
3 ) Orel, N. Die Verwandtenehen in der Erzdiözese Wien. ARGB.
Bd. 26. Ii. 3. S. 249. 1932.
3 ) Spindler. Über die Häufigkeit von Verwandtenehen in drei würt-
tembergischen Dörfern. ARGB. Bd. 14. H. 1. 1922.
4 ) Reutlingen Über die Häufigkeit der Verwandtenehen bei den
Juden in Hohcnzolleni. ARGB. Bd. 14. H. 3. 1923.
oft übersehen wird. Der Hundertsatz der Verwandtenehen ist gegenwärtig
im Rückgang begriffen. Zum Teil ist das eine Folge der Zunahme der Bin-
nenwanderung. Die Geschwisterkinder wachsen nicht mehr so oft benach-
bart auf wie früher. Hauptsächlich aber ist der Rückgang der Verwandten-
ehen eine Folge des Geburtenrückgangs 1 ). Wenn auf die Familie im Durch-
schnitt 4 Kinder kommen, so hat ein junger Mann im Durchschnitt rund
12 Basen; wenn die Familie im Durchschnitt nur noch 2 Kinder hat, so hat
er dagegen im Durchschnitt auch nur 2 Basen. Infolge des Geburtenrück-
gangs der letzten Jahrzehnte werden um 1950 die Vetternehen daher auf
etwa 0,1 0/0 zurückgegangen sein.
H anhart a ) hat die systematische Durchforschung von
Inzuchtgebieten für die Klarstellung des Erbganges rezessiver
Leiden empfohlen und mit Erfolg in Angriff genommen.
Wenn man bei den Eltern der Träger gewisser Anomalien
eine überdurchschnittliche Häufigkeit von Verwandtenehen fin-
det, so folgt daraus nur, daß rezessive Erbanlagen bei dem Zu-
standekommen der Anomalie mitwirken. Man muß aber stets
die Möglichkeit im Auge behalten, daß außerdem auch andere
Erbanlagen oder auch Umwelteinflüsse ähnliche Bilder bewir-
ken oder bei der Entfaltung der rezessiven Erbanlagen mit-
wirken können. Dann wird die Zahl der Mcrkmalsträger unter
den Geschwistern hinter 250/0 zurückbleiben.
Tatsächlich ist das sehr oft der Fall. Man hat in solchen Fällen öfter
voreilig auf die Beteiligung zweier Paare rezessiver Erbanlagen, auf soge-
nannten doppelt rezessiven oder dimer rezessiven Erb-
gang geschlossen. Ein solcher ist zwar theoretisch möglich, für mensch-
liche Erbleiden meines Erachtens bisher aber nicht nachgewiesen wor-
den. Wenn die eine von zwei derartigen Erbeinheiten in einer Bevölkerung
allgemein verbreitet wäre, so würde die andere einfach rezessiven Erbgang
zeigen. Bei seltenen Erbanlagen würden unter den Geschwistern der Kranken
im Grenzfall nur 6,25% (= ein Sechzehntel) ebenfalls krank zu erwarten
sein. Bei häufigeren Anlagen wäre dagegen trotz doppelt rezessiver Bedingt-
heit ein höherer Prozentsatz zu erwarten, der freilich 2 5 0/0 nie ganz errei-
chen würde. Wenn ein Kranker z. B. die Formel aabb hat, so kann er von
zwei äußerlich gesunden Eltern von der Formel A a B b abstammen. Er wird
dann u. a. gesunde Geschwister von der Formel Aabb oder a a B b haben
können. In diesen Fällen würde der Faktor A als ein HcmmungsEaktor in
bezug auf die krankhafte Anlage b b "wirken und der Faktor B als Hemmungs-
faktor in bezug auf a a. Anfänger in der Erbforschimg neigen öfter zu der
Annahme derartiger ,, Hemmungsfaktoren", ohne daß es aber bisher gelungen
wäre, solche bei bestimmten Krankheiten wirklich nachzuweisen.
Für die Erkennung rezessiven Erbgangs kann auch das Zahlenverhält-
nis zwischen „sporadischen" und ,, familiären" Fällen von Bedeutung sein.
Bei monomerem rezessiven Erbgang hat ein Kind heterozygoter Eltern die
1 ) Lenz, F. Die Hauptursache des Rückgangs der Verwandtenehen.
ARGB. Bd. 2i. H. 3. S. 318. 1929.
2 ) H a n h a r t , E. Über die Bedeutung der Erforschung von Inzucht s-
gebieten usw. Schweizerische med. Wochenschr. 1924. Nr. 50.
622
FRITZ LENZ, METHODEN.
Wahrscheinlichkeit 1 / i , krank, und die Wahrscheinlichkeit 3/-t.. gesund zu
sein. In einer Geschwisterreihe von n Köpfen kombinieren sich die Wahr-
scheinlichkeiten also gemäß den Summanden, die das Binom ( l / i k -j- 3 / 4 g) u
ergibt. Dabei ist die Summe der Wahrscheinlichkeiten gleich. 'i. Will man
den kleinsten Summandus gleich i haben, also berechnen, auf wieviele Ge-
schwisterreihen eine kommt, die nur kranke Geschwister aufweist, so muß
man das Binom (ik-f 3 g) 11 entwickeln. Für Familien mit 4 Kindern er-
gibt sich z. B.
1 • 4 k + 12 {3 k + 1 g) + 54 (2 k -f 2 g) + 108 (1 k + 3 g) + 81 - 4 g.
Auf 256 Familien, wo beide Eltern heterozygot sind, ist also im Durch-
schnitt eine zu erwarten, in der alle 4 Kinder krank sind, 12 mit 3 Kranken,
54 mit 2 Kranken, 108 mit einem Kranken und 81 mit keinem Kranken. Auf
108 ,, sporadische" Fälle würden also 67 „familiäre" zu erwarten sein. Bei
größeren Kinderzahlen wird die Zahl der sporadischen Fälle relativ kleiner,
bei kleineren Kinderzahlen großer. Aus dem Überwiegen sporadischer Fälle
darf also nicht geschlossen werden, daß das Leiden in der Mehrzahl der
Fälle nicht erbbedingt sei.
Wenn die Verhältniszahl isolierter Fälle wesentlich die bei rezessivem
Erbgang zu erwartende übertrifft, so muß man auch an die Beteiligung
neuer Mutationen denken (vgl. S. 507). Wenn isolierte Fälle nur durch homo-
zygote Kombination rezessiver Erbanlagen entstehen, so ist zu erwarten, daß
der Hundertsatz der Verwandteriehen bei den Eltern der isolierten Fälle
gleich dem bei den familiären ist. Andernfalls müßte er dahinter zurück-
bleiben. Damit ist eine methodologische Möglichkeit gegeben, Anhaltspunkte
für die Beteiligung anderer Ursachen (Mutationen, Umweltwirkungen) an
der Entstehung isolierter Fälle zu gewinnen.
Für die Erforschung der Erblichkeit aller Zustände, die
nicht offensichtlich monomer bedingt sind, ist es wichtig, ein
Bild über ihre Häufigkeit in der Bevölkerung zu ge-
winnen. Bei rezessiven Anlagen hängt es wesentlich von der
allgemeinen Häufigkeit des Zustandes ab, wie häufig dieser
auch bei den Eltern und Kindern von Merkmalsträgern zu er-
warten ist; und die so aufschlußreiche Häufigkeit der Bluts-
verwandtschaft der Eltern ist um so größer zu erwarten, je
seltener die betreffende Anlage ist. Eine zuverlässige Bestim-
mung der Häufigkeiten krankhafter Zustände wäre freilich erst
nach Durchführung einer allgemeinen erbbiologischen Bestands-
aufnahme der Bevölkerung möglich (vgl. S. 600). Immerhin be-
steht die Möglichkeit, aus vorhandenen medizinalstatistischen
Unterlagen und eventuell aus Stichproben an Teilbevölkerun-
gen ein wenigstens annäherndes Bild zu gewinnen. Für die Gei-
steskrankheiten hat Luxenburger 1 ) eine derartige Erhe-
bung durchgeführt. Für die Entscheidung, ob ein Leiden rezes-
siv erbbedingt ist oder nicht, genügt meist die Kenntnis der
Größenklasse der Häufigkeit, ob 1:10, 1 : 100, 1 : 1000 usw.
r ) Vgl. S. 533.
GENE AI OGISCTI-S TA T IST ISCHE ME TH ODEN.
623
Wenn die bisher besprochenen einfachen.M.öglic.hkeiten nicht
ausreichen, die erbliche Bedingtheit eines Leidens oder eines
sonstigen Merkmals zu erklären, so wird man kompliziertere
Verhältnisse, d. h. Polymerie vermuten müssen. Eine ge-
naue Aufklärung polymerer Bedingtheit ist beim Menschen je-
doch nicht möglich. Schon Fälle dimerer Bedingtheit können
unüberwindliche Schwierigkeiten machen. Glücklicherweise aber
dürfen wir annehmen, daß die erblichen Krankheiten und Ano-
malien, die für die Rassenhygiene praktisch bedeutsam sind, in
der Regel einem ebenso einfachen Erbgang folgen wie die zahl-
reichen krankhaften Erbanlagen, die man von der experimen-
tellen Forschung an der Obstfliege und am Löwenmaul kennt
und die man fast alle als einfach dominant oder rezessiv oder
als geschlechtsgebunden hat einreihen können.
Auch wenn die genaue Aufklärung polymerer Bedingt-
heiten möglich wäre, würde übrigens praktisch nicht viel da-
mit gewonnen sein. Je polymerer eine erbliche Eigenschaft ist,
desto geringere praktische Bedeutung hat die einzelne dabei
beteiligte Erbanlage, desto häufiger müssen auch (bei gleicher
Häufigkeit der Eigenschaft) die einzelnen bei ihrem Zustande-
kommen mitwirkenden Erbeinheiten in der Bevölkerung sein.
Und wenn die verschiedenen beteiligten Erbeinheiten verschie-
den häufig sind, so sind die selteneren die praktisch wich-
tigeren. Wenn z. B. ein krankhafter Zustand durch mehrere
Erbeinheiten bedingt ist, von denen nur eine selten ist, so ist
gerade diese als die eigentlich krankhafte anzusehen. Entspre-
chendes gilt auch hinsichtlich der relativen Bedeutung von Erb-
anlage und Umwelteinfluß. Wenn eine verbreitete Erbanlage
nur verhältnismäßig selten durch eine bestimmte Umweltwir-
kung zur Äußerung gebracht wird, so ist die Umweltwirkung
praktisch wichtiger als die Erbanlage. Wenn dagegen die aus-
lösende Umweltwirkung sehr verbreitet, die Erbanlage aber
selten ist, so ist diese die praktisch wichtigere Ursache.
Wenn ein Erbleiden wie die Schizophrenie, dem gegen 1 °/o
aller Geborenen verfallen, in höherem Grade polymer wäre, so
müßten die beteiligten Erbeinheiten geradezu unheimlich häu-
fig sein. Schon bei monomerer rezessiver Bedingtheit wäre die
Häufigkeit der rezessiven Erbanlage rund 10 0/0 und die ihrer
Träger gegen 200/0. Bei Dimerie wären die entsprechenden
Zahlen bereits rund 320/0 und 93%; nur 70/0 der Bevölkerung
würden frei von solchen Erbanlagen sein, bei Trimerie schon
fast niemand mehr.
624
FRITZ LENZ, METHODEN.
Auch Fälle multipler All eile werden beim Menschen
in der Regel nicht aufgeklärt werden können, obwohl sie sicher
zahlreich vorkommen. Eine Ausnahme bildet die durchBern-
stein 1 ) aufgeklarte Erbbedingtheit der sogenannten Blut-
gruppen bzw. der Isohaemagglutinine (vgl. S.236). Die vier
vorkommenden Blutgruppen sind durch drei allele Gene bzw.
ihre Kombination bedingt. Daß diese Gene einander allel sind,
folgt daraus, daß ein Mensch, der zwei von diesen Genen in
seiner Erbmasse enthält, niemals zugleich das dritte hat. Aus
einer Ehe AB X 00 gehen stets nur .Kinder AO und BO hervor,
niemals aber AB oder OO. Auch das Verhältnis der Häufig-
keiten der verschiedenen Blutgruppen in einer Bevölkerung ist
so, wie es der Hypothese der Allelie entspricht, nicht aber so,
wie es bei Unabhängigkeit oder Koppelung der Gene zu erwar-
ten wäre.
Von menschlichen Erbkrankheiten und Anomalien, die sich
auf dasselbe Organ beziehen, kann man in gewissen Fällen
zwar vermuten, daß sie im Verhältnis multipler Allelie stehen;
aber ein Nachweis in der Art des für die Blutgruppen geführ-
ten ist nicht möglich, da die betreffenden krankhaften Erb-
anlagen nur selten oder gar nicht in einem Menschen ver-
einigt vorkommen. Im übrigen ist daran zu erinnern, daß es
von zahlreichen menschlichen Anomalien desselben Organs ge-
schlechtsgebundene Formen neben nicht geschlechtsgebunde-
nen gibt. Hier liegt also sicher keine Allelie vor.
Auch K o p p e lu 11g von Erbeinheiten wird beim Menschen
in der Regel nicht nachzuweisen sein, obwohl man in Analogie
zu den Erfahrungen an Tieren und Pflanzen schließen darf,
daß sie auch beim Menschen vorkommt. Seit die Erforschung
der Koppelung von Erbeinheiten sich in der experimentellen
Erblehre so fruchtbar erwiesen hat, haben zahlreiche medizi-
nische Schriftsteller gemeint, es müsse damit auch etwas in der
menschlichen Erblehre zu machen sein. Die allermeisten haben
dabei die Begriffe Koppelung und Korrelation durcheinander-
gebracht, besonders unklar z. B. Julius Bauer. Sie haben da-
bei übersehen, daß eine Erbeinheit, die mit einer andern in
einem Koppelungs Verhältnis steht, zugleich mit jeder Erbein-
heit, die dieser allel ist, in demselben Grade gekoppelt ist. Eine
Erbeinheit, die mit der rezessiven Erbanlage für allgemeinen
J-) Bernstein, F. Zusammenfassende Betrachtungen über die erbli-
chen Blutstrukturen des Menschen. Zeitschrift f. induktive Abstammungs-
und Vererbungslehre. Bd. 37. S. 237. 1925.
GENEALOGISCH-STATISTISCHE METHODEN.
625
Albinismus gekoppelt wäre, müßte z. ß. auch mit der allelen
dominanten Anlage für Pigmentierung gekoppelt sein. In einer
gemischten Population hat Koppelung von Erbeinheiten daher
keine Korrelation von Eigenschaften zur Folge, sondern nur
innerhalb derselben Geschwisterreihe. Hier scheitert aber der
Nachweis an der kleinen Zahl. Bei der Obstfliege Drosophila,
wo man Hunderte von Geschwistern aufziehen kann, ist der
Nachweis von Koppelungen leicht, beim Menschen praktisch
unmöglich'.
Übrigens ist Koppelung von Erbeinheiten beim Menschen auch viel
seltener als bei Drosophila zu erwarten. Da bei Drosophila nur vier Chromo-
somenpaare vorhanden sind, ist in grober Annäherung zu erwarten, daß eine
bestimmte Erbeinheit etwa mit jeder vierten andern in irgendeinem Koppe-
lungsverhältnis steht. Beim Menschen aber, der 24 Chromosomenpaare hat,
wird eine Erbeinheit rund nur mit jeder 24. anderen gekoppelt sein. Nur
von den geschlechtsgebundenen Erbanlagen darf man annehmen, daß sie alle
untereinander gekoppelt sind, da sie alle im gleichen Chromosom liegen;
doch ist auch diese Koppelung vermutlich keine absolute, sondern nur eine
relative 1 ).
Gewisse Autoren neigen dazu, sich besonders mit dem von Gold-
schmidt so genannten „höheren" Mendelismus beim Menschen zu be-
schäftigen. Darunter sind Möglichkeiten erblicher Bedingtheit verslanden,
die über die einfachen Mendelschen Spaltungen, d. h. über Monomerie,
hinausgehen. Der ärztliche Erbforscher sollte es sich zum Grundsatz machen,
an komplizierte Möglichkeiten erst dann zu denken, wenn mit den einfachen
wirklich nicht auszukommen ist. Gerade Anfänger nehmen viel zu oft Koppe-
lung, multiple Allelie und anderen „höheren" Mendelismus an. Auch Just' 2 ).
der diesen Dingen eine ausführliche kritische Darstellung gewidmet hat,
kommt zu dem Schluß: „Es handelt sich eigentlich mehr um' eine speziali-
sierte Einkleidung unseres Nichtwissens." Der medizinische Erbforscher muß
sich damit abfinden, daß es nicht gelingt, alle klinischen Bilder genetisch
eindeutig zu analysieren.
Auch eine isolierte Verfolgung der beteiligten pathogenen
Erbeinheiten ist in vielen Gruppen von Krankheiten wenigstens
einstweilen nicht möglich, leider auch gerade in so wichtigen
Gruppen wie der des Schwachsinns und der Schizophrenie. In
solchen Fällen ist die Feststellung der durchschnittlichen Häu-
figkeit von Trägern bestimmter Merkmale unter den Blutsver-
wandten fruchtbarer als der Versuch einer Genanalyse des
heterogenen Materials. Es ist die Frage zu stellen : ein wie
hoher Hunclertsatz der Geschwister, der Eltern, der Kinder
von Merkmalsträgern sind ebenfalls Merkmalsträger, und wie
1 ) Lenz, F. Koppelung mit dem Geschlecht oder Lokalisation im
Geschlechtschromosom ? Zeitschr. f induktive Abstammungslehre. Bd. 28.
S. 243. 1922.
a ) J u s t , G. Faktorenkoppelung, Faklorcnaustausch und Chromoso-
menaberrationen beim Menschen. Ergebnisse d. Biologie. Bd. 1.0. S. 566. 1934.
B a u r - V i s c Ii e r - 1, e n 7, I.
40
626
FRITZ LENZ, METHODEN.
sind diese Blutsverwandten sonst beschaffen ? Ein wie großer
Teil der Merkmalsträger stammt von ebensolchen Eltern ab ?
Wie ändern sich die Zahlen Verhältnisse bei den Nachkommen,
wenn beide Eltern, nur einer von beiden, keiner von beiden
Merkmalsträger ist? Haecker und Ziehen 1 ) haben diese
Methode der Prozentberechnung mit gutem Erfolge z. B. bei
der Erforschung der Erblichkeit der musikalischen Begabung
anwenden können. Sie haben die Eltern in verschiedene Grup-
pen geteilt, je nachdem beide Eltern ausgesprochen musika-
lisch, ausgesprochen unmusikalisch oder verschieden veranlagt
waren; in letzterer Gruppe wurden wieder die Ehen mit musi-
kalischem Vater und die mit musikalischer Mutter gesondert
behandelt, was mit Rücksicht auf mögliche Geschlechtsabhän-
gigkeit von Bedeutung ist.
Auch Rüdin und seine Mitarbeiter 2 ) haben in den letzten
Jahren ihre Arbeit hauptsächlich auf die Gewinnung von Pro-
zentzahlen bei den Kindern, Geschwistern usw. der Erbkranken
eingestellt. Daß eine derart gewonnene „Erbprognose" eigent-
lich nur für den großen Durchschnitt und nicht für den Einzel-
fall gilt, ist ein in der Natur der Sache begründeter Mangel, in
Fällen, wo ein genetisch einheitliches Leiden von bekanntem
Erbgang wie etwa die Huntingtonsche Chorea vorliegt, ist die
Voraussage zwar wesentlich sicherer, aber auch da kann sie nur
in Form einer Wahrscheinlichkeit (in diesem Falle 1:2) für
jedes Kind, nicht für ein bestimmtes Kind gegeben werden.
Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, sei aus-
drücklich betont, daß die p r a k t i s c h - ä r z 1 1 i c h e Erb-
forschung in mancher Hinsicht anders vorgehen kann und
muß als die wissenschaftliche. Bei dieser handelt es sich um die
Gewinnung naturwissenschaftlicher, d. h. allgemeiner Satze, bei
jener dagegen um die Beurteilung von Einzelfällen. Wenn der
wissenschaftliche Erbforschcr z. B. die Erbbedingtheit der
Schizophrenie oder der Zyklophrenie klären will, so darf er bei
der Beurteilung nichts voraussetzen; er darf z. B. nicht von
vornherein zwischen „hereditären" und „isolierten" Fällen unter-
scheiden. Er muß vielmehr einfach die Häufung des Leidens
und möglicherweise verwandter Zustände unter den Geschwi-
stern und sonstigen Verwandten der Kranken feststellen, ins-
J ) Hacek er, V. und Ziehen, Th. Zur Vererbung und Entwick-
lung der musikalischen Begabung. Leipzig 1923. J. A. Barth.
2 ) Vgl. z. B. Luxen burger, H. Die Ergebnisse der Erbprognose
in den vier wichtigsten Erbkr eisen. Zeitschrift für psychische Hygiene. 1933.
DIE KORRELÄTIONSRECHNUNG.
627
besondere auch die Häufigkeit der Blutsverwandtschaft unter
den Eltern der Kranken. Aus den Erfahrungen an großem
Material muß er dann seine allgemeinen Schlüsse ziehen. Der
Erbarzt dagegen kann die Ergebnisse der wissenschaftlichen
Erbforschung bei seiner praktischen Tätigkeit voraussetzen. Er
kann z.B. bei einem Fall von 'Schizophrenie oder von Zyklo-
phrenie auch ohne Familienforschung begutachten, daß ein Erb-
leiden vorliegt. Bei Leiden, von. denen die wissenschaftliche For-
schung gezeigt hat, daß sie außer durch krankhafte Erban-
lagen auch durch äußere Ursachen bedingt sein können, ist die
Frage der Erbbedingtheit im Einzelfall oft überhaupt
nicht zu entscheiden. Wohl wissen wir z. B. vom Schwachsinn,
daß er in den allermeisten Fällen erbbedingt ist; im Einzel-
fall ist aber eine sichere Entscheidung meist nicht möglich.
„Belastung" beweist im Einzelfall nicht Erblichkeit, da auch
umweltbedingte Schäden zufällig hi einer Sippe mehr als ein-
mal vorkommen können; und Fehlen von „Belastung" schließt
im Einzelfall Erblichkeit nicht aus, da rezessive Erbleiden oft
isoliert auftreten. Auch die Feststellung eines äußeren Scha-
dens wie etwa einer angeborenen Syphilis schließt die Erbbe-
dingtheit eines Schwachsinnsfalles nicht sicher aus, da auch
ein erblich schwachsinniges Kind syphilitisch sein kann. In
solchen Fällen kann der Erbarzt Urteile über die Erbbedingt-
heit also nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlich-
keit abgeben; und für die meisten praktischen Zwecke genü-
gen solche Wahr scheinlichkeitsur teile glücklicherweise auch.
Ein wichtiges Hilfsmittel der menschlichen Erbforschung
ist die K o r r c 1 a t i o n s r e c h 11 u 11 g. Zwei Merkmale stehen in
Korrelation, wenn sie häufiger zusammen vorkommen,
als nach ihren einzelnen Häufigkeiten zu erwarten wäre 1 ).
Wenn zwei Merkmale immer nur zusammen vorkommen, so ist
ihre Korrelation vollständig (==-|-i); wenn sie dagegen selte-
ner zusammen vorkommen,' als nach den einzelnen Häufig-
keiten zu erwarten wäre, so ist die Korrelation negativ; im
äußersten Fall, wenn beide Merkmale sich gegenseitig aus-
schließen, ist sie = — 1. Null ist die Korrelation, wenn das Zu-
sammentreffen nicht häufiger und nicht seltener ist, als nach
den einzelnen Häufigkeiten zu erwarten ist, wenn aiso das
1 ) Der Korrelationsbegriff kann ebenso gut auf Reihen von mehr als
zwei Gliedern angewandt werden. Davon wird weiter unter noch die Rede sein.
FR/TZ LENZ, METHODEN.
Zusammentreffen gerade gleich dem Produkt der einzelnen
Häufigkeiten (oder was dasselbe ist, der einzelnen Wahrschein-
lichkeiten) ist. Die Korrelation ist also ein TViaß, welches an-
gibt, um wieviel die Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens
zweier Ereignisse von dem Produkt der einzelnen Wahrschein-
lichkeiten abweicht.
Wenn zwei erbliche Merkmale in einer menschlichen Be-
völkerung in Korrelation stehen, so kommt das in der Regel
daher, daß sie ganz oder teilweise durch eine und dieselbe Erb-
anlage bedingt sind. Man hat diese Erscheinung auch als Poly-
phaenie bezeichnet. Koppelung von Erbeinheiten bedingt in
menschlichen Bevölkerungen keine Korrelation, wie schon
oben ausgeführt wurde. Eine gewisse Korrelation erblicher
Merkmale kann aber auch durch gemeinsame (soziale oder
geschlechtliche) Auslese zweier oder mehrerer Erbanlagen ent-
stehen. Nichterbliche Merkmale können als Folgen gemein-
samer Umweltwirkungen in Korrelation stehen.
Die Berechnung der Korrelation wird am besten an einem
Beispiel gezeigt, zunächst für den Grenzfall von zwei Merk-
malen, deren jedes entweder vorhanden sein oder fehlen kann.
In einem Material v. Pfaundlers litten unter 34555 Kindern
764 an Kropf, 87 an Kretinismus und 80 an beiden Zuständen
zugleich. Danach kann man folgende Korrelationstafel auf-
stellen:
Kretinismus
Kropf
80
nicht
Kretinismus
68+
33784-
nicht Kropf I 7
Der Korrelationsko effizient (nach Bravais und Fear-
son) ist für den Fall alternativer Merkmale
a d— b c
V (a+bMc+d) (a+c) (b+d)
wobei die Buchstaben folgendermaßen die Zahlen der Kor-
relationstafel vertreten :
a | _b_
" c | d
a bezeichnet also die Zahl der Kinder mit beiden Zustän-
den (80), b die Zahl der Kinder mit Kropf ohne Kretinismus
(684), c die Zahl der Kinder mit Kretinismus ohne Kropf (7),
d die Zahl der Kinder ohne Kropf und ohne Kretinismus
DIE KORRELATIONSRECHNUNG.
629
(33784). Die gesamte Summe der Kinder ist a -|- b -\- c -]- d =
34555, die der Kinder mit Kropf a-|-b = 764, die der Kinder
mit Kretinismus a-j- c = 87, die der kropffreien c-|-d — 33791,
die der kretinismusfreien b -|- d = 34
koeffizient ist also in diesem Falle
80 ■ 33704 — 684-7
Der Korrelations -
3,31
V 764-33791 - 87 "34468
Als mittlerer Fehler der kleinen Zahl gilt beim Korrela-
1 __ r 2
Die Berechnung ergibt
tionskoeffizienten der Wert
V"
0,005. Die Korrelation zwischen Kropf und Kretinismus ist also
r = -j-o,3i 7h 0,005. D er Pcarsonsche Koeffizient ergibt in die-
sem Falle also keine sehr starke Korrelation, obwohl die Bezie-
hung zwischen Kretinismus und Kropf so stark ist, daß von 87
kretinischen Kindern nur 7 keinen Kropf haben.
Einen viel höheren Wert ergibt der von Yule angegebene Assozia-
tionskoeffizient ass = "",,, ' , nämlich 0,98. Dieser hat aber eine Schwäche , -
ad-j-hc
er gibt nämlich, wenn eine der Gruppen b oder c nicht vertreten ist, immer
-j- 1 und entsprechend bei Fehlen einer der andern Gruppen a und d immer
— 1. Es dürfte aber einleuchten, daß 2. B. die Korrelation zwischen Kropf
und Kretinismus auch dann nicht eine vollständige zu sein brauchte, wenn
keine Fälle von Kretinismus ohne Kropf gefunden würden; denn dann würde
es immer noch sehr zahlreiche Fälle von Kropf ohne Kretinismus geben;
und erst, wenn auch diese Gruppe nicht vertreten wäre, würde die Korrela-
tion wirklich vollständig sein.
Ein „Korrelationsindex", den ich angegeben habe, hat leider, wie ich
mich überzeugt habe, einen größeren Fehler der kleinen Zahl als der Korre-
lalionskocffizient, d. h. er wird mit steigender Zahl der Beobachtungen
langsamer konstant als dieser. Trotz gewisser anderer Vorzüge des Korrcla-
tionsindex habe ich ihn daher wieder aufgegeben.
Die Korrelationsrechnung ist in der deutschen Wissenschaft viel weni-
ger gebräuchlich als in der englischen und amerikanischen. Verschiedene
deutsche Forscher sind daher unabhängig auf den Begriff der Korrelation
gekommen und haben ihn zum Teil, mit .andern Namen belegt. So hat
Kretschmer 1 ) die „statistische Tatsache der vergleichsweisen größeren
Häufigkeit des Zusammentreffens von Syndromen" als „Affinität" bezeich-
net. Wie man sieht, ist „Affinität" hier gleichbedeutend mit Korrelation ge-
hraucht.
v. Pfaundler 2 ) hat „die Häufigkeit des Zusammentreffens zweier
oder mehrerer Krankheitszustände" „Syntropie" genannt und als Maßzahl
x ) Kretschmer, E. Der Körperbau der Gesunden und der Begriff
der Affinität. Zeitschrift für Neurologie. Bd. 107. H, 5. S. 749. 1927.
2 ) v. Pfaundler, M. und v. Seht, L. Über Syntropie von Krank-
heitszuständen. Zeitschrift für Kinderheilkunde. Bd. 30. H. 1/2. S. 100. 1921.
630
FRITZ LENZ, METHODEN,
der Syntropie einen „syntropischcn Index" angegeben, der von einigen me-
dizinischen Forschern in Gebrauch genommen worden ist. Wenn unter N
Individuen n a ein Merkmal A, iib Individuen ein Merkmal B und n a b Indi-
viduen beide Merkmale aulweisen, so soll die ,, Syntropie" s= — - — sein.
1 n a nb
Dieser „syn tropische Index" hat den Fehler, daß er nicht nur von der
Häufigkeit des Zusammentreffens der Merkmale sondern auch von der Häu-
figkeit der einzelnen Merkmale abhängig ist; er wird nämlich mit steigender
Häufigkeit der Merkmale kleiner. Wenn man z. B. für die ,, Syntropie"
zweier seltener Merkmale A und B einen bestimmten Wert findet, so er-
hält man für die ,, Syntropie" der beiden entgegengesetzten Merkmale
Nicht-A und Nicht-B einen ganz andern und zwar viel kleineren Wert. Es
Hegt aber auf der Hand, daß z. B. die Verteilung von Kropf und Kretinis-
mus durch dieselben Ursachen bewirkt wird wie die von Nicht-Kropf und
Nicht-Kretinismus. Demgemäß ergibt die Korrelationsrechnung hier nur
einen Wert, indem die Häufigkeiten der vier Kombinationen zusammen
erst den Korrelationskocffizienten bestimmen. Ein mein* äußerer Mangel
des ..syntropischen Index" besteht darin, daß er keine festen Grenzen hat;
er kann ein echter Bruch und eine positive Zahl sein, die bei seltenen Merk-
malen ins Unbegrenzte gehen kann.
Der Korrelationskoeffizient ist vielfach auch als Maß der
Erblichkeit als solcher angesehen worden, besonders von der
sogenannten biometrischen Schule Pearsons. Man erfaßt auf
diese Weise die durchschnittliche Ähnlichkeit von Verwandten
bestimmten Grades, z. B. von Eltern und Kindern oder von
Geschwistern untereinander. Die Anwendung der Korrelations-
rechnung dabei möge an einem theoretisch konstruierten Bei-
spiel erläutert werden.
Angenommen, ein Merkmal finde sich bei r o/o der Bevölkerung; von
10 ooo untersuchten Vätern mögen es also 100 aufweisen und von den 100
ersten Kindern dieser ioo Väter 10; im übrigen sei das Merkmal auch in der
kindlichen Generation mit der Häufigkeit 1:100 vertreten, im ganzen also
bei ioo der ersten Kinder aller 10 ooo Väter. Dann ergibt sich folgende
Korrelationstafel über die Familiengruppen in bezug auf das Merkmal:
Kind +
Kind
Vater -f
Vater —
10
90
90
9810
Als Korrelationskoeffizient ergibt sich -\- 0,09, also scheinbar eine
schwache „Erblichkeit" des Merkmals. Und doch kann dieses vollständig
erbbedingt und von Umwelteinflüssen praktisch unabhängig sein. In genau
dem gleichen Verhältnis wie in der Korrclationstafel angegeben, würde sich
nämlich ein einfach rezessives Merkmal, das in der Bevölkerung mit der
Häufigkeit 1:100 vorkäme, bei den Kindern von Merkmalsträgern wieder-
finden (vgl. S. 618). Wir sehen daraus, daß die .Korrelationsrechnimg ein
recht mangelhaftes Maß der Erblichkeit ist.
DIE KORRELATIONSRECHNUNG.
631
Freilich, eine Andeutung der Erblichkeit kann man immerhin in ihm
finden. Wenn gar keine Erblichkeit bestände, wenn mit andern Worten das
Merkmal bei Vätern und Kindern rein zufällig zusammentreffen würde, so
würde sich die Verteilung folgendermaßen gestalten;
Kind +
Vater -j-
1
Vater
99
Kind
99
9801
Die Korrelation ist dann = o. Wenn sich wirkliche Erblichkeit auch
oft in der Korrelation andeutet, so muß man doch immer im Auge behal-
ten, daß es sich um eine Gleichung mit mehreren Unbekannten handelt.
Außer der Umwelt hat auch die Art des Erbganges und die Häufigkeit eines
Merkmals Einfluß auf die Korrelation. Nehmen wir einmal an, ein rezessives
Merkmal sei bei einem Viertel der Bevölkerung vorhanden. Dann würde es,
wie leicht zu berechnen ist, bei der Hälfte von Nachkommen der Merkmals-
träger zu erwarten sein. Es würde sich unter 10 000 Familiengruppen fol-
gende Verteilung finden:
Kind -f
Kind —
Vater +
1250
1250
Vater —..,....
1250
6250
Als Korrelation findet man nunmehr 0,33 (genau 1 / 3 ), also einen viel
höheren Wert, als wenn das Merkmal seltener wäre — obwohl der Erbgang
gleichgeblieben ist.
Die Korrelationsrechnung wird in der Erbforschung be-
sonders bei Merkmalen angewandt, hinsichtlich derer eine Son-
derung der Individuen in scharf geschiedene Gruppen nicht ge-
troffen werden kann, wo sich vielmehr nur quantitative Unter-
schiede mit allerlei stetigen Übergängen finden, wie das bei
normalen Eigenschaften (im Unterschied von den krankhaften)
die Regel ist.
Wie sich in solchen Fällen die Korrelationsrechnung ge-
staltet, möge am Beispiel der Körperlänge gezeigt werden. Hier
kann man nur künstliche Gruppen bilden, indem man z. B. alle
Individuen, deren Länge die gleiche Zahl ganzer Zentimeter
beträgt, zu einer Gruppe zusammenfaßt; oder wenn dieser
Spielraum sich praktisch als zu klein erweisen sollte, läßt man
die Gruppen je 2 cm umfassen, oder je 5 cm, oder wie es sonst
dem Material angemessen ist. Wenn man Eltern und Kinder
vergleichen will, so stellt man weiter fest, wie sich die Körper-
längen der Kinder der verschiedenen Elterngruppen verteilen.
Man kann die Befunde dann in Form einer Korrelations tafel
(vgl. S. 633) anordnen.
632
FRITZ LENZ, METHODEN.
Die Ziffern in der Korrelationstafel geben die Zahlen der
Kinder an, deren Körperlänge mit einer bestimmten Körper-
länge der Eltern zusammentrifft. (In den äußersten Feldern
sind die Mittelwerte nicht ganz genau, da eigentlich einzelne
Varianten noch darüber hinausgingen; ein wesentlicher Fehler
entsteht aber wegen der geringen Zahl dieser Fälle daraus
nicht.) Die Untersuchung erstreckte sich auf 928 Kinder. Die
Körperlänge der Frauen wird in solchen Fällen nach dem
durchschnittlichen Verhältnis in männliche Körperlänge umge-
rechnet ; aus der Körperlänge beider Eltern wird dann das
Mittel genommen. Wenn man nur die Korrelation zwischen
72
71
70
69
67
66
s
1.
y\
V
/
S^
y
S
\f^~
^
/
/
X
/
y
V,
SS
|
o> 65 66 6?
69 70 71 78 73
Fig. 202.
Die Regression der Körperlänge der Kinder gegen
die der Eltern (nach Gallons Material).
Vätern und Söhnen oder die zwischen Vätern und Töchtern
usw. prüfen will, so bedarf es solcher Umrechnungen natür-
lich nicht.
Man kann aus der angeführten Korrelationstafel schon
erkennen, daß mit der Körperlänge der Eltern im Durchschnitt
auch die der Kinder steigt, daß also eine positive Korrelation
zwischen beiden besteht. Wenn vollständige Korrelation (—+0
bestände, so würden sich alle Zahlen in die Diagonale von links
oben nach rechts unten zusammendrängen, bei vollständiger
negativer Korrelation in die Diagonale von rechts oben nach
links unten.
DIE KORRELATIONSRECHNUNG.
633
Der von Pearson in die Erbforschung eingeführte B ra-
vaische Korrelationskoeffizicnt wird am einfachsten von der
sogenannten Regression her verständlich. In dem ange-
führten Material über die Körperlänge weichen die Kinder
nicht ebenso stark vom Mittel ab wie ihre Eltern, sondern nur
etwa zwei Drittel so stark; ihre „Regression" gegen die
Eltern beträgt 0,68.
Körperlänge der Eltern (X-Rcihe)
63,5 64,5 65,5 66,5 67,5 68,5 69,5 70,5
71,5
72,5 73.5
N u
■d
d
ja +j a
, £
all
61,2
1
1
1
1
1
1 1
t
5
66,4
62,2
3
3
7
66,6
-. 63,2
2
4
4
9
3
5
7
11
16
1
16
4
17
27
1
32
66,3
% 64,2
>< 65,2
4 | 5
5
14
15
59
67,8
1
2
1 S 7
2
1
1
3
12
1
3
4
3
48
67,9
u 66,2
5
11
17
36
25
117
67,7
| 67,2
2
5
1!
7
17
14
13
4
38
28
38
31
138
67,9
68,303
% 68,2
1
1
34
20
1
2
1
3
1 20 1 68,3
& 69 > 2
2
7
48
33
18
5
1 67 | 69,5
£ 70,2
1-
5
19
11
4
21
25
14
10
1
99
64
69,0
e- 71,2
2
18
20
7
4
2
69.0
W 72,2
1
4
11
4
5
4
9
7
41
17
14
70,0
70,4
70.9
73,2
__....
3
3
3
2
2
2
4
74,2
Zahl
der Fälle
14
23
66
78
211
219
183
68
43
19
4
923
Durchsclin.
der Kinder
65,3
65,8
66,7
67,2
67,6
68,2
68,9
69,5
69,9
72,2
72,7
i
Gesamt-
durclischu.
der Kinder
80,095
Korrelation zwischen Körpcrlange von Eltern und erwachsenen Kin-
dern. (Nach Material Galtons, Maße in englischen Zoll.)
Wenn man die Eltern nach der Größe in Klassen ordnet
und die Durchschnitt sgröße der Kinder in den verschiedenen
Klassen berechnet, so erhält man:
Eltern: 63,5 64,5 65,5 66,5 67,5 68,5 69,5 70,5 71,5 72,5 73,5
Kinder: 65,3 65,3 66,7 67,2 67,6 68,2 68.9 69,5 69,9 72,2 72,7
Die mittlere Länge der Eltern betrug 68,364 Zoll, die der Kin-
der 68,086. Für das Verhältnis der Abweichungen vom Mittel
634
FRITZ LENZ, METHODEN.
ergeben sich in den einzelnen. Klassen dann folgende Regres-
sionsziff ein :
0,57 0,59 0,48 0,48 0,56 0,84 0,72 0,66 0,58 0,99 0,90
Die Zahl der Familien in den verschiedenen Klassen betrug:
1 4 23 66 78 21 1 219 1 83 68 43 1 9 4
Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Regression von o,68.
Die „Regression" bezeichnet also nicht einen „Rückschlag"
gegen das Mittel, wie Öfter irrtümlich angenommen wird, son-
dern das Gegenteil. Sie war als ein Maß der durchschnittlichen
Erblichkeit, als „Erbziff er", gedacht. Die Abhängigkeit der
Körpergröße der Kinder von der der Kitern wird durch Fig. 202
gezeigt. Die Unregelmäßigkeiten des Verlaufs sind durch den
Fehler der kleinen Zahl bedingt; wenn diese mittels eines Aus-
gleichsverfahrens beseitigt würden, so würde eine mittlere Re-
gressionslinie entstehen, wie sie durch die gestrichelte
Linie angedeutet ist.
Man kann auch umgekehrt zuerst die Kinder nach ihrer Größe in Klas-
sen ordnen und dann untersuchen, in welcher Beziehung die Grüße der Eltern
zu der der Kinder steht (vgl. Fig. 203). Da zeigt sich an dem gleichen Mate-
rial, daß auch eine Regression der Eltern gegen die Kinder besteht, aber
im Durchschnitt nur von 0,33. Das ist auf den ersten Blick ein überraschen-
des Ergebnis; denn da die Eltern einen ebenso großen Teil ihrer Erbmasse
62 63 6H- 65 66 67 68 69 70 71 72 73
Fig. 203.
Die Regression der Körperlänge der Eltern gegen die der Kinder.
(Nach Galtons Material.)
mit den Kindern gemeinsam haben wie die Kinder mit den Eltern, sollte
man erwarten, daß die „Erbziffer" in beiden Fallen dieselbe sein werde.
Das scheinbar abweichende Ergebnis erklärt sich daraus, daß in der elter-
lichen Generation das Mittel aus der Größe beider Eltern genommen worden
ist, während die Größe der einzelnen Kinder als solche eingesetzt ist. Die
Körperlänge eines Kindes ist natürlich viel stärker von der durchschnittlichen
Körperlänge beider Eltern abhängig als diese von der nur eines Kindes.
Die Variabilität der mittleren Körperlänge der Elternpaare ist kleiner als
die der Körperlänge der einzelnen Kinder. Wenn man den Durchschnitt
DIE KORRELATIONSRECHNUNG.
635
zweier Maße nimmt (hier den der Körperlängen beider Eltern), so weicht
dieser im Mittel weniger von dem allgemeinen Mittel ab als die einzelnen
Maße, nämlich im Verhältnis 1 : \f 2. Die Regressionen aber sind mit
abhängig von dem Verhältnis der Variabilitäten. Wenn die Variabilität der
Kinder gleich der der Eltern wäre, so würden beide Regressionen gleich sein.
Da aber in Wirklichkeit die Regressionen meist verschieden sind, hat Fear-
son als Maß der Erblichkeit das geometrische Mittel (d. h. die Wurzel, aus
dem Produkt) der Regressionen als Erbziffer vorgeschlagen. Eben das ist
der Korrelationskoeffizient.
Die Regression der Y -Reihe gegen die X -Reihe (in un-
serm Falle der Kinder gegen die Eltern) ist R- y -~
a x ay
n a s
die Regression der X -Reihe gegen die Y-Rcihe (in unserm
Falle der Eltern gegen die Kinder) R- — ^lR.-* ..?. y . Das geo-
metrische Mittel aus beiden Regressionen ist der Korrela-
11 a, a v
tionskoeffizient r —
Die Bedeutung der Zeichen wird am einfachsten an unserm Beispiel
erläutert. a s bedeutet die Abweichung der Länge irgendeines Eltcmpaares
vom Mittel der Eltern, a Y die Abweichung der Länge eines Kindes vom Mit-
tel der Kinder. a s • a y ist also das Produkt beider Abweichungen; p bedeu-
tet die Zahl der Fälle in jeder Gruppe und 2 p a s «y die Summe der Ab-
weichungsprodukte aller Fälle; n bedeutet die Gesamtzahl der Fälle, in unserm
Falle also 92S; a x ist die Wurzel aus dem arithmetischen Mittel der Quadrate
der Elternabweichungen vom Mittel der Eltern und o y entsprechend die
Wurzel aus dem arthime tischen Mittel der Quadrate der Kinderabweichungen
vom Mittel der Kinder; es ist also dx
!_«£.* und °y
Wenn man den Korrelationskocffizienten direkt
nach der Formel r =
berechnen wollte, so würde die
II C7 x O>
Rechnung sehr umständlich sein, weil die Abweichungen vom
Mittel in der Regel keine ganzen Zahlen sind und ihre Pro-
dukte und Quadrate das Rechnen mit langen Dezimalbrüchen
erfordern würde. Glücklicherweise ist eine leichtere Berech-
nung von r möglich, bei der im wesentlichen nur ganze Zahlen
verwandt zu werden brauchen. Diese möchte ich an unserm
Beispiel kurz zeigen 1 ).
i) Ausführlicher ist die Korrelationsrcchnung erläutert in Weber, E.
„Varialions- und Erblichkeitsstatistik." München 1935. J. F. Lehmann.
J o h a n n 5 c n , W. ,, Elemente der exakten Erblichkeitslehre." 3. 'Aufl.
Jena 1926. G. Fischer.
Just, G. „Methoden der Vererbungslehre" in „Methodik der wissen-
schaftlichen Biologie" herausgegeben von T. P e t e r i i , Bd. 2, Berlin 1928.
J. Springer.
636
FRITZ LENZ, METHODEN.
DIE KORRELÄTIONSRECIINUNG.
Man erhält noch eine ausreichende Genauigkeit, wenn man je zwei Zoll
zu einem Klassenspielraum zusammenfaßt. Dann erhält man folgende Tafel:
Körperlän
64 66
je der
68
Eltern
70
(X- Reihe)
72 74
Zahl
d.Fälle
■Ü* 60,7
2
I
1
1
2
5
39
107
& 62,7
7
15
15
1
Ö 64,7
TS
10
14
19
56
21
Cy r...
2,075
'0 66,7
56
130
48
7
255
68,086
na 68,7
4
41
148
83
11
287
tiO
—
11
69
66
22
17
163
58
üy =
2,583
01 Tri t
sx 72,7
1-1
1
11
20
4
rf 74,7
8
6
14
Zahi
der Fälle
37
144
430
251
62
4
928|^
i
e x =
1,419
Mx =
68,364
1x =
,835
|
Statt von den genauen Mittelwerten geht man von Abgangsklassen
A x und A y aus, die den Mittelwerten benachbart liegen. Wir wählen die
X-Klasse 63 und die Y-KIasse 68,7 als Ausgangsklassen. Der Abstand der
Klasse A x vom Mittel M x ist b x = M x — A x , der Abstand der Klasse A y vom
Mittel M y ist b y = M y — A y .
h x = 68,364 — 68,000 = 0,364 Zoll =
b v = 68,oS6 — 68,700 = — 0,614 Zoll = —
ann nun den Korrelationskoeffizientcn
Man
Formel
0,182 Spielräume
0,307 Spielräume
r erhalten mittels der
p a x a y — n b x b y
n c x c.
o-s- erhält man mittels der Formel
2 p a x 2
Die 144 Eltempaare, die in der ersten X-Klasse links von der Aus-
gangsklasse angegeben sind, haben von dieser eine Entfernung von einem
Spielraum 1 ) a K s ist also gleich 1. Die 37 Eltempaare der zweiten Klasse
links von der Ausgangsklasse haben eine Entfernung von zwei Spielräumen;
hier ist also a x a = 4 usw.
*) Während der griechische Buchslabe u weiter oben den Abstand vom
Mittelwert bezeichnete, bedeutet der lateinische Buchstabe a hier den Ab-
stand von der Ausgangsklasse.
p a x « -
144
1 = U4 37 ■ 4 = 148
4 ■ 9
251
1 = 251 62 - 4 = 248
-f 395 + 396
827 : 928 = 0,891
b x a = 0,033
36
36
637
= 827
Diff. = 0,858
0x . =0,926 Spielräume = 1 ,853 Zoll
Entsprechend findet man a y = 1,293 Spielräume = 2,586 Zoll.
Nunmehr gilt es, die Produkte a x a y zu bilden. In den Feldern, die den
Ausgangsklassen entsprechen, sind die Produkte gleich o, weil dort entweder
a x oder a y gleich o ist. Im linken oberen Quadranten ist für das Feld, das die
Zahl 7 trägt, a x = 2 und a y = 3, also a s a y = ö und p a x a y = 42; für das
Feld mit der Zahl 19 ist a x = 1, a y — 2, a x a y = 2, p a x a y = 38 usw. Im
zweiten und dritten Quadranten sind die Produkte negativ, da im zweiten a x
und im dritten a y negativ ist. Im ganzen ergeben sich folgende Produkte:
I. Q
uadrant
56 • 1 = 56
14
2 = 28
19
2 = 38
10
4 = 40
15
3 = 45
7
6 ^ 4-2
1
4=4
2
8 = 16
+ 269
IV. Quadrant
II. Quadrant
66
17
22
20
4
8
6
1 =
2 =
2 =
4 =
6 =
3 =
6 =
66
34
44
80
24
24
36
48
7
21
1
2
1
48
14
42
4
6
III. Quadrant
11 -1 ,--- 11
1 ■ 2 = 2
— 13
18
4- 308
Summe der positiven Produkte =577
Summe der negativen Produkte = 131
Z p a x a y -- 446
n b x b y = 928 ■ 0,182 (—0,307) = — 51,85
S p a x a y — n b x by = 497,85
n a x Oy = 1111
r = 498 : 1 1 1 1 = 0,45
Der mittlere Fehler cles Korrelationskoeffizientcn. wird nach
1— r a
Pearson und Filon mittels der Formel —.—~ berechnet; er
V n
ergibt sich in unserm Fall auf 0,026. Demnach ist
Einen Korrelationskoeffizienten auf mehr als zwei Dezima-
len zu berechnen, hat keinen Sinn. Dadurch würde nur ein
Grad von Genauigkeit vorgetäuscht werden, der der Natur der
Sache nach ausgeschlossen ist.
Da die Dezimalen von der zweiten ab auf alle Fälle un-
sicher sind, kann man das Multiplizieren, Dividieren und Wur-
zelziehen in den meisten Fällen ruhig mit dem Rechenschieber
FRITZ LENZ, METHODEN.
DIE KORRELATIONSRECHNUNG.
639
ausführen. Alle Zahlen im Verlauf der Rechnung genau zu be-
rechnen, würde einen unwirtschaftlichen Zeitaufwand bedeu-
ten.; auch die Logarithmentafel braucht man meist nicht. Für
dreistellige Zahlen genügt ein guter Rechenschieber von etwa
30 cm Länge. Wenn man vier Stellen haben will, kann man
eine Rechenwalze nehmen. Für Maße am Menschen und für
Prozentzahlen genügen in der Regel aber drei Stellen.
jedenfalls muß der menschliche Erbforscher die Korrela-
tionsrechnung einigermaßen kennen. Daher habe ich hier ver-
hältnismäßig viel Raum darauf verwandt. Der auf S. 628 be-
sprochene Korrelationskoeffizient für den alternativen Fall er- 1
gibt sich aus dem für Reihenvariabilität, wenn man nur zwei j
Stufen der Reihe unterscheidet. Wenn man dasselbe Material j
einmal reihenstatistisch und einmal alternativ bearbeitet (also 1
z. 13. bei der Körpergröße nur zwischen „Groß" und „Klein" %
unterscheidet), so findet man bei alternativer Bearbeitung re- i
gelmäßig einen etwas kleineren Wert, der die tatsächliche Kor- ;
relation nicht voll zum Ausdruck bringt. Pearson hat für den 1
alternativen Fall daher einen besonderen Vierfelderkoeffizien- f
ten angegeben, der indessen nicht nur sehr umständlich zu be- I
rechnen, sondern auch in seiner Begründung fragwürdig ist. i
Wenn wir bei alternativer Variabilität den Korrelationskoeffi- 1
zienten als ein wenig brauchbares Maß der Erblichkeit be- l
funden haben (vgl. S. 630), so gilt das bei Reihen Variabilität \
nicht in gleichem Maße, weil hier die verschiedene Häufigkeit \
einzelner Erbeinheiten keinen großen Einfluß hat. Von der \
Erblichkeit normaler oder, was praktisch dasselbe ist, poly- j
nierer Eigenschaften gibt die Korrelationsrechnung ein recht j
brauchbares Bild. ]
Wenn man mit Hilfe der Korrelationsrechnung Anhalts- |
punkte gewinnen will, wie stark in einer gegebenen Bevölke- :
rung ein Merkmal von der erblichen Veranlagung und wie stark j
es von der Umwelt abhängig sei, so tut man gut, sich klar zu j
machen, wie starke Korrelationen bei Merkmalen, die aus- j
schließlich durch die Erbanlage bedingt wären, zu erwarten ?
wären. Nehmen wir einmal an, daß eine Bevölkerung F 2 - !
Charakter habe und daß die Ehewahl ohne Rücksicht auf das •
Merkmal erfolge. Im Falle alternativer Variabilität wäre zwi- J
sehen Vätern und Söhnen dann eine Korrelation von -j-0,33 ... j
(= V3) zu erwarten, wie schon an dem Beispiel auf S. 631 I
gezeigt wurde. Im Falle intermediären Verhaltens wäre die *
Korrelation -I- 0,5. Die Korrelation zwischen Geschwistern ;
wäre bei dominant-rezessivem Verhalten 0,42 und bei inter-
mediärem 0,5.
Vergleichen wir nun damit einige Korrelationen, die man
an empirischem Material gefunden hat. Pearson. und seine
Mitarbeiter haben eine große Zahl von Korrelationen zwi-
schen Eltern und Kindern einerseits und Geschwistern anderer-
seits berechnet. Ich greife die Korrelationen für Augenfarbe
heraus, weil dieses Merkmal von Umwelteinflüssen praktisch
so gut wie unabhängig ist.
Bruder und Bruder 0,52
Schwester und Schwester 0,45
Bruder und Schwester 0,46.
Vater und Sohn 0,55
Vater und Tochter 0,44
Mutter und Sohn 0,48
Mutter und Tochter 0,51.
Die kleinen Unterschiede zwischen diesen Zahlen sind ver-
mutlich m der Hauptsache durch den Fehler der kleinen Zahl
bedingt. Außerdem ist die Häufigkeit der Merkmale in einer
Bevölkerung von wesentlichem Einfluß auf den Korrelations-
koeffizienten. Wenn das dominante Merkmal seltener wird,
50 ist ein Steigen der Korrelation zu erwarten (vgl.S. 631). So
würde in Schweden, wo dunkle Augenfarbe seltener als in Eng-
land ist, eine höhere Korrelation zwischen Eltern und Kindern
in bezug auf die Augenfarbe zu erwarten sein. Man darf also
aus kleinen Korrelationswerten nicht einfach auf geringe Erb-
lichkeit eines Merkmals schließen.
Wenn bei der Augenfarbe die Korrelation rund 0,5 beträgt, so heißt
das keineswegs, daß die Augenfarbe nur etwa zur Hälfte durch die erbliche
Veranlagung und zur andern Hälfte durch die Umwelt bedingt sei. Die
Abhängigkeit der Korrelation von der Häufigkeit der Erbanlagen im Falle
dominant-rezessiven Verhaltens bei alternativer Variabilität ist aus folgender
Tabelle ersichtlich:
0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9
0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0, 1
0,47 0,44 0,41 0,38 0,33 0,29 0,23 0,17 0,09
das Zusammentreffen der Anlagen
nach Maßgabe der Häufigkeiten erfolgt und daß äußere Einflüsse für die
Manifestation der Anlagen keine Rolle spielen. Bei intermediärem Verhalten
ist zwischen Eltern und Kindern stets eine Korrelation von 0,5 zu erwarten,
ganz gleich, mit welcher Häufigkeit intermediäre Anlagen verbreitet sind,
ebenso zwischen Geschwistern.
Ist die Häufigkeit der rezessiven Erbanlage m, so ist die Korrelation
ÜL. + 1V)
fm 2/
1 ) Weinberg, W. Vererbungsgesetze beim Menschen. Z. f. induk-
tive Abstämmlings" und Vererbungslehre. Bd. 1 u. 2. 1908/09.
Häufigkeit der domi-
nanten Erbanlage
Häufigkeit der rezes-
siven Erbanlage
Korrelation zwischen
Eltern u. Kindern
Dabei ist angenommen, daß
0,0
1,0
0.50
1,0
0,0
0,00
rein
m 1
zwischen Eltern und Kindern-;;-—" - und zwischen Geschwistern —
1 -4- m 2
640
FRITZ LENZ, METHODEN.
DIE ZWILLINGSMETHODE.
641
Wenn eine Erbanlage durch Umwelteinflüsse an der Äußerung gehin-
dert wird, so wird die Korrelation um so niedriger, je häufiger diese Unter-
drückung statthat. Wie der Verlauf der Korrelation zwischen Eltern und
Kindern mit steigender Häufigkeit der Unterdrückung durch Umweltein-
flüsse sich gestalten würde, zeigt folgende Zahlenreihe:
D wird m ulSü^t a fu 0,0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,0
D Eltem e iHd°IcSeS en °' 33 °> 23 °' 17 °> 12 °> 09 °- 07 °> 05 °> 03 °> 02 °> 01 °> 00
Es ist dabei vorausgesetzt, daß die Häufigkeit der dominanten Erban-
lage 0,5 sei, folglich ebenso die der rezessiven. Bei intermediärem Verhalten
fällt die Korrelation sowohl zwischen Eltern und Kindern als auch die zwischen
Geschwistern von 0,5 bis o ab. Wenn man statt Unterdrückung einer Erb-
anlage durch Umwelteinflüsse ihre Auslösung durch entgegengesetzte Um-
welteinflüsse einsetzt, so läuft das natürlich auf dasselbe hinaus. Die Zahlen-
reihe zeigt also den Verlauf der Korrelation bei verschiedenen Graden der
Umweltstabilität.
Die Korrelation zwischen Blutsverwandten, die auch bei
voller Erbbedingtheit nicht gleich i zu erwarten ist, fällt jeden-
falls mit zunehmendem Einfluß der Umwelt rasch ab, voraus-
gesetzt, daß die Umweltwirkungen sich rein zufällig verteilen.
Da jedoch nahe Blutsverwandte meist in ähnlicher Umwelt
leben, kann die Gemeinsamkeit der Lebenslage unter Umstän-
den die Korrelation zwischen ihnen auch erhöhen.
Ein weiterer Umstand, durch den die Korrelation zwischen
Blutsverwandten erhöht werden kann, ist die Bevorzugung ähn-
licher Personen bei der Ehewahl („assortative mating", auch
wohl „Homogamie" genannt). Wenn z. B. europäische Fami-
lien in tropischen Ländern unter einer farbigen Bevölkerung
leben, ohne sich wesentlich mit ihr zu vermischen, so wird die
Korrelation zwischen Eltern und Kindern eine sehr hohe sein.
Korrelationskoeffizienten als Anzeichen von Erblichkeit haben
daher nur innerhalb einer bestimmten Bevölkerung und einer
bestimmten Umwelt einen klaren Sinn. Das wird leider oft
außer acht gelassen. Entsprechendes gilt übrigens auch von
dem Begriff der Ähnlichkeit. Zehn beliebige Individuen un-
serer Bevölkerung sind im allgemeinen zehn beliebigen anderen
recht unähnlich. Wenn dieselben beiden Gruppen von je zehn
Individuen aber unter einer Negerbevölkerung lebten, so wür-
den sie einander recht ähnlich erscheinen. Vermutlich ist die
verhältnismäßig hohe Korrelation naher Blutsverwandter hin-
sichtlich der Körpergröße zum Teil auf eine derartige Homo-
gamie zurückzuführen; erfahrungsgemäß heiraten große Per-
sonen nur selten sehr kleine und umgekehrt.
Manche Rassenforscher haben geglaubt, mittels Korrelationsrechnung
eine gemischte Bevölkerung auf ihre Rassenbestandteile analysieren, näm-
i
lieh feststellen zu können, welche Rassenmerkmale ursprünglich, d. h. vor
der Mischung vereinigt waren. In einer wirklich durchgemischten Bevölke-
rung, d. h. einer Bevölkerung von F u -Charakter, ist eine solche Analyse
unmöglich, da die einzelnen Erbeigenschaften der Rassen sich unabhängig"
voneinander vererben und folglich ihre ursprüngliche Korrelation nicht be-
wahren. Anders liegt die Sache, wenn nicht ein Gemisch von F u -Charak-
ter, sondern nur ein Gemenge vorliegt. In den Südstaaten Nord-
amerikas, wo Weiße und Farbige in der Hauptsache unvermischt durch-
einandergemengt leben, besteht eine hohe Korrelation zwischen krausem
Haar, dunkler Hautfarbe, breiter Nase, wulstigen Lippen usw. In der Be-
völkerung einer mitteleuropäischen Stadt dagegen ist eine Korrelation zwi-
schen Haarfarbe, Gestalt, Kopfform, Nasenform usw. kaum noch angedeutet,
weil hier seit vielen Generationen eine intensive Durchmischung stattgefun-
den hat. Soweit hier noch Korrelationen bestehen, etwa zwischen Haar- und
Augenfarbe, rühren sie daher, daß solche Merkmale zum Teil von denselben
Erbeinheiten abhängen. Eine solche (polyphäne) Erbeinheit aber ist natür-
lich etwas ganz anderes als die aus zahlreichen Erbeinheiten bestehende
Erbmasse einer ursprünglichen Rasse. Auch durch Koppelung wird
keine dauernde Korrelation zwischen den Erbanlagen einer Rasse be-
dingt, sondern höchstens in den ersten Generationen nach der Mischung
und auch da nur zwischen Erbeinheiten, die im gleichen Chromosom
liegen. Es gibt keine Möglichkeit, durch Untersuchung einer durchgemischten
Bevölkerung festzustellen, welche Rasseneigenschaften ursprünglich ver-
einigt waren.
Wenn man größere Gebiete ins Auge faßt, etwa ganz Europa, so zeigt
sich eine beträchtliche Korrelation zwischen Haarfarbe, Körpergröße und
Gestalt (große Blonde im Nordwesten, kleine Dunkle im Südwesten usw.).
Das rührt daher, daß ganz Europa nicht gleichmäßig durchgemischt ist.
Auf solche Korrelationen hat z. B. Deniker seine Aufstellung von „Ras-
sen" gegründet, die zunächst nichts weiter waren als geographische Korre-
lationen. Soweit in enger umgrenzten Gebieten noch Reste der ursprüngli-
chen Merkmalskombinationen vorhanden sind, kann man solche natürlich
auch im Korrelationskoeffizienten angedeutet finden. Man muß dabei aber
im Auge behalten, daß solche Korrelationen auch durch sekundäre
gemeinsame Auslese von Merkmalen, die ursprünglich gar nicht ver-
einigt gewesen zu sein brauchen, und zum kleinen Teil auch durch Um-
wcltwirkung bedingt sein können. Meist sind solche Korrelationen überhaupt
nur gering.
4. Die Zwillingsmethode.
In allen Fällen, wo die Erbbedingtheit eines Merkmals
nicht durch die Feststellung eines einfachen Erbgangs (domi-
nant, rezessiv, geschlechtsgebunden) aufgeklärt werden kann,
bietet die Zwillingsforschung die sicherste Handhabe,
zu entscheiden, ob ein Merkmal erbbedingt bzw. in welchem
ungefähren Ausmaß es etwa umweltbedingt ist. Bei Pflanzen
kann der Einfluß der Umwelt am besten an reinen Linien,
deren einzelne Individuen erbgleich sind, studiert werden, wie
Baur-Fischer-tenzI. 41
642
FRITZ LENZ, METHODEN.
zuerst J o h a n n s e n gezeigt hat. Beim Menschen haben wir ein
Analogem der reinen Linien in den eineiigen Zwillingen (£Z),
die regelmäßig von gleicher Erbmasse sind. Eigenschaften, die
wesentlich nur von der Erbmasse abhängen, treten bei ein-
eiigen Zwillingen dalier konkordant, d, h. in gleicher Art und
in gleichem Grade auf. Wenn EZ in einem Merkmal verschie-
den (diskordant) sind, so muß das irgendwie durch Umweltein-
flüsse bedingt sein, entweder durch Umwelteinflüsse in ge-
wöhnlichem Sinne oder schon durch Verschiedenheiten der
Umwelt vor der Geburt, von denen die Entwicklungsbedingun-
gen während der ersten Stadien der Embryonalentwicklung am
wenigsten den gewöhnlichen Umwelteinflüssen an die Seite ge-
stellt werden können. Im Gegensatz zu EZ können zweieiige
Zwillinge (ZZ) nicht nur infolge von Umwelteinflüssen, son-
dern auch infolge verschiedener Erbanlage diskordant sein;
ZZ haben im Durchschnitt ja nur einen ebenso großen Teil
ihrer Erbmasse gemeinsam wie andere Geschwister auch. So
kommt es, daß EZ in jeder ganz oder teilweise erbbedingten
Eigenschaft häufiger bzw. stärker "konkordant sind als ZZ,
Eine hohe Konkordanz bei EZ für sich allein ist noch kein
sicherer Beweis der Erbbedingtheit eines Merkmals, da Kon-
kordanz auch eine Folge von Umweltwirkungen sowie auch
von großer Häufigkeit eines Merkmals sein kann. Nur wenn
die Konkordanz bei ZZ im Durchschnitt einer genügend gro-
ßen Zahl von Paaren deutlich kleiner ist als die bei EZ, darf
man auf mindestens teilweise Erbbedingtheit schließen.
Schon Galton 1 ) hat mit intuitivem Scharfblick die Be-
deutung der Zwillingsforschung für die Abschätzung des An-
teils von Erbanlage und Umwelt an der Entwicklung vorweg-
genommen, obwohl damals der Unterschied zwischen ein- und
zweieiigen Zwillingen noch nicht bekannt war. Galton unter-
schied aber bereits identische (d. h. erbglcichc) und nicht-
identische (d. h. erbungleiche) Zwillingspaare. In neuerer Zeit
ist zunächst P o 1 1 2 ) Galtons Spuren gefolgt, sodann S i e -
m ens ;i ) und W ei t z. Gegenwärtig steht die Zwillingsfor-
1 ) Galton, F. The history of twins as a. criterion of the relative
power s of naltire and nur Iure. Journal oi' the Anlhropological Institute.
1876. [ ( 1
2 ) Pell, H. Über Zwillingsforschung als Hilfsmittel menschlicher Erb-
kunde. Zeitschr. L Ethnologie. Bd. 46. 1914.
3 ) Siemens, H. VV. Die Zwillingspathologie. Berlin 1924. J. Sprin-
ger. S. 4.
DIE ZWILLINGS METHODE.
643
schung im Mittelpunkt der Erbforschung. Sie ist im letzten
Jahrzehnt besonders durch v. V e r s c h u e r und Luxen-
burger gefördert worden. Eine ausführliche Darstellung der
Zwillingsmethode hat Versehrter 1 ) gegeben.
Die Feststellung, ob zwei Zwillinge EZ oder ZZ sind, er-
folgt auf Grund ihrer Ähnlichkeit in Merkmalen, deren Erb-
lichkeit schon bekannt ist. Alle verschiedengeschlechtigen sind
sicher zweieiig ; aber nur ungefähr zwei Fünftel der gleich-
geschlechtigen Paare sind eineiig. Diese als solche zuerkennen,
ist nicht auf Grund eines bestimmten Merkmals möglich, son-
dern nur unter Benutzung vieler Merkmale zugleich. In einem
erblichen Merkmal stimmen oft auch zweieiige Zwillinge (ZZ)
überein; je mehr erbliche Merkmale man berücksichtigt, desto
geringer wird aber die Wahrscheinlichkeit, daß zwei ZZ darin
übereinstimmen. Praktisch wird diese Wahrscheinlichkeit bald ver-
schwindend gering. Immerhin ist es theoretisch möglich, daß zwei
ZZ einmal in allen untersuchten Merkmalen zufällig überein-
stimmen. Die Erfahrung zeigt auch, daß in einer gewissen, aller-
dings kleinen Minderheit der Fälle Zweifel bleiben, ob es sich
bei einem Paar um EZ oder ZZ handelt. Wenn klare Unter-
schiede in bekannten Erbmerkmalen bestehen, so handelt es
sich sicher um ZZ. Wenn keine deutlichen Unterschiede zu
finden sind, andererseits aber auch die Gleichheit nicht klar
auf der Hand liegt, so tut man besser, das Paar zu den un-
sicheren Fällen zu stellen. Es kommt dabei viel auf die Erfah-
rung des Untersuchers an. Ich habe den Verdacht, daß nicht
ganz wenige Fälle, die in der Literatur als EZ gehen, in
Wahrheit ZZ sind. Es muß daher davor gewarnt werden, aus
Erfahrungen an einem einzigen oder einigen wenigen Paaren
von EZ weitgehende Schlüsse auf Erblichkeit bzw. Nichterb-
lichkeit eines Merkmais zu ziehen. Bei dem Vergleich größerer
Reihen gleichen sich etwaige einzelne Fehler der Zuordnung
in die Reihe der EZ oder ZZ so gut wie ganz aus. Die
Zwillingsmethode ist eine statistische; sie bedarf der großen
Zahlen.
Durch denEihautbefund kann die Frage, ob ein Zwillings-
paar ein- oder zweieiig ist, nicht sicher entschieden werden.
Der Eihautbefund ist in vielen Fällen nicht mehr bekannt.
Auch haben EZ in einem erheblichen Teil der Fälle zwei
x ) In Diehl, IC, und v. Verschucr, O. Zwillungslubcrkulosc.
Jena 1933. G. Fischer.
■11*
44
FRITZ LENZ, METHODEN.
DIE ZWILLINGSMETHODE.
645
Choricn 1 -). Untersuchungen im Kaiser Wilhelm-Institut in .Ber-
lin -Dahlem haben ergeben, claß von 14 EZ 5 dichorisch waren-).
Inzwischen ist die Zahl auf 29 EZ gestiegen, darunter 12
dicho risch e. Während die Geburtshelfer auf Grund des Eihaut -
befundes nur rund 15% monochorische Zwillinge finden, be-
trägt der Anteil der eineiigen Zwillinge tatsächlich rund 25%,
wie sich aus dem Zahlenverhältnis zwischen den gleich- und
den verschiedengeschlechtigen Zwillingen ergibt. Der Eihaut-
befund kann nur insofern für die Feststellung der Eiigkeit her-
angezogen werden, als monochorische Zwillinge praktisch im-
mer eineiig sind. Andererseits sind verschiedengeschlechtige
Zwillinge selbstverständlich immer zweieiig.
Im übrigen hat sich für die Entscheidung", ob es sich um
EZ oder um ZZ handelt, die Verwendung folgender erblicher
Merkmale bisher am besten bewährt: Augenfarbe, Haarfarbe,
Hautfarbe, Haarform und Verteilung, Nasenform, Lippenform,
Zungenfalten, Ohrform, Hautgefäßc, Form und Stellung der
Zähne, Sommersprossen, Tastleisten der Finger und Handflä-
chen, Körp erlange, Blutgruppe. Wenn in unserer Bevölkerung
bei einem Zwillingspaar Augen-, Haar- und Hautfarbe genau
überemstimmen, so handelt es sich schon mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit um EZ. In rein dunklen Bevölkerungen da-
gegen ist mit Pigmentunterschieden nicht viel zu machen. Der
genaue Vergleich, der Fingcrl eisten ermöglicht ebenfalls mit
großer Wahrscheinlichkeit für sich allein die Entscheidung,
erst recht natürlich in Verbindung mit den Farbmerkmalcn.
Da auch rund zwei Drittel der ZZ in ihrer Blutgruppe überein-
stimmen, macht diese nur im Falle der Diskordanz die Dia-
gnose ZZ möglich, diese aber dann auch sicher, da die Blut-
gruppe von Umwelteinflüssen praktisch unabhängig ist. Die
J ) Vcrschuer meint, es sei ein Verdienst von Siemens, zuerst der
Ansieht widersprochen zu haben, daß monochorische Zwillinge stets eineiig,
diehorische stets zweieiig seien. Siemens hat indessen noch in seiner
Zwillingspathologie (1924) eleu Standpunkt vertreten, der sichere Beweis der
Eineiigkeit könne durch die Untersuchung der Eihäute erbracht werden.
Ich habe dieser Ansicht erstmalig widersprochen und zwar in einer Bespre-
chung der genannten Schritt: ,,Ob ein oder zwei Choricn gebildet werden,
hängt entscheidend offenbar nur von der Entfernung voneinander ab, in
der sich zwei Embryonalanlagcn einnisten, nicht eigentlich von ihrer Her-
kunft aus einem oder aus zwei Eiern" (Münch. ,mcd. Woch. 1924, Nr. 29,
S. 993). Siemens hat diese meine Stellungnahme in seiner späteren Arbeit
allerdings nicht zitiert,
2 ) lassen, Marie Thcrese. Nachgeburtsbefunde bei Zwillingen und
Ähnlichkeitsdiagnose. Archiv für Gynäkologie. Bd. 147. H. 1. S. 48. 1 93 1 .
Kopfform ist nur mit großer Vorsicht zu verwenden, da sie
auch bei EZ erheblich verschieden sein kann, was offenbar
eine Folge verschiedener Lage infolge gegenseitiger Raum-
beengung im Mutterleibe ist. Bezüglich weiterer Einzelheiten
verweise ich auf das Kapitel „Ähnlichkeitsdiagnose" von Vcr-
schuer in der „Zwillingstuberkulose".
Eine große Schwierigkeit der Zwillingsmethodc besteht
darin, claß es oft nicht gelingt, genügend viele Zwillinge mit
einer Eigenschaft, die auf Erblichkeit untersucht werden soll,
aufzutreiben. Auf rund 80 Geburten kommt nur eine Zwillings-
geburt und eine Geburt eineiiger Zwillinge erst auf rund 400.
Die Zahl der verfügbaren Paare ist außerdem durch den Tod
eines der beiden Zwillinge erheblich vermindert. Von den er-
wachsenen Zwillingen hat nur jeder dritte bis vierte ehren
lebenden Partner. Wenn ein bestimmtes Merkmal, etwa der
Schwachsinn, mittels der Zwillingsmethode untersucht werden
soll, so kann man versuchen, durch Umfrage bei entspre-
chenden Anstalten Kenntnis von einer größeren Zahl von Fäl-
len zu bekommen. Es muß dabei nach Möglichkeit vermieden
werden, daß konkordante Fälle infolge ihrer Konkordanz häu-
figer (oder seltener) in das Material kommen, da gerade das
Zahlenverhältnis zwischen beiden Schlüsse gestattet. Die Fest-
stellung, ob es sich um EZ oder um ZZ handelt, muß ein ge-
übter Untersucher treffen. Zur Untersuchung seltener Eigen-
schaften wie der meisten Erbleiden ein ausreichendes Zwillings-
material zu bekommen, ist schwer. Es bedürfte dazu einer um-
fassenden Organisation der Zwillings forschung. In mehreren
Berliner Krankenhäusern wird jeder Patient gefragt, ob er
ein Zwilling ist. Bejahendenfalls wird er dem Kaiser Wil-
helm-Institut für Anthropologie gemeldet, das sich be-
müht, auch den andern Zwilling zur Untersuchung zu be-
kommen. Auch Zwillingsgeburten werden entsprechend ge-
meldet. Leichter ist es, Material zur Untersuchung auf nor-
male Eigenschaften zu bekommen. Eigenschaften wie Körper-
größe, Augenfarbe oder Blutgruppe können an jedem Zwilling
festgestellt werden. Die Berliner Schulen melden zu diesem
Zweck ebenfalls ihre Zwillinge.
Der Vergleich alier ZZ mit allen EZ ist nur bei Merk-
malen zulässig, die vom Geschlecht unabhängig sind. Bei ge-
schlechtsabhängigcn Eigenschaften ist es nötig, die ZZ in
gleichgeschlechtige und in verschiedengeschlechtige zu teilen.
646
FRITZ LENZ, METHODEN.
Die Gruppe der verschiedengeschlechtigen Zwilling"e nennt
man auch Pärchenzwillinge (PZ).
Bei alternativen Eigenschaften, die jemand entweder haben
kann oder nicht, gestattet das Verhältnis zwischen der Zahl
der konkordanten und der der diskonkordanten Paai~e Schlüsse
auf Erb- bzw. Umweltbeclingthcit. Dieses Verhältnis ist bei den
ZZ erstens von dem Erbgang der betreffenden Anlage, zweitens
von Umwelteinflüssen und drittens von der Häufigkeit des
Merkmals abhängig. Bei EZ ist es erstens von Umwelteinflüs-
sen und zweitens von der Häufigkeit des Merkmals abhängig.
Betrachten wir zunächst einmal den Fall, daß ein Merk-
mal nur von der Erbmasse abhängig sei. Bei einem einfach
rezessiven Erbleiden wie z. B. dem allgemeinen Älbinismus sind
unter den ZZ auf ein konkordantes Paar sechs diskordante zu
erwarten. Die Wahrscheinlichkeit, daß es bei einem Kinde,
dessen beide Eltern die Anlage überdeckt enthalten, auftritt,
ist 1 / i , die Wahrscheinlichkeit, daß es bei beiden Zwillingen
eines ZZ-Paares auftritt, folglich (VJ 2 = Vio daß es bei De ^"
den nicht auftritt (V4) 8 = 9 / 1(i) und daß es bei nur einem von
beiden auftritt, l5 /.io- ^' ie Verteilung der ZZ-Paare ist die-
selbe wie die der Geschwisterpaare, an denen auf S. 612 die
Geschwistermethode erläutert wurde. Wenn die Wahrschein-
lichkeit des Auftretens eines Erbleidens bei gegebener Erb-
masse der Eltern w°/o ist, so sind unter allen ZZ-Paarcn, von
100 w
denen mindestens einer damit behaftet ist, % konkor-
' 2— w
dante zu erwarten. Bei einfach dominanten Erbleiden sind es
33 0/0, bei einfach rezessiven 14,3% (= 1 / 7 ). Wenn gleichzeitig
bei EZ die Konkordanz eine vollständige ist, also 1000/0 be-
trägt, so darf man schließen, daß Umwelteinflüsse für die Ent-
stehung des Leidens bedeutungslos sind, dieses also allein aus
der Erbanlage entsteht.
Wenn es sich um Anlagen handelt, die durch gewisse
Umwelteinflüsse an der Äußerung gehindert bzw. durch Um-
welteinflüsse ausgelöst werden können, so ist auch bei EZ
keine volle Konkordanz zu erwarten. Wenn die Anlage zu
einem Merkmal bei w% ihrer Träger wirklich zur Entfal-
tung kommt, so sind unter allen EZ-Paaren, von denen minde-
stens ein Partner das Merkmal zeigt, °/o konkordante zu
2 — w
erwarten, vorausgesetzt, daß die Vcrscliiedenlieiten der Um-
welt sich rein zufällig verteilen. Auch bei den ZZ wird die
DIE ZWILUNGSMETHODE.
Konkordanz durch Umwelteinflüsse verändert; sie kann eines-
teils dadurch herabgesetzt werden, nämlich dann, wenn die
Zwillinge verschiedenen Einflüssen ausgesetzt sind; anderer-
seits kann sie aber durch Umwelteinflüsse auch gesteigert
werden, und zwar dann, wenn beide Zwillinge öfter denselben
Einflüssen ausgesetzt sind, z. B. denselben Ernährungsbe-
dingungen oder der Ansteckung mit demselben Krankheits-
erreger. Eine genauere Erfassung dieser umweltbedingten
Konkordanz bzw. Diskordanz ist nur möglich, wenn es ge-
lingt, die EZ in solche, die in gleicher, und solche, die in
verschiedener Umwelt leben, zu trennen. Aus der bloßen
durchschnittlichen Konkordanz bzw. Diskordanz bei EZ und
ZZ kann der Grad der Umweltstabilität bzw. Umweltlabilität
nicht genauer bestimmt werden, da es sich gewissermaßen um
eine Gleichung mit mehreren Unbekannten handelt. Wenn die
Konkordanz bei EZ die bei ZZ wesentlich übertrifft oder, was
bei sehr häufigen Merkmalen deutlicher ist, wenn die Dis-
kordanz bei ZZ wesentlich größer als die bei EZ ist, so ist im-
merhin der Schluß gestattet, daß die Erbanlage bei dem Zu-
standekommen des Merkmals wesentlich mitwirkt.
Eine weitere Schwierigkeit erwächst der Zwillingsmethode
daraus, daß mit zunehmender Häufigkeit eines Merkmals auch
die Konkordanz zunehmen muß, weil dann rein zufällig das
Merkmal häufiger bei beiden Zwillingen zu erwarten ist. Das
möge an einem Beispiel gezeigt werden. Angenommen, in einer
Bevölkerung seien blaue Augen in einer Häufigkeit von 10 0/0
vertreten; die übrigen 90 0/0 seien braunäugig; und die Blau-
äugigkeit vererbe sich einfach rezessiv 1 ). ZZ-Paare, von denen
mindestens ein Teil blaue Augen hätte, würden dann zu rund
150/0 konkordant sein. ZZ-Paare, von denen mindestens ein
Teil braune Augen hätte, würden dagegen zu rund 850/0 kon-
kordant sein, weil die braune Augenfarbe schon infolge ihrer
angenommenen größeren Häufigkeit (90 0/0) sich meist bei
beiden Zwillingen finden würde. Man könnte also die beiden
Konkordanzen nicht vergleichen. Es handelt sich hier um einen
ähnlichen Mangel der Methode, wie er weiter oben für den
„syntropischen Index" festgestellt wurde.
Eine weitere Fehlerquelle liegt darin, daß öfter Konkor-
danzzahlen, die sich nur auf ein Merkmal bezichen, mit andern
verglichen werden, die auf zwei alternative Merkmale zugleich
l ) Das ist eine vereinfachte Annahme, die in Wirklichkeit nicht genau
zutrifft.
648
FRITZ LENZ, METHODEN.
bezogen sind. Auch das sei an einem Beispiel erläutert. Ange-
nommen, in einer Bevölkerung seien blaue und braune Augen
zu je 500/0 vertreten, also gleich häufig. Blaue Augenfarbe sei
einfach rezessiv erblich. Dann würde man bei ZZ-Paaren, von
denen mindestens ein Teil blauäugig wäre, in bezug auf blaue
Augenfarbe eine Konkordanz von etwa 580/0 finden. Bei ZZ-
Paaren, von denen mindestens ein Teil braunäugig wäre, würde
man eine Konkordanz der braunen Augenfarbe von gegen 60 0/0
finden, also eine etwas höhere, was eine Folge der Dominanz
der braunen Farbe wäre. Wenn man nun aber die Konkordanz
in bezug auf Augenfarbe überhaupt (blaue und braune zusam-
men) berechnen würde, so würde man 740/0 finden. In diesem
Falle wäre nämlich die Zahl der blaukonkordanten und die der
braunkonkordanten Paare zusammen in Beziehung zu der Zahl
der diskordanten Paare gesetzt, was natürlich eine wesentlich
höhere Konkordanz ergibt, als wenn nur die Zahl der blau-
konkordanten oder die der braunkondordanten Paare für sich
in Beziehung zu der der diskordanten gesetzt wird.
Es ist auch nicht angängig-, Konkordanzzahlen, die sich auf
ein alternatives Merkmal beziehen, mit solchen für eine meri-
stisch 1 ) oder kontinuierlich variable Eigenschaft zu vergleichen.
Man kann z.B. Konkordanzzahkn für Schizophrenie nicht sol-
chen für Blutgruppen oder für Fingerleisten an die Seite stellen.
Die zufallsbedingte Konkordanz ist nur bei häufigen Merk-
malen ernstlich störend. Bei Erbleiden, deren Häufigkeit meist
kleiner als 1 0/0 ist, macht die Störung weniger als 0,50/0 aus,
ist also bedeutungslos. Andererseits tut man bei Merkmalen, die
ganz überwiegend häufig sind, besser, die Konkordanz für das
Fehlen des Merkmals zu berechnen. Gegen 900/0 der erwach-
senen ZZ haben z. B. beide Masern und Keuchhusten durchge-
macht. Mit diesen Konkordanzwerten ist daher wenig anzufan-
gen. Man tut besser, das Konkordanzverhältnis in bezug auf
Freibleiben von Masern oder Keuchhusten zu berechnen. Dann
ergibt sich, daß dieses Freibleiben in unseren Lebensverhält-
nissen ganz vorwiegend von der erblichen Veranlagung abhängt.
Kann man wenigstens bei Krankheiten, deren Häufigkeit
weniger als 1 o/ beträgt, aus dem Verhältnis von Konkordanz
1 ) Man spricht von meris tischer Variabilität, wenn die verschiedenen
Grade eines Merkmals ohne weiteres durch ganze Zahlen unterschieden sind
(z. IL Zahl der Naevi), und von kontinuierlicher Variabilität, wenn alle
Übergänge vorkommen (z. B. Körperlänge). Durch Annahme bestimmter
Spielräume, z. B. nach Zentimetern, kann man die kontinuierliche Varia-
bilität mit der meristischen vergleichbar machen.
DIE ZWILUNOSMETH ODE.
649
und Diskordanz bei EZ und ZZ die „Manifestationswahr-
scheinlichkeit" einer entsprechenden Erbanlage berechnen?
Auch hier bleibt manches fragwürdig. Vermutlich werden
Zwillinge häufiger von gleichsinnigen Umwelteinflüssen getrof-
fen als andere Individuen. Mit andern Worten, auch Umwelt-
einflüsse können im Sinne der Konkordanz wirken oder bei EZ
doch der Entstehung einer Diskordanz entgegenwirken. Ande-
rerseits können Umwelteinflüsse bei EZ größere Durchschnitts-
unterschiede zur Folge haben als bei ZZ, wovon noch zu reden
sein wird. Diese Dinge liegen hinsichtlich verschiedener Merk-
male vermutlich verschieden; und es ist daher nicht möglich,
eine allgemeine Formel dafür zu geben.
Die Berechnung der „Manifestationswahrscheinlichkeit"
eines alternativen Merkmals würde eigentlich auch voraus-
setzen, daß man genau wisse, wie das Stichprobenmaterial ge-
wonnen sei. Luxenburger 1 ) 2 ) hat auf gesammelte Zwil-
lingsmaterialien die Probandenmethode angewandt. Dabeiwäre
vorausgesetzt, daß Zwillingspaare mit zwei Merkmalsträgern
gerade die doppelte Wahrscheinlichkeit hätten, in ein Mate-
rial zu kommen, als solche mit nur einem Merkmalsträger.
Diese Voraussetzung ist fragwürdig. Andererseits wird man
nicht erwarten dürfen, daß ein Zwillingsmaterial hinsicht-
lich der Konkordanz genau entsprechend zusammengesetzt sei
wie die Gesamtheit der Zwillingspaare in der Bevölkerung.
Eine Umfrage nach Zwillingen unter den Schwachsinnigen
würde vermutlich verhältnismäßig zu viele konkordante Paare
ergeben, da solche in den Anstalten auffallen, während nor-
male Zwillingsgeschwister von Schwachsinnigen leichter der
Erfassung entgehen. Besser gesicherte Zahlenverhältnisse wür-
den erst zu erhalten sein, wenn die Lebensgeschichten sämt-
licher Zwillinge verfolgt und in Zwillingsarchiven niedergelegt
sein würden.
Wie man den Grad der Ähnlichkeit zwischen gewöhnlichen
Geschwistern mit Hilfe der Korrelationsrechnung er-
fassen kann, so natürlich auch den zwischen Zwillingen. Ihre
Anwendung setzt voraus, daß man die Verteilung aller Grade
») Luxcnb u r g er , H. Leistungen und Aussichten der menschlichen
Mchrlingsforschung für die Medizin. Bericht über die 9. Jahresversammlung
der Deutschen Gesellschaft für Vererbungs Wissenschaft (Leipzig 1932).
s ) ■ — — ■ Die Manifestationswahrscheinlichkeit der Schizophrenie im
Lichte der Zwillingsforschung. Z. f. psych. Hyg. (Sonderbeil. z. Allg. Z.
Psychiatr. 103) Bd. 7. 1935.
650
FRITZ LENZ, METHODEN.
des Merkmals auf die Zwillinge kennt, im Falle alternativer
Merkmale also auch die negativ konkordanten Paare.
Ich habe für EZ und ZZ gesondert berechnet, welche Kor-
relationen im Falle der Dominanz einer Erbanlage von der
Häufigkeit 0,5 zu erwarten wäre, je nachdem die Erbanlage
häufiger oder seltener an ihren Trägern in die Erscheinung
tritt. Bei der Berechnung ist vorausgesetzt, daß die Äußerung
einer Erbanlage unabhängig sei von ihrer Äußerung bei dem
andern Zwilling, daß Zwillinge ebenso oft von verschieden ge-
richteten wie von gleichgerichteten Einflüssen getroffen wer-
den und daß die auf solche Weise entstehenden Unterschiede
bei ZZ im Durchschnitt ebenso groß seien wie bei EZ. Da
diese Bedingungen oft nicht erfüllt sind, kann die Korrelations-
Das Merkmal er-
Korrelation bei
scheint unter 100
Anlageträgern bei
EZ
ZZ
I00
1,00
0,42
90
0,69
0,29
80
0,50
0,21
70
0,37
0,15
60
0,27
0,11
50
0.20
0,08
40
0,14
0,06
30
0,10
0,04
20
0,06
0,02
10
0,03
0,0 i
0,00
0,00
rechnungbei Zwillingen nur ungefähre Anhaltspunkte für die Ent-
wicklungsstabilität bzw. -labilität einer Anlage geben. Bei inter-
mediärem und polymerem Erbgang - ist für ZZ eine etwas
höhere Korrelation zu erwarten. Auch wenn statt zwei Variabi-
litätsklassen deren viele unterschieden werden, werden die Kor-
relationen etwas höher.
Wie man die Berechnung von Korrelationen bei Zwillin-
gen durchführt, habe ich in meinem Beitrag zu dem von
Gotschlich herausgegebenen „Handbuch der hygienischen
Untersuchungsmethoden" gezeigt 1 ). Ich habe z. B. an einem
von Meirowsky gesammelten Material von 300 Zwillings-
paaren gefunden, daß die Korrelation der EZ in der Zahl ihrer
Pigmentnaevi 0,78+0,036, die der ZZ 0,31+0,09 betrug.
Wie die Tabelle zeigt, würden solche Korrelationen dann zu
*) Bd. 3. Jena 1929. G. Fischer. S. 689 ff.
DIE ZWILLINGSMETHODE.
651
erwarten sein, wenn die Zahl der Mae vi zu etwa neun Zehnteln
durch die Erbmasse bestimmt würde. Man kann, also immerhin
Anhaltspunkte für den Grad der Entwicklungsstabilität bzw.
Umweltstabilität auf diese Weise gewinnen. Gegenüber der
Konkordanzmethode hat die Korrclationsmethode den Vorteil,
daß bei ihr die negativ konkordanten Paare ebenso wie die po-
sitiv konkordanten berücksichtigt werden. Auch können die ver-
schiedenen Grade meristisch oder kontinuierlich' variabler Merk-
male unmittelbar erfaßt werden 1 ).
Wenn man auf kontinuierlich oder meristisch variable
Merkmale die Konkordanzmethode anwenden will, kann man
mehrere Grade der Konkordanz unterscheiden, je nachdem .ein
bestimmter Grad eines Merkmals mit einem hohen, mittleren
oder niederen Grad des Merkmals bei dem andern Zwilling zu-
sammentrifft. Man unterscheidet dann starke, schwache und
fehlende Konkordanz bzw. Diskordanz.
Wenn man Reihen von EZ mit solchen von ZZ auf kon-
tinuierlich variable Merkmale vergleichen will, kann man nach
dem Vorgange von Verschuer den mittleren Unterschied
der EZ mit dem der ZZ vergleichen oder, wenn man sehr ge-
nau sein und auch, die verschiedenen absoluten Maße der Zwil-
linge berücksichtigen will, die mittlere prozentuale Abweichung,
die durch Beziehung des Unterschiedes eines Paares auf das
absolute Maß des Merkmals gewonnen wird. Die EZ sind nur
durch nichterbliche Differenzen verschieden. Diese entstehen
einesteils durch Unterschiede der Umwelt im gewöhnlichen
Sinne, andernteils aber auch durch Entwicklungsunterschiede
während der Embryonalentwicklung, die man den gewöhnlichen
umweltbedingten Unterschieden nicht an die Seite stellen kann.
Ich habe eine Zeitlang gemeint, die nichterblichen Unter-
schiede seien in ihrem Ausmaß im Durchschnitt bei EZ und
ZZ als gleich anzunehmen 3 ). Es hat sich dann aber herausge-
stellt, daß das nicht zutrifft, daß vielmehr der nicht erbbe-
dingte Unterschied bei den EZ im Durchschnitt größer Ist als
bei den ZZ 3 ). EZ, die gleich veranlagt sind, können durch
Umwelteinflüsse einander nicht noch ähnlicher, sondern nur
i) Vgl. die Fußnote auf S. 648.
3 ) Lenz, F., und v. Verschuer, O. Zur Bestimmung des Anteils
von Erbanlage und Umwelt an der Variabilität. ARGB. Bd. 20. H. 4. S.
425. 1928.
3 ) Lenz, F. Zur genetischen Deutung von Zwillingsbefunden. Bericht
über die 9. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Vererbungs-
wissenschaft (München 1 93 1 ) . Erschienen Leipzig 1932. Bornträger.
652
/■'RITZ LENZ, METHODEN.
unähnlicher werden. ZZ dagegen, die von vornherein verschie-
den veranlagt sind, können durch Umwelteinflüsse sowohl ähn-
licher als auch unähnlicher werden. Bei ihnen heben sich die
Umwelteinflüsse hn Durchschnitt der Paare daher zum großen
Teil auf. Wenn Umwelteinflüsse für sich allein einen Unter-
schied i und Erbunterschiede für sich ebenfalls einen Unter-
schied i bewirken würden, so würden beide zusammen nicht
etwa einen Unterschied 2, sondern vielmehr \/ 2 = ca. 1,41
ausmachen. Wenn der reale durchschnittliche Unterschied von
ZZ um 410/0 größer als der von EZ ist, so ist die Bedeutung
der Erbmasse für das Zustandekommen der Unterschiede der
ZZ also mindestens ebenso groß wie die der Umwelt. Und
wenn der reale Unterschied der ZZ doppelt so groß wie der
der EZ ist, so ist die Bedeutung der Erbmassse nicht etwa
ebensogroß, sondern mindestens dreimal so groß ais die der
Umwelt 1 ).
Auch auf diese Weise erhält man immer erst ein Mindest-
maß des Erbeinflusses. Der beobachtete Unterschied von EZ
ist gegenüber dem realen Unterschied nämlich noch durch den
Meßfehler vergrößert. Es ist z. B. nicht möglich, die Körper-
länge auf ein Millimeter genau zu messen. Auch wenn zwei EZ
wirklich genau gleich groß wären, würde die Messung einen
Unterschied von einigen Millimetern im Durchschnitt ergeben.
Bei ZZ dagegen, die schon ihrer Erbanlage nach verschieden
groß sind, gleichen die Meßfehler sich zum größten Teil aus.
Der Meßfehler läßt sich praktisch nicht von den flüch-
tigen Modifikationen trennen. Die Körperlänge ist z. B. etwas
von der Haltung im Augenblick des Messens abhängig. Man
kann solche Unterschiede einerseits als Meßfehler, anderer-
seits aber auch als tatsächliche flüchtige Modifikationen an-
sehen; bei straffer Haltung ist die Körperlänge in dem betref-
fenden Augenblick tatsächlich größer als bei lässiger Haltung.
Man muß sich bei der Zwillingsforschung also darüber klar
werden, ob man auch flüchtige Modifikationen oder nur dau-
ernde erfassen will.
Besonders groß sind die Meßfehler bzw. die nie ganz da-
von zu trennenden flüchtigen Modifikationen bei seelischen
Eigenschaften. Wenn man an einer Reihe EZ einen durch-
schnittlichen Unterschied findet, der nicht wesentlich über den
v ) Lenz, F. Inwieweit kann man aus Zwillingsbclunden auf Erbbc-
dingtheit oder Umwelteinfluß schließen ? Deutsche medizinische Wochen-
schrift 1935. Nr. 22. S. 873.
DIE ZWILLINGSMETHODE.
653
r
y
durchschnittlichen Meßfehler hinausgeht, so bleibt es über-
haupt zweifelhaft, ob ein tatsächlicher Unterschied der EZ in
dem betreffenden Merkmal besteht. Wenn der durchschnittliche
Meßfehler e ist, so ist zu erwarten, daß an zwei gleichen In-
dividuen im Durchschnitt eine scheinbare Differenz von e V 2
gefunden wird 1 ), also ein Unterschied, der um etwa 400/0 grö-
ßer als der durchschnittliche Meßfehler ist.
Man hat bei Intelligenzprüfungcn an Zwillingen gefunden,
daß der durchschnittliche Unterschied der EZ etwa die Hälfte
oder etwas mehr von dem der ZZ betrug, und daraus geschlos-
sen, daß die Fähigkeit, Intelligenzprüfungen zu bestehen, un-
gefähr zur Hälfte umweltbedingt sei. Dieser Schluß ist nach
den vorstehenden Überlegungen falsch. Der durchschnittliche
Unterschied der ZZ kann durch nichterbliche Einflüsse mög-
licherweise nur ganz wenig vergrößert sein. Die erbliche Ver-
anlagung kann zum Zustandekommen dieses Unterschieds ein
Vielfaches von dem Einfluß der Umwelt beigetragen haben.
Es scheint, daß Unterschiede, die im Verlauf der Em-
bryonalentwicklung entstehen und die nicht auf Umweltein-
flüsse im gewöhnlichen Sinne zurückzuführen sind, bei EZ häu-
figer bzw. ausgesprochener vorkommen als bei ZZ. So zeigen
EZ bei der Geburt in der Kopfform, der Körperlänge und dem
Gewicht im Durchschnitt nicht geringere Unterschiede als ZZ
(v. Verschuer). Da die Unterschiede der ZZ sicher zum
großen Teil erbbedingt sind, müssen die nicht erbbedingten
Unterschiede bei den EZ größer sein. Dem entspricht die Er-
fahrung, daß die genannten Unterschiede nach der Geburt ab-
nehmen, bei den ZZ dagegen zunehmen. Die größere Ver-
schiedenheit der vorgeburtlichen Entwicklung bei den EZ ist
vermutlich eine Folge ihrer Entstehung aus einem Ei. Die bei-
den Embryonalanlagen eines EZ-Paares liegen unmittelbar
nebeneinander. Daher beeinflussen bzw. beeinträchtigen sie sich
vermutlich gegenseitig stärker als die von ZZ. EZ scheinen
häufiger in ihrer Händigkeit (Links- oder Rechtshändigkeit)
J ) Zur Begründung dieser Formel sei folgendes bemerkt: Wenn der
durchschnittliche Fehler einer Messung, d. h. die durchschnittliche Ab-
weichung vieler Messungen vom Mittel, e ist, so ist der durchschnittliche
e
Fehler zweier Messungen nach dem Gaußschen Fehlergesctz -y -■. Der
durchschnittliche Fehler zweier Messungen ist aber andererseits gleich der
lialbcn Differenz der beiden Messungen. Ist die Differenz d, so ist also
■■ ■ = —r-~ ; daraus ergibt sich d == e V 2.
2 V 2
654
FRITZ LENZ, METHODEN.
DIE ZWILLINGS METHODE.
655
diskordant zu sein als ZZ, Zwillinge überhaupt häufiger als
andere Geschwister. Bouterwck 1 ) glaubt Unterschiede im
seelischen Verhalten zweier EZ zum Teil auf eine damit zu-
sammenhängende Rechts- bzw. Linkshirnigkelt zurückführen zu
sollen. Da von den beiden Hirnhälften die eine die Führung in
gewissen Funktionen zu übernehmen pflegt, wäre es immerhin
denkbar, daß auch seelische Unterschiede auf diese Weise ent-
stehen könnten. Bouterwek hat weiter darauf hingewiesen,
daß zwei EZ öfter eine eigentümliche „polare" Verschiedenheit
zeigen. So kann von zwei EZ-Schwcstern die eine ein mehr,
die andere ein weniger ausgesprochen weibliches Wesen zei-
gen, die eine mehr gefühlsmäßig, die andere mehr verstan-
desmäßig handeln. Auch in der körperlichen Erscheinung
pflegt sich das anzudeuten. Derartige Unterschiede könnten
möglicherweise auch eine verschiedene Widerstandsfähigkeit
gegen krankmachende Einflüsse zur Folge haben. Es wäre z.B.
immerhin wenigstens denkbar, daß eine Anlage zu Schizophre-
nie bei dem einen von zwei derart verschiedenen EZ leichter
als bei dem andern zum Durchbruch kommen könnte. Jedenfalls
muß man mit der Möglichkeit von Entwicklungsunterschieden
rechnen, die nicht erbbedingt und die auch nicht umweltbe-
dingt in gewöhnlichem Sinne sind. Man darf also nicht einfach
alle Unterschiede von EZ als Umweltwirkungen im gewöhn-
lichen Sinne buchen.
Auch ZZ machen ihre vorgeburtliche Entwicklung zum
Teil unter stärker verschiedenen Bedingungen als andere Ge-
schwister durch. Wenigstens gilt das von den mechani-
schen Bedingungen. Während einem Einling der ganze Raum
der Gebärmutter zur Verfügung steht, beeinträchtigen Zwil-
linge sich unvermeidlich gegenseitig. Auch bei ZZ können auf
diese Weise vermutlich Unterschiede der Kopfform, des Ge-
burtsgewichtes u. a. entstehen. Die chemischen Bedingun-
gen, unter denen sich Zwillinge entwickeln, sind dagegen im
Durchschnitt gleichartiger als bei andern Geschwistern. Das
gilt z. B. für die Ernährung, hormonale Einflüsse seitens der
Mutter, Toxine und Antitoxine.
Eine über das sonst bei Geschwistern gewöhnliche Maß
hinausgehende Ähnlichkeit von Zwillingen kann auch durch
die Gleichaltrigkeit bedingt sein. Da die meisten Zwillings-
arbeiten sich vorwiegend auf Beobachtungen an Kindern
1 ) Bouterwck, H. Asymmetrien und Polarität bei erbgleichen
Zwillingen. ARGB. Bd. 28. H. 3. S. 241. 1934,
stützen, muß diese Fehlerquelle sorgfältig beachtet werden.
Während des Kindesalters pflegt z. B. ein Nachdunkeln der
Haare und eine Vermehrung der Muttermale r einzutreten; und
daher weisen diese Merkmale bei Zwillingen schon infolge der
Gleichaltrigkeit eine höhere Korrelation als bei andern Ge-
schwistern auf.
Die Möglichkeit, daß Unterschiede von Zwillingen durch
verschiedene mechanische Bedingungen während der vorge-
burtlichen Entwicklung entstehen können, muß stets berück-
sichtigt werden, wenn man Trugschlüsse vermeiden will. Wenn
z. B. bei einem von zwei EZ Hochköpf igkeit (Hypsikephalie)
beobachtet wird, so folgt daraus nicht etwa, daß' die Kopfform
für gewöhnlich nicht erblich sei. Die Entwicklung der aller-
meisten Menschen erfolgt eben nicht unter den Bedingungen
der Zwillings Schwangerschaft.
Die Wirkungen von Umwelteinflüssen, wie sie im gewöhn-
lichen Leben vorkommen, können am besten an EZ, die in
verschiedener Umwelt aufwachsen, studiert werden. Besonders
Newman 1 ) hat sich große Mühe gegeben, solche EZ-Paare
aufzufinden und ihr Lebensschicksal möglichst genau zu er-
forschen. Von diesen Forschungen wird noch in dem Abschnitt
über die geistige Begabung die Rede sein. Auch die genaue
Erforschung der Beschaffenheit von EZ, die in gleicher Um-
welt aufgewachsen sind und leben, ist von großem Interesse,
da deren Unterschiede nicht auf Unterschiede der Umwelt in
gewöhnlichem Sinne, sondern nur auf solche der Embryonal-
entwicklung zurückgeführt werden können. Natürlich ist die
Umwelt zweier Zwilling'e niemals völlig gleich und niemals völ-
lig verschieden. Der Grad der Verschiedenheit der Umwelt ist
auch nicht exakt zu erfassen. Gleichwohl aber bieten solche
Fälle die beste Möglichkeit, den Einfluß der Umweltunter-
schiede des gewöhnlichen Lebens zu erforschen. Natürlich dür-
fen auch hier nicht aus einzelnen Fällen weitgehende Schlüsse
gezogen werden. Es sei noch einmal daran erinnert, daß die
Eineiigkeit im Einzelfall nicht völlig sicher festgestellt werden
kann. DahersindBeobachtungen an möglichst vielen Fällen nötig.
Während EZ, die in verschiedener Umwelt leben, den Ein-
fluß der Umwelt bei gleicher Erbmasse zu studieren gestatten,
tritt die Bedeutung der Erbmasse am klarsten an ZZ, die in
gleicher Umwelt leben, zutage.
J ) Newman, H. H. Mental ancl physical traits of identical twins re-
ared apart. Journal of Heredity. Bd. 25. S. 208. 1934.
656
FRITZ LENZ, METHODEN.
Wenn man aus Zwillings befunden, die sich auf die durch-
schnittlichen Unterschiede von EZ einerseits und ZZ anderer-
seits beziehen, Schlüsse auf die Ursachen der tatsächlichen
Unterschiede in der Bevölkerung ziehen will, so muß man fol-
gendes bedenken : Die Unterschiede der Umwelt, unter denen
die Angehörigen eines Volkes leben, sind im Durchschnitt viel
größer als die Unterschiede der Umwelt von Zwillingen. An-
dererseits aber sind auch die Unterschiede der Erbmasse in
der Bevölkerung im Durchschnitt viel größer als die von zwei-
eiigen Zwillingen; denn diese haben ja mindestens die Hälfte
ihrer Erbmasse gemeinsam. Man kann sich vorstellen, daß die
Erbverschiedenheit zwischen zwei beliebigen Individuen in
einer Bevölkerung gegenüber der zwischen zwei zweiengen
Zwillingen im Durchschnitt im gleichen Maße größer sei als
die Verschiedenheit ihrer Umwelt gegenüber der zweieiiger
Zwillinge. Falls eine derartige Annahme zutreffen sollte, würde
das Verhältnis von Erbanlage und Umwelt an den Unterschie-
den zweier beliebiger Individuen dasselbe sein wie das an den
Unterschieden zweieiiger Zwillinge.
Ein solches Ergebnis gilt aber nur für eine Bevölkerung von
gegebener Erbmischung und für die Umwelt, in der sie lebt. Der
Einfluß der Umwelt ergibt sich bei Zwillings unter suchungen
um so größer, je größere Unterschiede der Umwelt in der
Bevölkerung tatsächlich vorkommen. Das Ergebnis hängt also
nicht allein von der Modifizierbarkeit der Anlagen ab, son-
dern auch von der Häufigkeit und dem Ausmaß der tatsäch-
lichen Modifikationen. Andererseits erscheint die Bedeutung
der erblichen Veranlagung auf Grund von Zwilling sunt er-
suchungen um so größer, je mehr und je größere Erbunter-
schiede in einer Bevölkerung tatsächlich vorkommen. In einer
völlig erbgleichen (isogenen) Bevölkerung wäre ungefähr das-
selbe Verhältnis von Konkordanz und Diskordanz bei EZ und
ZZ zu erwarten (soweit Entwicklungs Verschiedenheiten in
Frage kommen, bei EZ sogar eine geringere Konkordanz).
Man würde versucht sein, daraus auf Bedeutungslosigkeit der
Erbanlage im Vergleich zur Umwelt zu schließen; und für die
gedachte Bevölkerung würden Unterschiede der Erbanlage in
der Tat keine Bedeutung haben. Irgendeine Eigenschaft würde
danach als um so weniger erblich erscheinen, je weniger erb-
gemischt bzw. je reinrassiger eine Bevölkerung wäre. Nun
ist aber die Erblichkeit einer Eigenschaft als solche in einer
reinrassigen Bevölkerung offenbar nicht .geringer als in einer
DIE ZW/LUNGSMETNODE.
657
gemischten. Die Übereinstimmung zwischen Eltern und Kin-
dern ist in einer reinen Bevölkerung ja größer als in einer
gemischten; man hat in dem Grade dieser Übereinstimmung
ja geradezu ein Maß der „Erbkraft" gesehen. So erscheint eine
Eigenschaft einerseits um so stärker erblich, je erbgemischter,
und andererseits, je erb reiner die Bevölkerung ist. Dieser
Widerspruch rührt davon her, daß der Begriff „erblich" in
zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird, einmal be-
zogen auf die Unterschiede und ein andermal auf die Eigen-
schaften bzw. den Typus als solchen 1 ). Diese verschiedenen
Bedeutungen des Wortes „erblich" werden auch in der wissen-
schaftlichen Literatur meist nicht klar auseinandergehalten.
Jedenfalls tut man gut, sich darüber klar zu werden, daß Aus-
sagen, die auf Grund des durchschnittlichen Verhältnisses von
Konkordanz und Diskordanz bei Zwillingen gemacht werden,
sich eigentlich immer nur auf die tatsächlich vorkommenden
Unterschiede in einer Bevölkerung von gegebener Mischung
von Erbmasse und Umwelt beziehen. Daraus folgt, daß es
nicht möglich ist, den Anteil von Erbmasse und Umwelt an
einer Eigenschaft jemals genau zu bestimmen. Man soll von
der Zwillingsmethode nichts verlangen, was sie nicht leisten
kann. Innerhalb der ihr von der Natur gesteckten Grenzen ist
sie mit die wertvollste Methode der Erbbiologie.
*) Entsprechendes gilt von dem Begriff des Gens oder der Erbeinheit,
den Baur als einen „Grundunterschied" definiert, während andere Autoren
sich darunter ein positives Etwas vorstellen.
Baiir-Fisciier-I, cuz I.
Fünfter Abschnitt
Die Erblichkeit der geistigen Eigenschaften
Von
Professor Dr. Fritz Lenz.
( ie geistigen Unterschiede der Menschen sind nicht nur un-
gleich größer als die körperlichen, sondern auch ungleich
bedeutungsvoller. Die Kulturwelt, in der wir leben, ist durch den
menschlichen Geist gestaltet. Die geistige Ausstattung der Men-
schen, ihre Eignung für die Bewahrung und Weiterführung der
Kultur ist äußerst verschieden. Von der höchsten Verstandes-
begabung bis zur Idiotie gibt es ungezählte Stufen und Über-
gänge, und Entsprechendes gilt auch von den Unterschieden
des Temperaments und Charakters. Woher kommt es nun, daß
manche Menschen klug, viele dumm und die meisten mittel-
mäßigsind? daß die einen meist heiter, die anderen meist trau-
rig sind, daß einige betriebsam und andere träge, daß diese
menschenfreundlich und jene eigensüchtig sind? Für den, der
biologisch zu denken gewöhnt ist, ist es ganz selbstverständ-
lich, daß die seelische Eigenart des Menschen ebenso wie die
körperliche ihre Wurzel in der erblichen Veranlagung hat und
daß die äußeren Einflüsse einschließlich der Erziehung nur eine
Ausgestaltung oder Hemmung der erblichen Anlagen bewirken.
In der psychologischen Erblehre liegt wegen ihrer ent-
scheidenden Bedeutung für die menschliche Kultur der Schwer-
punkt der Erblehre überhaupt. Leider ist sie zugleich auch ihr
schwierigstes Teilgebiet, weil die seelischen Eigenschaften und
Anlagen so wenig der Messung zugänglich und auch sonst so
schwer zu erfassen sind. Abgesehen davon ist die Methode der
psychologischen Erbforschung aber genau dieselbe wie die der
sonstigen menschlichen Erbforschung.
Schon bei Besprechung der krankhaften Erbanlagen sind
wir einigen Tatsachen begegnet, die Schlüsse auf die Erblich-
keit normaler seelischer Fähigkeiten erlauben. So können wir
aus dem geschlechtsgebundenen rezessiven Erb gange der Rot-
grünblindheit schließen, daß gewisse geschlechtsgebundene
dominante Erbanlagen zum Zustandekommen normaler Far-
bentüchtigkeit nötig sind. Das ist nur eine Betrachtung von der
anderen Seite her. Die Farbenblindheit ist eine seelische Ano-
malie, nämlich ein Mangel der Sinneswahrnehmung, die Far-
bentüchtigkeit eine normale seelische Fähigkeit. Ganz entspre-
662
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
chend kann man aus dem Vorkommen rezessiver Erbanlagen,
die Taubstummheit bedingen, schließen, daß es gewisse domi-
nante Erbanlagen gibt, die bei der Entstehung normalen Ge-
hörs mitwirken. In einer Bevölkerung, in der die allermeisten
Leute taubstumm wären, würde normale Hörfälligkeit als eine
dominant erbliche Anlage verfolgt werden können, und zwar
würde diese als eine eigentümliche höhere Fähigkeit imponie-
ren, Vorgänge wahrzunehmen, ohne sie zu sehen, eine Fällig-
keit, von der sich die Mehrheit d.er Bevölkerung keine rechte
Vorstellung machen könnte. Aus dem Vorkommen erblicher
Geistesschwäche können wir auf die erbliche Bedingtheit der
normalen Verstandesanlagen schließen; und aus der Tatsache,
daß es eine ganze Reihe verschiedener Arten erblicher Geistes-
schwäche gibt, folgt weiter, daß beim Aufbau des normalen
Verstandes eine ganze Anzahl von Erbeinheiten mitwirken, von
denen keine fehlen darf, ohne daß Mängel des Verstandes in die
Erscheinung treten. In einer Bevölkerung von lauter Schwach-
sinnigen würde normale Begabung als eine erbliche besondere
Fähigkeit des Geistes hervortreten, der allerdings die große Mehr-
zahl der Bevölkerung verständnislos gegenüberstehen würde.
Entsprechend verhält es sich mit der Erblichkeit von Be-
gabungen, die den Durchschnitt der heutigen Bevölkerung in ähn-
lichem Grade überragen, wie diese die Begabung der Schwach-
sinnigen. Man pflegt derartige hervorragende Begabungen im
Deutschen mit den beiden Fremdwörtern .„Talent" und „Genie"
zu benennen, wobei man unter „Talent" mehr einseitige Be-
gabungen, besonders auf künstlerischem Gebiet, unter „Genie"
dagegen vielseitige und umfassende Begabungen zu verstehen
pflegt. Andererseits hat man freilich auch einen Gradunter-
schied dabei im Äuge. So wie etwa Idiotie einen höheren Grad
von Geistesschwäche gegenüber dem Schwachsinn bedeutet,
soll mit dem Wort „Genie" ein besonders hoher Grad hervor-
ragender Begabung gegenüber dem bloßen „Talent" bezeich-
net werden. Man stellt sich vor, daß in einer Millionenbevölke-
rung zwar viele „Talente", aber höchstens ganz wenige „Ge-
nies" vorhanden sind.
Während man die gewöhnlichen Unterschiede der Bega-
bung in ihrer Erblichkeit begreiflicherweise nur schwer ver-
folgen kann, ist das bei hervorragenden Begabungen leichter,
und zwar einfach deshalb, weil sie sich stärker vom Durchschnitt
abheben. Besonders auffällig ist das familienweise Vorkommen
der musikalischen Begabung.
BESONDERE BEGABUNGEN.
663
In der Familie Bach läßt sich hohe musikalische Begabung
in ununterbrochener Reihe durch 6 Generationen männlicher
Linie verfolgen; unter den Söhnen Johann Sebastian Bachs wa-
ren nicht weniger als 5 bedeutende Musiker. Johann Sebastian
sagte i. J. 1730 von seinen damals lebenden 7 Kindern: „Ins-
gesamt sind sie geborene Musici" 1 ).
Die dargestellte Sippentafel verdanke ich Herrn Oberlehrer i. R. Hugo
Lämmerhirt in Leipzig, der die Familiengeschichte der verwandten Sippen
Bach und Lämmer h tri eingehend erforscht hat. Alle früher veröffentlichten
ßßc/2-Stammbäume sind mehr oder weniger unrichtig; das gilt auch von dem
in der vorigen Auflage dieses Buches.
Die hier abgebildete Sippentafel beschrankt sieh bewußt auf die männ-
lichen Linien. Mit Ausnahme von Johann Sebastians beiden Frauen sind auch
nur Männer in die Tafel aufgenommen, diese aber, soweit sie das erwachsene
J.E. J.Lo,
J.B.
J.An. Frm. Em.
F. Ctrn.
Fig. 204. Hohe musikalische Begabung in der Familie Bach. Eine kleine
schwarze Scheibe bedeutet Berufsmusiker, ein Ring um die Scheibe bedeutet
Komponisten, die große schwarze Scheibe Johann Sebastian. Musikalische
Begabung, die nicht beruflich betätigt wurde, ist durch einen Punkt im
Kreise angedeutet; ein kleiner weißer Kreis bedeutet, daß über musikalische
Begabung bei dem betreffenden Mitglied der Sippe nichts bekannt ist.
Alter erreicht haben, vollständig. Jung gestorbene sind nicht aufgenommen,
weil sie keine Gelegenheit zur Bewährung eines etwaigen Talents hatten. Aus
dem gleichen Grunde sind die weiblichen Sippcnmitglieder nicht aufgenom-
men. Ihre Berücksichtigung hätte die sippenmäßige Häufung der musikali-
schen Begabung nicht so konzentriert erscheinen lassen, wie sie es tatsächlich
gewesen ist.
Die Komponisten waren in der Reihe der Sippentafel folgende:
III 1, Johann, 1604—73 (unsicher ob Komponist), Erfurt.
III 3, Heinrich, 1615—92, Arnstadt.
IV 5, Georg Christof, 1642—97, Schweinfurt.
IV 8, Johann Michael, 1648—94, Gekren.
IV 9, Johann Christof, 1642—1703, Eisenach.
!) Nach brieflicher Mitteilung von Herrn Oberlehrer H u g o Lam-
ra e t li i r t in Leipzig.
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
V 4, Johann Bernhard, 1676 — 1749, Eisenach.
V 16, Johann Sebastian, 1685 — 1750, Leipzig.
V 18, Johann Nikolaus, 1669 — 1753, Jena.
V 20, Johann Friedrich, 16.. — 1730, Mühlhausen i. Th.
VI 4, Johann Ernst, 1722 — 1777, Eisenach.
VI 5, Johann Lorenz, 1695— 1773, Laben i. Frk.
VI 10, Johann Bernhard, 1700 — 1743, Ohrdruf.
VI 13, Johann Andreas, 1713 — 1779, Ohrdruf.
VI 14, Wilhelm. Friedeinann, 1710 — 1784, Halle a. S.
VI 15, Karl Philipp Emamiel, 17 14 — 1788, Berlin, Hamburg.
VI 18, Johann Christoph Friedrich-, 1732— 1795, -Bückeburg.
VI 19, Johann Christian, 1735— 1782, Mailand, London.
Die Generationen sind mit römischen Ziffern bezeichnet, wobei die
Generation Veit Bachs als die erste gerechnet ist. Auch ein Sohn Wilhelm
Friedemanns (VI 14), Wilhelm Friedrich Ernst, 1759 — 1845, hat sich als
Komponist betätigt. Seine Generation, die noch 4 andere Berufsmusiker
enthält, ist hier aber aus Rücksicht auf den Raum weggelassen.
Auch in den verschwägerten Familien Mozart und Weber
läßt sich hohe musikalische Begabung durch mehrere Gene-
rationen verfolgen.
In der vorigen Aullage dieses Buches war eine Sippentalel der Familien
Mozart und Weber nach J. A. M j ö c n wiedergegeben, auf deren Unrichtig-
keit mich Herr Präsident Dr. .F. Reinohl, Stuttgart, aufmerksam ge-
macht hat. Konstanze Weber war die Frau Wollgang Amadeas Mozarts und
nicht seine Mutter.
Kureila 1 ) hat 28 Musikerfamilien zusammengestellt, in
denen sich hohe musikalische Begabung durch drei und mehr
Generationen verfolgen läßt. Außer den schon genannten gilt
das z. B. von den Familien Beethoven, Brahms, Schubert und
Liszt.
Haeckc r und Ziehen 3 ) haben auf Grund von Fragebogenerhe-
bungen über 350 Familien sich dahin ausgesprochen, daß Erbanlagen, die
musikalische Begabung bedingen, im allgemeinen dominant seien. Weib-
liche Personen werden seltener als hochmusikalisch angegeben, doch war die
Vererbung bei gleicher Höhe der Begabung durch die Mutter deutlicher als
durch den Vater zu verfolgen, was dafür spricht, daß musikalische Erban-
lagen im weiblichen Geschlecht weniger als im männlichen zur Geltung zu
kommen pflegen. Koch und F. M j ö e n 3 ) dagegen sind auf Grund eines
ähnlichen Fragebogenmaterials (315 Familien) zu dem Schluß gekommen,
daß positive und negative musikalische Belastung seitens der Eltern gleich
wirksam sei und daß auch Belastung seitens des Vaters ebenso wirksam
wie seitens der Mutter sei.
*) Kurella, PI. Die Intellektuellen und die Gesellschaft. Wiesbaden
1913. J. F. Bergmann. S. 119.
2 ) Haecker, V. und Ziehen, Th. Zur Vererbung und Entwick-
lung der musikalischen Begabung. Leipzig 1923. J. A. Barth.
3 ) Koch, PI. und M j ö e 11 , F. Die Erblichkeit der Musikalität. Zeit-
schrift für Psychologie. Bd. 99. 1926. S. 16.
BESONDERE BEGABUNGEN.
665
Jon Alfred Mjöen 1 ) hat auf Grund von Erhebungen an
114 Familien gefunden, daß zwei musikalisch unbegabte Eltern
regelmäßig wieder nur unbegabte Kinder haben, zwei hochbe-
gabte Eltern dagegen regelmäßig nur begabte und hochbegabte
Kinder. Mit der Begabung der Eltern steigt auch die der Kin-
der. In einer norwegischen Sippe waren sämtliche 37 Mitglie-
der musikalisch begabt.
Der Vater des norwegischen Komponisten Cleve war in erster Ehe mit
einer unmusikalischen Frau verheiratet und hatte von ihr fünf unmusikalische
Kinder; in zweiter Ehe dagegen bekam er von einer musikalischen Frau fünf
musikalische Kinder, darunter den hervorragend musikalischen Hatjdan
Cleve. In einer von Mjöen aufgenommenen Familie hatte eine Virtuosm
von einem musikalischen Manne sieben hochmusikalische Kinder; sie selber
sollte angeblich von zwei unmusikalischen Eltern abstammen. Später erfuhr
Mjöen jedoch von einem Familienmitgliede, daß sie ein außereheliches
Kind sei und in Wirklichkeit von einem großen Musiker abstamme.
M j Ö e n hat bei seinen Sippenforschungen den Grad und die Art
der musikalischen Begabung nach Möglichkeit durch eigene Prüfungen fest-
zustellen gesucht. Das Hauptgewicht wurde auf die Fähigkeit, eine Melodie
zu erfassen, eine Unterstimme wiederzugeben und eine Unterstimme zu im-
provisieren, gelegt. Außerdem hat Mjöen, wie übrigens auch schon Hae-
cker und Ziehen und Miss Stanton») versucht, die einzelnen Kompo-
nenten der musikalischen Begabung zu erfassen.
Die musikalische Begabung ist offenbar keine genetische
Einheit; sie setzt sich vielmehr aus mehreren Anlagen zusam-
men. Sicher ist sie polymer bedingt. Außer der Empfindlich-
keit für Torihöhenunterschiede sind wichtig die Empfänglich-
keit für Konsonanzen und Dissonanzen, die Gefühlsbetonung
von Tonfolgen sowie das Gefühl für Rhythmus. Wenn jene An-
lagen, die musikalische Begabung bedingen, in einem Men-
Menschen vereinigt sind, so darf man aber noch nicht erwar-
ten, daß er nun auch geniale Leistungen auf dem Gebiete der
Musik erreichen werde. Zwischen der Musikalität und sonstiger
Schulbegabung (Rechnen, Deutsch) besteht keine deutliche
Korrelation 3 ). Ausgesprochen musikalisches Empfinden kommt
sogar bei Schwachsinnigen vor; selbstverständlich aber kann
ein Schwachsinniger kein großer Musiker werden. Insbeson-
dere zu schöpferischer Betätigung auf clem Gebiete der Musik
bedarf es nicht nur eines hervorragenden Musikgehörs, son-
*) Mjöen, J. Ä. Zur Erbanalyse der musikalischen Begabung. Plere-
ditas. Bd. 7. 1925.
a ) Stau ton, PL M. The inheritance of specific musical capacities.
Eugenics Rccord Office Bulletin Nr. 12. Cold Spring Harbor 1922.
3 ) Koch, PI. und Mjöen, PI. Zur vergleichenden Psychologie der
Allgemeinbegabung und der Musikalität. Z. f. Psychologie Bd. 128. H.
4—6. 1933. S. 241.
666
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
dem auch eines reichen Gefühlslebens, reger Phantasie und
geistiger Gestaltungskraft. Damit hängt es offenbar zusammen,
daß sich in der Familie eines musikalischen „Genies" zwar in
der Regel noch weitere talentierte Musiker zu finden pflegen,
nicht aber ein zweites Genie. Wir brauchen daher auch nicht
anzunehmen, daß Johann Sebastian Bach seine musikalischen
Verwandten gerade in der eigentlich musikalischen Anlage über-
ragt habe; es genügt, daß bei ihm besondere andere geistige
Anlagen damit zusammentrafen. Entsprechend dürfte auch auf
anderen Gebieten der Unterschied zwischen der einseitigen Be-
gabung des Talents und der umfassenden des Genies Zustande-
kommen.
Die sippenmäßige Häufung musikalischer Begabung wird
durch den Umstand begünstigt, daß musikalische Menschen
mit Vorliebe musikalische Gatten wählen („assortativemating",
Homogamie). Darauf hat schon Galton hingewiesen; und
alle späteren Untersucher haben diese Beobachtung bestätigt
gefunden.
In unserer Bevölkerung ist die Musikalität auffallend variabel. Ausge-
sprochen unmusikalische Menschen sind viel häufiger als etwa Farbenblinde
oder Schwachsinnige. Man muß daraus schließen, daß die Musikalität unter
unseren Lebensverhältnissen nur einen geringen Erhaltungswert hat. Und
doch muß sie in der Vergangenheit einen wesentlichen Auslesevortcil gehabt
haben; sonst hätte sich eine so ausgesprochene Fähigkeit stamm es geschicht-
lich gar nicht entwickeln können. Mit diesem Problem hat sich schon
Weis mann beschäftigt. Mir wurde der Erhaltungswert der Musik im
Leben der Naturvölker deutlich durch den englischen Tonfilm „Bosambo".
Man erlebt darin gewissermaßen mit, wie die Neger durch Gesänge, Trom-
meln und rhythmischen Tanz zum Kampf begeistert werden. Unmusikalische
Stämme würden leichter den Feinden erliegen. Auch für die geschlechtliche
Werbung spielt der ursprünglich kriegerische Gesang eine Rolle. Die Mu-
sik gibt den Gefühlen Ausdruck und ermöglicht es, Gefühlte auf andere
zu übertragen, z. B. das der Begeisterung. Im Leben der Kulturvölker ist
von dieser ursprünglichen Bedeutung der Musik ein guter Teil in der Mili-
tärmusik und in den Liebeslicdern erhalten.
Hervorragende Begabung für Malerei und Plastik
kommt ähnlich wie die musikalische sippenweise gehäuft vor.
So sind aus der Verwandtschaft Tizians 9 Maler hervorgegan-
gen 1 ). Für die bildende Kunst gilt in noch höherem Maße als
für die Musik, daß zu der eigentlichen Formbegabung, der
Anschaulichkeit der Vorstellungs- und Gedächtnisbilder, noch
mancherlei andere geistige Anlagen hinzukommen müssen, da-
mit bedeutende Leistungen entstehen. Große bildende Künstler
stammen daher in der Regel aus Sippen, aus denen auch auf
1 ) Nach Galton, F. Hereditary Genius. London 1869. Macmillan.
BESONDERE BEGABUNGEN.
667
andern Gebieten bedeutende Männer hervorgehen. Das gilt
z. B. von der Sippe Anseltn Feuerbachs.
Die fränkische Familie V ' oltz hat mehrere erfolgreiche Maler gestellt.
Außerdem waren eine Reihe weiterer SippenmitgHcdcr malerisch talentiert,
ohne einen Beruf daraus zu machen 1 ).
Recht auffallend ist auch die sippenmäßige Häufung der
mathematischen Begabung.
Berühmt geworden ist die Mathematikerfamilie Benioüüi, aus der 8
bedeutende Mathematiker hervorgegangen sind 2 ). Das Schema zeigt nur den
genealogischen Zusammenhang der mathematisch begabten Bertiotdlis, ist
aber unvollständig, da die weiblichen Mitglieder und vielleicht auch einige
männliche nicht bekannt sind. Der Stammvater lebte 1623—1708, der letzte
Mathematiker 1744— 1807.
Auch die Anlage zur Mathematik ist keine genetische Ein-
heit. Man kann eine mehr räumlich-anschauliche (geometrische)
und eine mehr logisch-begriffliche (algebraische) Begabung
unterscheiden. Beide können für sich
und auch zusammen vorkommen. Eine
weitere Teilanlage mathematischer Be-
gabung ist das Zahlengedächtnis und
die Begabung für Kopfrechnen. Diese
verschiedenen Teilbegabungen kommen
familienweise gehäuft vor; Ziehen 4 )
fand das besonders für die räumlich -
anschauhche Begabung. Die logisch-
d
Fig. 205.
mathematische bedeutet nicht notwen- IIohc mathematische Be-
dig auch logische Begabung auf an- ff^ung in der _ Familie
n ö ,-,,• t-,? ■ ■ ■ -1 Bernoulli. Die mit einem
deren Gebieten, z. B. dem juristischen. Ring bczcichncten Mitgiie-
Die genannten Teilanlagen wären nach der bildeten „eine Klasse
Ziehen auch noch nicht als letzte für sich". 3 )
Einheiten, („ultimale Komponenten"),
d. h. als monomer, anzusehen. Die elementaren Teilanlagen
könnten nach seiner Ansicht einfach dominant sein eben-
so wie entsprechende Teilanlagen der Musikalität. Für ge-
schlechtsgebundene Erbanlagen fand er in seinem Material
von 127 mittels Fragebogen aufgenommenen Sippen keine
x ) Voltz, F. Die Malerfamilie Voltz. Jahrbuch des Historischen Ver-
eins für Nördlingcn und Umgebung. 1927.
s ) Galton, F. Hereditary Genius. London 1869. Macmillan.
3 ) v. Behr-Pinnow, C. Die mathematische Begabung in der Fa-
milie Bernoulli. ARGB. Bd. 27. H. 4. S. 395. 1934.
4 ) Haeckcr, V. (|) und Ziehen, Th. Beitrag zur Lehre von der
Vererbung und Analyse der zeichnerischen und mathematischen Begabung.
Z. f. Psychologie. Bd. 120. S. 1. 193t.
668
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
BESONDERE BEGABUNGEN.
669
Anzeichen. Dagegen, äußert sich die geometrische und die
algebraische Begabung viel seltener bzw. schwächer im weib-
lichen Geschlecht. Die Äußerung dieser Anlagen ist also vor-
wiegend auf das männliche Geschlecht begrenzt. Ausgespro-
chene Begabung für Kopfrechnen fand sichern weiblichen Ge-
schlecht immerhin etwa halb so oft wie im männlichen.
Zwischen mathematischer und musikalischer Begabung scheint eine
gewisse Korrelation zu bestehen, indem beide Arten der Begabung verhält-
nismäßig häufig bei derselben Person oder auch in derselben Familie vor-
kommen sollen (Möbius, Kurella). Da die Tonverhältnisse auf Zah-
lenvcrhällnissen beruhen, muß es sich bei der Musik ja bis zu einem ge-
wissen Grade um ein unbewußtes Zählen handeln. Ziehen hat eine deut-
liche Korrelation zwischen geometrischer und rhythmischer Begabung, eben-
so zwischen geometrischer und zeichnerischer Begabung gefunden.
Begabung für technische Erfindungen kann in
der Familie Krupp in Verbindung mit hervorragendem Or-
ganisationstalent durch 3 Generationen männlicher Linie ver-
folgt werden. Aber auch schon die Großmutter Friedrich
Krupps, des Begründers der Essener Werke, war eine ganz
ungewöhnlich begabte und tatkräftige Frau. Ebenso war die
Gattin Friedrichs von hervorragender Tüchtigkeit und Willens-
stärke. In ihrem Sohne Alfred, der beim Tode des Vaters erst
14 Jahre alt war, war ihre Tatkraft mit der Erfinderphantasie
des Vaters so glücklich vereinigt, daß er trotz seiner Jugend
das Werk weiterführen und auf eine ungeahnte Höhe bringen
konnte. Auch in seinem Sohne Friedrich Alfred vereinigten sich
Erfindungsgabe und Organisationstalent in selten glücklicher
Weise. In der Familie Siemens waren 3 (oder bei anderer Be-
urteilung 4) Brüder unter 14 Geschwistern bedeutende Er-
finder und erfolgreiche Unternehmer. Der überragendste war
Werner von Siemens, dem ein nicht unbeträchtlicher Teil der
großen Erfindungen des 19. Jahrhunderts zu danken ist. Merk-
würdigerweise findet sich technisches Talent nicht nur in die-
sem (Ohlhöfer) Zweige des Geschlechts, sondern auch in dem
sogenannten Weddinger Zweige bei 3 Siemens, die mit Wer-
ner von Siemens nur einen gemeinsamen Ururgroßvater haben.
Auch sonst hat die Familie Siemens eine ganze Reihe hervor-
ragend begabter und unternehmungstüchtiger Männer hervor-
gebracht 1 ).
Galton hat schon 1869 m seinem „Hereditary Genius"
eine große Reihe hervorragender Sippen zusammengestellt,
x ) Vgl. Siemens, H. W. Über das Erfindergcschlecht Siemens
ARGB. 1916/17. 11.2.
und seitdem sind noch viele andere bekannt geworden. In
einem zweiten Buche 1 ) hat Galton über eine größere Zahl
englischer Naturwissenschaftler und ihre Abstammung berich-
tet. In einem dritten Werke 2 ) sind die Sippengeschichten
von 100 Mitgliedern der Königlichen Wissenschaftlichen Gesell-
schaft (englischen Akademie der Wissenschaften), der Fellows
of the Royal Society (F. R. S.) niedergelegt.
Galt 011s eigene Verwandtschaft ist ein typisches Bei-
spiel einer hervorragend begabten Sippe. Galton war ein Vet-
9
Er.jiD.
9^9
cf 9 9 cf <f 9 9 9 t? 9 c? cf cT
-rp— 1 i r
Ch.D.
9 9 9 9^*9 9 9 9 9 9 ^
°"9«9
hoch begabt.
■ hervorragend begabt und erfolgreich .
■von weltgeschichtlicher Bedeutung
Fig;. 206.
Die Familien Darwin, Gallon und Wedgewood.
Die angegebenen hohen Begabungen sind nur als Mindestzahl zu betrachten.
Vermutlich waren auch noch andere Familienmitglieder hochbegabt, zumal un-
ter den Frauen, die weniger Gelegenheit zur Betätigung ihrer Begabung hatten.
ter Darwins, und er war geistig kaum weniger bedeutend als
dieser; daß er nicht eine ebenso weltbewegende Entdeckung
gemacht hat, spricht natürlich nicht für eine geringere Begabung.
Immerhin ist Galtori der Begründer der modernen Rassen-
hygiene geworden. Auf dem Gebiete der Erblehre hat er
sogar entschieden klarere Vorstellungen als sein Vetter Dar-
win entwickelt. Er war einer der hauptsächlichsten Bahnbre-
cher der modernen Erbforschung. Außer Darwin und Galton
sind aus demselben Verwandtschaftskreise noch eine ganze
Anzahl bedeutender Köpfe hervorgegangen; ihr gemeinsamer
Großvater Erasmas Darwin erfaßte den Grundgedanken der
Abstammungslehre sogar früher als Lamarck.
„Robert Warlng Darwin, sein Sohn, war ein ausgezeichneter Arzt und
wie sein Vater ein F. R. S. (Mitglied der Kömglichen Akademie der Wis-
*) Galton, F. English men of science, their nature and nurture.
London 1874.
3 ) Galton, F. and Schuster, E. Noteworthy Families. London
1906. Murray.
670
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
scnschaften), ein anderer Sohn, Charles, war von vielversprechender Be-
gabung; obgleich er im Alter von 20 Jahren starb, halte er bereits die
goldene Medaille der Ärztlichen Gesellschall; für experimentelle Forschung.
Charles Robert Darwin, der Autor der „Entstehung der Arten" und allge-
mein als einer der größten Naturforscher der Welt anerkannt, war der Sohn
Robert W. Darwins. Er heiratete seine Base Emma Wedgewoocl, eine Enkelin
Josiah Wedgewoods, F. R. S., des Begründers der keramischen Werke, die
das berühmte Wedgewood- Porzellan lieferten. Charles Darwins vier Sohne
wurden berühmte Leute: Francis Darwin, F.R.S., ein hervorragender engli-
scher Botaniker, George Darwin, F. R. S. ; ein bekannter Astronom und Pro-
fessor in Cambridge, Horace Darwin, F. R.S., ein hervorragender Ingenieur,
Major Leonard Darwin ein Verfasser volkswirtschaftlicher Werke, Vorsit-
zender der Gesellschaft für rassenhygienische Erziehung (Eugcnics Educa-
tion Society) und des Internationalen Ausschusses für Rassenhygiene (Inter-
national Eugenics Congress)." 1 )
In solchen Fällen kann es sich natürlich nicht einfach um
eine dominante Anlage handeln, die sich in einer Sippe wie
die Sechsfingrigkeit oder die Nachtblindheit ausbreitet. Die
Häufung hoher Begabung in solchen Sippen kommt vielmehr
zum guten Teil dadurch zustande, daß hervorragende Familien
mit Vorliebe untereinander heiraten.
Über die miteinander verschwägerten Familien Fleh und WislicenüS,
die eine stattliche Anzahl bedeutender Forscher und Gelehrter hervorge-
bracht haben, hat A. Fick 2 ) im Archiv für Rasscnbiologic berichtet. Zwei-
fellos gibt es auch in Deutschland noch zahlreiche ähnliche Sippen; sie
harren nur noch der Beschreibung unter dem Gesichtspunkt der erblichen
Begabung.
Galton 3 ) hat auch die Verwandtschaftsverhältnisse von
415 hochberühmten Männern statistisch bearbeitet. In den
300 Familien, denen diese angehörten, fanden sich im gan-
zen etwa 1000 hervorragende Männer; und zwar zeigte sich,
daß 100 hochberühmte Männer im Durchschnitt 31 bedeutende
Väter, 41 bedeutende Brüder, 48 bedeutende Söhne, 17 bedeu-
tende Großväter und 14 bedeutende Enkel hatten. Diese Zah-
len werden oft angeführt; man macht sich dabei aber gewöhn-
lich nicht klar, daß Galt 011 den Begriff der hervorragenden
Begabung so eng faßte, daß :auf eine Million nur etwa 250 her-
vorragende Männer kommen, also einer auf 4000. Wenn keine
Erblichkeit der Begabung bestünde, so würden daher unter
den 100 Vätern von 100 berühmten Männern nur 0,025 her-
vorragende Männer zu erwarten sein; die Erfahrung übertrifft
also die Erwartung um das i24ofache; unter den 200 Groß-
') Holmes, S. I. The Trend of the Race. New York j 92 1 .
2 ) Fick, A. Die "Familie Fick. ARGB. Ed. 14. H. 2. 1922.
Die Familie Wislieenus. ARGB. Bd. 15. H. 2. 1923.
3 ) Hereditary Genius. Vgl. S. 667.
BESONDERE BEGABUNGEN.
671
vätern der berühmten Männer wären 0,05 hervorragende Män-
ner zu erwarten, während Galton 17 fand; das geringere Ver-
hältnis entspricht dem Umstände, daß ein Mensch mit einem
Großvater einen geringeren Teil seiner Erbanlagen gemeinsam
hat als mit seinem Vater. Da nach G al t o ns Erhebungen 100
Mitglieder der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften
(F. R. S.) im Durchschnitt 206 Brüder hatten, so würden auf
100 berühmte Männer bei rein zufälliger Verteilung der Be-
gabung etwa 0,05 hervorragende Brüder zu erwarten sein, wäh-
rend die Untersuchung das Soofache ergab. Wenn wir auf 100
berühmte Männer jener Zeit 200 Söhne annehmen, so würde
bei den Söhnen die zufällige Verteilung um fast das looofachc
übertroffen sein.
In Amerika hat F. A. Woods 1 ) die Verwandtschaft von
3500 bekannten Amerikanern verfolgt. Während irgendein ame-
rikanischer Bürger die Wahrscheinlichkeit V500 hatte, mit einem
von diesen näher verwandt zu sein, betrug die Wahrscheinlich-
keit für einen dieser bekannten Männer, mit einem andern ver-
wandt zu sein, i/r,, also das Hundertfache. Die 46 hochberühm-
ten Amerikaner, die in die Ruhmeshalle aufgenommen sind,
hatten sogar mehr als einen berühmten Verwandten im Durch-
schnitt. Diese Verhältniszafüen von 1:100 bis 1:500 bleiben
hinter den aus den Galtonschen Befunden sich ergebenden
(1 : 800 bis 1 : 1200) entschieden zurück. Die Erklärung dieses
Unterschiedes dürfte darin zu suchen sein, daß in dem demo-
kratischen Amerika die Häufung der Begabungen in den Sip-
pen nicht so ausgesprochen eingetreten ist wie in dem mehr
ständisch gegliederten England, daß vielmehr eine stärkere
Durchmischung der Stände und Sippen stattgefunden hat.
Auch mag die stärkere Häufung der Berühmtheit in gewissen
Sippen in England bis zu einem gewissen Grade auf stärkere
äußere Förderung durch Familienbezi chungen zurückzuführen
sein. Diese hat den Vorteil, daß dadurch manche hohe Be-
gabung in die Lage kommt, sich auf dem ihr angemessensten
Gebiet zu betätigen.
BrimhalP) hat auf Grund vonErhebungen über 956 be-
kannte amerikanische Naturforscher (einschließlich Mathemati-
ker und Psychologen) ganz ähnliche Ergebnisse wie Galton
') Woods, F. A. Heredity and the Hall of Farne. Populär Science
Montly. Bd. 82. 1913.
2 ) B r i m hall, D. R. Family resemblances among American men of
science. The American Naturalist. Bd. 56 und 57. 1922 und 23.
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
und Woods erhalten. Es zeigte sich, daß die hervorragenden
Verwandten zum großen Teil ihre Erfolge in derselben Fach-
gruppe für Naturwissenschaften erzielten; so zeichneten sich
von 82 bekannten Verwandten hervorragender Physiker 1 8 eben-
falls auf dem Gebiet der Physik aus, von 36 bekannten Ver-
wandten hervorragender Botaniker 12 ebenfalls auf dem Gebiet
der Botanik. Sehr bemerkenswert ist auch Brimhalls Fest-
stellung, daß die Frauen der hervorragenden Naturwissen-
schaftler sogar noch etwas mehr bekannte Verwandte haben als
ihre Männer. Es finden also in ausgedehntem Maße Heiraten
zwischen begabten Familien statt. Von 21 Frauen, die selber
wissenschaftliche Leistungen aufzuweisen hatten, waren 10 mit
Zoologen verheiratet, was vielleicht daher kommt, daß Zoo-
logen besonders viel Sinn für den Wert der Erbanlagen haben.
Brimhall zieht aus seinen Ergebnissen den praktischen
Schluß, daß die Gesellschaft ein großes Interesse daran habe,
tüchtigen Wissenschaftlern die Aufzucht einer genügenden Zahl
von Kindern zu ermöglichen, da von diesen Kindern viel mehr
hohe Kulturleistungen zu erwarten seien als vom Durchschnitt.
Gegen die Erblichkeit geistiger Begabung wird gern ein
Satz Goethes ins Feld geführt: „Das Genie ist freilich nicht
erblich." Er hat dabei vermutlich bedauernd an seinen Sohn
August gedacht, dem es nicht an Erziehung und äußerer För-
derung, wohl aber an angeborener Begabung fehlte. Es ist ge-
wiß unbestreitbar, daß geniale Männer nicht wieder ebenso
geniale Söhne zu haben pflegen; das beweist aber nicht das
geringste gegen die Erbbedingtheit des Genies. Wir haben
oben gesehen, daß eine ganze Anzahl von Erbanlagen zusam-
mentreffen muß, damit eine hervorragende und umfassende
Begabung entsteht. Jedes Kind bekommt aber von jedem sei-
ner Eltern nur die Hälfte seiner Erbanlagen, und es ist in der
Regel natürlich nicht gerade die bessere Hälfte der Erban-
lagen. Selbst wenn also die Frauen der Genies regelmäßig die-
selben günstigen Erbanlagen enthalten würden wie ihre Män-
ner, was natürlich' in Wirklichkeit fast niemals der Fall ist, so
würde es doch nicht zu erwarten sein, daß die Söhne der Ge-
nies ihren Vätern gleichkämen. Wie alle polymer.en Eigen-
schaften ist das Genie in gemischten Bevölkerungen nicht als
solches erblich; gleichwohl aber sind die einzelnen Anlagen,
die es bedingen, doch erblich. Bei entsprechender Auslese
und Reinzucht würde das Genie daher ebenso wie andere poly-
mere Eigenschaften erblich sein.
BESONDERE BEGABUNGEN.
67;
Man hat darüber gestritten, ob man das Genie „züchten" könne. Die
Antwort hängt davon ab, was man unter „Züchten" versieht. Johanuscn
hat ein unter Pflanzenzüchtem verbreitetes Wort angeführt: das Geheimnis,
eine bestimmte Rasse züchten zu können, besteht darin, sie zu besitzen.
Wenn die für den Aufbau einer genialen Begabung erforderlichen Erbanla-
gen in einer Bevölkerung fehlen, so kann dort auch kein Genie entstehen.
Auf Mutationen kann man sich in dieser Hinsicht nicht verlassen; günstige
Mutationen sind zu selten, als daß man beim Menschen praktisch damit rech-
nen könnte. Die Züchtbarkeit des „Genies" hängt also von dem Vorhanden-
sein entsprechender Erbanlagen in einer Bevölkerung ab. Wenn solche ge-
geben sind, ist das Genie — ■ wenigstens theoretisch — - auch züchtbar.
Eine solche biologische Auffassung des Genies widerstrebt erfahrungs-
gemäß manchen Leuten sehr. Man verbindet mit dem Worte „Genie" viel-
fach magische Vorstellungen; das Genie wird vergöttiieht; man sieht in
ihm einen ersten Beweger, ein aus sich rollendes Rad, eine ursachlose ab-
solute Spontaneität, die durch Erbe und Umwelt nicht determiniert sein
könne. Durch Erfahrungstatsachen ist eine solche Ansicht jedenfalls nicht
belegbar; die Erfahrung über .die Erbbedingtheit der einzelnen Anlagen
spricht entschieden dagegen, insbesondere auch die Tatsache, daß die aller-
meisten Genies psychopathisch sind. Aus einer magischen Neigung heraus
hat man das Genie auch wohl als eine Mutation auffassen wollen, wobei man
die „Mutation" als Ausfluß einer geheimnisvollen Schöpferkraft ansah, an-
knüpfend an die Vorstellung von De Vries, daß neue Arten auf einen
Schlag auf dem Wege der Mutation entständen. Seit wir wissen, daß Muta-
tionen durch physikalische und chemische Ursachen entstehen und die Mu-
tationen auch sonst nichts Schöpferisches an sich haben, weil sie ziellos
und die meisten krankhaft sind, können wir mit der Zurückführung des
Genies auf eine Mutation nichts anfangen, unbeschadet der Tatsache, daß die
einzelnen Erbanlagen, die das Genie zusammensetzen, stammesgeschichllieh
wie alle andern irgendwann auf dem Wege der Mutation entstanden sein
müssen.
Während auf dem Gebiet gewisser „Geisteswissenschaf-
ten" auch heute noch wie zu Schellmgs und Hegels Zeiten Be-
rühmtheit gelegentlich durch große Worte und magische Auf-
machung erreicht wird, besteht diese Gefahr auf dem Gebiet
der Naturwissenschaften kaum. Daher wären genealogische
Untersuchungen über große Naturforscher von besonderem
Interesse. Einen Anfang in dieser Richtung hat Ostwald- 1 -)
gemacht. Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Sippengeschichte
der Träger des Nobelpreises für Physik, Chemie und Medizin
systematisch zu erforschen.
Große Leistungen entspringen nicht aus der Erbmasse
allein; auch die Umwelt muß ihnen günstig sein. Die meisten
Entdeckungen sind nur möglich a.uf der Grundlage der voran-
gegangenen Kulturentwicklung, ihrer Wissenschaft und Tech-
1 ) Ostwald, W. Große Männer. Studien zur Biologie des Genies.
Leipzig 19 10. Akad. Vcrlagsgesellschaft.
I) a u r - F i 5 c h e r - 1, e h st I.
674
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
nik. Noch vor 100 Jahren hätte auch ein Planck die Quan-
tentheorie nicht aufstellen können. Und dann gibt es wieder
Zeiten, wo für einen Fachmann geradezu eine gewisse Be-
schränktheit dazu gehört, eine Entdeckung nicht zu machen.
Glück gehört natürlich auch dazu ; aber durch Zufall allein ist
noch keine große Entdeckung zustande gekommen, auch nicht
die der Röntgenstrahlen. Je mehr schon entdeckt ist, desto
weniger bleibt für künftige Entdecker übrig. Einen neuen Erd-
teil kann heute niemand mehr entdecken. Es ist auch schon
vorgekommen, daß jemand eine wirklich große Entdeckung
gemacht hat und daß er dann feststellen mußte, daß ein an-
derer vor ihm schon dasselbe entdeckt hatte; ein Beispiel ist
Correns' Entdeckung des Mendelns. Man darf daraus schlie-
ßen, daß geniale Begabungen wesentlich häufiger sind als
neue große Entdeckungen und sonstige wirklich große Lei-
stungen, häufiger auch als der Genieruhm. Die Umstände,
welche dem Zustandekommen einer großen Leistung günstig
sind, sind keineswegs immer solche, die allgemein im Leben
günstig sind. Die größten Taten auch auf geistigem Gebiet
werden aus äußerer oder innerer Not geboren. Ein. Freiheits-
held ist nur möglich, wenn das Volk vorher unterdrückt war.
Sonst wäre er vielleicht nur ein Abenteurer geworden.
Die innere Not, die zu großen Taten treibt, zu titanischen
Anstrengungen ihrer Überwindung, entspringt oft aus Anlagen,
die sonst als krankhaft erscheinen. Nachdem schon Piaton
und Aristoteles auf die krankhafte Veranlagung großer
Dichter, Künstler, Philosophen und Politiker hingewiesen ha-
ben, ist in der neueren Zeit zuerst der französische Psychiater
Moreau 1 ) den Beziehungen zwischen Genie und
Psychopathie wissenschaftlich nachgegangen. Diese Lehre
ist dann durch die Schriften des italienisch-jüdischen Psychia-
ters Lombroso unter dem Schlagwort „Genie und Irr-
sinn" in weiten Kreisen bekannt geworden. Die umfangreiche
Literatur darüber ist bei Lange-Eichbaum*) zusammen-
gestellt.
Das Zusammentreffen überragender Leistungen und krank-
hafter Züge des Seelenlebens in derselben Person ist so häufig,
x ) M ore a u , J. La psycho] ogic morbide clans les rapports avec la phi-
losophic de l'histoirc ou de l'mflueiice des nevropatbies sur le dynamismc
inlellcctuel. Paris 185g.
2 ) Lange-Eichbaum, W. Genie-Irrsinn und Ruhm. München.
1928. G. Reinhardt.
BEGABUNG UND PSYCHOPATHIE:
675
daß es nicht auf Zufall beruhen kann. Man muß sich von
dem Vorurteil frei machen, daß aus einem krankhaften Geiste
keine richtigen Erkenntnisse, keine schönen Kunstwerke oder
keine bahnbrechenden Taten entspringen könnten. Was objek-
tiv wahr oder falsch ist, ist oft viel zu schwer zu entscheiden,
als daß man von diesem Unterschied die Feststellung des
Krankhaften abhängig machen dürfte. Robert Mayer behielt
schließlich recht mit seiner Überzeugung, für die er fanatisch
kämpfte ; und die Entdeckung Gregor Mendels wird nicht da-
durch beeinträchtigt, daß sie von einem seelisch leidenden
Manne errungen worden ist.
Daß z y k 1 p h r e 11 e V e r a 11 1 a g u n g zu genialem Schaf-
fen beitragen kann, ist einleuchtend. Der ungestüme und ruhe-
lose Betätigungsdrang, der manchen manisch veranlagten Men-
schen eigen ist, kann die treibende Kraft großer Leistungen
sein (z. B . bei Luther und Blücher). Eher noch wirksamer
kann melancholische Veranlagung sein. So sagt der zykloide
Goethe:
„Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide."
Und Nietzsche fragt: „Die Zucht des Leidens, des gro-
ß en Leidens — wißt ihr nicht, daß nur diese Zucht alle Er-
höhungen des Menschen bisher geschaffen hat ?" Byron, Kleist,
Schopenhauer, Grill parzer waren von melancholischer Veran-
lagung, entgegen der landläufigen Meinung auch Mozart, wie
Lange-Eichbaum betont. Zu melancholischen Psychosen
kam es bei Blücher, Conrad. Ferdinand Meyer, Anselm Feuer-
bach, Robert Mayer, zuletzt auch bei Mozart.
Schwerer verständlich ist das Vorkommen genialer Lei-
stungen bei Schizophrenen. Wenn im Verlauf einer Schizo-
phrenie eine Demenz eintritt, so sind bedeutende geistige
Leistungen natürlich nicht mehr zu erwarten. Leichtere schizo-
phrene Phasen mit ihrer Erregung und ihren Traumgesichten
scheinen dagegen das Feuer des Geistes unter Umständen an-
fachen zu können. Das scheint bei Hölderlin, Scheffel,
Strindberg, auch dem Schachspieler Morphy so gewesen zu
sein. Auch Ampere und Newton haben anscheinend einen
Schub schizophrener Seelenstörung durchgemacht (nach
Kretschme x ) 1 )-
Ich möchte übrigens vermuten, daß es sich auch bei Nietzsche um
eine in die Gruppe der Schizophrenien gehörige Krankheit gehandelt habe.
r ) Körperbau und Charakter. S. Literaturverzeichnis.
676
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
if ildeb r and t 1 ) hat zwar zu zeigen gesucht, „daß die Krankheit nichts
mit der angeborenen Veranlagung, nichts mit dein früheren Werk zu tun
hatte, sondern daß sie einen brutalen materiellen Vorgang, der ein gesundes
Gehirn zerstört, darstellt". Es scheint mir aber auf der Hand zu liegen,
daß sich in Nietzsches Schriften schon lange vor dem Ausbruch einer
eigentlichen Geisteskrankheit zahlreiche Zeichen schizoider Psychopathie mit
hysterischen Zügen finden. Mitteilungen darüber hat J. Hof millor 2 )
zusammengestellt. Auch Lange-Eichbaum ist dieser Ansicht. So dürfte
es die am wenigsten gesuchte Ausnahme sein, daß bei Nietzsche auf dem
Coden schizoider Veranlagung eine Schizophrenie paranoider Prägung mit
Ausgang in Verblödung entstanden sei. Möglicherweise gilt von Rousseau,
Schumann, Maupassant ähnliches.
Schizoide Psychopathie bewirkt oft eine einseitige
und dauernde Einstellung- des Interesses auf Dinge, die den
meisten andern Menschen mehr oder weniger gleichgültig sind.
Es leuchtet ein, wie das zum Zustandekommen neuer Entdek-
kungen wesentlich beitragen kann, und die Erfahrung an nicht
wenigen Gelehrten und Forschern bestätigt es. Ein typischer
Fall ist Kant. Schizoide Psychopathen, zumal wenn sie intel-
lektuell hochbegabt sind, empfinden die Unzulänglichkeit von
Menschen und Verhältnissen oft sehr lebhaft. Sie sind daher
die geborenen „Weltverbesserer". Schizoider Fanatismus kann
dem Feldherrn und dem Staatsmann, der gegebenenfalls Tau-
sende oder Hunderttausende von Menschen opfern muß, die
Durchführung einer Aufgabe ermöglichen, die ein normaler
Mensch nicht übers Herz brächte. „Gerade die schneidende
Kälte gegen das Schicksal des Einzelmenschen, zusammen mit
der ebenfalls in gewissen schizoiden Anlagen begründeten Nei-
gung zum Schematischen, prinzipiell Konsequenten und zur
strengen Gerechtigkeit können als gut kompensierte Persön-
lichkeitsbestandteile Menschen von stahlharter Energie und
unbeugsamer Zähigkeit erzeugen" 3 ). Kretschmer nennt als
Beispiel Friedrich den Großen. Aufopferung der eigenen Per-
son für unpersönliche Ideale ist nach Kretschmer geradezu
kennzeichnend für gewisse Schizoide. Ähnliches wie von der
schizoiden gilt von der nahe verwandten paranoiden Psy-
c h o p a t h i e.
Die Epilepsie ist genialem Schaffen im allgemeinen sicher nicht för-
derlich. Ich möchte vermuten, daß bei jenen großen Männern, von denen
Epilepsie bzw. die „heilige Krankheit" berichtet worden ist (z. B. Caesar,
x ) II ild eb r and t , K. Gesundheit und Krankheit in Nietzsches
Leben und Werk. Berlin 1926. S. Karger.
E ) Hofmi Her, J. Nietzsche. Süddeutsche Monatshefte. Jg. 29. LI. 2.
S. 74. 1931.
3 ) Kretschmer. Körperbau und Charakter.
BEGABUNG UND PSYCHOPATHIE.
677
Paulus, Mohammed, Franz v. Assist, Alfred d. Große, Peter d. Große, Na-
poleon I., Dostojewski), es sich um epilepsieähnliche Äußerungen hysteri-
scher Veranlagung gehandelt habe, da man in früherer Zeit die Hysterie
offenbar häufig mit der Epilepsie als „heilige Krankheit" zusammengeworfen
hat. Auch L a n g c - E i c h b a u m meint, daß genuine Epilepsie bisher in
keinem Falle von Genie einwandfrei nachgewiesen .sei.
Der hysterischen Veranlag' u 11 g kommt wohl grö-
ßere Bedeutung für das geistige Schaffen als irgendeiner an-
dern seelischen Anomalie zu. Das ist auch die Ansicht des
Psychiaters Birnbaum 1 ). Krankhafte Züge dieser Art wei-
sen z. B. Paulus, Mohammed, Luther, Loyola, Pascal, Rous-
seau, Möllere, Friedrich d. Große, Napoleon, Blücher, Goethe,
Schopenhauer, Wagner, Nietzsche, Tolstoi auf. Besonders auf
religiösem, künstlerischem und politischem Gebiet scheint ab-
norm starke Wunschbestimmbarkeit zu großen Wirkungen bei-
tragen zu können, zumal wenn ein starker Geltungstrieb die
Seele beherrscht, wie das bei hysterischer Veranlagung die Re-
gel ist. Die Bestimmbarkeit auch 1 des normalen'Menschen durch
Wünsche ist eine Grundlage des Glaubens, der Liebe, der Hoff-
nung. Kein Wunder daher, daß eine abnorm starke Wunschbe-
stimmbarkeit zu außergewöhnlichen Leistungen befähigen kann.
Sie kann Ziele als erreichbar erscheinen lassen, die der nüch-
terne Verstand von vornherein als aussichtslos ansieht. „Das
Wort unmöglich kenne ich nicht", sagte Napoleon. Sie kann
einen Glauben, der Berge versetzt, schaffen, einen Glauben,
der wider alles Zeugnis der Sinne und der Vernunft gehen
kann und der eben darum gelegentlich das Ungeheure voll-
bringt. In der Erregung leuchtender Wunschillusionen liegt
auch zugleich das Geheimnis der Wirkung auf die Massen, von
der so viel für den Erfolg in der Welt abhängt. „Den lieb' icli,
der Unmögliches begehrt." Die „starken Männer" der Ge-
schichte sind zum guten Teil hysterisch veranlagte Naturen.
Kretschmer 2 ) hat überzeugend dargelegt, wie die hyste-
rische Verkrampfung (Tetanisierung) des unterbewußten Wil-
lens als große Willenskraft in die Erscheinung treten kann.
Auch der echte paranoische Größenwahn läßt
Dinge unternehmen, die der gesunde Menschenverstand als
aussichtslos gar nicht erst in Angriff nimmt; und auch die
krankhafte Sclbstsicherheit des Paranoikers kann mitreißend
auf die Massen wirken.
*) Birnbaum, K. Psychopathologische Dokumente. Berlin, Sprin-
ger 1920.
s ) Kretschmer, E. Über Hysterie. Leipzig 1923. Thieme.
678
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Der Hysteriker macht sich und andern dauernd etwas vor; und begabte
Hysteriker spielen mit Vorliebe die Rolle des Genies (vgl. S. 550). Das treibt
und befähigt sie zum Teil zu wirklich bedeutenden Leistungen; zum andern
Teil gelingt es ihnen, sich vor der Mitwelt und Nachwelt als Genie dar-
zustelle 11. Das ,, Genie" ist in solchen Füllen zum Teil eine Erscheinung
der Mimikry; aber eben nur zum Teil. Wahrheit und "Dichtung gehen bei
solchen Naturen ohne scharfe Grenzen ineinander über. Ihr Lebensweg
schillert zwischen theatralischer und wirklicher Sendung. Wenn nicht Öfter
wirkliche Leistung damit verbunden wäre, so wäre auch schwerlich der In-
stinkt der Massen gezüchtet worden, leuchtenden Wunschbildern zu folgen.
Dieser muß erhaltungsgemäß sein, selbst wenn er gelegentlich Irrlichtern
folgt. Der gesunde Menschenverstand ist anscheinend für normale Zeiten
da; in ungewöhnlichen Zeiten aber können Illusionen lebensrettend sein.
Freilich, das höchste Heil und das größte Unheil sind manchmal nur durch
Haaresbreite voneinander getrennt. Es scheint, daß es Erbanlagen gibt, die
sich je nach der Kombination mit andern und je nach den Umwell bedingun-
gen in polar entgegengesetzter Richtung äußern können: als ,, Genie" und als
„Irrsinn".
Die größte Bedeutung hat hysterische Veranlagung wohl
auf dem Gebiet der Kunst und Dichtung. Es ist gewiß kein
Zufall, daß so viele Dichter, Musiker und andere Künstler
hysterische Züge aufweisen. Die leichte Wunschbestimmbarkeit
befähigt sie, den Wunschträumen der Menschen Ausdruck zu
geben. Die hysterische „Pseudologia phantastica", die die
Wirklichkeit umgestaltet, ist der dichterischen Phantasie ver-
wandt. „Je inkommensurabler und für den Verstand unfaß-
licher eine poetische Produktion, desto besser" (G o e th e).
„Der ganz Gesunde kann das einfach nicht leisten, wonach
sich die Menschheit sehnt" (L ange -E i chb aum). „Wer
ohne den Wahn der Musen vor das Tor der Dichtkunst tritt,
dessen Dichten vergeht vor der Kunst dessen, der den schöpfe-
rischen Wahn hat" (Piaton).
Auf wissenschaftlichem Gebiet führt hysterische Veranlagung häufiger
zu vermeintlichen als zu wirklichen Entdeckungen. Glanzende Einfälle wer-
den von hysterisch veranlagten Forschern nur zu häufig für endgültige
Wahrheiten gehalten. Besonders in der Verteidigung gegen Angriffe legen
sich solche Forscher mehr und mehr darauf fest, bis schließlich ihre ganze
wissenschaftliche Persönlichkeit mit ihrem Satze steht und fällt. Und die
Erfahrung zeigt, daß solche Sätze, wenn es auch nicht die Regel ist, tat-
sächlich richtig sein können. Auch für wissenschaftliche Entdeckungen ist
die hysterische Veranlagung daher nicht unter allen Umständen ungünstig.
Meist führt sie allerdings nur zu pseudowissenschaftlichen Produktionen.
Auch seelische Anomalien, die sich unter dem Bilde der
P s y c has th enie (Neurasthenie) äußern, scheinen für ge-
niale Leistungen in manchen Fallen förderlich zu sein. Darwin
war ein Psychasthcniker, der nur wenige Stunden am Tage
arbeiten konnte und der doch mehr geleistet hat als 1000 an-
BEGABUNG UND PSYCHOPATHIE.
(379
dere Forscher. Ähnliches gilt von Feckner und Spencer, Auch
Conrad Ferdinand Meyer war psychasthenisch. Natürlich wirkt
die psychasthenische Anlage in den allermeisten Fähen mehr
liemmcnd als fördernd auf die geistige Leistung. Mörike war
infolge hochgradiger Psychasthenie berufsunfähig. Nietzsche
hatte, auch nachdem er von seinen Amtspflichten befreit war,
schwer unter Erschöpfung und Schlaflosigkeit zu leiden; dort
.lag die Ursache, weshalb er nur Stückwerk und nicht jenes
Ganze schaffen konnte, wozu er nach seiner sonstigen Bega-
bung wohl berufen gewesen wäre.
Das geniale Gehirn ist fast immerwährend in fieberhafter Tätigkeit,
und wenn es häufiger die Zeichen der Erschöpfung zeigt als das Durch-
schnittsgehirn, so braucht das nicht eigentlich auf abnormer Ermüdbarkeit,
die für Psychasthenie als charakteristisch bezeichnet wurde, zu beruhen.
„Meine Seele ist wie ein ewiges Feuerwerk ohne Rast" schrieb Goethe von
sich, und ganz ähnlich Hebbel: „Ich bin immer so, wie die meisten Men-
schen im Fieber sind." Ein Durchschnittsgehini würde vielleicht schon nach
einem Bruchteil der Leistung des genialen versagen, und es bleibt vielleicht
nur deshalb von den Zeichen der Psychasthenie verschont, weil, es auch
diesen Bruchteil in der Regel nicht leistet.
Die von genialen Menschen häufig berichteten Anomalie n d e r
geschlechtlichen Triebe können zu großen Leistungen dadurch
beitragen, daß die geschlechtliche Energie mangels eines natürlichen Zieles
sich auf ein Werk konzentriert oder ins Geistige sublimiert. ,,Weib, was
habe ich mit dir zu schaffen?" Diese Sublimierung ermöglicht eine so un-
bedingte Hingabe an die Gemeinschaft, zumal an die Jünger, wie sie dem
glücklich verheirateten Mann und dem Familienvater nicht möglich ist. Ein
Beispiel aus der alten Geschichte ist Sokrates, eines aus der jüngsten Ver-
gangenheit George. Damit hängt die häufige Ehelosigkeit genialer Männer
(und Frauen) zusammen. Homoerotische Triebrichtung lag anscheinend bei
Alexander, Augustinus, Sokrates, Platon, Michelangelo, Shakespeare vor.
Es ist ein besonderes Verdienst L ange -E ich b aum s,
daß er in seinem für das Verständnis der Geschichte und des
Lebens höchst aufschlußreichen Buche krankhaftes Seelenleben
nicht nur als eine Triebkraft großer Leistungen beleuchtet,
sondern daß er auch gezeigt hat, wie die krankhaften Züge
eines Werkes oder seines Urhebers zum Zustandekommen des
Genieruhms beitragen. Durch die krankhaften Züge wird der
Eindruck des Titanischen, Übermenschlichen, Dämonischen
hervorgerufen. Beispiele sind Goethes ,, Faust" und Nietzsches
„Zarathustra". Klare und vernünftige Werke wirken nie so
stark wie dunkle, Widerspruchs- und geheimnisvolle. Das lehrt
auch die Geschichte aller Religionen.
Wenn L a. n g e - E i c h b a u m den magischen bzw. religiösen Gehalt
der landläufigen Genievorstellung aufgedeckt hat, so ist das ein entschie-
denes Verdienst. Wenn er aber den Satz aufstellt ,, Genie ist nichts als Nim-
680
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
BEGABUNG UND PSYCHOPATHIE.
681
bus" so ist das eine arge Übertreibung oder vielmehr eine willkürliche Defi-
nition, die einfach deswegen unzweckmäßig ist, weil sie nicht dem Sprach-
gebrauch entspricht. Zum Teil beruht darauf allerdings gerade die faszinie-
rende Wirkung seines Buches, indem das, was er von diesem „Nimbus"
aussagt, unwillkürlich auf das „Genie" im Sinne des gewöhnlichen Sprach-
gebrauchs übertragen wird.
Die Beziehung zwischen genialer und krankhafter Anlage
läßt sich nicht nur bei den einzelnen Genialen, sondern auch in
ihren Sippen verfolgen. Besonders eindrucksvoll gehäuft sind
Psychopathien hysterischer Färbung z.B. in der nächsten Ver-
wandtschaft Napoleon Bonapartes (Vater, Bruder, Schwestern,
Söhne), zyklophrene Geistesstörungen in der Blüchers 1 ). Schon
Galton. hat auf die „schmerzlich nahe Beziehung dieser bei-
den Erscheinungen" hingewiesen, und er sagt, er sei über-
rascht gewesen, wie häufig geistige Störungen unter den nahen
Verwandten hervorragender Männer sich fanden.
Da eine krankhafte Anlage, wenn sie mit genialen Lei-
stungen vereinbar sein soll, bis zu einem gewissen Grade durch
andere, gesündere Anlagen im Zaum gehalten sein muß, fin-
den sich erbliche Seelenstömngen bei Verwandten genialer
Männer öfter in stärkerer Gradausprägung als bei den Genia-
len selber.
So war Goethes Vater ein ausgesprochener Psychopath: bei einer
Schwester und seinem Sohne ging die Psychopathie in Geisteskrankheit über;
auch seine beiden Enkel waren schwer psychopathisch 2 ). Es scheint mir
nicht zweifelhaft zu sein, daß die vom Vater ererbte psy allopathische An-
lage Goethes wesentlich zur Auslösung der von der Mutter ererbten Geistes-
gaben beigetragen hat.
Ein musikalisch begabter Sohn Johann Sebastian Backs namens Gott-
fried Heinrich (1724--63) ist allmählich verblödet, anscheinend infolge einer
Hebephrenic (Schizophrenie); Bachs Sohn Friedeinann war ein (vermutlich
schizoider) Psychopath, im übrigen ein genialer Musiker. Eine Schwester
von Bachs Vater starb mit 26 Jahren entweder verblödet infolge von Schizo-
phrenie oder imbezill Eine „mystische Unterströmimg" in Bachs Wesen
hat PL Läinraerliirt 3 ) betont. Seine mütterliche Sippe neigte zu re-
ligiöser Schwärmerei und Sektierertum. Mit größter Wahrscheinlichkeit
ist Bach selber als Träger einer (kompensierten) schizoiden Erbanlage
anzusehen.
Es ist eine ebenso bedeutsame wie schwierige Frage der
Rasseilhygiene, wie sie positive und negative Anlagen, die in
einem Menschen oder in einer Sippe vorhanden sind, gegen-
1 ) Langc-Eichbaum. S. 41 4.
3 ) Möbius, P. J. Goethe. 3. Aufl. Leipzig 1909. J. A. Barth.
3 ) Lämmerhirt, H. Bachs Mutler und ihre Sippe. Bach- Jahrbuch.
Jg. 22. 1925.
einander abwägen soll. Davon wird im zweiten Bande berichtet.
Man darf nicht das Genie mit der Psychopathie ausmerzen.
Gewiß, es ist ein. peinlicher Gedanke, daß die Leistungen
der Helden des Geistes und der Tat zum guten Teil aus krank-
hafter Anlage entspringen; und man sucht nach einem Aus-
weg aus dem Dilemma zwischen der Wertung der genialen
Begabung und der der geistigen Gesundheit. Mir scheint
eine Lösung dieser Frage wenigstens grundsätzlich möglich
zu sein.
Wie wir oben gesehen haben, ist der Begriff der Krank-
heit und damit auch der der Gesundheit an der Erhaltung zu
orientieren, und zwar letzten Endes nicht an der des Indivi-
duums, sondern an der der Rasse. Und die schöpferische Be-
tätigung des Genies, auch wenn sie die individuelle Erhal-
tung beeinträchtigt, kann dennoch dem Leben der Rasse die-
nen. Eine solche Veranlagung aber wäre im höchsten Sinne
lebensfördernd, also gesund. Nicht alle Menschen müssen ja
dem Durchschnitt gleichen. Eine Bevölkerung von lauter Ge-
nies wäre zwar nicht lebensfähig; einzelne aber können für das
Leben der Rasse das Höchste leisten, und es ist geradezu eine
Lebensfrage für eine Rasse, daß sie immer wieder Männer her-
vorbringt, die ihr neue Wege des Lebens eröffnen.
Da erhebt sich nun freilich die bange Frage, ob jene Män-
ner, die als Genies gefeiert werden, durch ihr Lebenswerk
wirklich dem Leben der Rasse gedient haben? Von manchen
der bei L ange -E i chb aum aufgeführten „Genies" wird
man es bezweifeln, z. B. bei Rousseau oder Napoleon. Eine
neue Wertung erfordert auch eine neue Beurteilung geschicht-
licher Persönlichkeiten. Von der rassenhygienischen Wertung
aus, die sich darin mit der nationalsozialistischen deckt, wür-
den nur solche Männer als Genies anzuerkennen sein, die tat-
sächlich Bahnbrechendes für das Leben der Rasse geleistet
haben oder deren geistige Begabung eine solche Wirkung er-
möglicht hätte, auch wenn sie selbst durch widrige Umstände
an der Vollendung ihres Lebenswerkes gehindert worden sein
mögen.
Man muß ein Genie als Ganzheit bewerten. Es
kann als Ganzes lebensfördernd sein, auch wenn es eine krank-
hafte Anlage enthält. Grundsätzlich kann es auch geniale' Men-
schen ohne krankhaften Einschlag geben. Lange-Eich-
baum nennt als solche Verdi, Tizian, Rubens, Raffael, Hans
Thoina, Leibniz. Dem steht seine Liste von 170 pathologischen
682
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
„Genies" gegenüber. Man darf annehmen, daß manche von
diesen zu Unrecht den Genieruhm erworben haben. Anderer-
seits ist zu vermuten, daß es manche bahnbrechende Gei-
ster gegeben hat, deren Lebensarbeit sich im stillen, gewisser-
maßen anonym, ausgewirkt hat und die auch nach dem Tode
nicht die Anerkennung als Genie gefunden haben, Was hier
von der genialen Begabung gesagt wurde, gilt in geringerem
Grade auch von sonstiger hoher Begabung. Wer kennt nicht
diesen und jenen „verrückten" Professor, Erfinder, Künstler,
der wirklich Originelles geleistet hat? Schon der humoristische
Unterton des Wortes „verrückt" zeigt, daß wir solchen Leuten
manches zugute halten, weil wir ihre Leistung zu würdigen
wissen. Der Hundertsatz psychopathisch Veranlagter ist unter
bedeutenden Menschen jedenfalls überdurchschnittlich, wenn
auch nicht so überwiegend wie unter den Genialen.
.Der norwegische Tierzüchtcr Wriedt 1 ) hat darauf aufmerksam ge-
macht, daß gewisse Eigenschaften bei standardisierten Rassen van Hunden
und andern Haustieren auf heterozygoten Erbanlagen beruhen, die homo-
zygot Krankhaftigkeit und selbst Lebensunfähigkeit bedingen. Entsprechend
könnten auch gewisse Erbanlagen beim. Menschen, die heterozygot ge-
nialen Leistungen förderlich sind, homozygot Geisteskrankheit zur Folge
haben.
L a n g c - E i. c h b a u m hat die krankhafte Natur psychopathischer Ge-
nialer durch den Hinweis dartun zu können geglaubt, daß von 1000 Psycho-
pathen, die einzeln auf einsamen Inseln ausgesetzt würden, ein viel höherer
Hundertsatz zugrunde gehen würde als von 1000 Normalen. Robinsonmseln
sind meines Erachtens zur Prüfung der Lebensfähigkeit moderner Kultur-
menschen aber nicht geeignet. Man wird vielmehr in unserer Kultur alle
jene Typen als normal ansehen müssen, die sich in eben dieser Kultur be-
währen. Wenn man 1000 Psychiater auf .Robinsoninseln aussetzen würde,
so würden die dort auch nicht gedeihen.
Geniale Begabung war bisher nicht erhaltungsfördernd für
ihre Träger, am wenigsten in der Gegenwart. Sie konnte da-
her bisher nicht als Kassencharakter gezüchtet werden. Es
steht aber nichts der Annahme im Wege, daß geniale Be-
gabung auch durch Häufung vieler kleiner Mutationen ge-
schaffen werden kann, d. h. auf demselben Wege, auf dem
die Entstehung der normalen Rassen geschieht. Sobald
höhere Begabung Erhaltung und Vermehrung der sie tra-
genden Erbstämme zur Folge haben würde, würde im Laufe
der Zeit die Begabung der Bevölkerung dauernd steigen,
1 ■ i
l ) Nach Mohr, O. L. Über Letalfaktoren mit Berücksichtigung ihres
Verhaltens bei Haustieren und beim Menschen. Z. f. induktive Abstammungs-
lehre Bd. 41. H. 1. S. 59. 1926.
GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG.
683
und schließlich würde eine Stufe erreicht werden, die wir
heute als geniale Begabung bezeichnen. Auch in den bis-
herigen Genies waren ja viele gesunde Bega.bungsanlagen
vorhanden; nur mußten ihre Kräfte meist durch ein-
zelne Verlustmutationen entfesselt werden, die einen Ausfall
normaler Hemmungen bewirkten. Das braucht nicht notwendig
so zu sein. Es ist zwar verständlich, daß die Entfesselung
genialer Betätigung leichter durch Ausfall von Hemmungen
erfolgen kann; aber ganz harmonisch wird sie dann niemals
sein. Auf dem Wege planmäßiger Rassenhygiene würde es
jedoch möglich sein, durch Häufung von lauter gesunden Be-
gabungsanlagen eine gesunde Rasse hervorzubringen, die
den bisherigen Genies an Begabung gewiß nicht nachstehen
würde.
Die gewöhnlichen Unterschiede d e r Bega-
bung sind in ihrer Erblichkeit natürlich viel schwerer zu ver-
folgen als die ungewöhnlichen und auffallenden.
Pearson 1 ) hat im Jahre 1903 die seelische Ähnlichkeit
von Geschwistern auf Grund der Beurteilung von über 3000
Schulkindern durch ihre Lehrer zu erfassen gesucht und .eine
Korrelation von 0,52 gefunden. Die Korrelation von Geschwi-
stern hinsichtlich einer Anzahl körperlicher Eigenschaften hatte
er im Durchschnitt ebenfalls auf r = 0,52 gefunden. Man kann
also sagen: die geistige Geschwisterähnlichkeit ist ebenso groß
wie die körperliche. Wenn die Ehewahl ohne Rücksicht auf die
Begabung erfolgen würde, so würde auch bei vollständiger
Erbbedingtheit der seelischen Unterschiede eine Korrelation
von höchstens 0,5 bei Geschwistern zu erwarten sein, bei do-
minant-rezessivem Verhalten der einzelnen Anlagen sogar nur
von 0,42. Da begabte Menschen vorzugsweise untereinander
heiraten, würde bei völliger Erbbedingtheit die Korrelation
allerdings noch etwas größer sein. Auch Pearsons Mitarbei-
ter Schuster und Miss El der ton 2 ) haben die seelische
Ähnlichkeit von Geschwistern hinsichtlich ihrer Schulleistungen
ebenso groß wie die körperliche gefunden. Sie haben ferner
Oxforder Studienzeugnisse von Vätern und Söhnen verglichen
und eine Korrelation gefunden, die hinter der körperlicher
r ) Pearson, K. On the inheritance of mental and moral characters
in man, and ils comparison with the inheritance of physical characters.
Journal of the Anthropological Institute. Bd. 33. S. 179. 1903.
— — Inheritance o[ psychical characters. Biornctrika. Bd. 12. 1919.
3 ) Schuster, E. und Eider ton, E. The inheritance of ability.
Eugenics Laboratory Memoirs. I. London 1907.
684
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN,
Merkmale nur wenig zurückblieb. In Amerika haben Thorn-
dike 1 ) und seine Mitarbeiter bei Geschwistern eine Korrela-
tion der Schulleistungen von r = 0,32 gefunden. Jedenfalls darf
man aus den Ergebnissen der Korrelationsmethode schließen,
daß die seelischen Eigenschaften im gleichen Ausmaß wie die
körperlichen erblich sind.
Immerhin kann die Korrelation der Eigenschaften von
nahen Blutsverwandten zum Teil, auch durch gemeinsame Um-
welt bedingt sein (vgl. S. 640). Eher noch schlagender als
in der Ähnlichkeit von Geschwistern kommt die Erbbe-
diiigthe.it der geistigen Begabung daher in der oft ganz
auffallenden seelischen Verschiedenheit von Geschwistern zum
Ausdruck. Jeder Vater und jede Mutter mehrerer Kinder
weiß, daß diese trotz gleicher Umwelt und Erziehung in
ihren einzelnen Teilbegabungen, ihren sonstigen Fälligkeiten,
Neigungen und Charaktereigenschaften stark verschieden sein
können. Reiter und Osthoff haben bei ihren Erhe-
bungen an Hilfsschulkindcrn (vgl. S. 528) gefunden, daß
die Schulleistungen von Geschwistern, die in derselben un-
günstigen Umwelt aufwuchsen, in etwa der Hälfte der Fälle
stark verschieden waren, was für das Vorliegen Mendel-
scher Spaltung und gegen eine wesentliche Bedeutung der
Umwelt spricht. Die ungünstige Umwelt war vielmehr in der
Hauptsache als Folge der schwachen Begabung der Eltern
anzusehen.
Der Psychologe Peters 2 ) hat die Schulzeugnisse von
ir 62 Kindern und ihren 344 Elternpaaren gesammelt und mit
denen ihrer Eltern und Großeltern verglichen. Es zeigte sich,
daß die Beurteilung eines Kindes im Laufe der Schulzeit und
durch die verschiedenen Lehrer ziemlich gleichblieb. Die Zeug-
nisse der Kinder wichen im Durchschnitt regelmäßig in der
gleichen Richtung vom Mittel ab wie die der Eltern; und zwar
betrug die Abweichung der Kinder im Durchschnitt etwa ein
Drittel von der der Eltern. Die Verteilung der Schulnoten bei
Eltern und Kindern in Form einer Korrelationstafel ergibt
folgendes Bild 3 ) :
x ) Tliorndilie, E. I,. u, a. Heredity, correlation and sex diffe-
renecs in school abiliücs. Columbia University Contributions to Philosophy
etc. 1903.
2 ) Peters, W. Über Vererbung psychischer Fähigkeiten. Leipzig 1915.
3 ) Da die Zahl der Fälle in der Tabelle (3952) mehrfach so groß ist
als die der Gesamtzahl der Kinder (1162), sind offenbar die Noten in
verschiedenen Fächern jeweils als besondere Fälle gezählt worden.
GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGÄBUNG. 685
Not
- der K
irider
Zahl der
Durchschnitt
1
2
3
4
5
Fälle
der Kinder
1,0
177
198
51
426
1,70
h5
261
513
225
6
1
1006
1,98
£ 2,0
206
498
283
19
6
1012
2,13
W 2,5
115
366
299
21
13
814
2,33
Ö 3,0
54
177
191
8
13
443
2,43
70 3,5
12
42
64
5
1
124
2,52
5 4,0
9
29
48
4
2
92
2,58
% 4,5
2
6
14
2
24
2,67
5,0
3
6
2
11
3,09
Zahl der
Falle
836
1832
1181
65
38
3952
Durchschnitt
der Eltern
1,74
2,03
2,36
2,55
2,80
Der Korrelationskoeffizicnt beträgt r = 0,29,;+ 0,013.
Weinberg 1 ) hat nach dem Petersschen Material die
Korrelation der beiden Eltern in bezug auf ihre Schulnoten
etwa ebenso groß befunden wie die zwischen Eltern und Kin-
dern. Darin zeigt sich, daß durch die Ehe in der Regel
gleiche oder ähnliche Begabungsgrade zusammengeführt werden.
Peters ist in seiner Arbeit von 1915 zu dem Schluß gekommen, daß
die von ihm nachgewiesenen Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Kindern,
Großeltern und Enkeln und zwischen Geschwistern in der Hauptsache nicht
auf der Wirksamkeit der gleichen Umwelt bei den Angehörigen derselben
Familien beruhen könnten, sondern V ererbung s er scheinungen seien. Spätcr
(1925)2) hat er allerdings, dem Zuge der Zeit folgend, die Bedeutung der
Umwelt wesentlich stärker betont.
Reinöhl 8 ) hat einer Untersuchung über die Erblichkeit
der Begabung das Urteil von Lehrern zugrundegelegt, die drei
Jahrzehnte und länger in denselben kleinen Orten tätig waren.
Seine Erhebung erstreckt sich auf 10 071 Kinder von 2675
Elternpaaren. Die Fragen wurden absichtlich nicht auf die
Schulleistungen abgestellt, sondern die Lehrer wurden ersucht,
die verstandesmäßige Begabung der Eltern und der Kinder in
die drei Stufen gut, mittel und schlecht einzuordnen. Die Ver-
arbeitung des Materials ergab folgendes bemerkenswerte Re-
*) Weinberg, W. Methoden und Technik der Statistik a. a. O.
Vgl.S. 601.
2 ) S. Literaturverzeichnis.
3 ) Reinöhl, F. Die Vererbung der Intelligenz. ARGE. Bd. 29. H. r
S. 26. 1935.
686
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
sultat : Wenn beide Eltern gut begabt waren, waren es auch
7Ij5 % Kinder und nur 3 o/o waren schlecht begabt. Zwei schlecht
begabte Eltern dagegen hatten nur 5,40/0 gut begabte und
öOjio/o schlecht begabte Kinder. Wenn beide Eltern mittel be-
gabt waren, so war der Hundertsatz der mittel begabten Kin-
der wesentlich größer (66,9%), als wenn einer der Eltern gut
und der andere schlecht begabt war (42,80/0). Das spricht da-
für, daß die Unterschiede der Verstandesbegabung durch eine
nicht sehr große Zahl von Erbanlagen bedingt sind und daß
darunter dominante und rezessive sind.
Zu einer Zeit, als es noch keine wissenschaftliche Erbforschung gab, hat
Schopcnh a u c r den Satz verfochten, daß der „Intellekt" immer nur von
der Mutter, der „Charakter" aber ausschließlich vom Vater her erblich sei.
Es kann heute gar keinem Zweifel unterliegen, daß die „Intelligenz" keine
Einheit darstellt, die als solche vererbt würde; sie baut sich vielmehr aus
einer großen Anzahl von Erbanlagen auf; und dasselbe gilt auch vom Cha-
rakter. Im Gegensatz zu Schopenhauer hat G a 1 1 o n bei berühmten
Männern mehr berühmte Verwandte in männlicher als in weiblicher Linie
gefunden und von einer Unfähigkeit der weiblichen Linie gesprochen, ge-
wisse Arten von Begabung" weiterzugeben. Man muß indessen bedenken, daß
es wegen des gleichen Namens leichter ist, berühmte Verwandte in männli-
cher Linie aufzufinden als in weiblicher; auch mag die Familientradilion die
männliche Linie bevorzugen. Die landläufige Ansicht, daß die geistige We-
sensart hauptsächlich in der Namenslinie erblich, sei („ein echter Müller",
„ein echter Schultze"), hat sich wissenschaftlich nicht bestätigt, ebensowe-
nig aber auch die andere Ansicht, daß Söhne ihre Begabung vorwiegend
von der Mutter erbten.
Ein besonders bemerkenswertes Ergebnis der Untersuchung R c i n -
ö h 1 s ist, daß er keine Anzeichen geschlechtsgebundener Anlagen für gei-
stige Begabung gefunden hat. Wohl aber stimmten Väter und Söhne in
ihrer Begabung etwas mehr überein als Väter und Töchter, Mütter und Töch-
ter etwas mehr als Mütter und Söhne. Man muß wohl annehmen, daß ge-
wisse Begabungsanlagen sieh vorzugsweise in dem einen Geschlecht, andere
im andern äußern, daß also Begabungsanlagen sich teilweise geschlechts-
begrenzt äußern.
Das schließt nicht aus, daß es auch geschlechtsgebundene Erbanlagen
gibt, die bei der Entwicklung der geistigen Begabung mitwirken. Da z. B.
die Rotgrünblindheit rezessiv geschlechtsgebunden ist, muß es eine domi-
nante geschlechtsgebundene Anlage für Farbcntüchtigkeit geben. Auch spre-
chen gewisse Anzeichen dafür, daß es rezessive geschlechtsgebundene An-
lagen gebe, die Schwachsinn bedingen (vgl. S. 530). Im ganzen spielen ge-
schlechtsgebundene Anlagen für seelische Fähigkeiten aber anscheinend keine
große Rolle.
In der Ähnlichkeit bzw. Korrelation von Blutsverwandten
hinsichtlich ihrer geistigen Begabung kommt die Erbanlage
nicht rein zum Ausdruck, weil auch die ähnliche Umwelt, unter
der Blutsverwandte zu leben pflegen, in derselben Richtung
wirkt. Um einem darauf gestützten Einwand gegen die Erbbe-
GEWÖHNLICUE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 687
dingtheit der Begabung zu begegnen, hat man .Untersuchungen
an Waisenkindern angestellt, bei denen der Einfluß der elter-
lichen Umwelt ausgeschaltet ist. So hat M axSch m i d t x ) ge-
funden, daß die Unterschiede der geistigen Begabung bei Wai-
senkindern durch die nivellierte Umwelt des Waisenhauses
keineswegs ausgeglichen wurden, ja daß ein Einfluß der Um-
welt überhaupt nicht nachzuweisen war. In Kalifornien hat
Miss Gordon 216 Geschwisterpaarc in Waisenhäusern mit-
tels der 'von Ter man modifizierten B ine t -S irao n sehen
Testmethode auf ihre Intelligenz geprüft. Nach dem Ausfall
dieser Prüfung wurde für jedes Kind das „Intelhgenzaltcr" be-
stimmt, das in Prozenten des Geburtsalters den „Intelligenz-
quotienten" ergibt. Die Korrelation r = 0,61, elic sich auf diese
Weise für Geschwister ergab, ist allerdings zum Teil durch den
Umstand bedingt, daß die Geschwister sich im Durchschnitt
im Alter naher standen als andern Kindern des Materials.
Miss El der ton 2 ) hat diese Alterskorrelation auszuschalten
gesucht und eine korrigierte Korrelation von 0,54 + 0,24 er-
halten. Dieser Wert ist höher, als er selbst bei völliger Erb-
bedingtheit der Intelligenz im Falle wahlloser Paarung zu er-
warten wäre. Er ist offenbar zum Teil durch die Ähnlichkeit
der Eltern hinsichtlich ihrer Begabung, also durch assortative
mating, zu erklären.
Eine in anderen Teilen wertvolle Arbeit von Wingficld 3 ) geht in
dem Abschnitt, der sich mit Waisenkindern befaßt, methodologisch von irri-
gen Voraussetzungen aus. Er hat 29 kanadische Waisenkinder nach Zufall
zu Paaren zusammengestellt und schwankende Korrelationskoeffizicnlen inner-
halb d'er Fehlergrenzen von O gefunden. Da ein solches Ergebnis bei star-
kem Einfluß der Umwelt auch nicht anders zu erwarten wäre, besagt es
nichts. Wenn er die im Alter benachbarten Kinder zu Paaren zusammen-
stellte^ so erhielt er eine Korrelation, die durch die Altersähnlichkeit be-
dingt ist, die also für unsere Frage auch nichts besagt.
_ Während die Untersuchungen an Waisenkindern, die in
gleicher Umweit leben, die in der Erbmasse begründeten Un-
terschiede hervortreten lassen, sind die umweltbedingten Un-
terschiede der Seele am besten an eineiigen Zwillingen zu stu-
dieren. Schon Galton 4 ), der darin seiner Zeit weit voraus-
*) Schmitt, M. Der Einfluß des Milieus und anderer Faktoren auf
das Intelligenzalter. Fortschritte der Psychologie. 1919.
2 ) Eid er ton, E. M. A summary of the present uosition with regard
to the inheritance of intelligence. Biomet rika. Bd. 14. II. 3/4. 1923.
3 ) Wingficld, A. Twins and orphans. The inheritance of intelli-
gence. London und Toren vo 1928. Dent and Sons.
i ) The history of twins vgl. S. 642.
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHÄFTEN.
geeilt ist, hat die Lebensgeschichte einer Anzahl von Zwillin-
gen verfolgt. Er hatte Kenntnis von 10 Fällen, wo Zwillinge
gleichen Geschlechts ausgesprochen verschieden veranlagt wa-
ren. In keinem Falle konnte die gleiche Umwelt die ungleiche
Seelenverfassung ausgleichen. Die durch die gleiche Erziehung
herbeigeführte Ähnlichkeit bezog sich nur auf Äußerlichkeiten
wie angelerntes Wissen und Übung in gewissen Fertigkeiten.
In einigen Fällen, wo Zwillinge sich in der Kindheit so gut
wie vollständig glichen, traten zwar später wesentliche Unter-
schiede auf, aber bemerkenswerterweise nicht infolge der all-
täglichen Einflüsse des Lebens, sondern nur infolge starker
Einflüsse wie schwerer äußerer Krankheiten oder Unfälle. In
den übrigen Fällen dauerte die Gleichheit das ganze Leben hin-
durch.
Ein Vater eines Zwillingspaares berichtete: „Sie sind seit ihrer Geburt
genau gleich aufgezogen wurden; sie sind beide völlig gesund und kräftig,
sind aber im übrigen körperlich, geistig und in ihrem Gefühlsleben, sich so
unähnlich, wie Zwillingsbrüder es nur sein können." Von einem anderen
Paare wurde berichtet: „Sie glichen sich niemals, weder körperlich noch
geistig", und ihre Verschiedenheit nimmt noch täglich zu. Die äußeren Ein-
flüsse sind dabei dieselben gewesen; sie waren niemal's getrennt."
Man muß Galt 011 s intuitiven Scharfblick, durch den er
der Begründer der Zwillingsmethode geworden ist, um so mehr
bewundern, als zu seiner Zeit weder das Mendeln noch der
Unterschied eineiiger und zweieiiger Zwillinge bekannt war,
Er unterschied nur zwischen sehr ähnlichen („identischen")
und unähnlichen Zwillingen. Seine Ergebnisse über die geistige
Begabung sind durch die moderne Zwillingsforschung aber
durchaus bestätigt worden, insbesondere durch die Unter-
suchung Langes an kriminellen Zwillingen (vgl. S. 557), bei
der die Eiigkcit der Zwillinge mit modernen Methoden festge-
stellt wurde.
Will g fiel d 1 ) hat 102 Zwillingspaare mittels mehrfacher Tests auf
ihre Intelligenz untersucht. Zwillinge, die sich in ihren körperlichen Merk-
malen glichen, wiesen eine Korrelation ihrer Intelligenz von r = 0,90 + 0,019
auf, Paare die körperlich verschieden waren, dagegen nur von r = 0,70
+ 0,045. Diese Zahlen sprechen für eine überwiegende Bedeutung der Erb-
anlage für die Unterschiede der Intelligenz. Man darf annehmen, daß die
körperlich gleichen Paare so gut wie sämtlich eineiig waren. Unter den kör-
perlich verschiedenen dagegen dürften neben einer Mehrzahl zweieiiger auch
einige eineiige gewesen sein; andernfalls wäre bei diesen auch schwerlich
eine Korrelation von 0,70 zu erwarten gewesen, die über die bei Geschwistern
gewöhnliche (0,5) wesentlich hinausgeht.
U A. a. O.
GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG.
Falls die Korrelation zweieiiger Zwillinge regelmäßig etwas höher als
die sonstiger Geschwister sein sollte, würde man diesen Unterschied auf
die besondere Ähnlichkeit der Umwelt von Zwillingen zurückführen müs-
sen, soweit er nicht durch die Gleichaltrigkeit der Zwillinge bedingt ist. In
den verschiedenen Jahren sind die Umwcltbedingungen auch in demselben
Elternhaus verschiedener als zu gleicher Zeit; und von diesen Verschieden-
heiten werden verschieden alte Geschwister anders beeinflußt als gleich-
altrige Zwillinge. Zum Teil daraus würde es sich auch erklären, daß die
Korrelation zwischen Eltern und Kindern in der Regel kleiner befunden
wird als die zwischen Geschwistern (0,31 gegen 0,50). Die Eltern sind eben
unter andern Zeitumständen, in andern Anschauungen, unter andern Er-
ziehungseinflüssen und oft auch in anderer wirtschaftlicher Lage aufge-
wachsen als die Kinder. Zum andern Teil dürfte der erwähnte Unterschied
aber auch erbbedingt sein; häufigere Gemeinsamkeit rezessiver Erbanlagen
hat bei Geschwistern eine etwas höhere Korrelation zur Folge.
New man 1 ) hat mittels Intelligenzprüfungen an 50 Paa-
ren eineiiger (EZ) und 50 Paaren zweieiiger Zwillinge (ZZ)
folgende durchschnittliche Unterschiede zwischen den beiden
Partnern eines Paares gefunden :
Stanford -Binet-Test EZ 5,9 Grade Unterschied,
Stanford-Binet-Test ZZ 9-9 Grade Unterschied,
Otis-Test EZ 4,5 Grade Unterschied,
Otis-Test ZZ 9,2 Grade Unterschied.
Verschuer 2 ) hat bei 30 Paaren EZ und 27 ZZ\ fol-
gende Unterschiede des Intelligenzquotienten gefunden:
Stanford-Binet-Test EZ 4,2 Grade Unterschied,
Stanford-Binet-Test ZZ 7,0 Grade Unterschied.
Da die Intelligenzquotienten um 100 herum schwanken, fallen
diese Gradunterschiede ziemlich genau mit den prozentualen
Unterschieden zusammen. Das Ergebnis ist bei Verschuer
praktisch dasselbe wie bei New man. Man wird es als typisch
ansehen dürfen. Daraus folgt unter allen Umstän-
den, daß die Begabungsunterschiede der ZZ
zum großen Teil durch die Erbmasse verursacht
sind. Ob daneben auch umweltbedingte Unter-
schiede der Intelligenz beteiligt sind, lä ß t sich
aus diesen Befunden aber nicht entnehmen. Die
gefundenen Unterschiede der EZ können nämlich völlig durch
den Meßfehler bzw. durch flüchtige Modifikationen im" Augen-
blick desMessens verursacht sein, wie in dem Kapitel über die
Methoden dargelegt worden ist (vgl. S. 652). Leider läßt sich
*) Newman, H. H. Identical twins. The Eugenics Review. Bd 22
H. 1. 1930.
2 ) v. Verschuer, O. Intellektuelle Entwicklung und Vererbung. In
„Vererbung und Erziehung". Herausgegeben von G. Just. Berlin 1930.
B a 11 r - P i s c h e r - 1, c n z I. . .
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
der Meßfehler von Intelligenztests nicht genau bestimmen.
Wingfield hat es versucht, indem er bei einer Anzahl von
Personen den Intelligenzquotienten mittels zweier verschiedener
Tests bestimmt hat. Dabei ergab sich im Durchschnitt ein Un-
terschied von 4,6 Graden. So große Unterschiede würden also
auch' bei eineiigen Zwillingen von völlig gleicher Begabung zu
erwarten sein. Wie man sieht, sind die Unterschiede der EZ in
Verschuers Versuchen nicht einmal so groß. Bei New-
man sind die Unterschiede im Otis-Test von derselben Größe
und die im Stanford-Binet-Test innerhalb der Fehlergrenzen
damit vereinbar. Reale Unterschiede der anlag'emäßigen Be-
gabung sind bei Reihenuntersuchungen von EZ also bisher
überhaupt nicht nachgewiesen worden. Die bei ZZ gefundenen
tatsächlichen Unterschiede können daher praktisch so gut wie
ganz erbbedingt sein.
Unterschiede im Verhältnis der Differenzen zwischen EZ und ZZ bei
der Prüfung auf verschiedene geistige Fähigkeiten beweisen nicht etwa ein
verschiedenes Ausmaß des Umwcltantcils dieser Fähigkeiten, wie einige
Autoren gemeint haben; sie sind vermutlich in der Hauptsache auf ein ver-
schiedenes Ausmaß des Meßfehlers bei der Prüfung auf verschiedene Fähig-
keiten zurückzuführen. So sind Charaktereigenschaften offensichtlich schwe-
rer durch Messung zu erfassen als die intellektuelle Begabung.
Was durch eine Testprüfung erfaßt wird, ist im Grunde
nur die momentane Reaktion der Versuchsperson, die außer
von der Erbanlage auch von den jeweiligen Umständen und
nicht zum wenigsten von der Versuchsanordnung und ihren Zu-
fälligkeiten abhängt. Bei gleicher Erbanlage, sei es bei wieder-
holten Versuchen an derselben Person, sei es bei eineiigen
Zwillingen, werden also momentane Unterschiede des Seelen-
lebens, biologisch' gesprochen flüchtige Modifikationen, erfaßt.
Da uns aber weniger diese als vielmehr die mehr dauernden,
insbesondere die konstitutionellen Unterschiede, interessieren,
sind die flüchtigen Modifikationen für uns Meßfehler. Die
Frage, war ja gerade die, ob und inwieweit dauernde Ab-
wandlungen der geistigen Fähigkeiten durch gewöhnliche (nicht
krankmachende) Einflüsse der Umwelt (Häuslichkeit, Erzie-
hung) bewirkt werden könnten.
Man muß bei der Deutung der Ergebnisse von Intelligenzmessungcn
sich bewußt sein, daß es keine allgemeingültige Definition der Intelligenz gibt.
Es ist nicht von vornherein zu sagen, ob Phantasie, Interesse, Aufmerksam-
keit, Gedächtnis zur Intelligenz gehören oder nicht. Je nachdem sich Intelli-
genztests mehr an diese oder jene Fähigkeit wenden, wird das Ergebnis
etwas verschieden sein. Immerhin aber weiß man doch ungefähr, was unter
Intcli'igenz verstanden wird.
GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 691
Ida Frischeisen-Köhler 1 ) hat Schulzeugnisse von 120 ein-
eiigen und 82 zweieiigen Zwillingspaaren verglichen und gefunden, daß die
Verschiedenheit der EZ bei den Knaben rund 6o u /o von der der ZZ, bei den
Mädchen rund 530/0 betrug. Der Schluß, daß der Anteü der Umwelt ent-
sprechend groß sei, ist indessen nicht statthaft, da die Unterschiede der EZ
durchaus im Bereich des Meßfehlers, d. h. der Zufallsschwankung der No-
tengebung liegen. Diese und ähnliche Befunde gestatten daher nicht etwa die
Folgerung, daß die Unterschiede der Schulleistungen zur Hälfte oder mehr
umweltbedingt seien, wie es im pädagogischen Schrifttum da und dort zu
lesen ist.
K ö h n a ) hat 27 Paare EZ und 36 Paare ZZ auf Kombinationsfähigkeit
und Phantasie untersucht und ebenfalls größere Unterschiede bei ZZ als bei
EZ gefunden. Er hat auch das, was ich hier als Meßfehler bezeichnet habe,
grundsätzlich richtig gesehen und als „Selbstunterschied" zu berücksichtigen
gesucht, allerdings unter der irrigen Voraussetzung, daß dieser sich mit
andern Unterschieden summiere (vgl. S. 651). Auch aus der Arbeit von Köhn
folgt daher nur, daß die Unterschiede der Kombination und Phantasie teil-
weise oder ganz erbbedingt sind, während der Anteil der Umwelt fraulich
bleibt. 6
Der Meßfehler, der bei psychologischen ■Zwülingsforschun-
gen, die sich auf einmalige Untersuchung stützen, das Ergeb-
nis hinsichtlich des Anteils der Umwelt problematisch macht,
kann weitgehend vermieden werden, wenn man das Verhalten
bei längerer Beobachtung oder die gesamte Lebensbewährung
zugrundelegt, wie es schonGalton getanhat. Je länger die Be-
obachtungszeit ist, desto mehr gleichen sich Zufälligkeiten aus.
Besonders amerikanische Forscher sind Fällen nachgegan-
gen, wo eineiige Zwillinge in verschiedener Umwelt aufge-
wachsen sind. Den ersten dieser Fälle hat PopenocS) ausfin-
dig gemacht. Zwei offenbar eineiige Zwillingsschwestern, deren
Mutter kurz nach der Geburt starb, wurden im Alter von zwei
Wochen bei verschiedenen Pflegeeltern untergebracht. Die eine
Schwester, Bess, wurde von Pflegeeltern aus dem Handarbei-
terstande aufgezogen; sie besuchte nur 4 Jahre die Schule und
war dann als H andlungsgehilf in und Sekretärin tätig; sie war
in Ausübung ihres Berufes viel auf Reisen, auch im Ausland.
Die andere Zwillingsschwester, Jessie, wurde von Pflegeeltern,
die eine Farm besaßen, aufgezogen; sie besuchte eine höhere
Schule und die Universität; nach kurzer Tätigkeit im Lehr-
fach heiratete sie und bekam ein Kind; dann übte sie wieder
: ) Frischeisen-Köhler, I. Untersuchungen an Schulzeugnissen
von Zwillingen. Z. f. angew. Psychologie. Bd. 37. H. 5 u. 6. 1930. S. 385.
2 ) K ölin, W. Psychologische Untersuchungen an Zwillingen usw. Ar-
chiv für die gesamte Psychologie. Bd. 88. H. 1/2. 1933. S. 131.
3 ) Popenoe, P. Twins reared apart. The Journal of Heredity. Bd.
13. Nr. 3. 1922.
44*
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
den Lehrberuf aus. Trotz dieser verschiedenen Lebensumstände
während der Entwicklung bildete sich keine Verschiedenheit in
ihrem Wesen heraus; sie sind beide gleich hoch und in gleicher
Richtung begabt, haben dieselben. Neigungen und Charakter-
eigenschaften; beide sind tatkräftig und beliebt; beide haben
einen lebhaften Betätigungsdrang, der leicht zu Überarbeitung
führt. Prof. H. J. Muller 1 ) von der Universität Texas hat
die Zwillings Schwestern durch die Psychologin Miss Koch
auf ihre Begabung prüfen lassen. Beide schnitten sehr gut ab;
in den Alphatests, die im amerikanischen Heer gebräuchlich
sind, erreichte Bess 156 Punkte, Jessie 153; in den Otis -Tests,
die zur Messung höherer Intelligenz angewandt werden, brachte
Bess es auf 64 Punkte, Jessie auf 62. Die höhere Schulbildung
und das akademische Studium hatte in dieser Beziehung für
Jessie also keinen Vorteil gebracht. Die Wahrscheinlichkeit,
daß zwei Personen zufällig so ähnlich in der Begabungsprü-
fung abschneiden, ist geringer als 1 : 2500.
Unter sieben Paaren getrennt aufgewachsener eineiiger
Zwillinge, die Newman 2 ) veröffentlicht hat, finden sich
allerdings einige, die bei der Intelligenzprüfung recht ver-
schieden abschnitten. So erreichte in Newmans Fall 2 eine
Lehrerin im Otis-Test 14 Punkte mehr als ihre Zwillings-
schwester, die nur die Volksschule besucht hatte. In Fall 4
schnitt eine Kontoristin um 20 Punkte besser ab als ihre in
der Landwirtschaft tätige Zwillings Schwester, die dafür 250/0
schwerer war. In andern Fällen ließ sich ein unterschiedliches
Ergebnis der Intelligenzprüfung aber keineswegs so einleuch-
tend auf bestimmte Umwelteinflüsse zurückführen. In Fall 6
war die eine von zwei Zwillings Schwestern deutlich' energischer
und mehr männlich als die andere, die In einer Kropfgegend
lebte und einen Kropf hatte. Es liegt nahe, den seelischen Un-
terschied auf diesen körperlichen zu beziehen. In 5 von den
7 Fällen Newmans liegen die Unterschiede der Testergeb-
nisse innerhalb der Grenzen des einfachen Meßfehlers oder
ihnen nahe; seine dreifache Grenze, die man allerdings nur
schätzen kann, scheint mir in keinem Falle überschritten zu
werden. Unterschiede des Charakters, soweit sie aus den An-
*) Muller, H. J. Mental traits and heredity. The Journal of Here-
dity. Bd. 16. Nr. 12. 1925.
2 ) Newman, H. H. Mental and physical traits of identical twins rea-
red apart. Journal of Heredity. Bd. 20. S. 49. 1929. Weitere Fälle: Bd. 20.
S. 97 (1929), Bd. 24. S. 55 (1933), Bd. 25. S. 208 (1934).
GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 693
gaben der Zwillinge und ihrem Lebenslauf entnommen wer-
den konnten, waren durch die verschiedene Umwelt offenbar
noch wcnig'er hervorgerufen worden als solche der Intelligenz-
leistung. Auch die Charaktertests, die ich im übrigen für recht
unzuverlässig halte, ergaben meist eine weitgehende Überein-
stimmung.
Man darf die Befunde an einzelnen Zwillingspaaren nicht
überschätzen, weder nach der positiven, noch nach der nega-
tiven Seite hin. Es sind Umwelteinflüsse denkbar, die auf dem
Wege über eingreifende körperliche Modifikationen .wirken
wie die Kropfnoxe in dem einen Falle Newmans, deren
eigentliche Natur uns aber verborgen ist. Auch der starke Un-
terschied des Körpergewichts in Fall 4 war nicht eindeutig auf
die Umwelt zurückzuführen. Es kommen sicher auch Unter-
schiede eineiiger Zwillinge vor, die nicht durch Umwcltwir-
kungen im gewöhnlichen Sinn verursacht sind ; ich denke dabei
an Unterschiede der frühembryonalen Differenzierung entwick-
lungslabüer Anlagen (vgl. S. 390). Daß auf solche Weise auch
seelische Unterschiede eineiiger Zwillinge Zustandekommen
können, ist nicht von der Hand zu weisen. B outer wek 1 )
hat auf eine gewisse gegensätzliche Differenzierung aufmerk-
sam gemacht, die man gelegentlich bei einengen Zwillingen
beobachten kann, ohne daß diese auf Umwelteinflüsse im ge-
wöhnlichen Sinne bezogen werden kann. So fand er öfter die
eine von zwei einengen Zwillings Schwestern mehr männlich,
die andere mehr weiblich veranlagt. Schließlich ist auch zu be-
denken, daß die Diagnose der Eiigkeit im Einzelfall öfter nicht
ganz sicher ist. So bin ich nicht völlig überzeugt, daß die er-
wähnten sieben Zwillingspaare Newmans wirklich alle ein-
eiig waren. Bei Reihenuntersuchungen von Zwillingen spielt
diese Fehlermöglichkeit praktisch keine Rolle, da die Durch-
schnittsunter schiede durch einzelne irrige Eiigkeitsdiagnosen
kaum verändert werden.
Die meisten psychologischen und pädagogischen Arbeiten,
die den Einfluß der Umwelt auf die geistige Entwicklung nach-
zuweisen suchten, sind in ihren Ergebnissen nicht eindeutig 2 ).
1 ) Bouterwek, H. Asymmetrien und Polarität bei crbgleichen Zwil-
lingen. ARGB. Bd. 28. H. 3. S. 241 (1934).
2 ) Eine wertvolle Übersicht über diese umfangreiche Literatur hat
Annelies Argelander gegeben in ihrem Beitrag zum „Handbuch
der pädagogischen Milieukunde" von A. Busemann u. a. (,,Die Bedeu-
tung des Milieus für die intellektuelle Entwicklung").
694
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Wenn sich z. B. ergibt, daß Kinder aus Familien mit günstiger
geistiger Umwelt in ihren Schulleistungen und bei Intelligenz-
tests im Durchschnitt besser abschneiden als Kinder aus un-
günstiger Umwelt, so erklärt sich das mindestens zum großen
Teil daraus, daß begabte Eltern sich eine günstigere geistige
Umwelt schaffen als minclerbegabte und daß sie ihre Bega-
bung auf ihre Kinder vererben. Entsprechendes gilt von der
wirtschaftlichen Umwelt, die hauptsächlich auch durch gei-
stige Fähigkeiten geschaffen wird. Wenn Stadtkinder im Durch-
schnitt intelligenter als Landkinder befunden werden, so kommt
das zum guten Teil daher, daß geistig regsame Sippen eher
in die Stadt abwandern als geistig träge. Die Erbmasse schafft
sich bis zu einem gewissen Grade che ihr angemessene Umwelt
oder sie sucht eine solche Umwelt auf. Daraus ergibt sich eine
Korrelation zwischen Erbmasse und Umwelt. Auch die Fa-
miliengröße ist teilweise von der erblichen Begabung abhängig.
Seit Jahrzehnten haben die begabten Familien meist nur we-
nige Kinder, während Kinderreichtum häufiger bei minder-
begabten ist. Man kann daher die Familiengröße nicht ein-
fach als Umweltfaktor einsetzen.
Der eifrigste Anwalt einer ,,milieu- theoretischen Deutung" von Lei-
stung simter schieden bei Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten und
aus verschieden großen Familien ist bis vor wenigen Jahren ein Pädagoge
Adolf Busemann 1 ) gewesen. Er hat z. B. im Sinne seiner Erwartung
feststellen zu können geglaubt, daß Kinder mit 2 bis 3 Geschwistern in
der Schule mehr feisten als solche mit weniger als 2 oder mit mehr als 3
Geschwistern, daß die älteren Geschwister mehr leisten als die jüngeren und
daß das Vorhandensein von Geschwistern des anderen Geschlechts hemmend
auf die Leistungen wirke. Die besseren Schulleistungen von Kindern mit
2 bis 3 Geschwistern auf Mittelschulen (um solche handelte es sich bei B u -
s e m a n n) erklären sich indessen einfach daraus, daß Eltern mit weniger
Kindern diese meist nur dann auf die Mittelschule schicken, wenn sie für
eine höhere Schule nicht begabt genug erscheinen, und daß andererseits
große Kinderzahlen sich vorwiegend in minder begabten Familien finden.
Was den von Busemann behaupteten Einfluß der Reihenfolge innerhalb
der Geschwister und der Zusammensetzung der Geschwisterreihe nach dem
Geschlecht betrifft, so hat sich ein solcher an einem viel größeren und nicht
einseitig ausgelesenen Material, das Katharina Hell 2 ) auf meine Ver-
anlassung bearbeitet hat, überhaupt nicht gezeigt.. Auch gehen die von Bu-
x ) Busemann, A. Geschwisterschaft, Schultüchtigkeit und Charak-
ter. Zeit sehr. f. Kinderforschung Bd. 34. S. 1. 1928.
— — . Geschwisterschaft u. Schulzcnsuren. Ebenda Bd. 34. S. 553. 1928.
— — . Milieu und Schul tüchtigkeit von Volksschülern. Ebenda. Bd. 35.
S. 1. 1929.
3 ) H eil, K. Zur Frage der Zusammenhänge zwischen Schulleistungen,
Begabung, Kinderzahl und Umwelt. ARGB. Bd. 28. LI. 4- S. 383. 1935.
GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 695
semann angegebenen Unterschiede nirgends über die Fehlergrenzen hin-
aus. Aus den erwähnten Publikationen Busemanns, die eine wesent-
liche Grundlage seiner „pädagogischen Milieukunde" 1 ) bildeten, folgt daher
nur, daß es ihm nicht gelungen ist, für die von ihm vermuteten Zusammen-
hänge stichhaltige Belege beizubringen.
Wie schon in dem Kapitel über die Methoden der Erbfor-
schung dargelegt wurde, hat die Abschätzung des Anteils von
Erbmasse und Umwelt immer nur einen Sinn in bezug auf die
tatsächlich in einer Bevölkerung vorhandenen Unterschiede.
In einem Lande ohne Schulpflicht ist Analphabetentum vor-
wiegend unweitbedingt; bei uns ist es vorwiegend erbbedingt,
nämlich auf hochgradig Schwachsinnige beschränkt. Vor 100
Jahren, als akademische Bildung bei uns noch selten war, war
diese noch etwas Besonderes; in unserer Zeit der Akaclcmiker-
inflation dagegen hat sie viel weniger zu bedeuten; dafür wer-
den die Unterschiede der erbbedingten Begabung entsprechend
wichtiger. Je mehr Bildung schon vorhanden ist, desto weniger
läßt sich durch weitere Verallgemeinerung der Büdungsmittel
für die geistige Hebung des Volkes tun; eine weitere Hebung
der geistigen Leistungsfähigkeit wäre dann hauptsächlich nur
noch auf dem Wege der Rassenhygiene möglich.
Es ist auch zu bedenken, daß der Begriff der Begabung
ein Wertmoment enthält. Zum guten Teil daher kommt es,
daß es nicht gelingt, eine allgemein befriedigende Definition
des Begriffes „Begabung" zu geben, ja nicht einmal eine solche
des engeren Begriffes „Intelligenz". Irgendwie muß darin die
geistige Leistungsfähigkeit zum Ausdruck kommen. Man hat
Intelligenz wohl als geistige Anpassungsfähigkeit an wech-
selnde Anforderungen des Lebens definieren wollen. Je mehr
Bildung schon geboten ist, desto mehr wird die umweltbe-
dingte Leistungsfähigkeit entwertet und desto geringer wird
folglich der Anteil der Umwelt an der geistigen Leistungs-
fähigkeit, eben weil diese keine wertfreie Eigenschaft Ist.
Auch der Inhalt unserer Vorstellungen scheint, so er-
staunlich das zunächst klingen mag, zu einem wesentlichen Teil
erbbedingt zu sein. Eineiige Zwillinge stimmen im Inhalt ihrer
Vorstellungen im Durchschnitt mehr überein als zweieiige. Na-
türlich sind Vorstellungen nicht angeboren; aber auch viele
sonstige erbliche Eigenschaften zeigen sich ja erst später. Viel-
leicht ist die Sache so zu deuten, daß ein Mensch je nach sei-
ner Veranlagung vorzugsweise bei diesen oder jenen Wahr-
tieh mungen und Vorstellungen verweilt und sie dadurch fixiert.
r ) Busemann, A. Pädagogische Milieukunde. i.Aufl. Halle 1927.
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Die verschiedenen Vogelartcn bauen ihre Nester aus sehr verschiedenem
Material und in sehr verschiedener Weise, ohne es doch von ihren Eltern zu
lernen. Es muß also in ihrer Erbmasse eine Disposition dafür vorhanden
sein, was sie für schön und für richtig befinden. Daß sie beim Nestbau
intelligent vorgehen, zeigt die Anpassung an die wechselnden Bedingungen
des Nistplatzes und des zur Verfügung stehenden Materials.
Wesentlich erbbedingt sind offenbar auch Unterschiede
des Gedächtnisses für Dinge und Ereignisse der Vergangenheit
sowie der Merkfähigkeit für neue. Unter Merkfähigkeit ist hier
im Unterschied vom Gedächtnis die Fähigkeit zum zeitweiligen
Festhalten von Erinnerungsbildern verstanden.
Köhn 1 ) hat an 24 Paaren eineiiger und 37 Paaren zweieiiger
Zwillinge Erhebungen über den Charakter angestellt. Als Un-
terlagen dienten Angaben der Eltern und Lehrer sowie eigene Be-
obachtungen. Rund die Hälfte der EZ waren in ihren Charak-
tereigenschaften ausgesprochen gleichartig, die andere Hälfte
auch noch überwiegend gleichartig; von den ZZ dagegen die
Hälfte ausgesprochen verschieden und die andere Hälfte mäßig
verschieden. Nach Köhns Befunden ist die Modifizierbarkeit
des Charakters durch Umwelteinflüsse recht gering. Verhält-
nismäßig am stärksten modifizierend wirkten Krankheiten und
andere Umweltschäden, die die körperliche Konstitution än-
derten. Es entspricht das den Erfahrungen Langes an kri-
minellen Zwillingen. Marie-Therese Lassen 2 ) hat auf
Grund von Fragebogen, die von Lehrern und Eltern ausge-
füllt wurden, gefunden, daß 70 eineiige Zwillinge sich im
Durchschnitt in ihren sozialen und sittlichen Eigenschaften
wesentlich ähnlicher waren als 156 zweieiige. Das Verhältnis
der Unterschiede von EZ und ZZ spricht wie bei Köhn für
eine ganz überwiegende Erbbedingtheit der Charakterunter-
schiede. Dasselbe gilt von der Arbeit Lottigs 3 ), bei der
zwar nur 10 Paare EZ und 10 gleichgeschlechtige Paare ZZ,
diese aber dafür um so eingehender auf ihren Charakter unter-
sucht wurden. Bemerkenswerterweise stimmten die EZ auch
im Inhalt ihrer Vorstellungen viel mehr uberein als die ZZ.
Yerke s 4 ) hat die Erblichkeit gewisser Charaktereigenschaften im Tier-
versuch stu diert. Bei Ratten ließ sich Scheu („wildness") und Bissigkeit
1 ) Köhn, W. Die Vererbung des Charakters. Studien an Zwillingen.
ARGB. Bd. 29. H. 1. S. 1 (1935).
2 ) L a s 5 e n , M.-Th. Zur Frage der Vererbung sozialer und sittlicher
Charakteranlagen. ARGB. Bd. 25. H. 3. S. 269 (1931).
3 ) L ottig, H. Hamburger Zwillingsstudien. Beihefte zur Zeitschrift
für angewandte Psychologie. Leipzig 1931.
ä ) Yerkes, R. M. The heredity of savageness and wildness in rats.
Journal of Animall Behavior. Bd. 3. S. 286. 1 9 13.
GEWÖHNLICHE UNTERSCHIEDE DER BEGABUNG. 697
(„savageness") in verschiedenen Stämmen als erblich verfolgen. Cobum 1 )
hat die Erblichkeit der gleichen Eigenschaften bei Mäusen, speziell auch in
Kreuzungen zwischen zahmen und wilden Mausen untersucht. Aus der ge-
mischten Nachkommenschaft ließen sich wieder scheue und zutrauliche, bis-
sige und friedliche herauszüchten. Im übrigen nahmen Scheu und Bissigkeit
im Laufe der gezüchteten Generationen nicht etwa ab; es trat also keine
Vererbung erworbener Zähmung ein. Entsprechend ist die Zahmheit der
Haustiere nicht auf Vererbung erworbener Eigenschaften, sondern auf Aus-
lese zurückzuführen, Dawson 2 ) fand in Mäusezuchten Scheu und Bissig-
keit im wesentlichen dominant über Zahmheit; die Unterschiede betrafen
nur wenige Gene.
Die Erblichkeit seelischer Eigenschaften bei Tieren ist besonders augen-
fällig bei den zu verschiedenen Zwecken gezüchteten Hunderassen.
Daß das persönliche Tempo wesentlich erbbedingt ist, hat I d a
Frischeisen-Köhler 3 ) gezeigt. Es läßt sich experimentell-psycho-
logisch im Klopfvcrsuch erfassen und kommt z. B. auch im Schnttempo zum
Ausdruck.
Zwischen Eigenschaften des Verstandes und des Charak-
ters besteht eine Korrelation in dem Sinne, daß intellektuelle
Begabung häufiger mit günstigen Charaktereigenschaften ein-
hergeht, als bei rein zufälliger Verteilung zu erwarten wäre.
Pearson 1 ) hat eine Korrelation zwischen Verstandesbega-
bung und Gewissenhaftigkeit festgestellt, Webb 5 ) zwischen
heiterem Temperament und Geselligkeit bzw. Gemeinsinn. Diese
Korrelation erklärt sich daraus, daß sowohl Begabung als auch
Charakter bei der Ehewahl geschätzt und damit sippenweise
angehäuft werden.
Die Gegner des „Intellektualismus" scheinen zwar zu meinen:
,, Oftmals paaret im Gemüte
Dummheit sich mit Herzensgute,
Während höh'rc Geistesgaben
Meistens böse Leute haben."
Aber der Humor dieser Verse liegt offenbar gerade darin, daß durch
die paradoxe Formulierung ein landläufiges Vorurteil ad absurdum geführt
wird ).
L ) Coburn, Ch. A. Heredity of wildness and savageness in mice.
Behavior Monographies. Bd. 4. Nr. 5. 1922.
3 ) Dawson, W. M. Inheritance of wildness and tameness in mice.
Genetics. Bd. 17. S. 296. 1932.
3 ) Frischeisen -Köhler, f. Das persönliche Tempo. Leipzig
1933. Thicmc.
4 ) P e a r s G n , K. The rclationship of intelligence to size and shape
of head and to other physical and mental characters. Biometrika. Bd. 5.
S. 105. 1907.
E ) Webb, E. Character and intelligence. Cambridge 191 5.
G ) Diese Verse werden öfter Wilhelm Busch zugeschrieben, aber
anscheinend zu Unrecht; der wirkliche Verfasser ist mir nicht bekannt.
698
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Bei psychologischen Tests ergibt der Vergleich eineiiger
Zwillinge (EZ) mit verschiedengeschlechtigen zweieiigen (so-
genannten Pärchenzwillingen PZ) größere Unterschiede als
der Vergleich mit gleichgeschlechtigen zweieiigen (ZZ). So
fand Wingfield folgende Korrelationen des Intelligenz-
Quotienten :
bei EZ r = 0,90 + 0,025,
bei ZZ r = o^'+o^io,
bei PZ r = 0,59+0,086.
Wenn man die EZ mit den ZZ vergleicht, so sieht man von
den Geschlechtsunterschieden ab. Wenn man sie aber mit den
PZ vergleicht, so erfaßt man die erblichen Unterschiede ein-
schließlich der Geschlechtsunterschiede, die ja auch erbbe-
dingte Unterschiede sind. Wenn bei diesem Vergleich sich eine,
stärkere Erbbedingtheit der Unterschiede als bei jenem er-
gibt, so ist das durchaus nicht widersinnig. Die Zwillings -
methode gestattet nur eine Abschätzung des Anteils von Erb-
masse und Umwelt an den tatsächlich vorhandenen erb- und
umweltbedingten Unterschieden (vgl. S. 656) ; und in einer aus
beiden Geschlechtern gemischten Population sind die erbbe-
dingten Unterschiede eben größer als in einer Menge von In-
dividuen nur eines Geschlechts. Dabeiist zu bedenken, daß die
Frau im Durchschnitt auch in einer erheblich anderen Umwelt
aufwächst und lebt als der Mann ; und sie lebt in einer andern
Umwelt, eben weil sie auf Grund ihrer Erbanlage anders ver-
anlagt ist als der Mann. Diese erfahrungsmäßige Verschieden-
heit der Anlagen beider Geschlechter und die dadurch bedingte
andere Lebensaufgabe hat dazu geführt, daß für beide Ge-
schlechter eine verschiedene Erziehung und verschiedene Le-
bensführung üblich geworden sind, ein Beispiel dafür, wie die
Erbanlage sich mittels der Umwelt auswirkt.
Der Unterschied der Geschlechter selbst ist derart in der
Erbmasse begründet, daß das Weib zwei X-Chromosome, der
Mann nur eines enthält. Dieser Unterschied betrifft sämtliche
Zellen des Organismus; und vermutlich werden schon dadurch
auch wesentliche Unterschiede der Seele beider Geschlechter
bedingt. Dazu kommt noch eine mittelbare Wirkung des Un-
terschieds der Erbmasse, nämlich' die über die Hormonwir-
kung der Keimdrüsen (Gonaden). Die verschiedene Entwick-
lung der Gonaden, einerseits zum Eierstock, andererseits zum
Hoden, ist von der genannten Verschiedenheit der Erbmasse
abhängig; und die Hormone der beiderlei Gonaden verstärken
GEISTIGE UNTERSCHIEDE DES GESCHLECHTES.
699
ihrerseits den körperlichen und seelischen Unterschied der Ge-
schlechter, wie die Erfahrungen über Kastration und Trans-
plantation zeigen. Doch sind die Unterschiede der Geschlech-
ter vermutlich auch beim Menschen nicht ausschließlich von
dieser Verschiedenheit der Hormonwirkung abhängig. Ein Plalb-
seitenzwittcr des Dompfaffen, den Poll 1 ) beschrieben hat,
zeigte auf der einen Seite der Brust das leuchtend rote Gefie-
der des Männchens und auf der andern das graue des Weib-
chens; beide Bezirke waren in der Mittellinie scharf gegenein-
ander abgegrenzt; und ähnliche Fälle sind noch mehrere be-
kannt geworden. Hier waren also die Hormone der Gonaden,
die natürlich auf beide Seiten wirken, nicht ausschlaggebend,
sondern die erbliche Anlage der Zellen. Es ist durchaus mög-
lich', daß Entsprechendes auch für den Menschen gilt.
Der Mann ist gezüchtet auf Bezwingung der Natur, auf
Jagd und Krieg und Gewinnung von Frauen, das Weib auf die
Aufzucht von Kindern und auf die Anlockung des Siegers (die
freilich mehr instinktiv als bewußt und oft gerade durch Sprö-
digkeit und Zurückhaltung erreicht wird). Daraus ergeben sich
die Wesensverschiedenheiten der Geschlechter, die im Banne
individualistischer Wertung nur allzu oft mißdeutet worden
sind. Bald ist das männliche Geschlecht, bald das weibliche als
moralisch minderwertig hingestellt worden; und bald sollte das
Ewig-Weibliche, bald das Ewig -Männliche uns hinanziehen.
Jedenfalls ist der Wesensunterschied der Geschlechter da; und
er ist nicht nur da, sondern er ist auch natürlich und normal.
Bei psychologischen Begabungsprüfungen schneiden Mäd-
chen im D urchschnitt nicht schlechter ab als gleichaltrige
Knaben. Man muß dabei berücksichtigen, daß die körperliche
und geistige Entwicklung der Mädchen der der Knaben vor-
auseilt. In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts, wo dieser
Unterschied am größten ist, beträgt er mehrere Jahre. Unter
den von Terman 2 ) untersuchten, besonders begabten Kindern
überwogen von vornherein die Knaben, und ihr Überschuß
nahm in den älteren Jahrgängen unter den begabten Kindern
noch zu. Die geistige Leistungsfähigkeit der Mädchen scheint
also auch früher ihren Höhepunkt zu erreichen. Immerhin ha-
1 ) Poll, H. Zur Lehre von den sekundären Gcschlechtscharakteren.
Sitzungsberichte der Gesellschaft naturforschender Freunde. Bd. 6. Berlin
1909.
2 ) Terman, L. M. Genetic studies of genius. Bd. 1. Stanford Uni-
versitiy Press. 1925.
700
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
ben die studierenden Mädchen auch noch auf der Universität
im Durchschnitt mindestens ebenso gute Erfolge aufzuweisen
wie die Studenten; im Examen schneiden sie im Durchschnitt
eher besser ab. Nach den glänzenden Leistungen mancher Stu-
dentin könnte man erwarten, daß sie später große wissen-
schaftliche Leistungen vollbringen werde; und doch zeigt die
Erfahrung, daß das nicht eintritt. Große Frauen im Sinne
überragender schöpferischer Begabung sind kaum bekannt ge-
worden. Besonders selten ist hohe mathematische Begabung
bei Frauen; dasselbe gilt auch von der Begabung für Schach-
spiel, das immerhin eine, wenn auch einseitige Messung gei-
stiger Kräfte gestattet. Die höchsten Leistungen von Frauen
liegen wohl auf dem Gebiet der psychologischen Einfühlung.
Romanschriftstellerinnen sind ihren erfolgreichen männlichen
Kollegen wohl ebenbürtig; Romane schreiben ist keine ausge-
sprochen männliche Tätigkeit.
In der Auffassung und im Gedächtnis ist das Weib dem
Manne mindestens ebenbürtig, in der Phantasie und im kriti-
schen Urteil dagegen im Durchschnitt nicht. Wenn die selb-
ständigen Leistungen der Frau auf wissenschaftlichem und
künstlerischem Gebiet hinter denen des Mannes zurückbleiben,
so liegt das im übrigen hauptsächlich an ihrer anderen Inter-
essen- und Triebrichtung. Viel stärker als die Unterschiede der
Verstandesbegabung sind die im Triebleben der beiden Ge-
schlechter, nicht nur in den geschlechtlichen Trieben, sondern
auch in den Nahrungstrieben und besonders in den Gesellig-
keitstrieben. Die Wunschbestimmbarkeit ist beim Weibe nor-
malerweise größer als beim Manne. Ihr Geltungstrieb ist zwar
nicht stärker, richtet sich aber auf andere Dinge; das Weib will
vor allem als schön und begehrenswert anerkannt sein, der
Mann als Held und Vollbringer. Der Mann hat größeren Mut
zum Angriff; das Weib größere Tapferkeit im Erdulden. Weil
das Weib von der Natur auf die Aufzucht von Kindern sowie
auf die Anlockung des Mannes gezüchtet ist, sind ihre Inter-
essen abhängig von denen des Mannes und der Kinder und
weniger auf sachliche Dinge als auf andere Menschen gerichtet.
Um ihrer Aufgabe willen hat sie auch die Fähigkeit größerer
psychologischer Einfühlung. Sie lebt mehr für andere, und tut
das meiste aus Liebe, den Kindern und dem Manne zuliebe,
dem Manne zur Lust und Illusion. Der Mann lebt mehr für
sich; er tut das meiste aus Eigenliebe oder um eines sachlichen
Zieles willen. Im übrigen ist starkes sachliches Interesse ander
KÖRPERLICHE BEGABUNGSZEICHEN.
701
Erkenntnis als solcher oder an einem unpersönlichen Ziel auch
bei Männern nicht häufig.
Von den spezifisch weiblichen Trieben, dem lockenden und
dem mütterlich sorgenden kann je nach Veranlagung der eine
oder der andere überwiegen; und je nach dem Lebcnsschicksal
kann der eine oder der andere stärker entwickelt oder unter-
drückt werden.
Die Unterschiede der geistigen Wesensart kommen bis zu
einem gewissen Grade auch in der körperlichen Erscheinung
zum Ausdruck. Männer, die seelisch wenig männlich veranlagt
sind, haben meist auch' ein feminines Äußeres, ausgesprochen
männlich veranlagte ein männliches. Entsprechendes gilt von
virilen und wirklich weiblichen Frauen. Neuras theniker sind
meist auch körperlich asthenisch. Hier ist an die von Kretsch-
mer entdeckte Korrelation zwischen „Körperbau und Cha-
rakter" zu erinnern (vgl. S. 561). Jedermann weiß, daß große
Hunde (z. B. Bernhardiner) bedächtig, kleine (z. B. Terrier)
lebhaft zu sein pflegen; sie unterscheiden sich im „persön-
lichen Tempo". Entsprechendes gilt auch von großen und klei-
nen Menschen. Die Karikaturenzeichner wissen, daß ein Idealis t
schmal und blaß, ein Opportunist breit und blühend zu sein
hat. Ich' zweifle nicht, daß ich eine Gruppe von 10 musikali-
schen Menschen sicher von 10 unmusikalischen unterscheiden
könnte, obwohl ich noch nicht zu sagen wüßte, woran; und der
Leser wird es auch wohl können. Zum Teil sind es ja freilich
Folgen geistiger Tätigkeit bzw. Untätigkeit und der Art dieser
Tätigkeit, die sich im Gesicht ausprägen und aus denen wir
auf die Seelenverfassung der Menschen zurückschließen; da-
durch unterscheiden wir einen Gebildeten von einem Unge-
bildeten, auch wenn er viel unbegabter ist als dieser. Zum Teil
aber sind die Beziehungen zwischen Begabung und Erscheinung
viel unmittelbarer. An der Art der Stirnbüdung, der Nase u.a.
erkennen wir mit großer Wahrscheinlichkeit den geistig begab-
ten Menschen. Zum größten Teil daher rührt das Interesse,
das man allgemein den Bildern berühmter Leute entgegen-
bringt. Zum Teil dürften diese Zusammenhänge auf der Wir-
kung innerer Sekretionen beruhen, die ja sowohl körperliche
als auch seelische Folgen haben. Wenn man aber den Begriff
der inneren Sekretion nicht ungebührlich weit fassen will, so wird
man daneben auch noch andere Zusammenhänge gelten lassen.
Bis zu einem gewissen Grade äußert die geistige Bega-
bung sich in der Kopfgröße, die näherungsweise Schlüsse auf
702
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHÄFTEN.
die Größe des Gehirns zu ziehen gestaltet. Auch körperlich ist
ja ein wohlausgebildetes Organ im allgemeinen leistungsfähi-
ger als ein weniger entwickeltes. Freilich ist es durchaus nicht
nötig, daß ein besonders großes Organ auch in jedem Falle
besonders leistungsfähig sei. Menschen mit großem Brustum-
fang sind nicht unter allen Umständen körperlich leistungs-
fähiger als solche mit kleinerem Brustumfang. In einzelnen
Fällen kann trotz großen Brustumfangs die Leistungsfähigkeit
gering sein (z. B. bei faßförmigem Brustkorb und Lungen-
blähung). Gleichwohl aber sind Menschen mit größerem Brust-
umfang im Durchschnitt leistungsfähiger als solche mit
kleinerem; und unterhalb eines gewissen Maßes ist größere
körperliche Leistungsfähigkeit mit Sicherheit auszuschließen.
Ganz entsprechend liegen die Dinge hinsichtlich des Gehirns.
Die einfachste näh erangs weise Bestimmung der Kopfgröße er-
folgt durch Messen des größten Umfanges. Nach den um-
fangreichen Untersuchungen Bayerthals*) kommen bei
einem Kopfumfang von weniger als 52 cm bedeutende geistige
Leistungen kaum noch vor und unter 501/2 cm keine normale
Intelligenz mehr. Geniale Begabung ist bei einem Umfang von
weniger als 56 cm auszuschließen. Der bekannte Psychiater
Ziehen 2 ) setzt die Grenze, unterhalb deren Schwachsinn zu
vermuten ist, sogar auf 52 cm. Eigentlich sollte bei solchen
Untersuchungen allerdings nicht .die absolute, sondern die rela-
tive Kopfgröße zugrunde gelegt werden. Rös.e^) fand an sehr
großem Schülermaterial in Dresden, daß die Köpfe der Schüler
im Durchschnitt um so kleiner sind, je schlechter ihre Zeugnisse
sind. In den Gymnasien hatten die Abiturienten mit den besten
Zeugnissen im Durchschnitt auch die größten Köpfe, obwohl
sie jünger waren als der Durchschnitt. Auch der Anatom und
Anthropologe Pfitzner 4 ) in Straßburg kam auf Grund sei-
ner sozialanthropologischen Studien zu dem Schlüsse: „Die
höhere Intelligenz schlechthin dokumentiert sich in der durch-
schnittlich höheren Statur und in einer über diese Zunahme
hinausgehenden Größenzunahme des Hirnteils des Kopfes."
1 ) Bayerthal, Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach den
Beziehungen zwischen Hirngröße und Intelligenz. ARGB. 1911.
2 ) Ziehen, Th. Die Erkennung des angeborenen Schwachsinns. Zeit-
schrift für Schulgesundheitspflcge 1907.
3 ) R ö se, K. Beiträge zur europäischen Rassenkunde. ARGB. J905 und
rgo6.
ä ) Pfitzncr, W. Sozialanthropologische Studien. Zeitschrift f. Mor-
phologie 1899— 1903.
KÖRPERLICHE BEGABUNGSZEICHEN.
703
Wenn Pearso n 1 ) bei Graduierten der Universität Cambridge nur eine
geringe Korrelation zwischen intellektueller Leistung und Kopflänge bzw.
-breite fand (r=o,n bzw. 0,10), so muß man bedenken, daß es sich hier
schon um eine stark ausgclesene Gruppe handelte. In großen Bevölkerungen
ist diese Korrelation unzweifelhaft viel höher.
Woods 2 ) hat gefunden, daß die meisten großen Männer
eine große oder lange Nase haben, während kurze 'Nasen bei
ihnen so gut wie gar nicht vorkommen. Höher begabte Grup-
pen von Menschen haben im Durchschnitt längere Nasen als
weniger begabte Gruppen.
Wie es direkte und indirekte Entartungszeichen gibt, so
gibt es auch direkte und indirekte körperliche Begabungs-
und Charakterzeichen. Die direkten sind durch diesel-
ben Erbanlagen bedingt, von denen auch die entsprechenden
seelischen Eigenschaften abhängen. Indirekte sind dadurch
möglich, daß in einer bestimmten Umwelt zugleich mit gewis-
sen seelischen Anlagen auch gewisse körperliche (aber ohne
direkten Zusammenhang mit ihnen) ausgelesen, beide also in
gewissen sozialen Gruppen oder in gewissen geographischen
Gebieten angehäuft werden. Von den geographisch verschieden
verteilten Erbanlagen ist in dem Kapitel über die seelischen
Rassenunterschiede die Rede.
IC r e t s c h m e r 8 ) und seine Mitarbeiter 4 ) haben gefunden, daß schlanke
(leptosome) Menschen eine größere Spaltungs- und Beharrungsneigung zu
haben pflegen als untersetzte (pyknische). Unter Spaltungsfähigkeit (so ge-
nannt in Analogie zum Spaltungsirresein, der Schizophrenie), die man viel-
leicht noch deutlicher als Sonderungsfähigkeit bezeichnen könnte, versteht
Krctschmer „die Fälligkeit zur Bildung getrennter Teilintentionen inner-
halb eines Bewußtseinsablaufs". Leptosomen Menschen fällt es z. B. leichter,
mit beiden Händen gleichzeitig verschiedene Bewegungen auszuführen, als
pykmschen. Schizothyme Menschen, d. h. solche mit großer Spaltungsfähig-
keit, sind mehr für Zergliederung der Erscheinungen und damit für ana-
lytisches Denken begabt, syntonc Menschen, d. h. solche mit geringer Spal-
tungsfalngkeit, für Auffassung der Erscheinungen als Ganzheit und damit
für synthetisches Denken. Auf der Spaltungsfähigkeit beruht zum guten
Teil die Abstraktionsfähigkcit. Schizothyme Menschen neigen zu längerem
Beharren (Perseveration) in Vorstellungen und Affekten; sie sind weniger
ablenkbar. Die Syntoncn sind leichter durch Umweltreize erregbar aber
meist nicht so nachhaltig. Bei den Schizothymen ist die innere affektive
!) A.a.O.
2 ) Woods, F. A. What is there in physiognomy ? I. The size o£ the
nose. The Journal of Heredity. Bd. 12. H. 7. 1921.
_ s ) Krctschmer, E. Experimentelle Typenpsychologie. Zeitschrift
für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Bd. 113. H. 4 u. 5. S. 776. 1928.
4 ) Enkc, W. PersönHchkeitsproblcm. In dem Kongreßbericht Ein-
heitsbestrebungen in der Medizin". Dresden und Leipzig 1933. Steinkopff.
S. 159.
704
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Erregbarkeit, die innere Spannung, stärker und andauernder, wie sich auch
im Galvanometerversuch zeigt. Der schizothyme Mensch, urteilt mehr sach-
lich, der syntone mehr gefühlsmäßig.
Entsprechende Unterschiede finden sich auch zwischen den Geschlech-
tern. Das männliche ist körperlich mehr leptosom, seelisch mehr schizothym,
das weibliche mehr pyknisch und synton 1 ). Auch zwischen den verschiedenen
Lebensaltern finden sich übrigens ähnliche Unterschiede: die schlanke Ju-
gend ist mehr schizothym, das gesetzte Alter mehr synton.
Es ist eine eigenartige Erfahrung, daß manche Leute die
Erblichkeit seelischer Anlagen immer wieder in Abrede zu stel-
len geneigt sind, obwohl sie die Erblichkeit körperlicher Eigen-
schaften nicht leugnen können. Für die Seele möchten sie einen
ganz andern Ursprung behaupten, der mit Biologie und Erb-
lichkeit nichts zu tun haben soll. Der eifrigste Wortführer die-
ser Richtung ist der Pater S.V.D. Wilhelm Schmidt,
der allen Ernstes erklärt, die Erblichkeit rein geistiger Veran-
lagungen sei rundweg abzulehnen. Die Seele steht nach ihm
„nicht nur mit keinem Körper, sondern auch nicht mit einer
Seele, auch nicht mit den Seelen der eigenen Eltern in irgend-
einem erblichen Zusammenhang'' ; sie werde vielmehr „für jedes
Individuum neu von Gott geschaffen" 2 ). Das ist nachSchmidt
katholische Glaubenslehre. Die Vertreter der Lehre von der
Erblichkeit seelischer Eigenschaften werden von ihm eines
„verkappten Materialismus" beschuldigt. Glücklicherweise hat
Hermann Muckermann, ebenfalls katholischer Priester,
der etwas von Biologie versteht, bald darauf erklärt : „Die von
Geschlecht zu Geschlecht wiederkehrenden Eigenschaften des
Menschen sind in den Anlagen der Keimbahn gleichsam ver-
wurzelt. Auch das Seelische ist durch diese Anlagen unzweifel-
haft bedingt" 3 ). In einer neueren Schrift 4 ) hat S chmidt
selbst treffend bemerkt, daß sein angeführter Satz einen „Grund-
gedanken thomistischer Philosophie und Theologie" wieder-
gebe, d. h. auf Deutsch ein Dogma mittelalterlicher Scholastik.
Der Schein, daß seelische Eigenschaften erblich seien, soll nach dieser
Lehre dadurch entstehen, daß die Seele für gewisse Tätigkeiten der erb-
bedingten körperlichen Organe bedürfe. So soll die Seele eines Taubstummen
l ) Argelan der, Annelies. Geschlechtsunterschiede in Leistung und
Persönlichkeit des Schulkindes. Zeitschr. für pädagogische Psychologie.
Jg. 32. Ii. 1. S. 28. 1930.
a ) Schmidt, W. Rasse und Volk. München 1927. Kösel und Pustet.
S. 15.
3 ) Muckermann, IL Rassenforschung und Volk der Zukunft. Ber-
lin und Bonn 1928. Dümmler. S. 3.
4 ) S c h m i d t , W. Die Stellung der Religion zu Rasse und Volk. Augs-
burg 1932. Haas und Grabherr. S. 14.
DIE TRAGE DER WILLENSFREIHEIT.
705
nur des Gebrauchs des körperlichen Gehörorgans beraubt sein, die eines
Blinden des körperlichen Sehorgans, die des Idioten gewisser Gehirnteüe
usw. Es fragt sich aber, ob man jenes Geistige, das nach Abzug aller dieser
Fähigkeiten übrig bleibt, überhaupt noch als individualisiert, d. h. mit einer
bestimmten Eigenart begabt, annehmen könne, oder ob es nicht vielmehr
identisch mit dem geistigen Prinzip der Welt überhaupt sei. Wir nehmen ja
auch die Substanz, die dem Körperlichen zugrunde liegt, nicht als indivi-
dualisiert an, sind vielmehr der Ansicht, daß die Substanz in allem Wech-
sel des individuellen Körperlichen nur eine ist; und diese Substanz ist
natürlich nicht erblich, sondern ermöglicht alle Erblichkeit überhaupt erst.
Ob es eine geistige Substanz gibt, die von jener, ,die dem Körperlichen
zugrundeliegt, verschieden ist, wissen wir nicht. In Anbetracht der engen
wechselseitigen Abhängigkeit von Körper und Seele, ist es die einfachste
Annahme, daß beiden dieselbe Substanz zugrundeliegc. Die „Materie", die
den „Materialisten" des 19. Jahrhunderts so greifbar und konkret gegeben
zu sein schien, daß sie eine Weltanschauung darauf gründen zu können
glaubten, ist der modernen Physik unter den Händen zerronnen. Wo ist
z. B. ihre „Undurchdringlichkeit" geblieben? Im Grunde geht auch der
Streit gar nicht um den Gegensatz zwischen „Geist" und „Materie",
sondern um einen Gegensatz der Wertlehren. Die Lehre, daß die indi-
viduelle Seele Substanz sei und daß alles auf ihr Heil ankomme, steht im
Gegensatz zu der gentilistischen Wertung, die den entscheidenden Wert in
der Rasse sieht. Dieser Gegensatz kommt bei Schmidt mit aller wün-
schenswerten Deutlichkeit zum Ausdruck: „Die Seele als solche hat keine
Rasse, wie sie auch keine irdische Heimat hat." x ) Gleichwohl soll die Seele
aber offenbar eine A r t haben, nämlich die Art Mensch, deren Wesen docli
auch in der Erbmasse begründet liegt. Demgegenüber ist festzustellen: Die
Eigenart unserer Seele stammt aus dem Erbe unserer Ahnen. Wir sind auch
geistig die Nachkommen unserer Vorfahren; und wir lassen uns diese Bin-
dung durch den metaphysischen Individualismus nicht zerstören.
Wenn unser Leben durch Erbmasse und Umwelt be-
stimmt wird, wie steht es dann um die Willensfreiheit ?
Das individuelle Leben verläuft in Reaktionen auf Reize, die
von der Umwelt ausgehen; und die Reaktionsmöglichkeiten
ihrerseits sind in der Erbmasse begründet. Ob es außer den
Reaktionen auch Aktionen gibt, die nicht Reaktionen sind,
also ursachlose Handlungen, ist die Frage. Denkmöglich ist
das immerhin. Die Kausalität ist nicht eine apriorische Denk-
notwendigkeit, sondern eine Hypothese. Einige sehr moderne
Physiker wie Schrö dinge r haben mit dem Gedanken ge-
spielt, daß im Bereich der kleinsten Größen die Kausalität
nicht mehr gelte. Da aber Groß und Klein relative Begriffe
sind, wäre nicht abzusehen, warum dann nicht auch ursachloses
Geschehen im Großen vorkommen sollte, warum nicht z. R.
ein Tonnengewicht auf einmal anfangen sollte, sich von selbst
zu bewegen, oder warum nicht die Erde aus ihrer Bahn sprin-
*) A. a. O. S. -16.
B a n r- F i s c h e r - 1, e a ■/, 1.
706
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
gen sollte. Praktisch rechnen wir nicht damit, sondern mit
Kausalität. Naturwissenschaft ist überhaupt nur möglich unter
der Voraussetzung allgemeiner Gesetzlichkeit. Auch in der Bio-
logie setzen wir diese voraus ; und gerade die Erblehre hat ja
ein großes Gebiet dem naturwissenschaftlichen, d. h. gesetzes-
wissenschaftlichen Verständnis erschlossen.
Wie man „freies" im Sinne von akausalem Geschehen
nachweisen könne, ist nicht ersichtlich. Man könnte daran den-
ken, das Leben eineiiger Zwillinge, die in gleicher Umwelt
leben, genau zu verfolgen, ob bei ihnen unmotivierte Unter-
schiede des Verhaltens zu beobachten wären. Schon Galton 1 )
hat in seiner Zwillingsarbeit bemerkt, daß ihm Fälle .einer
Änderung des Charakters infolge des Entschlusses, sich zu
bessern, nicht bekannt geworden seien, obwohl unter seinen
Gewährsmännern viele Geistliche waren. Johannes Lange
war bei seinen Studien an kriminellen eineiigen Zwillingen von
der Gleichartigkeit ihres Verhaltens so beeindruckt, daß er
seine Arbeit „Verbrechen als Schicksal" überschrieb 2 ).
Und dennoch : Wenn wir vor eine Entscheidung gestellt
sind, haben wir das Bewußtsein, es so oder auch anders machen
zu können. Wenn wir jemanden loben oder tadeln, setzen wir
voraus, daß er auch anders hätte handeln können, ich würde
auch nicht Rassenhygiene betreiben, wenn ich mir nicht ein-
bildete, dadurch irgend etwas in Bahnen lenken zu können,
die es sonst nicht einschlagen würde. Ist das eine Illusion,
und wenn ja, welchen biologischen Sinn hat diese offenbar
allgemeine Illusion? Ist sie vielleicht nötig für die Tat und
damit fürs Leben? So kann es aber auch nicht sein; denn wenn
es eine Illusion ist, so gibt es ja gar keine entscheidende Tat,
weil doch alles vorherbestimmt ist. Wenn es keine Freiheit
gibt, so gibt es auch kein wirkliches Tun, sondern nur ein
Nacheinander und ein scheinbares Tun wie im Film, ja, es
gäbe dann nicht einmal eine wirkliche Wirkung, weil sich in
dem jeweiligen Augenblick ja gar nichts entscheiden würde,
wenn alles vorherbestimmt wäre. Das Weltgeschehen als ab-
laufender Film ? Ein unerträglicher Gedanke ! Die Freiheit
ist eine Forderung des Lebens; theoretisch aber ist sie ein un-
gelöstes Problem, vielleicht ein unlösbares.
Die Psychologie kann, wenn sie überhaupt Wissenschaft
sein will, n ur gesetzes wissenschaftlich, d. h. naturwissenschaft-
*) Vgl. S. 642.
2 ) Vgl. S. 557.
ERBPSYCHOLOGIE.
707
lieh vorgehen. Andernfalls könnte sie niemals hoffen, Gesetze
des seelischen Seins und Geschehens zu erforschen. Dieser
Grundsatz darf nicht mißverstanden werden. Als die Psycho-
logie im ig. Jahrhundert sich naturwissenschaftlicher Me-
thoden zu bedienen begann, war sie zunächst ganz darauf be-
dacht, Gesetzlichkeiten des menschlichen Seelenleben unter
Außerachtlassung der seelischen Unterschiede der Menschen
festzustellen 1 ), ähnlich wie die Anatomie den Bau „des" Men-
schen und die Physiologie die Vorgänge in „dem" mensch-
lichen Organismus erforschte. Man typisierte also, hatte dabei
aber nur einen Typus im Auge. Da man bei allen Menschen
grundsätzliche Gleichheit des seelischen Geschehens voraus-
setzte, stellte man die Forschung rein phänomenologisch auf
die seelischen Vorgänge, nicht auf das seelische Sein ab ; und
da außer den seelischen Vorgängen von der Seele nichts wahr-
zunehmen war, entstand eine „Psychologie ohne Seele". Daß
die Erforschung der seelischen Unterschiede der Menschen
eine wesentliche Aufgabe der Psychologie ist, diese Einsicht
hat sich erst in den letzten Jahrzehnten unter dem Einfluß der
Erblehre bzw. der Rassenkunde durchgesetzt. Immerhin setzten
auch die um die gleiche Zeit aufgekommenen Testmethoden,
die u. a. auf die „angeborene" Intelligenz gerichtet waren, im
Grunde voraus, daß die als „angeboren" bezeichneten Unter-
schiede solche der erblichen Wesensart waren; recht klar war
man sich aber nicht darüber; angeboren im eigentlichen Sinne
ist die Intelligenz natürlich nicht; ein Säugling kann noch
keine Intelligenzprüfmig bestehen. Auch die Aufstellung seeli-
scher „Typen" (bei Spranger z. B.) wollte der Erfassung
von Unterschieden der seelischen Struktur dienen. Clausz,
der seine psychologischen Typen den Rassentypen zuordnet,
lehnt zwar die naturwissenschaftliche Methode ab ; bezeichnen-
derweise gelangt er aber zu ebenso vielen seelischen Typen,
wie Günther Rassen unterscheidet, und zwar zu jeweils ent-
sprechenden, wenn auch mit anderen Namen. Geradewegs auf
die erbbiologische Fragestellung läuft die „Strukturpsycholo-
gie" Felix Kruegers hinaus. In der „Struktur" der Seele
sind vor allem die Unterschiede des Charakters begründet.
Charakter ist ja das Charakteristische, das Kennzeichnende der
Wesensart. Auch die Unterschiede der Intelligenz sind Struk-
*) Vgl. Kruegcr, F. Die Lage der Seelenwisscnschaft in der deut-
schen Gegenwart. Bericht über den 13. Kongreß der Deutschen Gesellscli.
f. Psychologie in Leipzig 1933. Jena 1934. Fischer.
708
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
turunterschicde. Wenn ich recht sehe, ist die „Struktur" im
Sinne Kruegers identisch mit der Konstitution der Kliniker,
die Strukturpsychologie also mit der Konstitutionspsychologie.
Krueger selbst hat sich im Jahre 1933 dahin ausgesprochen,
daß die Strukturpsychologie nicht zuletzt durch unbefangen
erbbiologische Forschung zu fördern sei 1 ).
Da die Erbforschung immer nur Unterschiede erfassen
kann, liefert sie allerdings keine Ganzheitstypen, sondern nur
Teilstrukturen im Sinne Kruegers; und es ist auch nicht
etwa mit Hilfe der Korrelationsrechnung möglich, Teilstruk-
turen als zusammengehörig zu erkennen und zu Ganzheiten zu
integrieren, ebensowenig wie man in der Anthropologie durch
Korrelationsstatistik Rassentypen abgrenzen kann (vgl.S.641).
Als elementare seelische Teilstrukturen wird man solche an-
sehen dürfen, die sich unabhängig voneinander vererben. Die
letzten Einheiten (die „ultimalen Komponenten", wie sie Zie-
hen genannt hat, vgl. S. 667) können ganz anders aussehen,
als die psychologische Zergliederung es nahezulegen scheint.
Auch die einzelnen körperlichen Organe bzw. Organteile wer-
den ja nicht durch je eine Erbeinheit determiniert, wie seiner-
zeit Weismann angenommen hatte. Die Gene wirken viel-
mehr in ganz anderer Weise beim Aufbau des Organismus zu-
sammen. Es hätte wohl schwerlich jemand durch psycholo-
gische Zergliederung herausgebracht, daß der Unterschied
zwischen der schizothymen und der syntonen Veranlagung ein
durch eine oder einige wenige Erbeinheiten bedingter ist.
Kretschmer selbst ist auf seine Entdeckung ja durch die
Betrachtung der Unterschiede des körperlichen Habitus ge-
kommen.
Die seelischen Vorgänge im Individuum sind erbbiologisch
gesehen Modifikationen, ebenso wie auch die körperlichen
Vorgänge am Individuum Modifikationen sind. Wenn ich die
Hand erhebe, so ist das eine Modifikation. Ich rede und schreibe
in Modifikationen. Modifikationen können von sehr verschiede-
ner Dauer sein. Wenn ich erröte, so ist das eine flüchtige Modi-
fikation; wenn ich durch Aufenthalt in der Sonne braun werde,
ist das eine länger dauernde; und wenn eine Wunde eine
Narbe hinterläßt, so dauert diese Modifikation das ganze Leben
an. Entsprechend gibt es auch flüchtige, mehr dauernde und
eigentliche Dauermodifikationen der Seele. Aber auch die
flüchtigsten Modifikationen und ihr Wechsel sind durch die
*) A.a.O. S. 26.
ERBPSYCHOLOGIE.
709
Erbmasse wesentlich mitbestimmt. Die Erbmasse kann ge-
radezu als die Summe aller Modifikationsmöglichkeiten aufge-
faßt werden. Auch für das Seelenleben des Individuums liegen
in seiner Erbmasse die Möglichkeiten und die Grenzen seiner
Modifikationen begründet.
Die Art und Weise, wie diese Modifikationsmöglichkeiten
im Individuum verwirklicht werden, hat auf die Erbmasse kei-
nen Einfluß. Es gibt also auch keine Vererbung erworbener
seelischer Eigenschaften. Ein Mensch von einer gewissen musi-
kalischen Veranlagung kann Klavierspielen oder sonst eine
musikalische Betätigung erlernen; die musikalische Begabung
seiner Nachkommen wird dadurch aber weder größer noch
kleiner, als sie es ohne das geworden wäre. Wo eine Reaktions-
möglichkeit überhaupt fehlt, kann sie natürlich auch nicht er-
worben werden. Ein Tauber wird durch keine Gehörsübungen
und durch keine Strafen hörend. Ein Farbenschwacher kann
durch keine Übung die ihm fehlenden Farbenempfindungen
erwerben; die Art und der Grad seiner Farbenschwäche bleibt
vielmehr immer derselbe. Damit durch' Übung und Erziehung
ein Erfolg erreicht werden kann, müssen immer schon entspre-
chende Anlagen vorhanden sein; dann ist innerhalb gewisser
Grenzen eine Ausbildung möglich. Die Erfolge der Erziehung
beruhen hauptsächlich auf der Aneignung von Gedächtnis-
inhalten und auf der Gewöhnung an gewisse Anschauungen
und Verhaltungsweisen. Das Gedächtnis wie die seelische Bild-
samkeit überhaupt ist in der Jugend am größten; es ist die
Zeit, wo der Mensch Kenntnisse, Anschauungen und Gewohn-
heiten annimmt, die sich im Leben der Gesellschaft, der er an-
gehört, bisher einigermaßen bewährt haben. Auch auf seeli-
schem Gebiet kommen Dauermodifikationen vor, die dem Indi-
viduum bis an sein Lebensende anzuhaften pflegen und die auf
dem Wege der Tradition auf die nächste Generation übertra-
gen werden und sich so durch zahlreiche Generationen halten
können. Die Sprache und die Konfession sind z. B. solche
Dauermodifikationen.
Wenn seelische Modifikationen auf die nächste Generation
übertragen werden, so geschieht das nicht auf dem Wege bio-
logischer Vererbung, sondern auf dem der Erziehung und. Über-
lieferung (Tradition). So kann die Sprache oder die Konfession
sich scheinbar vererben. Durch Anhäufung überlieferter gei-
stiger Güter kann auch ein Fortschritt der Kultur Zustande-
kommen, ohne daß dem ein biologischer Fortschritt im Sinne
710
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
einer Steigerung der Fähigkeiten der Rasse entspricht. Auch
die Rasse ist in ihren geistigen Anlagen freilich nicht unver-
änderlich. Sic kann infolge von Mutation und ungünstiger Aus-
lese entarten ; und sie kann durch günstige Auslese gesunden
und sich fortentwickeln. Davon handelt der zweite Band die-
ses Buches. Bei dem großen Werk der Gesundung und Höher-
führung der Rasse hat auch die Erziehung wesentlich mitzu-
wirken, indem sie das Verständnis und den Willen für die not-
wendigen rassenhygienischen Maßnahmen und für das rich-
tige Verhalten des Einzelnen zu wecken hat, also auf dem Um-
wege über die Auslese.
Die Einsich!;, daß die Erziehungsarbeit an. der gegenwärtigen Genera-
tion keinen Einfluß auf die Anlagen der künftigen im Sinne einer günsti-
gen Erbänderung habe, will manchen Pädagogen gar nicht in den Sinn.
Ein typisches Beispiel ist Schwertfeger 1 ), der „ungeahnte pädagogi-
sche Wirkungsmöglichkeiten" auf dem Wege einer „Vererbung erworbener
Eigenschaften" zu sehen glaubt. Eine kritische Übersicht über die einschlä-
gige pädagogische Literatur gibt Köhn g ).
Wenn die Kinder gebildeter Eltern im Durchschnitt be-
gabter sind als die ungebildeter, so sind sie es nicht infolge
der Ausbildung der Eltern, sondern weil sie von diesen Erb-
anlagen überkommen haben, die schon die Eltern zur Aneig-
nung der Bildung befähigten. Erblich ist also die Erziehbar-
keit oder Bildungsfähigkeit. Andererseits ist es eine alltäg-
liche Erfahrung, daß aus gebildeten Familien oft unbegabte
Söhne stammen, die trotz allen Aufwands von Bildungs- und
Erziehungsmitteln sich keine höhere Bildung anzueignen ver-
mögen. Solche Erfahrungen sprechen deutlich gegen eine Erb-
lichkeit von Bildungserfolgen, während sie auf Grund des Men-
delschen Grundgesetzes der Erblichkeit ohne weiteres verständ-
lich sind.
Wem es niederdrückend erscheinen mag, daß alles, was
wir durch immer strebendes Bemühen an unserer Vervollkomm-
nung vielleicht erreichen können, doch nicht in die Erbmasse
unserer Nachkommen eingehen kann, der möge daran erinnert
werden, daß andernfalls die kommenden Geschlechter auch mit
all dem Wust des Irrtums und Unsinns, der Verächtlichkeit
und Gemeinheit der Vergangenheit und Gegenwart belastet sein
würden. Soweit diese nicht aus dem erblichen Wesen der Zeit-
*) Schwertfeger. Die Vererbungslehre unter Berücksichtigung
ihrer philosophischen Grundlagen und ihrer pädagogischen Bedeutung dar-
gestellt. Berlin 1927.
2 ) K Ö h 11 , W. Die Vererbungslehre in der pädagogischen Aussprache
der Gegenwart. ARGB. Bd. 23. H. 1. S. 80. 1930.
RASSENPSYCHOLOGIE.
711
genossen, sondern nur aus den Zeitumständen entspringen,
brauchen unsere Nachkommen damit also nicht belastet zu sein.
Die kommenden Geschlechter können sich wieder zur Höhe und
Reinheit emporarbeiten, wofern wir nur dafür sorgen, daß sie
aus tüchtigem Ahnenerbe stammen. Darauf kommt alles an.
Von Anhängern des Lamarekismus, d. h. jener vormendelschen Ab-
stammungslehre, deren Kern die Annahme einer „Vererbung erworbener
Eigenschaften" ist, ist des öfteren versucht worden, eine Vererbung von
Lernergebnissen experimentell zu beweisen. So hat der russische Physiologe
Pawlow i. J. 1923 die damals sensationell wirkende Mitteilung gemacht,
daß er Mäuse auf Glockenzeichen dressiert habe und daß er die Nachkom-
men im Laufe der Generationen in immer kürzerer Zeit dressieren konnte.
Die Erklärung dürfte darin liegen, daß Pawlow im Laufe der Zeit in
der Dressur von Mäusen größere Übung bekam. Vor einigen Jahren hat
dann McDougall 1 ) ähnliche Versuche an Ratten mitgeteilt. Weiße Rat-
ten, deren Aufenthaltsraum unter Wasser gesetzt wurde, konnten diesen
durch einen dunklen oder einen beleuchteten Gang verlassen. Beim Betreten
des hellen Ganges wurden sie durch elektrische Schläge zurückgeschreckt.
Die Zahl der Fehler, bis sie es lernten, den dunklen Gang zu benutzen, hat
nach McDougall im Lauf von 23 Generationen immer mehr abgenom-
men. Es ist schwer, aus der Entfernung zu einer solchen Publikation kri-
tisch Stellung zu nehmen. McDougall hat die Fortsetzung seiner Ver-
suche in Aussicht gestellt; man hat aber in den letzten Jahren nichts mehr
davon gehört. Befunde, die eine „Vererbung erworbener Eigenschaften"
beweisen sollten, sind seit Jahrzehnten von lamarekistisch eingestellten Ge-
lehrten immer von Zeit zu Zeit veröffentlicht worden; und nach einigen Jah-
ren ist es immer wieder still davon geworden. Man tut daher gut, abzuwarten,
ob die Befunde McD ouga.lt s von anderer Seite bestätigt werden oder
ob sie vielleicht im Einklang mit dem, was wir sonst über Vererbung wis-
sen, aufgeklärt werden.
Die körperlichen Rassenunterschiede beruhen auf Erban-
lagen, die geographisch verschieden verteilt sind; und es spricht
von vornherein alles dafür, daß es auch geographisch verschie-
den verteilte Erbanlagen, die sich in seelischen Eigenschaften
äußern, gibt. Gewisse Erbanlagen äußern sich zugleich in kör-
perlichen und seelischen Eigenschaften (z. B. im Habitus und
im Temperament), andere praktisch nur in körperlichen (z.B.
Haarfarbe) oder nur in seelischen Eigenschaften. Auch diese
können aber infolge gemeinsamer Auslese in geographischer
Korrelation stehen. Grundsätzlich sind es nicht ganze Rassen-
x ) McDougall, W. Second report on a lamarckian experiment. Bri-
tish Journal of Psychology. Bd. 20. H. 3. 1930.
712
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
typen als solche, sondern die einzelnen Erbeinheiten, die geo-
graphisch verschieden verteilt sind. Benachbarte Rassen kön-
nen daher einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Erb-
masse gemeinsam haben, während sie sich in anderen unter-
scheiden. So sind es offenbar zum großen Teil dieselben Erb-
einheiten, die in den west baltischen und in den ostbaltischen
Ländern blonde Haarfarbe bedingen, während die durchschnitt-
lichen Unterschiede der Körper- und Gesichtsform der betref-
fenden Bevölkerungen recht beträchtlich sind. Entsprechen-
des kommt sicher auch hinsichtlich seelischer Erbanlagen vor.
Gegen die Bedeutung seelischer Rassenunterschiede wird gelegentlich
eingewandt, daß die seelischen Unterschiede innerhalb der einzelnen Bevöl-
kerungen größer seien als die der verschiedenen Rassen untereinander. In
der Tat gibt es in einer Bevölkerung wie der unsrlgen die allergrößten Un-
terscliiede der Begabung vom Genie bis zum Idioten; und die Unterschiede
des Temperaments und Charakters sind wenigstens qualitativ eher noch
mannigfaltiger. So groß sind die durchschnittlichen Unterschiede rassisch
verschiedener Bevölkerungen meist nicht. Es ist aber wenig sinnvoll, den
durchschnittlichen Unterschied verschiedener Bevölkerungen mit den inner-
halb einer Bevölkerung vorkommenden Extremen zu vergleichen. Der durch-
schnittliche Unterschied zweier Individuen derselben Bevölkerung ist wohl
meist auch in geistiger Hinsicht kleiner als der zweier rassisch verschiede-
ner Bevölkerungen. Außerdem ist zu bedenken, daß ein großer Teil der erb-
lichen seelischen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung, wie sie im vori-
gen Kapitel besprochen worden sind, selber auf Unterschiede geographi-
scher Rassen zurückgeht, Durch Mischung können Rassenunterschiede zu
individuellen Unterschieden werden, wie umgekehrt im Laufe der Stammes-
geschichte aus individuellen Unterschieden durch Auslese Rassenunter-
schiede werden können.
Schon Galton hat gesehen, daß kein Wesensunterschied
zwischen Rassenanlagen und sonstigen Erbanlagen besteht ; er
sagt in seinem Buche über die Erblichkeit der Begabung: „Die
natürlichen Anlagen, von denen dieses Buch handelt, sind der
Art, wie sie ein moderner Europäer in einem weit größeren
Durchschnitt besitzt als Menschen niederer Rassen." Die ein-
zelnen Rassenanlagen bleiben ja auch in einer MischbevÖlke-
rung erhalten; und ebenso wie wir gemeinsame erbliche Eigen-
tümlichkeiten des Körpers verschiedener Individuen auf ge-
meinsame Abstammung zurückführen, so gehen auch gemein-
same Anlagen der Seele auf gemeinsamen Ursprung zurück.
F. Hertz 1 ) hat die rhetorische Frage gestellt: „Besteht denn etwa
zwischen weißen und schwarzen Pferden ein fundamentaler psychischer Un-
terschied?" Dieser Vergleich hinkt. Weiße und schwarze Pferde unterschei-
den sich nur durch eine einzige Erbeinheit, die europiden und die negriden
Rassen des Menschengeschlechts aber durch sehr zahlreiche, von denen man-
') Hertz, F. Rasse und Kultur. 3. Aufl. Leipzig 1925. A. Kröncr.
RÄSSEN PSYCHOLOGIE.
713
che sicher auch seelische Unterschiede bedingen. Dem Unterschied zwischen
einem weißen und einem schwarzen Pferd entspricht der zwischen einem
albinotischen (weißen) und einem normalen dunkelhäutigen Neger, die (ab-
gesehen von individuellen Unterschieden) trotz ihrer verschiedenen Hautfarbe
in ihrer seelischen Eigenart nicht verschieden sind. Ein albinotischer Neger
hat immer noch den allergrößten Teil seiner Erbmasse mit den normalen
Negern gemein; und man rechnet ihn mit Recht zu den Negern und nicht
zu den Weißen.
Krankhafte Individuen unterscheiden sich von ihren Rasse-
genossen in der Regel nur durch eine einzige oder höchstens
einige wenige, allerdings stark abweichende Erbeinheiten. Die
großen Rassen dagegen unterscheiden sich durch viele Erbein-
heiten, von denen jede einzelne von den entsprechenden d'er
anderen Rassen nur wenig abzuweichen pflegt. Infolge der gro-
ßen Zahl dieser, wenn auch kleineren Verschiedenheiten sind
die Unterschiede zwischen Angehörigen verschiedener Rassen
nicht weniger bedeutungsvoll als die zwischen krankhaften und
normalen Individuen. Dazu kommt noch, daß krankhafte Erb-
anlagen sich immer nur bei einer Minderheit einer Bevölkerung
finden, während die Rassenunterschiede sich auf große Bevöl-
kerungen erstrecken.
Es besteht keinerlei Grund zu der Annahme, daß die seelischen Ras-
senunterschiede geringer als die körperlichen seien. Sie sind praktisch sogar
von ganz ungleich größerer Bedeutung. Wenn es nur körperliche Rassen-
unterschiede gäbe, so wäre die ganze Rassenfrage ohne besondere Bedeu-
tung; und damit hängt es offenbar zusammen, daß die seelischen Rassen-
unterschiede mit Vorliebe entweder übertrieben oder ganz geleugnet werden.
Gewisse Gelehrte wie Boas 3 ) und v. Luschan 2 ) haben nicht nur ge-
leugnet, daß man Rassenunterschiede der Seele feststellen könne, sondern
sogar, daß es solche überhaupt gebe. Alle seelischen Unterschiede der
„Menschengruppen" sollen nur Folgen von Übung und Erziehung oder son-
stigen äußeren Einflüssen sein; die primitiven „Gruppen" sollen nur des-
wegen keine höhere Kultur entwickelt haben, weil sie in ungünstiger Um-
welt gelebt und nicht die nötige „Zeit" gehabt hätten usw. Dabei wird es
dann gern so hingestellt, als ob jedes Eintreten für das Vorhandensein see-
lischer Rassenunterschiede tendenziös sei, nicht aber ihre Leugnung.
Die Ansicht, daß die Anthropologie sich nur mit dem Körperlichen zu
beschäftigen habe, ist durchaus unberechtigt. Gewiß ist das Seelische nicht
mit dem Zirkel meßbar; aber das kann kein Grund sein, die Beschäftigung
mit den seelischen Rassemmt er schieden überhaupt als unwissenschaftlich ab-
zulehnen. Wer das tut, müßte konsequenterweise auch alle Psychologie und
alle Psychiatrie ablehnen. Ebenso wie eine Aufstellung bestimmter Typen
seelischer Störungen muß auch eine solche seelischer Rassentypen möglich
sein; und sie ist gewiß nicht weniger bedeutungsvoll. Anthropologie heißt
wörtlich Menschenkenntnis. Ein Anthropologe, der wirklich ein „Menschen-
kenner" sein will, darf daher der Frage nach den seelischen Rassenunter-
r ) Boas, F. Kultur und Rasse. Deutsch, Leipzig 1914.
2 ) v. Luschan, F. Völker, Rassen, Sprachen. Berlin 1922.
714
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
schieden nicht ausweichen. Die Rassenpsychologie und nicht eine „somati-
sche Anthropologie" hat daher der Kern der Anthropologie zu sein.
Besonders verwirrend hat in dieser Hinsicht die Zerreißung der Wis-
senschaften in Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften gewirkt. Seit
Paulus den Nachkommen Abrahams im „Fleisch" seine Nachkommen im
„Geist" gegenüberstellte, ist immer wieder und ganz besonders im 19. Jahr-
hundert versucht worden, die Naturwissenschaft und damit auch die Bio-
logie auf das Körperliche zu beschränken. Das hat zu der irrigen, aber
landläufigen Auffassung geführt, daß sich nur der Körper durch die bio-
logische Erbmasse fortsetze, der Geist aber durch die Tradition. Diese
Gleichsetzung der Tradition mit der geistigen Erbmasse ist völlig abwegig
wie überhaupt der ganze angebliche Gegensatz von „Geist" und „Natur".
Die größte Schwierigkeit einer Rassenpsychologie liegt in
der Abgrenzung der Rassen und in der Zuordnung der Indivi-
duen zu einer Rasse. Wenn man einen Menschen nach seinen
körperlichen Merkmalen „bestimmen" könnte, wie man eine
Pflanze bestimmt, wäre die Aufgabe der Rassenpsychologie
verhältnismäßig leicht; man brauchte dann nur noch die see-
lischen Eigenschaften der derart bestimmten Menschen festzu-
stellen. Eine solche Bestimmung ist nun aber in gemischten
Bevölkerungen nicht möglich. Wohl kann man einen Neger
oder einen Ostasiaten als solche erkennen und von einem Nord-
westeuropäer sicher unterscheiden. Da diese indessen in we-
sentlich anderer materieller und geistiger Umwelt leben, ist es
schwer zu sagen, wieweit die seelischen Unterschiede durch die
Rasse und wieweit sie durch die Umwelt, insbesondere die Kul-
tur, bedingt sind. In Europa gibt es keine klaren Grenzen zwi-
schen den Rassen. In breiten Übergangsgebieten kommen die
Anlagen benachbarter Rassen neben und mit einander vor.
Dieses fehlen scharfer Grenzen ist auch keineswegs nur durch
Rassenmischung verursacht. Man darf überhaupt nicht meinen,
daß es jemals in sich völlig einheitliche (isogene) Bevölkerun-
gen gegeben habe. Auch die relativ „reinsten" Rassen sind
immer noch aus einer großen Zahl verschiedener Erbstämme
zusammengesetzt. Eine Rasseneinteilung geht daher niemals
glatt auf; sie bleibt immer bis zu einem gewissen Grade will-
kürlich.
Daraus folgt nicht etwa, daß es wesentliche geistige Ras-
senunterschiede überhaupt nicht gäbe. Es folgt daraus aber,
daß 'für die Erfassung der geistigen Rassenunterschiede ein
gewisser Sinn für das Typische, gewissermaßen ein künstleri-
scher Blick nicht entbehrt werden kann. Um der Gefahr will-
kürlicher Spekulationen zu entgehen, ist es nötig, daß die hypo-
thetischen Bilder, die der intuitive Blick liefert, immer wieder
RASSENPSYCHOLOGIE.
mit dem Erfahrungsmaterial, das Völkerkunde und Geschichte
bieten, verglichen werden. So steht das Bild der nordischen
Rasse, wie es besonders Günther gezeichnet hat, heute ziem-
lich deutlich vor unseren Augen. Das primäre Bild der nor-
dischen Rasse ist eigentlich nicht ein körperliches ; es ist das
geistige Bild der Schöpferin der indogermanischen Kulturen.
Auch biologisch gesehen wird eine Art von Lebewesen wesen-
hafter als durch ihre körperliche Gestalt durch die Lebenslei-
stung gekennzeichnet, die sie vollbringt. Wenn wir die Bevöl-
kerung der Erde im ganzen betrachten, so hebt sich in Nord-
westeuropa als dem Quellgebiet der indogermanischen Kultur
deutlich eine Bevölkerung ab, in der blaue Augen, blondes
Haar, helle Haut, schlanke Gestalt und längliche Kopfform
häufig vorkommen, zwar längst nicht bei allen Individuen,
aber doch so gehäuft wie sonst nirgends auf der Erde. Daher
hat man idealisierend, aber doch mit gutem Grund, die ge-
nannten Merkmale der nordischen Rasse als der Schöpferin
der indogermanischen Kultur zugesprochen, obwohl es eine
Bevölkerung, die durchweg jene Merkmale zeigt, nirgends gibt
und auch wohl nie gegeben hat.
Verhältnismäßig leicht ist die Erfassung seelischer Rassen-
unterschiede da, wo Angehörige verschiedener Rassen ge-
mengt, aber nicht blutmäßig gemischt in gleicher oder sehr
ähnlicher Umwelt durcheinanderwohnen, wie es für die Neger
in den Vereinigten Staaten und die Juden in Mitteleuropa zu-
trifft. Ich komme darauf bei der Besprechung dieser Rassen
zurück.
Die Neandertalrasse, die in der letzten Zwischeneiszeit
auch in Europa weit verbreitet war, hat es über die Kultur der
ältesten Steinzeit nicht hinausgebracht. Sie hat daher kultur-
begabteren Rassen, die ihr in der Waffentedimk überlegen
waren, das Feld räumen müssen. Von den gegenwärtig noch
lebenden Rassen stehen ihr die Uraustralier, besonders see-
lisch offenbar noch verhältnismäßig nah'. Die Angehörigen
dieser Rassen gewinnen ihren Lebensunterhalt, indem sie durch
die Wälder streifen und verzehren, was sie an Genießbarem
finden. Sie haben keinerlei Viehzucht oder Anbau von Nah-
rungspflanzen erfunden und, was besonders kennzeichnend ist,
keine Aufbewahrung von Nahrungsmitteln für Zeiten des Man-
gels. Sie haben auch nicht gelernt, eigentliche Hütten zu bauen
oder Kleidungsstücke aus Fellen zu [machen, obwohl die Austra-
lier z. T. in Gegenden leben, wo es empfindlich kalt ist. Sie
716
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
haben auch keine geschliffenen Steinwerkzeuge hergestellt,
lebten also bis in die Gegenwart in der Kultur der älteren
Steinzeit. Versuche, sie seßhaft zu machen und zum Ackerbau
zu erziehen, sind völlig fehlgeschlagen. Die wesentlichste Ur-
sache dieses kulturellen Mißerfolges der primitiven Urrassen
scheint in ihrem Mangel an Phantasie zu liegen. Gegenüber
anderslautenden Redensarten ist dabei zu betonen, daß diesen
ursprünglichen X^assen natürlich genau dieselbe Zeit zur Ent-
wicklung einer höheren Kultur zur Verfügung gestanden hat
wie den übrigen Rassen.
Recht lehrreich ist ein Vergleich dieser Urrassen mit den nächsten heute
lebenden tierischen Verwandten des Menschen. Über die geistigen Leistun-
gen der Schimpansen hat Wolf gang Köhler 1 ) wertvolle Beobachtun-
gen gemacht. Bei Schimpansen kommt wirklicher Gebrauch von Werk-
zeugen (Stöcken, Steinen) vor, ja bis zu einem gewissen Grade sogar Her-
stellung von Werkzeugen; so steckten besonders kluge Tiere zwei Rohre
zusammen, um damit weiter reichen zu können. Der Unterschied gegenüber
dem Menschen liegt nach Köhler nicht so sehr in der Intelligenz als im
Intelligenzmaterial, indem die Schimpansen viel ärmer an Vorstellungen
bzw. an Phantasie sind. Sie sind auf die Verwertung der unmittelbaren
Sinneseindriicke angewiesen. Daher gelingen dem Schimpansen auch die
Anfänge einer Kulturentwicklung nicht. Es gibt geistesschwache mensch-
liche Individuen, deren Begabung nicht höher als die von Menschenaffen
ist. Andererseits sind die höchstbegabten Menschen den Angehörigen der
primitiven Urrassen vielleicht ebenso stark überlegen, wie diese den Men-
schenaffen.
Die Neger leben im Vergleich zu diesen Rassen viel
weniger in den Tag hinein. Die Lage der Neger, zumal die der
Kaffern, in Afrika ist eine wesentlich andere als die der Ur-
australier in Australien. Sie haben eine ziemlich ausgedehnte
Viehzucht und auch Pflanzenbau in gewissem Umfang entwik-
kelt. Auch einige Gewerbe wie das Schmiedehandwerk haben
sie ausgebildet. Allerdings ist zu bedenken, daß die meisten
Negervölker mit orientalischen oder mediterranen Rassenele-
menten durchsetzt sind, so daß sich nicht sicher entscheiden
läßt, was ursprüngliche Kultuiieistung der Neger ist. Im Ver-
gleich mit den europiden Rassen fällt ein Mangel an vorsorg-
lichem Sinn am Neger auf. Die Aussicht auf späteren Wohl-
stand vermag ihn im allgemeinen nicht zu ausdauernder Ar-
beit zu bestimmen. Der Neger ist dem unmittelbaren Sinnes-
eindruck viel stärker hingegeben als der Europäer; er läßt
sich daher leicht durch Flitterkram bestechen. Je nach den
1 ) Köhler, W. Intclligenzprüfungen an Menschenaffen. 2. Aufl.
Berlin 1921. J. Springer.
DIE NEGER.
in
unmittelbaren Erlebnissen schwankt er zwischen sorgloser Aus-
gelassenheit und ratloser Niedergeschlagenheit.
Ferguson 1 ) nennt Unstetigkeit, Mangel an Voraussicht
und Besonnenheit, Mangel an Ausdauer, an Unternehmungs-
geist und Strebsamkeit („ambition") sowie eine Neigung, sich
mit Augenblickserfolgen zu begnügen, als kennzeichnende Cha-
raktereigenschaften des Negers. Yerkes 2 ) berichtet, daß
nach dem übereinstimmenden Urteil der Offiziere im Weltkrieg
der Neger als ein fröhlicher, williger, von Natur unterwür-
figer Soldat geschildert wurde, dem es aber an Initiative und
Führerbegabung fehlt und der daher für verantwortliche Stel-
lungen ungeeignet ist. Diebstähle und Geschlechtskrankheiten
kommen bei den Negern häufiger als bei weißen Soldaten vor,
da sie den unmittelbaren Triebregungen weniger Widerstand
leisten können.
Bei den Begabungsprüfungen, denen die amerikanischen
Soldaten während des Krieges unterzogen wurden, schnitten
die Neger im Durchschnitt viel schlechter ab als die weißen
Soldaten. Der Unterschied im Ergebnis der Alphaprüfung, die
für Leute, die des Englischen kundig waren, bestimmt war, ist
aus folgender Aufstellung zu ersehen :
12586
Offiziere
51620 Weiße
in U. S.A. geb.
4162 Weiße
auswärts geb.
2850 Neger
a. d. Nordstaat.
1709 Neger
a. d. Siidst.
139,2
58,9
46,7
38,6
12,4
Die Ziffern geben die im Durchschnitt erreichten Punkt-
zahlen an. Die Verteilung über die verschiedenen Begabungs-
stufen zeigt Fig. 207 u. 208. Dabei entsprechen sich Bega-
bungsstufen und Alphapunkte in folgender Weise.
Begabungsklasse :
A
B
C+
c
c—
D
D-
Alphapunkte :
135—212 105—134 75—104 45—74 25—44 15—24 0—2^
Die wegen geistiger Schwäche militä runtauglich befunde-
nen Individuen sind dabei nicht berücksichtigt; auch daran
waren die Farbigen stärker beteiligt.
') Ferguson, G. O. The psychology ot the negro. Archives o[
Psychology. New York 1916.
2 ) Yerkes, R. M. Psychological examining in the United States
army. Washington 1 92 1 .
718 FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Man darf übrigens nicht meinen, daß die „Farbigen" lau-
ter reine Neger seien, ein erheblicher Teil von ihnen sind viel-
mehr Mischlinge (Mulatten oder deren Nachkommen). Jeder,
der irgendeinen farbigen Vorfahren hat, wird zu den Farbigen
gerechnet; und es gibt unter diesen daher nicht wenige Indi-
Jk
B
C+
C C~ D D-
A
= sehr gute
B
= gute
C
= mittlere
D
= schwache
D—
= sehr
schwache
Begabung
.C-t C C- D D-
C+ = guter
Durch-
schnitt
C — = geringer
Durch-
schnitt
Fig. 207 und 20S.
Ergebnisse der Begab migsprüfung von 93973 weißen und 1S891 farbigen
Rekruten des amerikanischen Heeres. Die Zahlen geben die Hundertsätze
der Begabungsgrade bei den weißen und den farbigen Rekruten an.
viduen von ganz überwiegend europäischem Blut, die zum Teil
auch eine ebenso helle Hautfarbe wie Europäer haben. Weiter
ist zu bedenken, daß die Neger auch schon zu der Zeit, als sie
aus Afrika nach Amerika gebracht wurden, einen Einschlag
orientalischer und süd europäischer Rassenelemente enthielten.
Andererseits sind auch in den sog. „Weißen" nicht ganz wenig
primitive Rassenelemente enthalten, die den Durchschnitt der
Gruppe drücken. Auch sind die „Weißen" nun schon seit Ge-
DIE NEGER.
719
ne rationen auf Minderbegabung gezüchtet, da höhere Begabung
unter den modernen Lebensverhältnissen ungenügende Fort-
pflanzung zur Folge zu haben pflegt. Könnte man reine Rassen
vergleichen, so würde der Unterschied noch größer sein. Be-
sonders die „Neger" aus den Nordstaaten enthalten ziemlich
viel weißes Blut, da vorzugsweise Mischlinge in die Industrie-
gebiete des Nordens abgewandert sind, während die reineren
Neger auf den Farmen des Südens zurückgeblieben sind. Aus
diesem Umstand erklärt sich das verschiedene Ergebnis der
Begabungsprüfung der „Neger" aus den Nordstaaten und
derer aus den Südstaaten wenigstens zum großen Teil. Da die
Neger zum größten Teil nicht mittels der Alphatests, die ge-
nügende Beherrschung der englischen Sprache voraussetzen,
sondern mittels der Betatests, bei denen das nicht der Fall ist,
geprüft wurden und da die des Englischen nicht kundigen
Neger im Durchschnitt sicher minder begabt waren, bleibt
auch aus diesem Grunde der bei der Prüfung erfaßte Unter-
schied hinter dem wirklichen Unterschied der Begabung von
Weißen und Farbigen wesentlich zurück.
Da der Einwand nahe liegt, daß das unterschiedliche Er-
gebnis durch verschiedene Bildung bedingt sein könnte, ist das
Material in Untergruppen von gleicher Schulbildung geteilt
worden. Da zeigte sich folgendes:
Soldaten mit vierjähriger Elementarschulbildung
2773 Weiße in
den "U.S.A.geb.
355 Weiße
auswärts geb.
31 2 „Neger" aus
den Nordstaaten
356 Neger aus
den Südstaaten
Erzielte
Punkte
23,4
26,6
19,8
8,4
Soldaten mit achtjähriger Elementarschulbildung
448 weiße 14 899 Weiße
Soldaten in d. U.S.A. geb.
108,1
64,4
928 Weiße
auswärts geb.
59,4
555 „Neger" aus! 144 Neger aus
den Nordstaaten
50,0
den Südstaatei
28,9
Auch bei dieser Gruppenbildung kommt aber nicht der
ganze Unterschied zwischen Negern und Weißen heraus, da
eine durch soziale Auslese bedingte Korrelation besteht, jene
Weißen, die nicht über die vierte Volks schulklasse hinauskom-
720
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
men, stellen eine Auslese nach Minderbegabung dar, während
die Neger aus den Südstaaten von diesem Bildungsgrade noch
eine positive Auslese sind, weil die meisten südlichen Neger
noch weniger Schulbildung haben.
In einem Truppenlager wurden die Farbigen nach ihrer
Hautfarbe in zwei Gruppen gesondert. Die hellere Gruppe er-
reichte 50, die dunklere nur 30 Punkte. Die helleren Misch-
linge erwiesen sich also auch geistig als die helleren; und ganz
offenbar verdankten sie das einem größeren Anteil weißen Blu-
tes. Natürlich aber ist die Hautfarbe nur mit Vorsicht und nur
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als Begabungszeichen
verwendbar. Auch Crane 1 ) hat bei Begabungsprüfungen ge-
funden, daß Farbige im allgemeinen um so besser abschnitten,
je heller ihre Hautfarbe war.
Galt 011 hat die Begabung der Neger um durchschnittlich zwei Grade
seiner Einteilung geringer eingeschätzt als die der Engländer. Auf seinen
afrikanischen Reisen fiel ihm die Dummheit der Neger besonders auf.
Diese Erfahrung ist so allgemein, daß das Wort „Kaffer" zum Schimpf-
wort geworden ist.
Reuter 2 ) hat festgestellt, daß von 139 Farbigen, die es
in Amerika zu Namen und Ansehen gebracht hatten, .135 Misch-
linge waren; und von den übrigen 4 läßt es sich schwerlich
ausschließen, ob ihre Vorfahren nicht schon in Afrika orien-
talisches Blut aufgenommen haben. Der berühmte Booker
T. Washington war der Sohn eines weißen Vaters und einer
farbigen Mutter.
Früher fand in den Südstaaten umfangreiche Rassenmischung statt.
Hertz 3 ) zitiert folgenden Satz von Larousse : „Das vornehmste Blut
des Südens floß in den Adern virginischer und südkarolinischer Sklaven,
und keine Pflanzung soll in Louisiana gewesen sein, auf deren Feldern
nicht die Halbgeschwister, Kinder oder Enkel des Eigentümers von der
Peitsche des Aufsehers regiert wurden." Gegenwärtig kommt in den Ver-
einigten Staaten neue Rassenmischung zwischen Weißen und Farbigen nur
noch wenig vor, weil sie von der öffentlichen Meinung scharf mißbilligt
wird und in den meisten Staaten auch gesetzlich verboten ist.
Schon farbige Schulkinder der unteren Klassen schneiden
bei Begabungsprüfungen im Durchschnitt schlechter ab als
weiße Kinder. Der Unterschied ist aber nicht so groß wie im
erwachsenen Alter. Mit dem Eintritt der Geschlechtsreife pflegt
die geistige Entwicklung des Negers stillzustehen.
!) Crane, A. L. Race differenecs in Inhibition. Archives of psycho-
logy. Nr. 63. 1923.
2 ) Reuter, E. B. Mulatto in the United States. Boston 1918.
3 ) Hertz, F. Rasse und Kultur. 3. Aufl. Leipzig 1925. A. Kröner.
S. 390.
DIE NEGER.
Auch erwachsene Neger muten den Europäer kindlich
an. Wie ein Kind ist der Neger dem Sinneseindruck hinge-
geben, ohne sich viel Gedanken über die Folgen seines Tuns
zu machen. Das gilt insbesondere auch auf geschlechtlichem
Gebiet. Auch die vielfach berichtete Grausamkeit der Neger ist
wohl weniger eine bewußte als eine naive, die aus einem kind-
lichen Mangel an Mitgefühl entspringt.
In den Vereinigten Staaten sind die Neger wesentlich häu-
figer an Straftaten beteiligt als die Bevölkerung europäischer
Abkunft. Schuld daran ist hauptsächlich ihre geringere Vor-
aussicht und Selbstbeherrschung. Auch die schlechtere wirt-
schaftliche Lage spielt mit; doch ist diese ihrerseits wieder auf
die .Rassenanlage zurückzuführen. Auch erbbedingter Mangel
an wirtschaftlichen Fähigkeiten disponiert neben anderen An-
lagen zum Verbrechen.
Übereinstimmend wird die rednerische Begabung und
Lebhaftigkeit der Neger hervorgehoben. So sagt Schultz -
E w e r th x ) : „Man muß einmal einem Eingeborenengottes-
dienst unter eingeborener Leitung beigewohnt haben, um sich
ein Hör- und Sehbikl zu machen, wie diese Kanzelredner an
ihrem Wortschaum sich selbst und ihre Zuschauer berauschen."
Die musikalische Begabung der Neger wird übereinstimmend
als ziemlich hoch angegeben.
Die organisatorische und staatenbildende Begabung der
Neger ist gering. Sie haben keine den europäischen oder
asiatischen an die Seite zu stellenden Gesellschaftsbildungen
hervorgebracht. Negerstaaten wie Haiti und Liberia zeigen
eine typische primitive Negerkultur. Es ist den dortigen Bevöl-
kerungen nicht gelungen, sich die technischen Vorteile der
europäischen Kultur anzueignen, wie es z. 13. die Japaner ge-
tan haben. Wo Neger mit Menschen europäischer Rassen zu-
sammenleben;, wie in den Südstaaten Nordamerikas, finden sie
sich regelmäßig in den niederen Schichten der Bevölkerung
mit einfachen Beschäftigungsarten. Die farbigen Angehörigen
geistiger Berufe sind fast alle Mulatten. Geniale Leistungen im
europäischen Sinne hat nie ein Neger hervorgebracht.
Sehr lehrreich für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Negern
und Weißen ist der englische Film „Bosambo", der in Nigeria spielt. Die
englischen Offiziere und Beamten darin von ausgesucht nordischem Typus
stechen ungemein von den Negern ab. So wird dem Beschauer die Bedeu-
tung der Rasse handgreiflich deutlich. Allerdings sind ja längst nicht alle
J ) Schultz-Ewerth, E. Die farbige Gefahr. Zeitschrift für Völ-
kerpsychologie und Soziologie 1925. II. 4.
Bau r -Fisch er- T, enzi, ,[ß
722
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Europäer und auch lange nicht alle Engländer von so 'her renmäßigem Typus
wie die in dem Film auftretenden. Bezeichnenderweise wird die Rolle des
Häuptlings Bosambo offenbar von einem Mulatten gespielt und die seiner
Frau anscheinend von einer Malayin. Reine Neger waren für diese Leistung
offenbar nicht zu haben.
Die mongolidcn Rassen übertreffen die negriden im
Durchschnitt bedeutend an geistiger Begabung. Bei den ost-
asiatischen Mongolen haben Ackerbau und Gewerbe seit Jahr-
tausenden eine hohe Stufe der Entwicklung erreicht. Die Bil-
dung des chinesischen Reiches und sein Bestand durch vier
Jahrtausende legen ein unzweideutiges Zeugnis von der hohen
gesellschaftsbildendcn Begabung der Mongolen ab. Auch das
japanische und das siamesische Reich sind von Mongolen ge-
schaffen worden. In Amerika sind von verwandten Rassen das
altperuanische, das altmexikanische und das Maya-Reioh ge-
bildet worden. Die höchste Kulturbegabung kommt unter den
mongoliden Rassen offenbar den Ostasiaten zu. Bei dem Mon-
golen sind die auf das gesellige Leben gerichteten Anlagen be-
sonders entwickelt. Im ganzen hat er mehr die Fähigkeit der
Nachahmung als der Erfindung. Sein Gedächtnis ist stärker
als der kritische Verstand. Er hat daher geringes Interesse für
abstrakte Wissenschaften, neigt aber zur Verehrung des Ge-
schichtlichen. Während die indischen Arier, die in der Philo-
sophie und der Baukunst so Hervorragendes geleistet haben,
ihre Geschichte völlig vernachlässigt haben, verfügen die Chi-
nesen über sorgfältige geschichtliche und genealogische Auf-
zeichnungen durch Jahrtausende. Der Chinese zeichnet sich
durch leichte Auffassung und gutes Gedächtnis aus, nicht aber
durch Phantasie, Kritik und Abstraktion. Er kann daher ein
guter Gelehrter sein, nicht aber ein großer Forscher und Den-
ker. Die chinesische Bildung besteht in der gedächtnismäßigen
Einverleibung positiven Einzelwissens. Die gelehrte Schrift
Chinas umfaßt Tausende von komplizierten Zeichen. In China
sind der Kompaß, die Seidenzucht und -Verarbeitung, das Por-
zellan, das Schießpulver, das Papier und der Druck erfunden
worden; die Chinesen haben aber keine Technik von europä-
ischem Ausmaß und keine mörderische Zivilisation daraus ent-
wickelt.
Ob die chinesische Kultur und der chinesische Staat hauptsächlich von
echten Mongolen geschaffen worden sind, ist übrigens auch noch zweifel-
haft. Im nordlichen China gibt es Millionen Menschen von schlanker Ge-
stalt, schmalem Kopf, schmalem Gesicht und schmaler vorspringender Nase,
die an europide Rassenelemente erinnern. Die Mandschu, welche die letzte
chinesische Dynastie stellten, waren ein tungusischer Jägernumadenstamm.
DIE MONGOLIDEN RASSEN.
723
Im Gegensatz zu dieser auf Bewegung gezüchteten Rasse sind die eigent-
lichen Chinesen eine auf Beharrlichkeit gezüchtete Pflanzerrasse. Die Chi-
nesen haben kein Hirtenstadium durchgemacht. Sie haben daher außer dem
Schwein niemals große Haustiere gezüchtet. Bezeichnenderweise gibt es
noch heute keine Milchkühe in China. Der kontinentale Winter Chinas
brachte eine Züchtung auf sparsamen Stoffwechsel mit sich. Unruhige Ele-
mente konnten den langen kalten Winter schlecht überdauern. Demgemäß
neigt der Chinese zu Fettansatz.
Die Japaner dagegen sind durch den milden Winter ihrer Inselhcimat
mehr auf Beweglichkeit gezüchtet worden, mehr auf Einsatz als auf Ansatz.
Auch scheint das japanische Volk, zumal in seiner führenden Schicht, einen
Einschlag der polynesischen Bewegungsrasse zu haben, deren Körperbau
und seelische Eigenart auf europide Verwandtschaft hinweist 1 ),
658 japanische Schulkinder, die in Kalifornien unter Lei-
tung Termans auf ihre Intelligenz geprüft wurden, erzielten
im Durchschnitt den Intelligenzquotienten 91 gegenüber 99 bei
gleichaltrigen amerikanischen Kindern europäischer Abkunft.
Der Unterschied ist vermutlich zum Teil durch geringere Be-
herrschung des Englischen bedingt. An Aufmerksamkeit und
Gedächtnis kamen die japanischen Kinder den amerikanischen
gleich; an Originalität standen sie ihnen wesentlich nach 2 ).
Geniale Denker, Erfinder und Entdecker im europäischen
Sinne sind unter den Mongolen kaum zu verzeichnen. Die un-
geheure Gleichmäßigkeit, die trotz gelegentlicher Wechsel-
fällc die Geschichte der chinesischen Kultur auszeichnet, ist
sicher zum großen Teil eine Folge des mongolischen Charak-
ters, der zum Festhalten am Piergebrachten neigt. So gering
wie das wissenschaftliche ist auch das metaphysische Bedürf-
nis des Mongolen. Die Lehren des Kung Tse (Konfuzius) und
Lao Tse handeln nicht von metaphysischen Dingen, sondern
sie sind ganz überwiegend auf das praktische soziale Leben ge-
richtet. Wo in den Schriften der berühmten chinesischen Phi-
losophen allgemeinere Fragen behandelt werden, da werden sie
eigentümlich unklar und verschwommen. In Ostasien bestehen
mehrere Religionen in gegenseitiger Duldsamkeit nebeneinan-
der. Die Geschichte Ostasiens kennt keine Religionskriege, wie
sie Europa zerrissen haben. Der praktischen Nüchternheit und
der geringen Entwicklung der Phantasie entspricht es, daß der
Mongole auch die romantische Liebe im europäischen Sinne
nicht kennt. Entgegen den Vorstellungen, die bei uns mit den
Begriffen der „Hunnen" oder der „Tataren" verbunden zu wer -
x ) Vgl. Mühlmann, W. E. Die Frage der arischen Herkunft der
Polynesien Zeitschrift für Rassenkunde. Bd. 1. H. 1. S. 3. 1935.
s ) Dar sie, M. L. The mental capacity o£ American born Japanese
children. Baltimore 1926.
724
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
den pflegen, ist festzustellen, daß die mongoliden Rassen im
ganzen weniger wild und kriegerisch als die europiden sind.
Sie unterscheiden sich von diesen seelisch wie körperlich
in ähnlicher Richtung wie das Weib vom Manne ; sie sind
mehr aufnehmend als schöpferisch, dabei genügsam und gedul-
dig. Die Geschlechtsunterschiede sind bei den Mongoliden
weder auf körperlichem noch auf geistigem Gebiet so ausge-
sprochen wie bei den europiden Rassen. Der männliche Mut
zum Angriff ist beim Chinesen weniger vorhanden als die weib-
liche Tapferkeit im Ertragen. Der Sinn des Chinesen ist viel
weniger Individualistisch als der des Europäers. Das Leben des
einzelnen Menschen, auch das eigene, gilt ihm wenig. Für kör-
perlichen Schmerz scheint der Mongole wenig empfindlich zu
sein. Oberhummer 1 ) weist auf die Martern der chinesischen
Rechtspflege, das Harakiri der Japaner und den Marterpfahl
der Indianer hin und hält den Hang zur Grausamkeit für kenn-
zeichnend für die Mongoliden.
Mit der Züchtung auf Beharrlichkeit hängt die Abneigung
des Chinesen gegen den Krieg zusammen. Aus dem gleichen
Grunde hat er keinen Sinn für Sport. Sein Wille zur Macht ist
gering. Dagegen übertrifft er nach Oberhummer alle an-
dern Volker an geschäftlicher Geriebenheit. Uneigennützige
Freigebigkeit kennt der Chinese nicht. Auch materiellen Luxus
gibt es in China kaum. Dagegen steht die Bildung im Sinne
des vielen Wissens in hohem Ansehen. Der Chinese hat einen
starken Sinn für äußere Würde ; ein gewisses geistiges Man-
clarinentum scheint für alle mongoliden Rassen mehr oder we-
niger kennzeichnend zu sein. Der Chinese sucht unter allen
Umständen das Gesicht zu wahren und seine Gefühle unter
einem gleichmäßigen Lächeln zu verbergen.
Die stärkste Waffe des Mongolen im Wettbewerb mit an-
dern Rassen ist seine Bedürfnislosigkeit, die ihm im Verein mit
großer körperlicher Widerstandsfähigkeit und Zähigkeit das
Gedeihen auch in kümmerlichen Lebensverhältnissen ermög-
licht, an die der Europäer sich nicht anzupassen vermag.
Keine andere Rasse hat eine solche Ausdauer zu primitiver,
eintöniger Arbeit wie die mongolische. Trotz der eindeutigen
technischen Überlegenheit der Europäer, zumal auch in der
Kriegstechnik, haben die Mongolen, zumal die Chinesen, doch
größere Aussicht auf dauernden Bestand, da die Europäer ihre
Kriegstechnik immer wieder zu gegenseitiger Vernichtung miß-
1 ) Oberhummer, E. Völkerpsychologie und Völkerkunde. Wien 1923.
DIE /MONGOLIDEN RASSEN.
725
brauchen und in lebensfeindlicher Wertung befangen, ihre
besten Rassenelemente dem Aussterben zutreiben. Gegen diese
beiden Übe] scheinen die Mongolen durch ihre Wesensart
weitgehend gefeit zu sein.
Die mongoliden Indianer Amerikas sind an Kulturbega-
bung den Ostasiaten nicht gewachsen. „In den Indianerschulen
der Vereinigten Staaten geht die Entwicklung über ein tiefes
Durchschnittsmaß nicht hinaus" (O berhummer).
Die Indianer der Hochebenen (Mexiko, Peru, Bolivien) sind als Pflan-
zer auf Beharrlichkeit gezüchtet, die der Waldgebiete (Vereinigte Staaten,
Chile) als Jäger auf Beweglichkeit. Bezeichnenderweise haben nur diese
den europäischen Siedlern ernstlich zu schaffen gemacht. Jener romantische
Typus, der in den Indianerbüchern der Jugend verherrlicht ist, ist der der
kriegerischen Jäger, nicht der der viel zahlreicheren Pflanzer der Hochflä-
chen; und gerade die Bewegungstypen unter den Indianern (z. B. Sioux
oder Araukaner) erinnern in manchen Zügen (z. B. ganz unmongoliden
Adlernasen) an europide Rassen, so daß man sogar an europiden Rassen-
einschlag in vorkolumbischer Zeit gedacht hat, der indessen nicht in Frage
zu kommen scheint.
Über die mongoliden Rassenelemente Europas ist schwel-
et was Bestimmtes auszusagen, weil sie nur in Vermischung mit
andern vorkommen. Immerhin kann man sagen, daß sich euro-
päische Bevölkerungen mit starkem mongoliden Einschlag wie
die russische von solchen mit vorwiegend nordischer Rasse in
ähnlicher Richtung wie der Mongole vom Europäer unterschei-
den. Stark mongolid gemischte europäische Bevölkerungen sind
geistig wenig beweglich; sie haften am Hergebrachten und
gehen in der Gemeinschaft auf. Sie sind ein fruchtbarer Bo-
den für Massensuggestionen und Mandarinentum. Allerhand
Aberglaube gedeiht fast so gut wie in China, alte Zöpfe sind
kaum weniger schwer zu beseitigen. Der Sinn für Natur und
für Technik ist viel schwächer als in den Gebieten vorwiegend
nordischer Rasse. Die stark mongolid gemischten Russen sind
größer im Leiden und Erdulden als in der befreienden Tat.
„Das russische Volk hat nicht den Wunsch zu herrschen; es
ist von Natur passiv, ziemlich sanft, bereit zu gehorchen —
ähnlicher der weiblichen als der männlichen Natur." 1 ) Die
russischen Dichter sind größer in der psychologischen Einfüh-
lung als in der Gestaltung.
Ich habe während der großen Influenzaepidemie im Winter 1918/19
zahlreiche russische Gefangene sterben sehen. Während germanische Men-
1 ) R a d o s a w 1 j e w i t s c h , F. R. Eugenic problems of the slavic
race. In „Eugenics in Race and State". Baltimore 1923. Williams and
Wilkins Co.
726
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
sehen, die an einer schweren Infektionskrankheit sterben, sich mit allen
Kräften gegen den Tod zu wehren pflegen, starben die Russen mit fatalisti-
scher Ergebung. Ich hatte den starken Eindruck: das ist Asien. Entspre-
chendes wird von der großen Hungersnot des Jahres 192 t berichtet, die
die bolschewistische Revolution im Gefolge hatte: ,, Meist lag das Volk in
geduldiger Teilnahmslosigkeit und erwartete den Tod" 1 ).
In diesem Zusammenhang sei auch der „ostischen" Rasse Günthers,
die im wesentlichen mit der „alpinen" Rasse anderer Autoren zusammen-
fällt, gedacht. Er schildert sie als kleinlich, engherzig, gehässig, neidisch,
tmoffen, hinterhältig, widerborstig, mürrisch, unreinlich, ohne Schöpferkraft,
ohne Sinn für irgendwelchen seelischen Aufschwung, Tag für Tag in der
seelenlosesten Betriebsamkeit fortlebend usw. Gegenüber diesem verächt-
lichen Bilde hebt sich die Herrlichkeit der nordischen Edelrasse um so
glänzender ab; und auf dieser künstlerischen Kontrastwirkung beruht zum
großen Teil der starke Eindruck, den Günthers Buch gemacht hat 3 ); denn
die Masse der Leser urteilt nicht sachlich, sondern gefühlsmäßig wertend
und moralisierend. Günther hat das große Verdienst, die nordische Rasse
als Schöpferin und Trägerin der indogermanischen Kulturen überzeugend
dargestellt zu haben; die nichtnordischen Bestandteile des deutschen Vol-
kes aber hat er meiner Ansicht nach t.vl schematisch gesehen. Wesentlich
günstiger als das Bild der „ostischen" Rasse bei Günther erscheint das
der „alpinen" bei Fischer 3 ): „Die geistigen Gaben der alpinen Rasse
sind im allgemeinen lange nicht so hoch wie die oben geschilderten (der
nordischen), aber nach mancher Richtung auch besser entfaltet. Neigung
und Fähigkeit zu zäher, energischer Arbeit, nicht geringe Intelligenz zeich-
net sie aus, ebenso gut entwickeltes Gemeinschaftsgefühl. Hoher Phan-
tasieschwung fehlt, dagegen bringt es Fleiß, Energie und kluges Aus-
nützen der Verhältnisse zu Erfolg. Die Fähigkeit, Fremdes zu überneh-
men und weiterzubilden, ist nicht gering (suggestibel) trotz im Grunde
großer Beharrlichkeit."
Ich zweifle überhaupt, ob es zweckmäßig sei, eine „ostische" oder
„alpine" Rasse aufzustellen. Als einheitliche Bevölkerung kommt ein Typus,
wie er als „ostisch" oder „alpin" beschrieben wird, nirgends vor, insbeson-
dere auch nicht in den Alpenländem. Das Wort „Alpini" kommt in diesem
Zusammenhang zuerst in Linnes „Systems, naturae" vom Jahre 1735 vor.
L i n n 6 hat die „Alpini." unter den Monstrositäten aufgezählt und sie als
„parvi, agiles, timidi", d. h. klein, geschäftig und furchtsam gekennzeich-
net. Er schrieb diese Monstrosität dem Einfluß des Bodens zu: vielleicht
hatte L i 11 11 €, der die Alpenländer nicht aus eigener Anschauung kannte,
dabei die Kretinen im Sinne. Später haben Lapougc und Wilscr das
Wort „alpin" für die Bezeichnung einer geographischen Rasse aufgenom-
men. Die Abgrenzung dieses Rassenelements gegenüber dem mongoliden im
Osten und dem vorderasiatischen im Südosten ist immer unklar geblieben.
Es gibt unter Tataren, Finnen und Lappen einerseits, Armeniern und an-
deren Kaukasusvölkern andererseits zahlreiche Typen, die uns auch in Mit-
teleuropa nicht selten begegnen. Daß es sich dabei um nichtnordische Ele-
l ) Sorokin, P. Die Soziologie der Revolution. München 192S. S. 21.
3 ) Günther, H. F. K. Rasscnkunde des deutschen Volkes. 1. Aufl.
1922, 12. Aufl. 1928. München. J. F. Lehmann.
3 ) Fischer, E. In dem Sammelwerk „Anthropologie", Leipzig und
Berlin 1923. B. G. Teubner. S. 151.
DIE MEDITERRANE RASSE.
727
mente Imndelt, ist sicher; für die Aufstellung einer besonderen. Rasse fehlt
es meines Erachtens aber an genügenden Unterlagen. Entsprechendes gilt
auch von der „ostbaltischen Rasse" Günthers und anderer Autoren.
Ich halte es überhaupt für nicht glücklich, wenn von „den" Rassen
des deutschen Volkes gesprochen wird, gleich als ob innerhalb des deut-
schen Volkes mehrere deutlich abgrenzbare Rassen nebeneinander lebten.
Was geographisch verschieden verteilt ist, das sind nicht ganze Rasseu-
typen, sondern die einzelnen Erbeinheiten, z. B. solche, von denen die Haar-
farbe oder die Gestalt abhängen, und natürlich auch solche, die geistige
Eigenschaften bedingen. Wo in einer Bevölkerung nichtnordische körper-
liche Merkmale gehäuft vorkommen, da ist in der Regel auch die geistige
Eigenart weniger nordisch. Auf die geistige Eigenart des einzelnen Men-
schen kann man in einer solchen gemischten Bevölkerung aber nur mit einer
recht vagen Wahrscheinlichkeit schließen.
Als man zuerst auf die Häufung nichtnordischer Merkmale in ge-
wissen kargen Gegenden aufmerksam wurde, hat man diese als „Rückzugs-
gebiete" gedeutet, in die sich eine Urbevölkerung vor den erobernd vor-
dringenden Nordischen zurückgezogen hätte (Lapouge, Amnion). Da
aber eine Urbevölkerung von „ostischem" Typus nicht nachweisbar ist und
ebensowenig die spätere Einwanderung einer solchen, liegt es näher, anzu-
nehmen, daß die betreffenden Rassenclcmente in Mischung mit den nordi-
schen eingewandert sind und sich nachträglich von ihnen durch ökologische
Auslese teilweise gesondert haben. In den ärmlichen Rückzugsgebieten (Ge-
birgen, Mooren) konnten nur „kleine Leute" mit Erbanlagen zu Genügsam-
keit, Sparsamkeit und Beharrlichkeit ihren Lebensunterhalt finden.
Viel deutlicher als eine „alpine" Rasse ist in Südwesteuropa die me-
diterrane (mittelländische, von Günther „westische" genannte) Rasse
abgegrenzt. In Spanien und Norditalien ist allerdings auch heute noch viel
nordisches Blut in der Bevölkerung vorhanden, viel mehr als das verhält-
nismäßig seltene Vorkommen heller Haar- und Augenfarben es anzuzeigen
scheint. Da die Erbanlagen zu dunklen Farben sich dominant zu verhalten
pflegen, und da es nicht nur ein Paar, sondern mehrere von solchen gibt
(Polymerie), machen sich Erbanlagen zu hellen Farben, auch wenn sie einen
großen Teil der allelen Erbeinheiten überhaupt ausmachen, nur bei verhält-
nismäßig wenigen Individuen äußerlich bemerkbar.
Die mediterrane Rasse zeichnet sich gegenüber der
Beharrlichkeit der mongoliden durch eine gewisse Unruhe, Leb-
haftigkeit und Beweglichkeit aus. Die seelischen Unterschiede
der Bevölkerungen von Sizilien, Korsika, Nordwestafrika ge-
genüber denen Osteuropas einerseits, Nordeuropas andererseits
springen in die Augen. Der mediterrane Mensch hat we-
der die ruhige Arbeitsamkeit des mongoliden noch den Unter-
nehmungsgeist und die Energie des nordischen. Er hat in
höherem Grade als der mongolide Sinn für das Anschauliche,
für Gestalt, Linie, Farbe, Gebärde und bewegtes buntes Schau-
spiel. Der leichte Sinn des Südländers ist ein Erbteil des medi-
terranen Menschen; er nimmt das Leben weniger ernst als der
nordische. Leere Höflichkeitsformeln und nicht ernst gemeinte
728
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCII ARTEN.
Gesten spielen eine große Rolle, z. B. Anbieten von Geschen-
ken und Einladungen, von denen man erwartet, claß sie nicht
angenommen werden. Der Sinn für Wahrheit und Ehrlichkeit
ist geringer als beim nordischen Menschen. Der mediterrane
Mensch ist leidenschaftlich dem Augenblick und dem Sinnes-
eindruck hingegeben. In der Regel von kindlicher Heiterkeit,
unterliegt er leicht Stimmungssch wankungen je nach dem
Wechsel der Eindrücke und Erlebnisse. Hand in Hand damit
geht ein lebhafter Drang nach Äußerung der Gefühle durch
Worte und Gesten. Die rednerische Begabung ist demgemäß
groß, aber auch die Neigung, sich an Worten zu berauschen.
Der nordische Mensch empfindet die Wesensart des medi-
terranen als eine hebenswürdige Kmdlichkeit.
Ich beobachtete während des Krieges mehrfach, wie Soldaten aus
Süditalien bei der Vornahme von Schutzimpfungen, die so gut wie schmerz-
los waren, laut schrien: „O, niama, mama!" Bei nordischen, mongolischen
oder indianischen Kriegern wäre das wohl undenkbar.
Auch eine kindliche Grausamkeit kommt bei der mediter-
ranen Rasse vor; die Stierkämpfe als Volksbelustigung sind
kennzeichnend für sie. Obwohl der mediterrane Mensch über
eine nicht geringe natürliche Schlauheit verfügt, steht er an
eigentlicher Verstandesbegabung anscheinend den. andern euro-
piclen Rassen nach. Bei den amerikanischen Rekrutenunter-
suchungen schnitten die Italiener und Griechen in der Bega-
bungsprüfung nicht gut ab (vgl. S. 735). In Südamerika hat die
mediterrane Rasse sich den einheimischen Indianern und den
Negern entschieden überlegen erwiesen; sie bildet dort eine
Herrenschicht über einer ans indianischen und negriden Ele-
menten bestehenden Bevölkerung, in den tropischen Gebieten
in vielfacher Vermischung mit ihr. Auch hier ist allerdings an
den nordischen Einschlag dex Spanier und Portugiesen zu er-
innern, der In der Zeit der Entdeckung und Eroberung Süd-
amerikas noch größer war als heute. Zu den großen Kul-
turen im Bereich des Mittelmeeres, der altägyptischen, der
mykenischen, der etruskischen, der hellenischen, der römi-
schen und islamitischen hat die mediterrane Rasse ein wesent-
liches Element geliefert, aber als eigentliche Schöpferin dieser
Kulturen kann sie wohl nicht angesehen werden.
Die orientalische Rasse, die man als einen Sonder-
zweig der mediterranen ansehen kann, zeichnet sich nicht nur
durch Klugheit, sondern auch durch Energie und Unterneh-
mungslust aus. Zu der ruhigen stetigen Arbeit des Ackerbauers
hat sie noch weniger Neigung, sie neigt vielmehr ausgespro-
DIE VORDERASIATISCHE RASSE.
729
chen zum Nomaclentum. Auch kühne Seefahrer wie die Phö-
nikier hat sie hervorgebracht. Den Phönikiern wird die Er-
findung der Buchstabenschrift zugeschrieben, die gegenüber
der Bilderschrift einen ungeheuren Vorteü bedeutet. Auch die
sogenannten arabischen Zahlen, die auf dem verschiedenen
Stellenwert der Ziffern beruhen, scheinen im Bereich der orien-
talischen Rasse erfunden worden zu sein. Orientalische Ras-
senclemente bildeten eine Herrenschicht in einem großen Teile
Afrikas, bis ihre Plerrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts
vor der europäischen Kolonisation zusammenbrach. Die orien-
talische Rasse dürfte als die hauptsächlichste treibende Kraft
der altägyptischen Kultur anzusehen sein, ebenso der phöniki-
schen und punischen, der altjüdischen und der arabischen Kul-
tur des Mittelalters. Auch an der assyrisch-babylonischen Kul-
tur kommt ihr wohl ein großer Anteil zu. Sehr einschneidend
ist auch ihr Einfluß auf die moderne abendländische Kultur,
und zwar dadurch, daß sie einen wesentlichen Bestandteil der
jüdischen Bevölkerung bildet.
Die vorderasiatische Rasse verfügt neben einem
hohen Grad von Klugheit über eine besondere Fähigkeit, sich in
die Seele ariderer Menschen einzufühlen und sich danach zu
richten. Die Völker von vorwiegend vorderasiatischer Rasse
wie Juden, Griechen, Armenier zeichnen sich durch eine beson-
dere Gewandtheit im Handel und Verkehr aus, worauf schon
Kant aufmerksam gemacht hat. Auch, die Parsen scheinen
ähnlich veranlagt zu sein.
v. Lusclun 1 ), der sich um die Erforschung der vorderasiatischen
Rasse besonders verdient gemacht hat, sagt von der „bekannten Geschäfts-
tüchtigkeit" der Juden: ,,Abcr diese Eigenschaft kommt nicht etwa den
Juden allein zu, sondern genau so auch anderen Orientalen, ganz besonders
den Griechen und den Armeniern. Das erhellt schon daraus, daß im ganzen
Orient in vorwiegend von Griechen oder Armeniern bewohnten Städten die
Juden nur schwer oder niemals Fuß fassen können. Der Volkswitz drückt
das in drastisch übertriebener Weise so aus, daß gesagt wird, auf sieben
Juden ginge erst ein Grieche und auf sieben Griechen erst ein Armenier,
was besagen soll, daß ein Armenier noch 49111a! so schlau und geschäfts-
tüchtig sei als ein Jude." Diese Eigenart konnte sich gerade in Vorder-
asien, dem Verbindungsgliede zwischen Afrika, Asien und Europa, ent-
wickeln. Eine besondere geistige Eigenart der Juden leugnet v. Luschan;
es handle sich vielmehr um die allgemein vorderasiatische.
Allen Vorderasiaten ist die Neigung gemeinsam, als Min-
derheiten unter andersartigen Bevölkerungen zu leben. Die vor-
derasiatische Rasse ist weniger auf Beherrschung und Aus-
l ) v. Luschan, F. Völker, Rassen, Sprachen. Berlin 1922. Weltverlag.
730
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
nützung der Natur als auf Beherrschung und Ausnützung an-
derer Menschen gezüchtet. Trotz ihrer hohen Vcrstandesbe-
gabung ist ihre Fähigkeit zur Staatenbildung daher gering.
Die vorderasiatische Rasse kommt der nordischen an Phanta-
siebegabung nicht gleich, wohl aber an Fähigkeit der Ab-
straktion; an formaler Logik und Dialektik ist sie ihr
eher überlegen, auch an einfühlendem Verstehen, an Rührig-
keit und Beweglichkeit. Im ganzen ist ihre Wesensart weniger
männlich'.
Die vorderasiatische Rasse hat offenbar einen hervor-
ragenden Anteil an der assyrisch-babylonischen und der alt-
jüdischen Kultur gehabt, einen geringeren auch wohl an der
etruskisclien, der hellenischen und einen einschneidenden wie-
der an der hellenistischen. Seeck 1 ) hat darauf hingewiesen,
daß die berühmten Schriftsteller der hellenistischen Zeit fast
alle aus dem Orient stammten. Ich möchte hinzufügen, daß
die hauptsächlichsten Träger der stoischen, der neuplatoni-
schen, der alexandrinischen und der urchristlichen Lehre vor-
derasiatischer Herkunft waren. In der Eigenart der hellenisti-
schen Kultur, die der Schöpferkraft fast ganz ermangelt, zeigt
sich zugleich die mehr vermittelnde als eigentlich schaffende
Begabung der vorderasiatischen Rasse. In der modernen
Welt ist ihr Einfluß wieder fast so stark wie in der helleni-
stischen.
Der vorderasiatische Mensch orientiert sich mehr durch
den Gehörssinn, der vorwiegend vom Seelischen Kunde gibt, als
durch den Gesichtssinn, der das Körperliche zur Anschauung
bringt. An Redegewandtheit und Fähigkeit des Ausdrucks
durch Gebärden übertrifft er alle anderen Rassen. Sein Sinn
für Form und Gestalt dagegen ist gering.
Die vorderasiatische Rasse ist ausgesprochen musikalisch. Von den
großen Musikern zeigen auffallend viele vorderasiatische Züge. Ein großer
Teil der berühmten Musiker sind Juden (Mendelssohn, Meyerbeer, Offen-
back, Rubinstein, Joachim, Mahler, Konigold, Auber, Mascagtü, Leon-
cavallo) oder Ilalbjuden (Iialevy, Blzei). Die musikalische Begabung hängt
eng mit der Fähigkeit der Einfühlung in andere Seelen zusammen.
Auch die Neigung zu Sinnlichkeit und Grausamkeit, die man dem
Vorderasiaten nachsagt, hat wohl etwas damit zu tun. Die seelische Ein-
fühlung ermöglicht es einerseits, fremdes Leid als eigenes mitleidend zu er-
leben, aber auch, es in wollüstiger Grausamkeit zu genießen. Einen extre-
men Typus dieser Art hat Shakespeare in seinem Shylock gezeichnet.
1 ) Seeck, O. Geschichte des Untergangs der antiken Welt, 4. Aufl.
Berlin 1922.
DIE NORDISCHE RASSE.
731
Andererseits ist das Gebot „Du sollst nicht töten" ein typischer Ausdruck
vorderasiatischen Geistes. Der nordische Mensch ist darin naiver. ^
Die Aufstellung einer besonderen „dinarischen Rasse" halte ich nicht
für zweckmäßig. Man sieht gegenwärtig öfter deutsche Menschen, die eine
abwärts gebogene Nase und dunkle Farben haben, besonders Österreicher
und Bayern, als „Dinarier" abgebildet. Das ist irreführend. Die betreffen-
den Leute dürften in Wahrheit meist von überwiegend nordischer Erbmasse
sein. Es besteht auch sonst kein Anlaß, das deutsche Volk in der erwähnten
Weise aufzuteilen. Günther meint: „Der dinarischen Rasse scheint krie-
gerische Neigung und Tüchtigkeit eigen zu sein wie der nordischen, eine
gewisse händlerische und kaufmännische Begabung fällt den Beobachtern
auf. Sie scheint zu leichterer Erregbarkeit zu neigen, zu schnellerem Auf-
brausen, ja zum Jähzorn und zu besonderer Rauflust." „Der dinarischc
Mensch ist meist ein guter Menschenkenner und weiß besonders die mehr
lächerlichen Seiten des Menschenlebens trefflich mit Worten wiederzu-
geben." Günther nennt weiter Begabung für Schauspielkunst und Musik
und meint, es sei sicherlich kein Zufall, daß Musiker so häufig dinarische
Züge zeigen. Das alles scheint auch mir richtig zu sein; es sind aber alles
Züge, die wir teils von der nordischen, teils von der vorderasiatischen und
teils von der mediterranen Rasse kennen, d. h. von jenen Rassen, deren
körperliche Merkmale im „dinarischen" Gebiet in mannigfachen Verbindun-
gen vorkommen. Die bosnischen und sloveni sehen Händler, die den „dina-
rischen" Typus besonders ausgesprochen aufweisen, sind vorderasiatischen
Händlern auch in ihrer Wesensart ähnlich. Ebenso wie körperliche Merk-
male der vorderasiatischen Rasse sich nicht nur auf der Balkanhalbinsel,
sondern durch Mitteleuropa bis weit nach Frankreich hinein verbreitet fin-
den, so auch seelische. Das Geschlechtliche steht nicht nur bei den Juden
und andern Orientalen, sondern auch bei den Südslaven und Franzosen
eigentümlich im Vor der gründe des Seelenlebens. Der „esprit gaulois" ist
nicht für die nordischen Kelten, wohl aber für die genannten Gruppen kenn-
zeichnend. Charakteristische Züge vorderasiatischen Wesens scheint mir z. B.
Rousseau zu bieten mit seiner glühenden erotischen Phantasie, schier fabel-
haften Kunst der Einfühlung und der demagogischen Wirkung. Rousseau
selber empfand das nordische Wesen als Gegensatz zu seinem eigenen, und
er hat in dem angelsächsischen Gatten seiner Julie den nordischen Typus
zu schildern versucht, wobei er allerdings die nordische Innerlichkeit und
Selbstbeherrschung als Temperamentlos] gkeit mißverstanden hat. Das Nor-
disch-Männliche war ihm unbehaglich, und seine Werke haben überhaupt
etwas Unmännliches wie auch sonst die Werke vorderasiatischer Schrift-
steller.
Die nordische Rasse hat die indogermanischen (ari-
schen) Sprachen und Kulturen geschaffen. So ist die arische
Kultur Indiens eine unverkennbare Folge der Eroberung des
Landes durch die Arier, die in der zweiten Hälfte des zweiten
vorchristlichen Jahrtausends dort eindrangen. Sie haben aller-
dings in Indien von vornherein nur eine wenig zahlreiche Hcr-
renschicht über einer Bevölkerung gebildet, die rassisch den
Mediterranen und Orientalen verwandt ist. Mit der Verdün-
nung des nordischen Blutserbes infolge Vermischung einer-
732
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
scits und seiner Verminderung durch klimatische Auslese an-
dererseits ging auch die Schöpferkraft der indischen Kultur
herunter. Die Macht und Blüte des alten Perserreichs ruhte auf
den Schultern eines nächstverwandten Zweiges der Arier; die
Lehre Zarathustras ist durchaus eine Schöpfung nordischen
Geistes. Mit dem Versiegen der nordischen Herrenschicht fand
auch diese Kulturblüte ihr Ende. Die althellenische Kultur
schloß sich an die Einwanderung der nordischen Vorfahren
der Hellenen an. Daß in den ersten Jahrhunderten der helle-
nischen Kultur die Herrenschicht von nordischer Rasse war,
ist aus den überlieferten Bildwerken ersichtlich. 1 ) Außerdem
haben mehrere Schriftsteller die Kassenmerkmale der alten
Hellenen deutlich beschrieben; so hat Polemon berichtet,
daß die Hellenen, wo sie ihre Rasse rein erhalten hätten, hoch-
wüchsige Männer mit heller Haut und blondem Haar waren.
Auch Aristoteles hat sich noch ganz ähnlich geäußert.
Die althellenische Kultur fand ihr Ende mit dem Dahin-
schwinden der nordischen Rasscnelemenre. Das römische Welt-
reich hatte seine Wurzeln in den mit den Kelten verwandten
Italikern, die ebenso wie die übrigen Kelten jener Zeit von
nordischer Rasse waren.
Die Germanenreiche, die aus der sogenannten Völkerwan-
derung hervorgingen, wurden gegründet von Stämmen nordi-
scher Rasse. Das deutsche Kaiserreich des Mittelalters ruhte
ganz und gar auf den Schultern von Germanen. Weite Küsten-
gebiete des Mittelalters beherrschten seefahrende Normannen.
In der italienischen Renaissance äußert sich das Blut der
Langobarden. Auf dem Boden des oströmischen Reiches, das
nicht von nordischen Stämmen, sondern von den mongoliden
Türken erobert wurde, ist keine Renaissance erblüht. Die ibe-
rische Halbinsel, die im Vergleich mit den beiden andern süd-
lichen Halbinseln in früh geschichtlicher Zeit nur eine geringe
nordische Einwanderung erfahren hatte, erlebte auch keine
solche Kulturblüte im Altertum. Nachdem aber die Westgoten
nach Spanien gekommen waren, erstand im ausgehenden Mit-
telalter ein spanisches Weltreich, in dem „die Sonne nicht un-
terging 1 '. Auch für die Entdeckungen und Eroberungen der
Portugiesen hat der nordische Bluteinschlag offenbar entschei-
x ) Eine Fülle von Anschauungsmaterial enthält das Werk von Anton
H ekler, „Die Bildniskunst der Griechen und Römer"; und es wirkt um
so überzeugender, als der Verfasser bei der Auswahl der Bilder sich gar
nicht von Gesichtspunkten der Rassenforschung hat leiten lassen.
DIE NORDISCHE RASSl
733
dende Bedeutung gehabt. Die Reformation wurde aus der
Eigenart nordischen Geistes geboren, und sie hat im großen
und ganzen nur die Länder mit überwiegend nordischer Bevöl-
kerung erobert. Das niederländische Volk hat in der Seegel-
tung Hervorragendes geleistet und ein großes und. blühendes
Kolonialreich begründet. Das schwedische Volk hat unter
Gustav Adolf und Karl XII. eine gewaltige politische Stoß-
kraft entfaltet, Die französische Macht der vergangenen Jahr-
hunderte ruhte auf den Nachkommen von Franken, Goten,
Burgunden und Normannen. Das große russische Reich wurde
von Normannen (Warägern) begründet. Die angelsächsische
Kolonisation Nordamerikas, Südafrikas und Australiens in den
letzten drei Jahrhunderten, die von den Nachkommen ^ von
Sachsen und Normannen getragen wurde, stellt die gewaltigste
Ausbreitungswelle nordischen Blutes seit der Völkerwanderung
dar, vielleicht die gewaltigste der Weltgeschichte überhaupt.
Arische Sprachen und Kulturgüter sind heute nicht nur über
fast ganz Europa verbreitet, sondern auch über Nord- und Süd-
amerika, Südafrika, Australien, Indien und große Teile Vor-
derasiens und Sibiriens. Die nordische Rasse dagegen ist aus
einigen dieser Gebiete praktisch wieder verschwunden und über-
all im Rückgange.
Die moderne abendländische Kultur ist durchaus nicht
gleichmäßig über die Erde verteilt; sie ist hauptsächlich in
den Ländern mit überwiegend nordischer Rasse oder solchen,
die wenigstens einen starken Einschlag nordischer Rasse ha-
ben, zu Hause. Die großen wissenschaftlichen Entdeckungen,
die Erfindungen und sonstigen, geistigen Errungenschaften der
Gegenwart kommen fast alle entweder aus der nordwestlichen
Hälfte Europas (diese einschließlich Finnlands, Österreichs
und der Schweiz gerechnet) oder aus Nordamerika.
Die Bevölkerung Südeuropas ist der Nordeuropas an gei-
stiger Begabung nicht gewachsen, die Osteuropas nicht der
Westeuropas. Man vergleiche etwa die Süditaliener mit den
Skandinaviern, die Tataren mit den Angelsachsen. Galton 1 )
hat die Begabung der Bevölkerung Nordenglands und Schott-
lands um einen ganzen Grad seiner Einteilung höher einge-
schätzt als die der stark mediterran gemischten Bevölkerung
des übrigen England. Er hat gefunden, daß die Zahl der her-
vorragenden Männer aus dem Norden Englands weitaus grö-
ßer ist, als der Bevölkerungszahl entspricht. Entsprechend er-
!) A. a. O. vgl. S. 666.
734
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
gibt sich aus den Erhebungen Odins 1 ) über die Herkunft der
großen Männer in Frankreich, daß die allermeisten aus den
nordisch besiedelten Landestcilen stammen. R i p 1 e y 2 ) hat
das Ergebnis in Kartenform dargestellt. In Amerika haben
Cattell ;! ) und Woods 4 ) festgestellt, daß jene Männer, die
im kulturellen Leben der Vereinigten Staaten führend gewesen
sind, unverhältnismäßig häufig aus Nationen von vorwie-
gend nordischer Rasse stammten, in zweiter Linie aus dem
Judentum. Gleichsinnige Ergebnisse hat auch Ter man 5 ) bei
der Erforschung der Abstammung von 1000 besonders begab-
ten Kindern Kaliforniens gehabt. Auch diese stammten in
erster Linie von Angehörigen der nordischen Nationen der
nordwestlichen Hälfte Europas ab, in zweiter Linie von Juden.
Nachkommen südeuropäischer und farbiger Völker waren
praktisch unter den hochbegabten Kindern überhaupt nicht
vertreten.
Außer der geographischen Verteilung kann man auch die Konfession
zur mittelbaren Erfassimg der Rassemmterschiede heranziehen. De Can-
d o 11 e s ) hat gefunden, daß unter den Mitgliedern der bedeutendsten wis-
senschaftlichen Akademien der Anteil der P rote stauten fast das Vierfache
der nach ihrem Anteil an der Bevölkerung Europas zu erwartenden Zahl
betrug. Er hat die Erklärung in dem Religionsunterschicd gesucht, doch ist
der Zusammenhang vermutlich ein mittelbarer, indem die Protestanten zu
einem höheren Prozentsatz der nordischen Rasse angehören. Das autoritäre
Wesen der römischen Kirche widerstrebt dem nordischen Menschen; er
kann die persönliche Freiheit, zumal die geistige nicht entbehren. Anderer-
seits ist zu bedenken, daß die katholischen Bevölkerungen seit vielen Jahr-
hunderten in jeder Generation einen großen Teil der hohen geistigen An-
lagen durch die Ehelosigkeit der Geistlichen verloren haben.
Die schon erwähnten Begabungsprüfungen an amerikani-
schen Rekruten werfen auch auf die Begabungsunterschiede
der europäischen Rassen Licht. Die Verteilung der Begabungs-
grade unter den in Europa geborenen Rekruten zeigt folgende
Tabelle :
!) Odin, A. Genese des grands hommes. Paris 1895. H. Welter.
3 ) Ripley, W. Z. The races of Europc. 2. Aufl. New York and
London 1 9 1 o. Appleton.
s ) Cattell, J.Mc.K. A Statistical study of eminent men. Populär
Science Monthly. Bd. 62. 1903.
4 ) W o o d s , F. A. The racial origin of successful Americans. Popu-
lär Science Monthly. Bd. S4. 1914.
s ) A.a.O. vgl. S. 699.
6 ) De Candolle, A. Histoire des sciences et des savants depuis
deux siecles. Genf 1873. (Deutsche Ausgabe von W. Ostwald, Leip-
zig [91 1.)
DIE NORDISCHE RASSE.
735
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423
Zahl der
Falte
129
325
299
411
572
140
658
4007
611
301
382
2340
A
_
0.6
3,3
5,6
5,0
1,2
0,2
0,6
1,7
_
0,4
4,8
1,3
0,4
B
0,8
4,8
5,0
14,1
2,1
5,7
2,9
0,6
3,5
1,7
0,5
2,3
8,2
3,0
3,0
c+
11,6
16,2
17,6
24,0
2,1
21,4
8,4
2,3
8,9
6,7
3,1
4,8
25,4
12,6
5,7
c
39.2
32,4
31,8
12,4
36,7
25,0
29,0
24,4
36,0
32,3
19,5
22,1
19,2
37,0
34,4
C —
24,0
33,0
27,8
35,4
15,7
33,7
18,6
9,1
25,9
20,0
7,3
10,5
28,8
26,8
1 4,7
D
18,6
12,8j11,7
6,0
35,1
8,5
26,2
40,0
21,8
27,5
43,5
40,0
10,9
17,1
30,4
D— , E
5,4
0,6
3,3
2,7
8,5
0,7
13,2
23,4
3,8
10,0
26,4
20,4
2,7
2,3
11,6
Durch. -
sclmittl.
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13,9
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12,3
11,0
13,0
12,3
10,7
11,3
14,3
13,3
12,0
gcnzalter
Die Prozentzahlen sind dem vonYerkes 1 ) herausgegebe-
nen offiziellen Bericht entnommen; das „Inteiligenzalter" ist
von Prof. Brigham von der Princeton -Universität berechnet
worden. 2 )
Wenn man die Stammländer nach der Reihenfolge der
durchschnittlichen Begabung der untersuchten Rekruten ord-
net, so ergibt sich das Bild der Fig. 209. Die Zahlen hinter den
Ländernamen geben das sog. „Intelligenzalter" an, die waage-
rechten Zahlen die Hundertsätze, in denen die verschiedenen
Begabungsgrade in den verschiedenen Gruppen vertreten waren.
Länder, aus denen weniger als 100 Rekruten stammten, sind
nicht aufgenommen; daher sind z.B. Frankreich und Spanien
nicht vertreten.
Man darf allerdings die Begabung der Rekruten nicht
einfach der durchschnittlichen Begabung ihrer Herkunftslän-
der gleichsetzen. Es ist vielmehr zu vermuten, daß die nach
Amerika Ausgewanderten eine Auslese darstellen, die bei man-
chen Nationen eine günstige, bei andern eine ungünstige sein
kann. Das hervorragend gute Abschneiden der Einwanderer
aus England und Schottland dürfte zum guten Teil darauf zu-
rückzuführen sein, daß die Ausübung höherer Berufe in Ame-
rika im allgemeinen die Beherrschung der englischen Sprache
voraussetzt. Angehörige der höheren Stände finden im allgemei-
nen nur dann standesgemäße Berufsmöglichkeiten in Amerika,
ij~Ä".ITo. vgl. S. 717.
2 ) Ycrkes, R. M. Eugenic bearing of measuremenls of intclligence
in the United States army. The Eugenics Review. Bd. 14. Nr. 4. 1923.
736
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
wenn sie aus einem englisch sprechenden Lande stammen. Und
da die höheren Berufe zugleich eine Auslese nach höherer In-
telligenz darstellen, erklärt sich der große Anteil höherer Be-
gabungen unter den Einwanderern aus England und Schott-
land. Einwanderer aus anderen Ländern dagegen können in
Amerika meist nur als Handarbeiter oder in anderer abhängi-
ger Stellung einen Lebensunterhalt finden, nur zum Teil noch
als bäuerliche Siedler. Darauf dürfte das verhältnismäßig un-
günstige Abschneiden der Einwanderer aus Skandinavien zu-
rückzuführen sein. In Anbetracht dieser Umstände sind die Er-
gebnisse der Intelligenzprüfung der Einwanderer aus Irland, die
doch meist gut englisch sprechen, auffallend schlecht ; sie spre-
chen dafür, daß die Iren im Durchschnitt erheblich weniger
begabt als die Skandinavier sind. Das schlechte Ergebnis bei
den „Russen" und „Polen" ist um so auffallender, als es sich
zum großen, vermutlich sogar zum allergrößten Teil in Wirk-
lichkeit um Juden handelt. Die einwandernden Juden ernähren
sich in Amerika zunächst meist als Schneider oder sonstige
Fig. 209.
Ergebnisse der Begabungsprüfung von 1 1 435 in Europa geborenen Rekruten
des amerikanischen Heeres.
DIE NORDISCHE RASSE.
737
kleine Handwerker, auch als Kleinhändler. Das bedingt eine
ungünstige geistige Auslese der Einwanderer. Dazu kommt
noch, daß die auf anschauliche Begabung zugeschnittenen
Betatcsts gerade der abstrakten Begabung der Juden wenig
entsprechen. Auch unter den Österreichern waren viele (galizi-
sche) Juden. Österreich ist in seinem Vorkriegs umfang gemeint.
Die Deutschösterreicher für sich allein würden vermutlich er-
heblich besser abgeschnitten haben. Bei dem Vergleich zwi-
schen England und Deutschland ist zu berücksichtigen, daß
Schottland und Irland gesondert behandelt worden sind,
Deutschland aber nur als Ganzes. Wenn die verschiedenen
Länder Deutschlands gesondert behandelt worden wären, so
würden einige vermutlich nicht schlechter abgeschnitten haben
als. England und Schottland. Man soll nicht vergessen, daß
das eigentliche angelsächsische Element aus Nordwestdeutsch-
land stammt.
Unter Berücksichtigung dieser verschiedenen Umstände
kann man als Ergebnis feststellen ; D i e L ä 11 cl e r der nord-
westlichen Hälfte Europas stehen ausnahms-
los in der ersten Hälfte der Reihe. Das aber sind jene
Länder, die den stärksten Anteil nordischer Rasse enthalten,
genauer der schlanken und der schweren blonden Rasse.
Ich glaube nicht, daß es übertrieben ist, wenn man sagt,
daß die nordische Rasse hinsichtlich der geistigen Begabimg
an der Spitze der Menschheit marschiert. Auch der vorderasia-
tischen und der orientalischen Rasse ist sie an schöpferischer
Kraft des Geistes überlegen, wenn auch nicht an aufnehmender
Intelligenz. Allerdings sind gewisse vorderasiatisch-orientalische
Elemente unter den Juden ihr auf manchen Gebieten des gei-
stigen Lebens gewachsen, auf; einzelnen sogar überlegen. Die
nordische Rasse verdankt ihre führende Stellung im übrigen
nicht nur ihrer hohen Verstandesbegabung, sondern nicht min-
der auch ihren Charaktereigenschaften.
Der nordische Mensch ist von allen am wenigsten dem
Augenblick hingegeben; er übertrifft alle andern Rassen an
Willensenergie und sorgender Voraussicht. Infolge der vor-
dcnklichen Sinnesart werden die sinnlichen Antriebe weiter ge-
steckten Zielen untergeordnet. Die Selbstbeherrschung ist viel-
leicht der bezeichnendste Wesenszug der nordischen Rasse;
und auf ihr beruht zum guten Teil ihre Kulturbegabung. Ras-
sen, die ihrer ermangeln, sind nicht befähigt, sachliche Ziele
auf lange Sicht zu verfolgen und durchzusetzen.
B nur- F ischer-IfCiiz I. 47
738 FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Die seelische Eigenart der nordischen Rasse hängt offen-
bar mit der nordischen Umwelt zusammen, aber nicht so, daß
das naßkalte Klima unmittelbar ihre sorgende Sinnesart er-
zeugt hätte, sondern vielmehr in dem Sinne, daß Sippen mit
dem leichten Sinn des Südländers, die nicht auf lange Zeit
vorauszudenken pflegten, viel häufiger im nordischen Winter
zugrandegingen. Die Rasse ist also in gewissem Sinne das
Produkt ihrer Umwelt, aber nicht das direkte Produkt der Um-
welt im lamarckistischen Sinne, sondern das Züchtungspro-
dukt der Umwelt. Von wesentlicher Bedeutung sind dabei na-
türlich auch die ursprünglichen Entwicklungsmöglichkeiten
einer Rasse. Auch mongolide Rassen sind durch Auslese an
nördliches Klima angepaßt worden. Während aber bei der
nordischen Rasse die Überwindung der Unwirtlichkeiten der
Umwelt durch Steigerung der geistigen Kräfte erreicht wurde,
geschah, die Anpassung der arktischen Mongoliden durch Züch-
tung äußerster Bedürfnislosigkeit. ;
Der Züchtung durch die nordische Umwelt verdankt der
nordische Mensch auch wohl seine Begabung für Technik wie
überhaupt für Meisterung der Natur. Menschen, die in der
nordischen Umwelt sich behaupten wollten, mußten dauerhafte
Häuser und seetüchtige Schiffe zu bauen verstehen. Die nor-
dische Rasse stellt daher die meisten Tecliniker und Erfinder.
Sie ist mehr für Naturwissenschaften als für historische und
philologische Wissenschaften begabt.
In den letzten Jahrzehnten sind über ioo der hervor-
ragendsten Forscher auf dem Gebiet der Physik, Chemie und
Medizin mit dem von dem schwedischen Industriellen Nobel
gestifteten Preise ausgezeichnet worden. Die Preisrichter setzen
sich aus führenden Männern der schwedischen Wissenschaft
zusammen. Bis auf ganz wenige Hundertteile stammen alle
Träger des Nobelpreises aus der nordwestlichen Hälfte Euro-
pas oder aus Bevölkerungen, die von da ausgegangen sind wie
die Nordamerikas. Allerdings sind über ein Zehntel von diesen
Juden (vgl. S. 751). Von den Trägern des Nobelpreises für
Literatur und für Frieden sehe ich ab, da es in diesem Zu-
sammenhang mehr auf die wissenschaftliche Begabung zumal
die für Naturwissenschaft ankommt.
Kennzeichnend ist auch die Vorliebe der nordischen Rasse für die See.
Schon im frühen Mittelalter sind nordische Wikinger auf den unermeß-
lichen Ozean hinausgesegelt und über Island nach Nordamerika gelangt.
Außer nordischen haben nur wenige Stämme aus verwandten Rassen eine
eigentliche Seeschiffahrt entwickelt (alte Bevölkerung der westlichen Mittel-
DIE NORDISCHE RASSE.
739
meerküsten, Phönikier, Polynesier). Für sämtliche negriden und mongo-
liden Rassen sowie auch für die vorderasiatische dagegen ist das Wasser
ein unheimliches Element, das keine Balken hat, geblieben. Die alten Hel-
lenen haben ihre Neigung und Begabung für Seefahrt von ihren nordischen
Ahnen geerbt, ebenso ihren Sinn für Plastik und Baukunst sowie für tief-
dringende Forschung, aber auch ihren geringen Sinn für Gemeinschaft,
ihre mangelhafte Fähigkeit der Einordnung in einen großen Verband, die
ihnen schließlich zum Verhängnis geworden ist.
Die nordische Umwelt erlaubte in frühen Zeiten nicht, daß die
Menschen in großen Gemeinschaften lebten. Bei der nordischen Rasse
wurde daher die Neigung zur Vereinzelung, zur Einzel sie delung gezüchtet.
Die Neigung zur Ausdehnung, zur Entfernung vom Nachbar, ja zu Zwist
und Kampf war für sie in jener Umwelt erhaltungsgcmäß. Während der
letzten Eiszeit lebten die Vorfahren des nordischen Menschen in den eis-
freien Strichen nördlich der großen von den Pyrenäen bis zum Kaukasus
reichenden Gebirgskette so gut wie ausschließlich von der Jagd. Sic griffen
nicht nur das riesige Mammut, sondern auch den gewaltigen Höhlenbären
mit den primitiven Waffen der älteren Steinzeit an, überwältigten und ver-
zehrten sie. Derartige Lebensbedingungen erforderten todesverachtende
Kühnheit und Angriffslust; und folglich wurden sie gezüchtet. Auch in den
ersten Jahrtausenden nach der Eiszeit, als der Cro-Magnon-Mensch als
Rentierjäger nach Nordeuropa vordrang, war die Jagd die wesentliche
Grundlage der Wirtschaft. So wurde die nordische Rasse als Bewegungs-
rasse gezüchtet.
Erst mit Beginn der jüngeren Steinzeit vor rund 7000 Jahren kam
der Ackerbau nach Nordeuropa. Damit setzte die Züchtung eines seßhaf-
teren Typus ein. In der Indogermanenzeit ist das Bauerntum der „Lebens-
quell der nordischen Rasse" (Darre). Mit der Entwicklung einer vielsei-
tigeren Wirtschaft fanden auch die beweglichen Rassenelemente wieder neue
Lebensmöglichkeiten. Die Wikinger lebten ähnlich wie die ionischen Hel-
lenen hauptsächlich von Seefahrt und Handel.
Die Ausbreitung der Indogermancn wurde durch ihre krie-
gerische Überlegenheit ermöglicht. Die Neigung zu Kampf und
Krieg ist echt nordisch. Wo es gilt, eine Not zu wenden durch
kühnen Angriff, da ist der nordische Mensch zur Stelle.
Die Kehrseite dieser Kühnheit ist die leidige, in der Ge-
schichte immer wiederkehrende gegenseitige Vernichtung nor-
discher Menschen und Gemeinwesen. Die Isländersagas sind
voll von Mord und Totschlag. Und dennoch ist der nordische
Mensch nicht eigentlich grausam. Es treibt ihn nicht dazu,
fremdes Leid zu genießen; seine Kampflust und Kühnheit
achtet fremdes Leben nur gering wie auch das eigene.
Der Vorliebe für Kampf und Krieg ist die Sportbegeiste-
rung verwandt. Unter Sportsleuten ist der schlanke nordische
Typus unverhältnismäßig stark vertreten. Es scheint zum Teil
die Gefahr als solche zu sein, die nordische Menschen reizt
und sie veranlaßt, sich in Hochtouristik, Skispringen und Flug-
sport zu betätigen. In der sportsmäßigen und militärischen
740
'RITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN,
„Haltung" des nordischen Menschen kommt die verhaltene
Energie, d. h. die Fälligkeit zur Leistung, zum Ausdruck.
Ein Chinese sah im Europäerviertcl einer chinesischen Hafenstadt Ten-
nisspielern zu, die im Schweiße ihres Angesichts ihre Kräfte maßen.
Schließlich fragte er kopfschüttelnd einen europäischen Begleiter: „Warum
lassen die das nicht von Kulis machen?" Der Chinese spart seine Kräfte;
er ist nicht auf Umsatz, sondern auf Ansatz gezüchtet. Er weiß keinen Krieg
zu führen, obwohl er zäh im Widerstände ist. Er tritt nicht als Eroberer
auf; er schiebt statt dessen seine kleinbäuerlichen Siedlungen vor; und es
sieht so aus, als ob diese Veranlagung im Daseinskampf der Rassen schließ-
lich überleben wird.
Die nordische Kühnheit befähigt nicht nur zu kriegerischen
Taten, sondern sie kann auch die treibende Kraft für Großtaten
des Geistes sein. Bei Erkenntnissen von umwälzender Trag-
weite ist oft der Mut zur Wahrheit entscheidend. Daher hat
die nordische Rasse eine stolze Zahl großer Denker und For-
scher gestellt. Auch große Staatsmänner bringt die nordische
Rasse hervor. Treitschke hat Niedersachsen das „Land der
staatsmännischen Köpfe" genannt. In der Tat kann in dieser
Hinsicht wohl kein anderes deutsches Land mit England wett-
eifern als eben das Stammland der Angelsachsen. Zur Organi-
sation befähigt den nordischen Menschen neben seiner starken
Urteilsfähigkeit vor allem sein Wille zur Macht und Gestaltung.
Wenig versteht sich dagegen der nordische Mensch auf die
seelische Beeinflussung anderer Menschen, in der der vorder-
asiatische Meister ist. Er kann sich überhaupt nur schwer in
die Seelen anderer Menschen einfühlen. Seine Instinkte sind
mehr individualistisch als sozial gerichtet. Sein starker Unab-
hängigkeitstrieb steht der Einordnung in die Gemeinschaft
entgegen. Begabung und Charakter des nordischen Menschen
sind zwar von großem Wert für das soziale Leben; für ihn
aber bedeutet die Gesellschaft wenig; niemals geht er darin auf.
Der nordische Mensch braucht die Freiheit als Lebensluft,
die persönliche wie die nationale. Wenn ihm die Freiheit ge-
nommen wird, so erkämpft er sie wieder, oder er geht zu-
grunde, „Lieber tot als Sklave" ist ein alter friesischer Grund-
satz. Der nordische Mensch gedeiht unter keiner Fremdherr-
schaft, keiner Despotie und in keiner Kollektive.
.Dieser unbändige Freiheitsdrang ist zugleich die Stärke
und die Schwäche des nordischen Menschen. Auch der Starke
ist nicht am mächtigsten allein; auch er bedarf des Zusam-
menschlusses und der Einordnung in die Gemeinschaft. Es ist:
eine fast unlösbare Aufgabe, nordische Menschen zu dem not-
DIE NORDISCHE RASSE.
741
wendigen gemeinsamen Handeln zu organisieren und ihnen
doch jenes große Maß persönlicher Freiheit zu lassen, ohne
das sie nicht leben können. Die Sachsen sind Karl dem Großen
unterlegen, weil sie es nicht fertig brachten, an entscheidender
Stelle durch Überzahl die Stärkeren zu sein. Karl dagegen,
der von dem römischen Cäsarismus und Papismus gelernt
hatte, der rücksichtslos über die Menschen verfügte, hat die
deutschen Stämme mit Gewalt geeint; aber er hat es mit dem
Odium des „Sachsenschlächters" erkauft. Nordisches Führer-
tum ist etwas wesenhaft anderes als asiatische oder orienta-
lische Despotie. Kadavergehorsam auf der Grundlage der
Angst oder blinder Autorität lassen sich bei nordischen Men-
schen nicht erzwingen. Nordische Gemeinwesen zeichnen sich
durch Duldsamkeit aus, die auf dem Bewußtsein der Stärke
beruht, die aber auch zur Schwäche werden kann.
Ein gewisser Abstand gegenüber Menschen und Dingen,
wie ihn besonders Clausz hervorgehoben hat, ist kennzeich-
nend für den nordischen Menschen. Es ist das, was Nietzsche
das „Pathos der Distanz" genannt hat. Damit hängt wieder die
nordische Sachlichkeit zusammen; ohne einen gewissen Ab-
stand von Menschen und Dingen ist ein sachliches Urteil über
sie kaum möglich. Der nordische Mensch neigt wenig zu Ge-
fühlsäußerungen ; er trägt seine Gedanken und Gefühle nicht
auf der Zunge. Eine gewisse aristokratische Zurückhaltung
schützt ihn und seinesgleichen vor Zudringlichkeit. Die ihn
am tiefsten bewegenden Fragen macht er mit sich allein ab.
Auch in der nordischen Liebe bleibt wohl stets ein gewisser
Abstand der Seelen bestehen.
Die Selbstbeherrschung und Zurückhaltung der nordischen Rasse wird
leicht dahin mißverstanden, daß sie temperamentlos sei; und diese Mei-
nung wird von jenen, die ihr nicht wohlwollen, anscheinend auch geflissent-
lich verbreitet. Sie ist indessen von Grund aus falsch. Der nordische
Mensch ist wählerisch in seiner Liebe, aber keineswegs kalt.
in der nordischen Rasse hat das, was man Persönlichkeit nennt, seine
stärkste Ausbildung erfahren. Nietzsche hat den Menschen einmal
„ein Tier, das etwas versprechen kann", genannt; das trifft besonders für
den nordischen Menschen zu. Eine Kehrseite ist „das übertriebene Selbst-
bewußtsein, das der Arier stets hatte" (G o b i n e a u). Auch der Kultus
der Ehre, der neben seinen Licht- auch seine Schattenseiten hat, hängt
damit zusammen 1 ).
G ü n t h e r nennt die körperliche Reinlichkeit ein Kennzeichen der
nordischen Rasse. Der Vergleich von Städten und Menschen im Norden
und Süden lehrt in dieser Hinsicht in der Tat sehr anschauliche Unter-
l ) Vgl. Bavink, B. Rasse und Kultur. „Unsere Welt"; Jg. 26. H. 6.
S. 183. 1934.
742
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
schiede. Läuse, die im Osten und Süden Europas noch sehr verbreitet sind,
kommen im Norden und Nordwesten kaum noch vor.
Der nordische Mensch hat größeres sachliches und gerin-
geres psychologisches Interesse als der mongolide und zumal
der vorderasiatische. Sehr ausgesprochen ist sein Sinn für die
Natur, während das Interesse des Vorderasiaten sich ganz vor-
wiegend auf das soziale Leben der Menschen erstreckt. Das
nordische Interesse ist mehr nach außen auf die anschauliche
Körpcrwelt als nach innen auf die Seele gerichtet. Der nor-
dische Mensch denkt anschaulich in Bildern, er ist „zum Sehen
geboren, zum Schauen bestellt" (Goethe). Die höchste Schön-
heit findet er in der Gestalt. Seine künstlerische Begabung
liegt demgemäß hauptsächlich auf dem Gebiet der bildneri-
schen Formgestaltung.
Für die Tonkunst, die den Regungen der Seele Ausdruck gibt, scheint
die nordische Rasse nicht besonders begabt zu sein. Wenn gleichwohl viele
große Komponisten überwiegend von nordischer Rasse sind, so verdanken
sie dem nordischen Erbe wohl eher ihre geistige Schöpferkraft als die
eigentliche musikalische Begabung. „Frisia non cantat". Italiener, Ma-
gyaren, Juden, Zigeuner gelten bei den Germanen als musikalisch und wohl
mit Recht. Schon die Süddeutschen sind im Durchschnitt musikfreudiger
als die Norddeutschen.
Als Denker hat der nordische Mensch den Willen zur An-
schaulichkeit und Klarheit. Die klassische Ruhe und Nüchtern-
heit der alten hellenischen und der modernen angelsächsischen
Denker ist echt nordisch. Der nordische Mensch neigt nicht zu
„wahlloser Befriedigung des Erkenntnistriebes" (Nietzsche);
er verlangt vielmehr von aller Erkenntnis die Beziehung auf
die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (Kant).
Er ist daher nicht der Mensch des vielen Wissens. Ober-
hummer macht darauf aufmerksam, daß bei den indischen
Ariern „ein völliger Mangel an Sinn für positives Wissen"
herrschte, während die Chinesen einen ausgesprochenen Sinn
dafür haben und eine Fülle von historischen und geographi-
schen Werken hervorgebracht haben. Ein gewisser Mangel an
historischer und geographischer Bildung, den man den Eng-
ländern und Amerikanern zum Vorwurf zu machen pflegt,
scheint im Wesen der nordischen Rasse begründet zu liegen.
Sie hat mehr Sinn für das Wesentliche und Gesetzliche als für
das Einzelne und Zufällige. Sie stellt daher mehr Naturfor-
scher und Philosophen als ^Historiker und Philologen, mehr
Forscher und Denker als Gelehrte. Der nordische Mensch ver-
läßt sich mehr auf eigenes Urteil als auf positives Wissen; der
mongoiide dagegen neigt gleichsam zu einem liebevollen Be-
DIE NORDISCHE RASSE.
tasten aller Dinge, zu einer mehr passiven Aufnahme ihrer Be-
sonderheiten; sein Realismus besteht in dem geduldigen Ein-
gehen auf die unendliche Mannigfaltigkeit der wirklichen
Dinge.
Der Trieb des nordischen Menschen, allen Dingen auf den
Grund zu gehen, sein Ungenügen am Gegebenen, sein bohren-
der Tief sinn macht ihn zu metaphysischen Spekulationen ge-
neigt. Die nordische Sehnsucht findet nicht, was ihr genügt.
Damit hängt eine eigentümliche Vergeistigung der Liebe zusam-
men, die leicht einen ungesunden Zug erhält und dem Leben
der Rasse gefährlich werden kann.
In den nordischen Ländern Europas ist die Sicher-
heit des Lebens und Eigentums viel größer als in den süd-
lichen Ländern. In den Mittelmeerländern muß der Rei-
sende dauernd auf der Hut sein, daß er nicht bcstohlen
oder betrogen wird; in den nordischen Ländern und auch
in England kann er sich dagegen weitgehend auf die Ehr-
lichkeit der Bevölkerung verlassen. Die Ursache dieses un-
terschiedlichen Verhaltens kann im wesentlichen nur in der
Rasse liegen. Selbstbeherrschung, Voraussicht, Selbstachtung
bewahren den nordischen Menschen weitgehend vor Gesetzes-
verletzungen. In den Vereinigten Staaten ist die Sicherheit von
Leben und Eigentum viel größer als in Mittel- und Südamerika.
Die Einwanderer aus den südlichen und. östlichen Ländern
Europas sind viel mehr an Verbrechen beteiligt als die aus der
nordwestlichen Hälfte Europas. Auch hier spielt natürlich die
wirtschaftliche Lage mit, die ihrerseits wieder zum guten Teil
von der Rassenveranlagung abhängt.
In Deutschland ist die Häufigkeit von Verbrechen in den nordwest-
lichen Teilen bedeutend geringer als in den östlichen und südlichen. In den
Jahren 1882/91 kamen auf 100 000 straf mündige Personen nach dem
Wohnort der Täter zur Zeit der Tat folgende Zahlen von Verbrechen und
Vergehen gegen Reichsgesetze in verschiedenen Landesteilen:
Hannover, Oldenburg 711
Hessen-Nassau, Großh. Hessen 729
Rhcinprovinz 746
Württemberg und Baden 811
Pommern, Schleswig- Holstein, Mecklenburg 822
Schlesien (ohne Oberschlesien) 1060
Bayern (ohne die Pfalz) 1170
Ost- und Westpreußen 1570
Posen 1612
Oberschlesien 1711
Die übrigen Gebiete standen in der Mitte, und auf den Reichsdurch-
schnitt kamen etwas über 1000 Vergehen auf 100 000 Einwohner.
744
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Zum Teil mag die geringere Häufigkeit von Vergehen in den nor-
dischen Ländern allerdings auch daher kommen, daß der nordische Mensch
sich nicht gern mit Kleinigkeiten abgibt. Große Unterschlagungen kommen
nicht ganz selten auch in Skandinavien, England und den Vereinigten Staa-
ten vor. Ein Beispiel eines Schwindcluntemehmcns im Großen, ist der Fall
des „Zündholzkönigs" Jvar Kreuger.
Schon Lombroso 1 ) hat darauf hingewiesen, daß in Europa Mord
und Totschlag bei den germanischen Völkern am seltensten, bei den roma-
nischen am häufigsten vorkommen und daß in Italien diese Verbrechen
im Süden und auf den Inseln viel häufiger sind als in Norditalien. Die
mediterrane Rasse scheint also verhältnismäßig stark dazu zu neigen. In
Sardinien ist Mord und Totschlag 141-nal so häufig als in der Lombardei*).
Selbst die alte Lehre lombrosos, daß der „geborene Verbrecher"
einer primitiven Urrasse des Menschengeschlechts angehöre, scheint mir
nicht ohne ein Körnchen Wahrheit zn sein. Verbrecher weisen oft Züge auf,
die an den Neandertaler oder sonstige primitive Rassen erinnern durch
vorspringende massige Kieler, fliehende Stirn u. a. Wenn eine Rasse durch
eine andere verdrängt wird, so pflegt im allgemeinen etwas von ihrer Erb-
masse in Mischung erhalten zu bleiben, und es ist gar nicht ausgeschlossen,
daß auch von der primitiven diluvialen Rasse Europas noch Erbanlagen in
der europäischen Bevölkerung zerstreut vorhanden sind und daß ihre Trä-
ger mit den Forderungen des sozialen Lebens besonders leicht in Wider-
streit geraten. Auch ist zu bedenken, daß es einen biologischen Wesens-
unterschied zwischen den Rassenanlagen und den sonstigen erblichen An-
lagen einschließlich der krankhaften eigentlich nicht gibt (vgl. S. 712).
Ich habe bisher die seelische Eigenart der nordischen
Rasse als etwas Einheitliches geschildert, ohne Rücksicht dar-
auf, daß es in Nordwesteuropa neben schlanken beweglichen
Menschen auch schwere bedächtige gibt, und daß diese Typen
auch nach Landstrichen verschieden verteilt sind. Es geht
offenbar nicht an, den schweren Typus Nord Westdeutschlands
auf „alpine" oder mongolide Rassenelemente zurückzuführen.
Paudler 3 ) hat daher eine eigene Rasse, die „dalische"
aufgestellt, die ziemlich allgemeine Anerkennung gefunden
hat. G ü n t h e r nennt sie die „f ä 1 i s c h e". Von der nordischen
Rasse im engeren Sinn, der „eigentlichen" nordischen Rasse
würde die fälische Rasse sich durch schweren (athletischen)
Bau, durch kürzeres, breiteres Gesicht, breitere Stirn, weiter
auscinanderstehende Augen und breiteren, vorn mehr waage-
recht verlaufenden und dann mehr rechtwinklig aufsteigenden
Unterkiefer unterscheiden. Kern 4 ) sieht für die Dalrasse
i ) L o m b r o s o , C, L'uomo dclinquentc. 5. Aufl. Torino 1897.
Deutsche Ausgabe Hamburg 1907.
2 ) Nach Aschaffenburg, G. Das Verbrechen und seine Bekämpfung.
3. Aufl. Heidelberg 1923.
3 ) Paudler, F. Die hellfarbigen Rassen. Heidelberg 1924.
4 ) Kern, F. Stammbaum und Artbild der Deutschen. München 1927.
DIE NORDISCHE RASSE.
745
mehr eckige, für die nordische mehr kurvige Formen als kenn-
zeichnend an. Paudler leitet die „dalische" Rasse von der
Cro JVLagnon- Rasse ab, die am Ende der letzten Eiszeit in
Westeuropa verbreitet war, während er für die nordische Rasse
im engeren Sinne eine Herkunft aus den osteuropäischen Step-
pen annimmt. K e r n hat auf die Ähnlichkeit des schlanken
blonden Typus mit der schlanken, dunklen orientalischen Rasse
hingewiesen. Es scheint mir in der Tat einleuchtend zu sein,
daß bei der nach eis zeitlichen Besiedlung Nordeuropas jene
Erbelemente, die die schweren Formen bedingen, aus den west-
lichen Mittelmeerländern bzw. den Küstenländern des Atlanti-
schen Ozeans 1 ) gekommen sind, die schlanken dagegen mehr
aus d.en südöstlichen Ebenen. Schon seit der jüngeren Steinzeit
sind, aber beide Elemente so innig durchmischt, daß es nicht
mehr angängig erscheint, sie als zwei verschiedene „Rassen"
anzusehen. ,, Nordische" und „fälische" Menschen haben offen-
bar den allergrößten Teil ihrer Erbmasse gemeinsam; es sind
nur verhältnismäßig wenige Erbeinheiten, die jene Merkmale
bedingen, nach denen man einen „fälischen" Typus von dem
nordischen im engeren Sinne zu unterscheiden pflegt.
Das schlanke blonde Element ist es anscheinend gewesen,
das mit der Indogermanisierung Europas die starke Bewegung
in die Geschichte unseres Erdteils gebracht hat. Ich erinnere
an die Wanderungen und Eroberungszüge der Arier, der Hel-
lenen, der lialiker, der Kelten, sodann vor allem an che Ger-
manenzüge der Völkerwanderung, die Wikingerfahrten, Kreuz-
züge, Italienzüge, die Entdeckungsfahrten, die Eroberung und
Besiedlung Nord- und Südamerikas, Südafrikas, Australiens.
Bei den Ostgermanen (Goten, Vandalen, Burgunden) scheint
der schlanke Bewegungstypus stärker vorgeherrscht zu haben
als bei den mehr seßhaften Westgermanen.
Aber auch in der Gegenwart unterscheiden sich Bevölke-
rungen von schwerem blonden Typus auch seelisch von sol-
chen von mehr schlankem Typus. So ist in gewissen nieder-
sächsischen Gebieten, z. B. in Westfalen, eine gewisse Schwer-
fälligkeit der Bevölkerung nicht zu verkennen. Der schwere
blonde Mensch ist weniger beweglich als der schlanke ; er hat
nicht den gleichen Drang in die Ferne; er hängt vielmehr an
l ) Noltenius hat auf den „dalischen" Typus unter den Basken hinge-
wiesen (F. Nolteniu.s. Charakterstudium als Mittel zur Rassenerforschung.
ÄRGB. Bd. 23. H. 2. S. 246). Die Basken waren früher viel weiter ver-
breitet als heute (Gasgogne = Baskenland, Wasgenwald = Baskenwald?).
746
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
der Heimat und am Hergebrachten. An Zuverlässigkeit über-
trifft er den schlanken eher noch. Die „deutsche Treue" ist
besonders für ihn kennzeichnend. Es ist wohl auch kein Zu-
fall, daß gerade in Westfalen die Reformation sich nicht durch-
gesetzt hat. Der schwere blonde Mensch neigt zu Grübelei und
Mystik. Die deutsche „Tiefe" und „Innerlichkeit" ist vorzugs-
weise bei ihm zu Hause. Er kann sich noch schwerer als der
schlanke in die Seele anderer Menschen einfühlen.. Eigensinnig
besteht er auf seinem Kopf. Westfalen und Schwaben sind als
starrköpfig bekannt. Der schwere blonde Mensch ist verschlos-
sener und schweigsamer als der schlanke. Auf ihn ist wohl die
germanische Einzelsiedlung zm'ückzuführen. Der schwere blonde
Bauer will Herr sein auf seinem Hof und weitumher nicht
seinesgleichen haben. So siedelten auch die Buren in Südafrika.
Hauschild 1 ) führt die gewaltige Stoßkraft der Germanen
zum guten Teil auf den schweren blonden Typus zurück; zur
Führung und Herrschaft aber sei er weniger als der schlanke
geeignet. Allerdings zeigen mehrere der größten Führer der
Deutschen, z. B. Bismarck und Hindenbarg, den schweren
blonden Hünentypus. In ihnen paarte sich die „fälische"
Schwere mit der nordischen Kühnheit.
Noltcnius hat in einer geistvollen Studie auf Grund seiner Kennt-
nis der Basken und Nordwestdeutschen im Vergleich zu Spaniern und
Italicnern den dalischen Typus als den des ,, Freisassen" im Unterschied zu
dem des „Herren" geschildert. In der Tal ist die gesellschaftliche bzw.
ökologische Sonderurig dieser Typen deutlicher als die geographische.
Der schwere blonde Typus hat den indogermanischen Bauern gestellt, der
schlanke den Militäradel, den Seefahrer und Kaufmann. In der bäuerlichen
Bevölkerung Südschwedens, und das ist die Hauptmasse des schwedischen
Volkes, herrscht der schlanke nordische Typus keineswegs so vor, wie man
sich das bei uns oft vorstellt. Die dortigen Bauern sehen ganz ähnlich wie
die pommer sehen und mecklenburgischen aus. Die Bevölkerung der Küsten
und die des Seenstreifens von Göteborg bis Stockholm zeigt den schlanken
blonden Typus in viel reinerer Ausprägung. Ganz auffallend vorherrschend
sah ich ihn unter den Studenten und Studentinnen von üppsala.
Wenn bei uns von der Rasscnfrage die Rede ist, so hat
man in der Regel die Judenfrage im Auge. Der seelischen
Eigenart der Juden kommt daher ein besonderes, aktuel-
les Interesse zu. Sehr oft wird die Wesensart der Juden der
der Germanen gegenübergestellt, wobei allerdings die rassische
Einheitlichkeit beider Gruppen oft überschätzt wird. Gün-
ther andererseits hat gerade eine„Vielgenüschtheit" als kenn-
'■) Hau scliild, M. W. Die menschlichen Skelettfunde des Gräber-
feldes von Änderten bei Hannover. Zeitschrift für Morphologie und An-
thropologie. Bd. 25. IL 2. 1925.
DIE JUDEN.
747
zeichnend für das Judentum hervorgehoben und sich auf den
Standpunkt gestellt, die Juden seien keine besondere Rasse
sondern ein Volk. Ich vermisse an den Juden indessen die für
den Begriff des Volkes nötige Einheitlichkeit der Kultur, ins-
besondere der Sprache 1 ). Andererseits kann man bei uns einen
Juden in den allermeisten Fällen schon an seiner körperlichen
Erscheinung erkennen. Noch ausgesprochener als die körper-
liche ist die seelische Eigenart der Juden. Man könnte die
Juden geradezu als eine seelische Rasse bezeichnen. So scheint
mir der Begriff der Rasse immer noch eher als der des Volkes
auf das Judentum zu passen. Wer es bestreitet, daß die Juden
eine Rasse seien, dem schwebt dabei wohl ein Rassebegriff
vor, der vorwiegend morphologisch orientiert und von den
heute landläufigen „Rassen" abgeleitet ist. An diesen „Rassen"
ist aber vieles problematisch. Es kommt mehr auf die Lebens -
leistung als auf äußere Merkmale an; und gerade die Juden
sind ziemlich einheitlich auf eine bestimmte Lebensleistung ge-
züchtet. Auch Günther spricht von der Anbahnung der
Züchtung einer „Rasse zweiter Ordnung" in bezug auf die
Juden, wobei er als Rassen erster Ordnung die sonst von ihm
unterschiedenen voraussetzt. Grundsätzlich ist aber die Rassen-
bildung überall dieselbe; sie beruht stets auf einer Häufung
bestimmter Erbanlagen durch Auslese in einer bestimmten Um-
welt. Für die Entstehung des Judentums sind insbesondere ge-
wisse wirtschaftliche Lebensbedingungen bestimmend gewesen.
So sind die Juden weniger eine geographische als eine ökolo-
gische Rasse, die in sehr verschiedenen Ländern und unter
sehr verschiedenen Völkern unter gewissen gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Umständen gedeiht. Der Kern der jüdi-
schen Seele wird von vorderasiatischen Wesenszügen gebil-
det; und die vorderasiatische ist jene geographische Rasse, aus
der der Hauptteil der jüdischen Erbmasse stammt.
Gewiß ist die jüdische Eigenart nicht ausschließlich erbbedingt; zu
einem gewissen Teil ist sie auch die Folge des Lebens im jüdischen Milieu.
Auch NichtJuden, die viel mit Juden verkehren, pflegen in ihrer Denk-
weise und ihrem Gehaben ein wenig zu verjuden.
1 ) Die Juden der Gegenwart sind zum allergrößten Teil keine ,, Se-
miten", da sie keine semitische Sprache sprechen; und unter „semitischer
Rasse" könnte man höchstens dasselbe wie orientalische Rasse verstehen,
der aber die allermeisten Juden auch nicht angehören. Auch das Wort
„Antisemitismus" ist daher keine treffende Bezeichnung; es verdankt seine
Beliebtheit vermutlich zum guten Teil seiner Aufmachung als (schein- )wis-
senschaftlichcr Fachausdruck.
748
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Die jüdische Eigenart konnte nur im Laufe einer jahrtau-
sendelangen Kultur mit weitgehender Vergesellschaftung der
Menschen herausgezüchtet werden. Die Grundlage dazu wurde
in Vorderasien, der Heimat der ältesten Hochkulturen der alten
Welt, gelegt. Aber auch nachdem die Juden diese Heimat ver-
lassen haben, haben offenbar die Ausleseverhaltnisse der bei-
den letzten Jahrtausende immer noch in gleicher Richtung
züchtend gewirkt. Von der Urcrzeugung nicht nur durch eigene
Neigung, sondern vielfach auch durch Zwang ausgeschlossen,
haben sie ihren Lebensunterhalt stets ganz vorwiegend im
Handel und in ähnlichen Berufen gesucht. Daher konnten in
der Hauptsache immer nur solche Juden eine Familie gründen,
die für die Vermittlung der Erzeugnisse anderer Menschen,
die Erregung ihrer Wünsche und ihre Lenkung befähigt waren.
Wenn die Eigenart der Juden körperlich nicht so stark als seelisch in
die Erscheinung tritt, so dürfte das darauf zurückzuführen sein, daß sehr
fremdartig aussehende Juden weniger Erfolg hatten als solche, die dem
Typus ihres Wirtsvolkes mehr ähneln. Der instinktive Wunsch, nicht auf-
zufallen, führt auch zu einer Bevorzugung solcher Personen bei der Gatten-
wahi, die sich dem Aussehen des Wirtsvolkes nähern, wie z. B. v. Lu-
schau 1 ) dargelegt hat. Auch in der Annahme nichtjüdischer Namen durch
viele Juden äußert sich der Wunsch, nicht als Juden erkannt 7.11 werden.
Soweit der Typus durch diese Auslese unauffällig gemacht wird, handelt
es sich um echte Mimikry, die überall dort vorliegt, wo ein Lebewesen Er-
haltungsvorle.il von einer Ähnlichkeit mit andern hat. Es gibt in manchen
Tiergattungen Arien, die sich äußerlich sehr ähnlich sind und die auch
systematisch nah verwandt sind, die sich aber in ihren Instinkten stark un-
terscheiden. Mir sind in der Ordnung der Schmetterlinge mehrere solche
Artengr Lippen bekannt. Die große äußere Ähnlichkeit dieser Arten hat ihren
Grund offenbar darin, daß der äußere Typus dieser Arten gewisse Erhal-
tungsvorteile in der gemeinsamen Umwelt bietet.
So wird es verständlich, daß die Juden sich nicht Hin-
durch Klugheit und Rührigkeit, Fleiß und Beharrlichkeit, son-
dern vor allem auch durch eine erstaunliche Fähigkeit aus-
zeichnen, sich in die Seele anderer Menschen zu versetzen und
sie nach ihrem Willen zu lenken. Neigung und Fähigkeiten
führen sie daher immer wieder zu Betätigungen, bei denen das
Eingehen auf die jeweiligen Neigungen des Publikums und
deren Lenkung Erfolg bringt. Berufe, denen sie sich mit Vor-
liebe und Erfolg zuwenden, sind die des Kaufmanns, Händlers
und Geldverleihers, des Journalisten, Schriftstellers, Verlegers,
Politikers, Schauspielers, Musikers, Rechtsanwalts und Arztes.
Nach der Beruf szählmig von 1925 waren in Preußen
Juden 180/0 der selbständigen Ärzte, 270/0 der Rechtsanwälte,
*) A.a.O. S. 168 u. 169 (vgl. S. 729).
DIE JUDEN.
749
4,60/0 der Redakteure, 7,5% der Schauspieler, während der
durchschnittliche Anteil der Juden an der Bevölkerung' 1 o/ aus-
machte. In Berlin waren Juden 48 0/0 der Ärzte, 500/0 der Rechts-
anwälte, 8,50/0 der Redakteure, 12 0/0 der Schauspieler. Da diese
Zahlen sich auf die Konfession beziehen, sind die getauften
Juden und die Mischlinge darin nicht enthalten. Seit der na-
tionalsozialistischen Revolution ist in diesen Zahlen ein Wandel
eingetreten. Was ich über die Berufsverteilung sage, gilt daher
nur zum Teil für das gegenwärtige Deutschland; es gilt für
Länder, in denen die Berufswahl der Juden keinen oder doch
keinen wesentlichen Hemmungen unterliegt.
Das Kleidergeschäft (die „Konfektionsbranche") liegt in Europa wie
in Nordamerika ganz überwiegend in den Händen von Juden. Das Theater-
wesen wird zum größten Teil von Juden gelenkt und betrieben, in den
Vereinigten Staaten nach Ford') sogar ausschließlich. Entsprechendes
gilt auch vom Lichtspicl. Ein sehr großer Teil der Zeitungen und Zeit-
schriften wird von jüdischen Verlegern herausgegeben, von jüdischen Re-
dakteuren geleitet und von jüdischen Journalisten mit Artikeln versehen.
Der Beruf des Anwalts ist für den Juden wie geschaffen.
An Redegewandtheit und Überredungskunst ist der Jude unerreicht. Die
Neigimg zu vielen Worten (scherzhaft als „Geseires" bezeichnet) steht in
auffallendem Gegensatz zu der germanischen Wortkargheit, die „jüdische
Hast" im Gegensatz zur germanischen Ruhe und Schwerfälligkeit. Den
inneren Abstand von Menschen und Dingen, der bezeichnend für den Ger-
manen ist, kennt der Jude kaum; er fühlt sich unter den Menschen zu
Hause. Er ist häufiger aufdringlich und häufiger empfindlich als der Ger-
mane; auch wenn er sich gekränkt zurückzieht, kommt er meist doch wie-
der; er ist seiner Wesensart nach eben auf andere Menschen angewiesen.
Sombart 2 ) hat die Begabung der Juden für das Wirt-
schaftsleben glänzend geschildert. Ein großer Teil des beweg-
lichen Kapitals in Europa und Amerika ist in den Händen von
Juden. Im Bank- und Börsenwesen ist ihr Einfluß maßgebend.
In der Industrie betätigen die Juden sich mehr als geschäft-
liche Leiter, weniger als aufbauende Unternehmer. Unter In-
dustriearbeitern sind sie kaum vertreten. Wo sie einen großen
Teil der Bevölkerung ausmachen, wie in Polen oder New York,
sind sie vielfach als ldeine Handwerker, besonders Schneider,
tätig. Gegen körperliche Arbeit haben sie eine lebhafte Abnei-
gung. In der Landwirtschaft sind sie fast gar nicht vertreten.
Das liegt sicher nicht daran, daß man sie von der Landwirt-
schaft ferngehalten hätte; in Amerika hätten sie ja Farmer
werden können; sie haben aber auch dort die vermittelnden
2 ) Ford, H. Der internationale Jude. Deutsche Ausgabe. 11. Aufl.
Leipzig 1923.
T ) Sombart, W. Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig- 1911.
750
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Berufe vorgezogen. Der Jude geht nicht dahin, wo Land frei
ist, sondern dahin, wo es viele arbeitsame Menschen gibt.
Bei dem zionistischen Versuch einer jüdischen Besiedelimg Palästinas
hat sich die bezeichnende Tatsache ergeben, daß die Siedler meist nicht
jüdisch aussehen 1 ); sie rekrutieren sich offenbar hauptsächlich aus andern
Rassenelemcntcn, die in dem osteuropäischen Judentum mit enthalten sind.
Überhaupt machen die Juden von der landwirtschaftlichen Bevölkerung
Palästinas nur 3,60/0 aus; und dieser Prozentsatz ist im Rückgang 3 ). Wegen
ihrer geringen Begabung bzw. Neigung für die Urerzeugung scheint ein
Staatswesen, das nur aus Juden bestände, unmöglich zu sein.
Die wirtschaftliche Lage der Juden ist unter sonst gleichen
Umständen am günstigsten da, wo sie nur eine kleine Minder-
heit der Bevölkerung ausmachen. Ihr Einfluß und ihre Macht
ist viel größer als ihrer Zahl entspricht. Für England hat das
Salaman geschildert, für die Vereinigten Staaten Ford.
Entsprechendes galt auch für das republikanische Deutschland
der Nachkriegszeit; Belege dafür bietet das „Handbuch der
Judenfrage" von I" ritsch 3 ).
Wenn man das begabteste Hundertstel des deutschen Vol-
kes aussondern könnte, so würde dieses natürlich den Juden
intellektuell überlegen sein. Aber daß die Juden im Durch-
schnitt intellektuell begabter sind als der Durchschnitt der
deutschen Bevölkerung, läßt sich meines E rächt ens nicht be-
streiten; sind sie doch seit Jahrtausenden gerade darauf ge-
züchtet. Auf den höheren Schulen, deren Besucher eine Aus-
lese nach intellektueller Begabung darstellen, waren i. J. 1932
jüdische Kinder dreimal so viele vertreten, als ihrem Anteil an
der Bevölkerung entsprach. Die deutschen Universitäten wurden
von fast 50/0 Juden besucht (4,7%). Noch wesentlich höher
war der Hundertsatz der Juden unter den Professoren; in der
Berliner medizinischen Fakultät waren es i. J. 1931 43% ;
doch war gerade unter den ordentlichen Professoren der
Hundertsatz lange nicht so hoch.
Bei dem Vergleich von jüdischen und nichtjüdischen Kindern ist zu
berücksichtigen, daß die jüdischen im Durchschnitt frühreifer sind. Unter
ihnen gibt es „Wunderkinder", deren geistige Fähigkeiten ihren Jahren
weit vorauseilen. Aber ihre glänzenden Leistungen beruhen nach Salaman 4 )
auf Frühreife und „quick-wittedness" (Schnelligkeit der Auffassung), nicht
*-) Salaman, R. N. In dem Sammelwerk „Eugenics in Race and
State". Baltimore 1923. Williams and Willdns Co.
J ) Brandt, J. Die jüdische Kolonisation in Palästina. Archiv für
innere Kolonisation. Bd. 18. 1926.
3 ) 36. Aufl. 1934.
4 ) A. a. O. S. 13S.
DIE JUDEN.
751
auf schöpferischer Begabung. Sie halten daher später meist nicht, was sie
zu versprechen scheinen.
In der Wissenschaft sind die Juden um ein Vielfaches
stärker vertreten, als nach ihrer Zahl zu erwarten wäre. Unter
den Nobelpreisträgern für Physik, Chemie und Medizin waren
bis zum Jahre 1933 11 Juden (Michelson, Ehrlich, Lippmann,
Wallach, Bäräny, Wlllstälter, Haber, Einstein, Meyerhol,
Franck, Landsteiner) und 5 Halbjuden (v. Baeyer, Metschni-
koff, Bohr, Gustav Hertz, Warbarg) 1 ); das sind über io<y
aller Preisträger, eine Zahl, die den Anteil der Juden an der
Bevölkerung der beteiligten Länder um ein Mehrfaches über-
trifft. Auch von den Volljuden unter den Nobelpreisträgern
zeigen übrigens mehrere in ihrem Äußeren teilweise nor-
dische Züge, z. B. Michelson, Ehrlich, Wlllstälter.
Es ist meines Erachtens nicht zu bestreiten, daß unter
den Juden auch Genie im Sinne hoher schöpferischer Bega-
bung vorkommt; ich erinnere nur an den Physiker Heinrich
Hertz, den Entdecker der elektrischen Wellen, auf denen
die drahtlose Telegraphie und der Rundfunk beruhen. Im
ganzen ist aber nicht zu verkennen, daß die Juden auch im
geistigen Leben mehr an der Übermittlung und Umdeutung
als an der Urerzeugung beteiligt sind. Ihr Anteil an den For-
schern und Entdeckern ist nicht so groß wie der an den Ge-
lehrten und Lehrern der Wissenschaften. In der Physik und
Mathematik liegen ihre Erfolge mehr nach der abstrakten als
nach der anschaulichen Seite hin; ihre Stärke auf diesem Gebiet
liegt in ihrem hochentwickelten Zahlensinn und ihrer formalen
Logik begründet. Diesen Anlagen verdanken die Juden auch
ihre hervorragenden Erfolge im Schachspiel. Die großen
Schachmeister sind ganz überwiegend Juden.
Für die Gegenstände der Natur haben die Juden wenig
sachliches Interesse; aber alles, was menschliche Seelen be-
wegt, interessiert sie lebhaft. Die meisten „Sexualforscher" sind
Juden. Freud, der Begründer der „Psychoanalyse", kann als
typisch jüdischer Denker angesehen werden 2 ), ebenso Adler.
der Begründer der „Inclividualpsychologie".
Die „Individualpsychologie" Adlers beschäftigt sich nicht mit den
allgemeinen Gesetzen des Seelenlebens, sondern mit den individuellen Be-
sonderheiten. Diese werden aber bezeichnenderweise nicht auf Unterschiede
2 ) Nach dem Philo-Lexikon. Berlin 1936. S. $11.
2 ) Kutzinski, A. Sigmund Freud, ein jüdischer Forscher. In der
Zeitschrift „Der Jude". Bd. 8. H. 4. 1924.
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
der Erbanlage zurückgeführt, sondern ausschließlich auf Einflüsse der Um-
welt, insbesondere auf Erlebnisse der frühen Kindheit. Auch die Freud-
sehe „Psychoanalyse" führt nervöse und seelische Störungen entschei-
dend auf Umwelteinflüsse, zumal Hemmungen der Triebbefriedigung,
zurück; und demgemäß werden fast alle diese Störungen als wcganaiysier-
ba.r hingestellt.
In der medizinischen Wissenschaft finden sich die Juden vorzugsweise
in den Sonder fächern für Geschlechtskrankheiten, für Kinderheilkunde und
Nervenheilkunde, während die Chirurgie mehr den Germanen vorbehalten
ist. Das Gebiet der „sozialen Hygiene" wird überwiegend von Juden be-
arbeitet. Die Vorliebe der Juden für die Heilkunde läßt sich schon seit dem
Altertum verfolgen. Das hängt wohl damit zusammen, daß der Jude Schmer-
zen, Krankheit und Tod mehr fürchtet a]s der Germane, zum Teil auch da-
mit, daß der Erfolg des Arztes mit von seiner Fälligkeit der seelischen Be-
einflussung anderer Menschen abhängig ist,
Von den Juden bevorzugte wissenschaftliche Fächer sind weiter die
Wirtschaft sichre, die Philosophie, besonders in ihren psychologischen Sei-
ten, die Kunst- und Literaturgeschichte und — die Germanistik.
Daß die Juden viele bedeutende Musiker gestellt haben,
wurde schon erwähnt. Bedeutende Malerhaben sie nur wenige
hervorgebracht, Bildhauer und Baumeister überhaupt kaum.
Die anschauliche und technische Begabung des Juden ist eben
gering; er ist mehr auf das Ohr und die Zunge, als auf das
Auge gezüchtet.
Die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen und sich lebhaft
in eine Rolle zu versetzen, macht den Juden zum geborenen Schauspieler.
Berühmte jüdische Schauspieler sind z. B. Kainz (geb. I(ohn), Sarah Bern-
hard, Moissi, Possart, Reinhardt (geb. Goldmann). Auch die jüdische Fä-
higkeit des Ausdrucks durch Worte, Mienen und Gesten kommt dem Schau-
spieler sehr zustatten. Am meisten Schauspieler ist der Jude oft gerade
dann, wenn er nicht als solcher auftritt.
Die jüdische Fähigkeit, sich in Vorstellungen hineinzuver-
setzen, gleich als wären es Tatsachen, kommt nicht nur dem
Schauspieler, sondern auch dem Anwalt, dem Händler und dem
Demagogen zustatten. Wenn der Anwalt sich in die Vorstellung
versetzen kann, sein Klient sei im Recht, der Händler, seine
Ware sei unerreicht gut und billig, der Parteipolitiker, die
Lehre seiner Partei sei die allein vernünftige und gerechte, so
wirken sie viel überzeugender, als wenn sie rein sachlich reden
würden. Auch die Fähigkeit zu moralischem Pathos und der
mitleiderregende „Schmerzenszug" sind dabei sehr nützlich. In
revolutionären Bewegungen spielen hysterisch veranlagte Ju-
den eine große Rolle, weil sie sich auch in utopische Vorstel-
lungen hineinversetzen und daher mit weitgehender innerer
Wahrhaftigkeit den Massen überzeugende Versprechungen ma-
chen können.
DIE JUDEN.
753
Nicht nur Marx und Lassalle waren Juden, sondern auch in der jüngst
verflossenen Gegenwart Eisner, Rosa Luxemburg, Levlne, Toller, Landauer,
Trotzki, Szamaely u. a. Kahn*), der die jüdischen Revolutionäre als Er-
löser der Menschheit preist, sieht in ihnen „die spezifisch jüdische Art der
Wellauffassung und der geschichtlichen Aktivität".
Die jüdische Rasse ist von Schiclcedanz 2 ) als eine Rasse von
Parasiten geschildert worden. Zweifellos können die Juden zu einem schwe-
ren Schaden für ein Wirtsvolk werden; und es ist kein Zufall, daß, solange
es Juden gibt, es auch judenfeindliche Bewegungen, Judenverfolgungen
und Judenaustreibungen gegeben hat. Ein Lebewesen gedeiht besser ohne
Parasiten. Andererseits gedeiht ein Parasit am besten auf einem leicht ge-
schwächten Wirt. Wenn der Parasit den Wirt zugrunderichtet, so geht'er
aber mit ihm zugrunde. Daher geht das Judentum auch nicht auf Zu-
grunderichtung seiner Wirtsvölker aus. Es würde sich damit seiner Exi-
stenzgrundlage berauben. Aber auf ganz starken Völkern gedeiht es auch
nicht. An einer gewissen Zersetzung der Wirtsvölker ist es daher interessiert.
An Straftaten sind die Juden im Deutschen Reich etwas
weniger beteiligt als die sonstige Bevölkerung. Da es eine
Kriminalstatistik nach der Rassenzugehörigkeit bei uns nicht
gibt oder doch bisher nicht gab, ist man auf Schlüsse aus der
Kriminalität der Konfessionen angewiesen. Leider sind in
der Reichskriminalstatistik darauf bezügliche Feststellungen
unterdrückt worden; man ist daher auf die älteren Zahlen an-
gewiesen. In dem Jahrzehnt 1892— 1901 kamen im Deutschen
Reich auf 100 000 strafmündige Personen 1207 Verfehlungen
im Durchschnitt. Nach Konfessionen gesondert:
Katholiken Evangelische Juden
Verfehlungen überhaupt 1361 1 1 12 1030
Einfache Körperverletzung 67,0 5^,7 44^0
Gefährliche Körperverletzung 314,1 1 85,5 75 3
Betrug 68,2 57,5 U2 '8
Die im ganzen etwas geringere Straf fälligkcit der Juden
bestätigt uns die Regel, daß Intelligenz bis zu einem gewissen
Grade vor Übertretungen schützt. Es mag allerdings sein, daß
sie mehr noch vor dem Gefaßtwerden schützt. Die geringere
Kriminalität der Juden war zum guten Teil auch wohl auf 'ihre
im Durchschnitt bessere wirtschaftliche Lage zurückzuführen.
Um die Gesamtkriminalität der Juden objektiv beurteilen zu
können, müßte man sie eigentlich mit jenem Teil der nicht-
jüdischen Bevölkerung vergleichen, der sich in derselben wirt-
schaftlichen Lage befindet.
v ) Kahn, F. Die Juden als Rasse und Kulturvolk. 3. Aufl. Berlin
1922. Welt-Verlag.
2 ) Schick edanz, A. Sozialparasitismus im Völkerlebcn. Leipzig
o. J. (1927).
!B a 11 r - F ä s c h e r - 1, c 11 z I.
-1S
75'
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Die größere Häufigkeit der Körperverletzung bei den
Christen ist sicher nicht der Religion der Liebe zur Last zu
legen; hier ist vielmehr die andere Rassenveranlagung ent-
scheidend. Entsprechendes gilt auch für den Unterschied zwi-
schen Katholiken und Evangelischen. Die Juden schneiden
gegenüber den Christen auch günstig ab bei einfachem Dieb-
stahl (80 gegen 231), schwerem Diebstahl (11 gegen 33), un-
günstig dagegen bei Beleidigung (200 gegen 143), Betrug
(113 gegen 61), Urkundenfälschung (25 gegen 13). Bei dem
Zustandekommen dieser Unterschiede spielt die soziale Lage
und insbesondere die Berufstätigkeit eine Rode. Zugleich aber
wirken die Rassenunterschiede in derselben Richtung. Auch
Aschaffenburg 1 ) ist der Ansicht, daß sich die Rassenver-
anlagung der Juden in der Eigenart ihrer Kriminalität auswirkt.
Durch den Fall Barmat und den Fall Kutisker, die im Winter 1924/25
bekannt wurden, wurde es schlaglichtartig deutlich, wie' frisch eingewan-
derte Ostjuden während der Kriegs- und Revolutionszeit durch gewissenlose
Ausnützung der verworrenen Wirtschaftslage zu großem Reichtum und weit-
gehendem Einfluß auf das wirtschaftliche und politische Leben in Deutsch-
land gelangt waren. Im Jahre 1929 kam noch der Fall Skiarck dazu. Auch
der Fall Sklarz aus den Jahren 1919/20 gehört in dieselbe Reihe. Es wäre
gewiß ungerecht, wenn man allen Ostjudcn Geschäfte wie die der Gebrüder
Sklarz, Gebrüder Barmat, Gebrüder Kutisker und Gebrüder Skiarck zutrauen
würde; aber daß es reiner Zufall gewesen sei, daß es Ostjuden waren,
welche diese Geschäfte machten, wird man andererseits auch nicht behaup-
ten können.
Wenn auch die genannten gemeinschädlichen Eigenschaf-
ten mancher jüdischer Elemente in die Augen springen, so soll
man doch auch die positiven Eigenschaften der Juden nicht
übersehen. Man tut nicht gut daran, einen Gegner zu unter-
schätzen, weder intellektuell noch moralisch. Die Juden zeich-
nen sich durch ausgesprochenen Familiensinn, starkes Zusam-
mengehörigkeitsgefühl und gegenseitige Hilfsbereitschaft aus.
Die Nüchternheit des Juden gegenüber dem Alkohol könnte
für den Germanen vorbildlich sein.
Der jüdische Geist ist neben dem germanischen eine
wesentliche treibende Kraft der modernen abendländischen
Zivilisation gewesen. Auch das Christentum als eine der Grund-
lagen dieser Zivilisation ist aus dem Judentum geboren. Das
Christentum mit seiner Lehre der Gleichheit aller Menschen
vor Gott, d. h. der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller
Menschen, hat seinerseits die Ausbreitung des Judentums we-
sentlich gefördert.
"~~ yÄXo.(v g i.S. 744).
DIE JUDEN.
755
Material über die geistige Veranlagung der Juden findet sich einerseits
in dem „Handbuch der Judenfragc" von Theodor F r i t s c h (36. Aufl.,
Leipzig 1934, Hammer-Verlag), in dem Buch „Die Juden in Deutschland",
2. Aufl. München 1935, F. Eher Nachf., anderseits in dem „Philo-Lexi-
kon", Berlin 1936. Philo-Verlag und in der Schrift von Felix A. Theil-
haber „Schicksal und Leistung der Juden in der deutschen Forschung
und Technik", Berlin 1931, Welt-Verlag. Da in den beiden ersten Büchern
die für die Juden ungünstigen Tatsachen und in den beiden andern die gün-
stigen zusammengestellt sind, kann der, dem es nicht um ein einseitiges Bild
zu tun ist, aus diesen zusammen ein einigermaßen vollständiges Bild gewin-
nen. Um ein solches hat sich Günther in der Rassenkunde des jüdischen
Volkes (München 1930, J. F. Lehmann) bemüht, auch der Zionist
Arthur Kupp in in der „Soziologie der Juden", Berlin 1930. Jüdi-
scher Verlag.
Die Leugnung wesenhafter Rassenunterschiede ist eine Lehre, die sich
aus der jüdischen Eigenart und ihren Lebensbedingungen ergibt. Aus dem
Wunsch, daß es keine unüberbrückbaren Rassenunterschiede geben möge,
erklärt sich die Neigung der Juden zum Lamarekismus, der Lehre von
einer „Vererbung erworbener Eigenschaften". Die Wortführer des Lamark-
kismus sind zum größten Teil, seine Gegner dagegen nur zum sehr kleinen
Teil Juden oder jüdischer Abstammung. Wenn es eine Vererbung erwor-
bener Eigenschaften gäbe, so würden die Juden durch ihr Leben in der
germanischen Umwelt und die Aneignung der germanischen Kultur zu
echten Germanen werden können. So wird es verständlich, warum der La-
marekismus den Juden, die ihrer Wesensart nach ihr Fortkommen als Min-
derheit unter anders gearteten Bevölkerungen suchen müssen, zusagt. Der
jüdisch-lamarckistische Schriftsteller Kammer er hat erklärt, daß die
„Leugnung der Rassenbedeutung erworbener Eigenschaften den Rassenhaß"
fördere. Dieser eifrigste Anwalt des Lamarekismus ist im Jahre 1926 aus
dem Leben geschieden, nachdem ihm Noble 1 ) nachgewiesen hatte, daß
die dunklen Brunstschwiclcn bei einem Exemplar der Geburtshelferkröte,
das Kammer er als Beleg vorzeigte, nicht durch Vererbung erworbener
Eigenschaften, sondern durch Einspritzung von Tusche erzeugt waren.
Schon vorher hatte M e g u a a r , ein Mitarbeiter Kammer er s, mit dem
er sich überworfen hatte, ausgesagt, daß er von den zahreichen Befunden,
die Kämmerer als Belege für die Vererbung erworbener Eigenschaften
veröffentlicht hatte, nie etwas wahrgenommen habe, obwohl er die betreffen-
den Zuchtversuche zehn Jahre lang vor Augen gehabt habe.
Gelegentlich wird die jüdische Eigenart, soweit sie nicht geleugnet
wird, als eine Folge von Unierdrückimg in der Ghettozeit hingestellt, so
von dem früheren Marburger Philosophieprofessor N a t o r p. Das An-
derssein der jüdischen Seele wird auf diese Weise als Schuld gedeutet,
und zwar als eine Schuld der NichtJuden. Daraus wird dann die Folge-
rung gezogen, daß die Juden nicht nur völlig in die Volksgemeinschaft
aufgenommen werden müßten, sondern daß man ihnen mit doppelter Liebe
entgegenkommen müsse; dann werde auch ihre Eigenart sich ändern. Na-
türlich sind das lamarekistische Illusionen. Die Eigenart der Juden ist
nicht ein direktes Produkt ihrer Umwelt, sondern ein Züchtungsprodukt der
Lebensbedingungen, unter denen sie seit Jahrtausenden stehen.
') Noble, G. K. Kammerers Alytes. In der Zeitschrift „Nalure".
Bd. 118. Aug. 1926. S. 209.
756
{-'RITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Auch die Abneigung der Juden gegen den Krieg kann als Folge von
Auslesevorgängen verstanden werden. Als der alte Judenstaat stärkeren
Nachbarn politisch unterlag, wurden vorab die kampfesmutigsten Familien
ausgetilgt, z. E. in den. blutigen Kämpfen der Makkabäcr gegen die Ptole-
rnäer. Die unterwürfigen Bevölkerungsteile dagegen blieben erhalten. Wäh-
rend der römischen Kaiserzeit, wo die Juden im Orient mehrere revolu-
tionäre Erhebungen anstifteten, wurde bei der Niederschlagung der Auf-
stände mehrfach die Hauptmasse der in der Heimat verbliebenen Juden
niedergemetzelt, so unter Titus, Trajan und Hadrian. Vorher aber hatten
sich Hunderttausende von Juden als Händler, als Leibsklaven vornehmer
Römer und in anderen Stellen, wo es auf die Geschicklichkeit im Umgang
mit Menschen ankam, über das römische Reich zerstreut"; und von dieser
eigenartigen Auslese stammt die Judenhcit der späteren Zeit in der Haupt-
sache ab. Auch die vielen blutigen Verfolgungen, denen die Juden während
des Mittelalters und bis in die neuere Zeit ausgesetzt gewesen sind, haben
in gleicher Richtung züchtend gewirkt.
Wenn hier in erster Linie die Unterschiede in der
Veranlagung der Juden und Germanen hervorgehoben wurden,
so darf man doch auch nicht übersehen, daß beide in wesent-
lichen geistigen Anlagen sich ähnlich sind, und zwar gilt das
besonders, wenn man unter „Germanen" Menschen der schlan-
ken blonden Rasse versteht. Beide zeichnen sich durch hohe
Verstandesbegabung und Willensstärke aus; beide haben gro-
ßes Selbstbewußtsein, Unternehmungsgeist und einen ausge-
sprochenen Herrenwillen, nur mit dem Unterschied, daß der
Germane seinen Willen mehr mit Gewalt, der Jude mehr mit
List durchzusetzen geneigt ist. An Geschäftstüchtigkeit werden
die Juden von nordischen Hanseaten, Schotten und Yankees
eher übertroffen. Auch der schlanke blonde Herrenmensch
neigt dazu, sich über andersartige Bevölkerungen auszubreiten
und dort eine Herrenschicht zu bilden. Auch er überläßt die
körperliche Arbeit lieber anderen.
Diese ähnlichen Züge dürften darauf zurückzuführen sein, daß das
schlanke blonde („nordische") Rassenelement, das in die Germanen einge-
gangen ist, dein schlanken dunklen („orientalischen") Rassenelement, das
in die Juden eingegangen ist, stammesgeschichtlich verwandt ist. Viel we-
niger verwandt sind offenbar das schwere blonde („täusche") Rassenele-
ment, das wohl den Hauptteil der germanischen Erbmasse, zumal der bäuer-
lichen Bevölkerung bildet, und das untersetzte dunkle (vorderasiatische),
das den Hauptteil der Erbmasse des Judentums gestellt hat. Der schwere
germanische Bauerntypus bildet recht eigentlich den Gegenpol des jüdi-
schen Häncllcrtyps.
Im Vorhergehenden wurde mehrfach auf Zusammenhänge
zwischen der körperlichen Gestalt und der seelischen Eigenart
hingewiesen. Auch in dem Abschnitt über die Erblichkeit der
Begabung ist über Beziehungen zwischen Begabung, Tempe-
rament und Charakter einerseits und körperlichen Merkmalen
RASSENSEELE UND HABITUS.
757
andererseits berichtet worden. Es bleibt nun noch zu erörtern,
welcher Art die Beziehungen zwischen der geistigen Eigenart
und den körperlichen Rassenmerkmalen sind. Daß solche Be-
ziehungen bestehen, ist zweifellos. Die von Kretsclimer
und anderen abgegrenzten Habitusformen bilden Teile der
Rassentypen. So gehört der schlanke (leptosome) Habitus zum
Bilde der nordischen Rasse; und es ist nicht zu verkennen,
daß die nordische Rasse seelisch von „schizothymer" Veran-
lagung im Sinne Kretschmers ist. Der untersetzte (pyk-
nische) Habitus gehört zum Bilde der mongoliden Rassen (und
der vorderasiatischen) ; auch hier stimmt die seelische Veran-
lagung dieser Rassen gut damit überein, insofern als man die
„zyklothymen" Züge, die Kretsclimer von den Pyknikern
beschrieben hat, auch im seelischen Bilde dieser Rassen findet.
Der athletische Habitus gehört zum Bilde des schweren blon-
den Typus; und auch in diesem Falle passen die Erfahrungen
Kretschmers über die schizothyme Veranlagung des athle-
tischen Typus gut zu dem seelischen Bilde des schweren blon-
den Typus. Die kleine unruhige mediterrane Rasse unterschei-
det sich von der schweren blonden Rasse seelisch in ähnlicher
Richtung wie ein kleiner unruhiger Tcrrier von einem großen
bedächtigen Bernliardiner. DiedysplastischenKonstitutionstypen
Kretschmers kommen hier nicht in Betracht, weil sie auf
krankhaften Anlagen beruhen und keine Beziehungen zu den
normalen Unterschieden der großen Rassen haben.
Man hat schon lange beobachtet, daß Stämme von Jägern, Hirten-
nomaden und Seefahrern schlank und langköpfig zu sein pflegen, Stämme
von seßhaften Ackerbauern und Handwerkern dagegen mehr untersetzt und
breitköpfig. Offenbar besteht eine Korrelation von Schlankheit und Schmal-
köpfigkeit mit Beweglichkeit und Drang in die Ferne einerseits, von unter-
setztem Bau und B reitköpf igkeit mit Behäbigkeit und Seßhaftigkeit anderer-
seits 1 ). Die schlanken Formen finden sich einerseits häufiger in eingewan-
derten Bevölkerungen, z. B. unter den Nordamerikanern vertreten, anderer-
seits m den oberen sozialen Ständen, die eine Auslese regsamer Rassen-
elemente darstellen. Die untersetzten Formen dagegen wiegen in soge-
nannten Rückzugsgebieten (Gebirgen usw.) einerseits, in den unteren Stän-
den andererseits vor*)*). Natürlich sind Temperament und Charakter nicht
von der Körper- und Kopfform als solcher abhängig; der Zusammenhang
beruht vielmehr zum großen Teil auf Hormonwirkung, die ihrerseits haupt-
sächlich auf die erbliche Veranlagung zurückgeht.
Drese Unterschiede hängen mit der Entstehung der Menschenrassen
selber zusammen. Die menschlichen Rassen sind Züchtungsprodukte des
*) Stockard, Ch. R. Human types and growth reaedons. American
Journal of Anatomy. Bd. 31. Nr. 3. 1923.
2 ) Bean, R. B. The two European types. Ebenda Bd. 3t. Nr. 4.
758
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Klimas und der ökologischen Lebensbedingungen. Für die seelische Eigen-
art der Rassen ist insbesondere die Züchtung durch die Wirtschaftsweise
entscheidend gewesen.
Die älteste Wirtschaftsform ist die Sammclwir tschaft, in der der pri-
mitive Mensch seine. Nahrung unmittelbar aus der Natur entnimmt. Aus
dieser Urwirtschaft gingen, nach der einleuchtenden Hypothese von Graeb-
ner und W. Schmidt zwei primäre. Kulturkreise hervor, der vaterrecht-
liche Kulturkrcis der Jäger und der muttcrrechtliche Kulturkreis der primi-
tiven Hackbauer oder Pflanzer. Im Kulturkreis der Jäger und in dem aus
ihm hervorgehenden der Wanclerhirte.11 wurde durch natürliche Auslese der
leptosome Typus mit langen Gliedmaßen gezüchtet, im Kulturkreis der
Pflanzer dagegen der untersetzte Typus mit kurzen Gliedmaßen (Kern).
Der Jäger und Nomade mußte vor allen Dingen beweglich sein. Das war
für eleu primitiven Pflanzer nicht nötig; für Um. war Seßhaftigkeit vorteil-
hafter; er bedurfte zur Ausnutzung seiner viel weniger nahrhaften und da-
her umfangreicheren Nahrung großer Vcrdauungsorganc, die nur in einer
großen Leibeshöhle Platz finden konnten. Der Jäger und Nomade bedurfte
keines großen Bauches, da seine Nahrung viel hochwertiger war; er würde
durch einen solchen nur behindert worden sein; bei ihm mußten die Organe
der Brust, das Herz und die Lunge im Interesse der Bewegung stark ent-
wickelt sein. So wurden die Jäger und PTirtcnnomnden gewissermaßen als
Brustrasse, die Pflanzer als Bauchrasse gezüchtet 1 ). Für die Be-
wegungsrassen war Magerkeit von Vorteil; die seßhaften Rassen dagegen
konnten mit Hilfe ihres Fettansatzes besser über Zeiten des Hungers hin-
wegkommen.
Die derart verschieden gezüchteten Typen sind auch in ihrer seelischen
Wesensart verschieden. Die Bewegungsrassen sind im allgemeinen aucli
geistig beweglich, unternehmend, angriff slustlg, herrisch, großzügig, die
Pflanzerrassen seßhaft, genügsam, ausdauernd, arbeitsam, friedlich, gesellig.
Die Bewegungsrassen unterscheiden sich von den Pflanzerrassen körperlich
und seelisch ähnlich wie das männliche vom weiblichen Geschlecht. Im
wesentlichen hat schon Gustav Klcra m den Gegensatz der Bewegungs-
rassen und der Pflanzerrassen richtig gesehen, als er in seiner „Allgemei-
nen Kulturgeschichte" die „aktiven" und die ,, passiven" Rassen einander
gegenüberstelltc (1H43) 3 ).
Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, sei ausdrücklich
gesagt, daß nicht alle Bewegungsrassen untereinander stammesgeschichtlich
direkt verwandt zu sein brauchen. Es sind vielmehr offenbar Bewcgungs-
wie Pflanzerrassen in verschiedenen Ländern auf verschiedener sonstiger
rassischer Grundlage entstanden. Im Bereich der negriclen wie der mongo-
liden und der europiden Rassen kommen beide Typen, vor. Ob z. B. die
schlanken Typen unter den Nordchinesen mit den schlanken europiden
Typen einerseits, die untersetzten Typen unter beiden Gruppen andererseits
auf gemeinsame oder stammesgeschichtlich direkt verwandte Erbanlagen
zurückgehen, ist fraglich, immerhin nicht unmöglich.
Reine Jägerstämme gibt es in Europa seit Jahrtausenden nicht mehr,
II irtennomaden stamme nur in Resten, und reine Pflanzerstämme auch nicht
1 ) Vgl. den Typus respiratorius und den Typus digestivus Sigauds.
2 ) Die einschlägigen Abschnitte aus Klemms Buch sind abgedruckt
in Woltmanns Arbeit „Klemm und Gobineau". Politisch-anthropolo-
gische Revue. Bd. 6. H. ri. S. 673. 190S.
RASSEN MERKMALE UND SEELE.
759
mehr. Es hat sich vielmehr eine Kombination von Kulturelcmenten als er-
haltungsgemäßcr erwiesen. Seit der jüngeren Steinzeit ist die Grundlage
der europäischen Kultur die bäuerliche Wirtschaft, die Elemente der Pflan-
zerkultur mit Elementen der Plirtenkultur vereinigt; und diese bäuerliche
Kultur züchtet den Bauern, der die Bodenständigkeit des Pflanzers mit dem
Herrentum des Llirtenkricgers in sich vereinigt. Das Musterbeispiel ist der
schwere blonde Typus des germanischen Bauern.
Ein anderer Kombinationstypus ist der des Händlers. Dieser ver-
einigt in sich die Beweglichkeit des Hirtennomaden mit dem Einfühlungs-
vermögen des Pflanzers. Als Musterbeispiel einer Händlcrrasse kann die
jüdische gelten. Stämme von Hirtennomaden sind darauf gezüchtet, Her-
dentiere nach ihrem Willen zu lenken und auszunutzen. Sie sind' nicht
dazu geschaffen, dichte Siedlungen und große Gemeinwesen zu bilden.
Große Siedlungsdichte erfordert vorwiegend vegetabilische Nahrung. Her-
dentiere sind stets Vegetarier.
Da in einer gemischten Bevölkerung die verschiedenen
Erbeinheiten sich unabhängig voneinander durch die Genera-
tionen fortsetzen, kann man in einer solchen Bcvölkerung
aus den körperlichen Merkmalen eines Menschen nicht einfach
auf seine seelischen Rassenanlagen schließen. Es ist z.B. durch-
aus möglich, daß ein helläugiger blonder Mensch eine seelische
Verfassung habe, wie sie sonst einer dunklen Rasse zukommt.
Mit größerer Wahrscheinlichkeit als aus derartigen körper-
lichen Rassenmerkmalen kann man aus der Abkunft eines
Menschen auf seine seelischen Rassenanlagen schließen. Unter
niedersächsischen Bauern stellt ein kleiner kurzköpfiger dun-
kelhaariger Mensch eine Ausnahme dar; er hat aber trotzdem
mit viel größerer Wahrscheinlichkeit nordische Anlagen der
Seele als z. B. ein großer blonder langköpfiger Jude. Auch' ein
blonder Jude ist eben ein Jude. In der Gesetzgebung des na-
tionalsozialistischen Staates ist der Begriff des „Nichtariers"
daher mit gutem Grund nicht von äußeren Rassenmcrkmalen,
sondern von der Abstammung abhängig gemacht. Auch in
der Einwanderungsgesetzgebung der Vereinigten Staaten ist
die Rasse nicht nach äußeren Merkmalen, sondern nach
der Abstammung aus bestimmten Bevölkerungen berück-
sichtigt.
Es ist auch zu bedenken, daß Menschen, die gleich große
Anteile ihrer Erbmasse von denselben Rassen haben, rassisch
darum nicht gleich zu sein braudien. Es kommt auch darauf
an, welche Anlagen sie von den verschiedenen Rassen haben.
Entsprechend brauchen auch Bevölkerungen, in die gleich
große Anteile gleicher Rassen eingegangen sind, rassisch nicht
gleich zu sein. Je nach den Auslesebedingungen können näm-
760
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
lieh" in einer Bevölkerung diese und in einer andern jene Erb-
anlagen erhalten geblieben sein. Weiter ist daran zu erinnern,
daß benachbarte Rassen große Teile ihrer Erbmasse gemein-
sam haben können, etwa die nordische mit der „tauschen" und
der „ostbaltischen", falls man diese überhaupt als besondere
Rassen ansehen will. Es geht daher nicht an, für einen Men-
schen oder eine Bevölkerung bestimmte Hundertsä,tze ihrer
Rassenbestandteile anzugeben.
Soviel wir wissen, haben jene Erbanlagen, die Haut-,
Haar- und Augenfarbe bedingen, gar keine direkte Beziehung
zu der seelischen Eigenart, unbeschadet der Tatsache, daß sie
bei Betrachtung großer Erdteile oder gar der Erdbevölkerung
im ganzen in Korrelation mit geistigen Eigenschaften stehen.
Bei einem „Schwarzen" setzen wir mit gutem Grund auch die
geistige Eigenart eines Negers voraus. In jener afrikanischen
Umwelt, die die schwarze Hautfarbe herausgezüchtet bat, sind
zugleich auch bestimmte geistige Eigenschaften herausgezüch-
tet worden. Entsprechend ist im Gebiet der nordischen Rasse
die helle Hautfarbe zugleich mit der seelischen Eigenart der
nordischen Rasse herausgezüchtet worden. Wenn wir ganz
Europa oder noch deutlicher die ganze Erdbevölkerung ins
Auge fassen, so besteht eine offenbare Korrelation zwischen
weißer Haut und nordischer Geistesart, innerhalb einer lokalen
Bevölkerung dagegen nicht. Brünette Hamburger sind im
Durchschnitt geistig sicher nicht wesentlich anders veranlagt
als blonde.
Bedeutungsvoller sind Unterschiede der Gestalt. Schlanke
Hamburger sind im Durchschnitt nach Temperament und Cha-
rakter anders veranlagt als untersetzte. Gewisse Eigenschaften
der Gestalt und der Seele sind von denselben Erbeinheiten ab-
hängig (vgl- S. 703). Und da schlanke Gestalt zum Bilde der
nordischen Rasse gehört, bietet ein solches Merkmal auch
einen Anhaltspunkt für nordische Geistesart. Einen Anhalts-
punkt, nicht mehr; und auch das nur für gewisse Seiten des
Seelenlebens. Zwischen Verstandesbegabung und Schlank-
heit bzw. Untersetztheit scheint iceine direkte Beziehung zu
bestehen.
Vermutlich äußern sich die meisten jener Erbanlagen, aus denen die
geistige Wesensart eines Menschen sich aufbaut, auch in irgendwelchen kör-
perlichen Merkmalen oder Zügen (Form des Kopfes, des Gesichts, der
Nase usw.), die als solche recht geringfügig erscheinen können. Weiter ist
daran zu erinnern, daß die Rassenunterschiede zum großen Teil in Untcr-
RASSENA4ISCHUNQ UND SEELE.
761
schieden der Hormonorgane bestehen') 3 ), und daß die innere Sekretion die-
ser Organe nicht nur die Körpcrgestaltung, sondern auch das Seelenleben
beeinflußt. So wird es verständlich, daß die körperliche .Erscheinung we-
sentliche Anhaltspunkte für die geistige Eigenart bietet, zumal wenn auch
die Art der Bewegungen und der Gesichtsausdruck berücksichtigt werden.
Wie die seelische Eigenart der Rassen in Physiognomie und Mienenspiel
zum Ausdruck kommen, hat CJausz 3 ) mit großem Geschick zu zeigen ver-
sucht. Gewarnt werden muß aber davor, einen Menschen nach einigen we-
nigen körperlichen Merkmalen einer bestimmten Rasse zuzuteilen und ihm
danach die seelische Eigenart dieser Rasse zuzuschreiben (?.. B. Beethoven:
„vorwiegend ostisch"). Ein solches Verfahren ist zwar sehr beliebt, aber
unwissenschaftlich und auch praktisch bedenklich. Die erbliche Grundlage
der seelischen Eigenart und auch der körperlichen Erscheinung ist viel zu
kompliziert, um ein derartiges schematisches Vorgehen zu gestatten.
Im Vorhergehenden ist vielfach schon die Frage der
Rassenmischung gestreift worden . Diese ist gerade wegen
der Folgen für die geistige Eigenart von größter Tragweite.
Vielfach ist die Ansicht verbreitet, elaß bei Rassenmischun-
gen regelmäßig die Geistesart der niederen Rasse durchschlage,
ja, daß die Mischlinge sogar minderwertiger seien als beide
Elternrassen. So wird von den Mischlingen in den Küstenstri-
chen Afrikas, Mittel- und Südamerikas berichtet, daß sie sitt-
lich tiefer stehen als die reinen Neger oder Indianer, während
sie an Intelligenz diesen ebenbürtig oder überlegen seien. Ver-
mutlich ist die Minderwertigkeit dieser Mischlinge zum großen
Teil das Ergebnis einer Auslese. Die Weißen, welche mit ein-
geborenen Weibern Mischlinge erzeugen, stellen dem Charak-
ter nach eine ungünstige Auslese dar, und die eingeborenen
Weiber, welche sich zum Verkehr mit Weißen hergeben, sind
vielfach ebenfalls von haltlosem Charakter, kein Wunder, daß
es dann auch die Mischlinge zum großen Teil sind.
Die Mischlinge zwischen Europäern und Mongolen in Ostasien (,,half-
casts") werden als leichtsinnig und leichtlebig geschildert. Von beiden
Gruppen gehen eben hauptsächlich leichtsinnige Individuen vorübergehende
Verbindungen ein, aus denen Mischlinge entstehen. Hoilmann 4 ) hat be-
richtet, daß nach seinen Erfahrungen jene Individuen, die in den Südstaaten
Nordamerikas an Mischehen und an ungesetzlichen Verbindungen zwischen
t) Paulsen, j. Wesen und Entstehung der Rasscnmerkmale. Archiv
für Anthropologie. Bd. 18. 1921.
2 ) Kcith, A. The evolution of human races in the ligtht of tue hor-
raone theory. Bull, of the Johns Hopkins hospital. Bd. 33. 1922.
3 ) Siehe Literaturverzeichnis.
*) Hofimann, F. L. Race Iraks and (endendes of the American
negro. New York 1896.
Hoff mann, F. L. Ncgro-white intermixture and intermarriage. In
„Eugenics in race and State". Baltimore 1923. Williams and Wilkins Co.
762
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
Weißen und Farbigen beteiligt sind, weit unter dem Durchschnitt beider
Rasscn stehen. In der Sklavcnzeit scheint das anders gewesen zu sein; da-
mals bekamen vorzugsweise die hübschesten Sklavinnen Kinder von ihren
Herren 1 ).
Wo keine ungünstige Auslese vorliegt, da ist auch keine
Minderwertigkeit der Mischlinge im Vergleich zu der farbigen
Stammrasse die Folge. Das gilt z. B. von den von Fischer 2 )
beschriebenen Bastards von Rehoboth, den Nachkommen von
holländischen Kolonisten und ■ Hottentottinnen, die jene als
rechtmäßige Ehefrauen nahmen. Fischer hat gefunden, daß
die Bastards den reinen Hottentotten nicht nur an Intelligenz,
sondern auch an Charakter überlegen sind, während sie ande-
rerseits den Buren an Kulturbegabung erheblich nachstehen.
Der Satz: „Der Bastard folgt der ärgeren Hand" ist nicht Ausdruck
einer Erfahrung über die Beschaffenheit der Mischlinge, sondern ein
praktischer Grundsatz, durch den sich eine herrschende Rasse gegen die
Vermischung mit einer niederen wehrt.
Es ist meines Erachtens nicht zu bezweifeln, daß Rassen-
mischung oft zu körperlich und geistig disharmonischen Typen
führt. Die einzelnen Erbanlagen jeder Rasse sind durch natür-
liche Auslese im Laufe ungezählter Generationen aneinander
angepaßt, und durch ; Mischung kann diese Harmonie gestört
werden. Die Mischlinge der Fi-Generation haben von beiden
Eiterrassen wenigstens noch je einen in sich harmonischen Satz
von Erbeinheiten. In den späteren Generationen dagegen treten
alle möglichen Kombinationen auf, die, wenn es sich um eine
Kreuzung einander fernstehender Rassen handelt, ihrer über-
wiegenden Zahl nach disharmonisch sind. Andererseits brau-
chen nicht alle Kombinationen disharmonisch zu sein; einzelne
können vielmehr besonders schön oder leistungsfähig sein.
Ohne Rassenkreuzung wäre keine rationelle Pflanzenzüch-
tung möglich; und auch in der Tierzüchtung arbeitet man mit
Rassenkreuzung. Selbst von Artkreuzungen hat man mit Erfolg
Gebrauch gemacht. So sind unsere großfrüchtigen Gartenerd-
beeren aus der Kreuzung einer nord- und einer südamerikani-
schen Art hervorgegangen, die Gartensorten der Feuerlilien
aus der Kreuzung einiger europäischer und ostasiatischer Arten.
Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Durch Kreu-
zung entsteht eine große Mannigfaltigkeit der Formen. Und
x ) Zitiert nach Holmes, S. J. The trend of the racc. New York
1921, Harcourt u. Brace.
2 ) Fischer, E. Die Rehobother Bastards und das Bastardierungs-
problcm beim Menschen. Jena 1913. G. Fischer.
RASSENMISCHUNG UND SEELE.
763
wenn auch die allermeisten dieser Formen unbrauchbar sind,
so kann der Pflanzenzüchter doch einzelne davon auswählen
und vermehren, während die weniger brauchbaren einfach
ausgemerzt werden. Diese Auslese ist das Entscheidende.
Ohne sie ist die Masse der Mischungskombinationen für
den Pflanzen- und Tierzüchter minderwertiger als die Aus-
gangsrassen,
Man stelle sich eine Ausstellung von Rassehunden vor. Die dort ge-
zeigten Rassen sind seit langen Generationen gezüchtet nach Form und
Leistung, wie es die Richtlinien der Hundezüchter vorschreiben. Man sieht
dort Schäferhunde, Hühnerhunde, Teckel, Doggen, Terrier, Bernhardiner
usw. Wenn alle diese in einem großen Gehege untergebracht und freier
Paarung überlassen würden, so würde eine sehr bunte Population entstehen,
die vom Standpunkt der Hundezüchtcr höchst minderwertig wäre. Kaum
noch ein einziger von diesen Hmidcmischlingen würde nach Form und
Leistung Aussicht haben, auf einer neuen Ausstellung einen Preis zu be-
kommen. Und doch würden unter einer großen Zahl solcher Hunde einzelne
zu finden sein, die in bestimmten Leistungen jede der Ausgangsrasscn
überträfen, die z. B. als Blindenhunde oder als Polizeihunde oder für In-
tclligcnzprüfungen besonders geeignet wären. Die alten Rassen waren nach
bestimmten Forderungen gezüchtet. Wenn nun die Umwelt neue Forderun-
gen stellt, so werden diesen Forderungen wahrscheinlich am besten Tiere
entsprechen, die gewisse Anlagen verschiedener Ausgangsrassen in sich ver-
einigen. Es könnten mithin aus der gemischten Population neue Rassen
für neue Zwecke gezüchtet werden. Und auf einer neuen Ausstellung, die
die Leistungen nach diesen neuen Zwecken beurteilen würde, würden diese
neuen Rassen die Preise bekommen. Wenn nun abermals allgemeine Ver-
mischung stattfände, so würde die Mannigfaltigkeit gegenüber der ersten
Mischpopülation nicht mehr gesteigert werden, da ja alle möglichen Kom-
binationen schon in jener verwirklicht waren. Die neue Kreuzung würde
also nur noch schädlich sein.
Wenn die Hundepopulation nicht nur freier Paarung überlassen, son-
dern auch sonst sieh selbst überlassen, d. h. auch nicht mehr gefüttert wer-
den würde, so würden fast alle Hunde zugrundegehen. Nur einige wenige
würden sich in freier Wildbahn von Hasen und anderem Wild ernähren
können; und diese würden vermutlich dem Typus des wilden Hundes, des
Wolfes, recht ähnlich sein. Durch natürliche Auslese würde wieder eine
Rasse herausgezüchtet werden, wie sie schon einmal ganz ähnlich in ähn-
licher Umwelt entstanden war. Dieser wilde Hund aber würde wieder für
die Leistungen, die der Mensch von den verschiedenen Hunderassen ver-
langt, weniger geeignet sein. Es kommt in der Frage nach den Folgen der
Rassenmischung also auch sehr darauf an, was von einem Lebewesen ver-
langt wird, d. h. auf Wertgesichtspunkte.
Aus dem Dargelegten ergibt sich, daß Rassenmischung
der Entstehung hoher vielseitiger Begabung förderlich sein
kann. In der Tat sind unter den sogenannten Geni.es reine
Rassetypen nicht die Regel. Die indogermanischen Stämme,
die im alten Indien, Griechenland, Italien eingewandert sind,
764
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
haben den größten Glanz ihrer Kultur erst in Zeiten entfaltet,
als schon mannigfache Mischungen mit der Urbevölkerung
stattgefunden hatten. Krctschmer 1 ) hat zu zeigen gesucht,
daß in Mitteleuropa die meisten genialen Menschen in einer
Mischungszone zwischen der nordischen und der „alpinen"
Rasse geboren wurden. Aus solchen Tatsachen folgt aber kei-
neswegs, daß die Rassenmischung allgemein unschädlich oder
gar überwiegend nützlich sei. Die alten Inder, Hellenen und
Italikcr, die in der Mischung mit südlichen Rassenelementcn
glänzende Kulturen entfaltet haben, sind alle dabei zugrunde-
gegangen; und die Rassenmischung ist an diesem Niedergang
wesentlich mitbeteiligt gewesen. Wenn infolge von Rassen-
mischung einzelne hervorragende Begabungen entstehen, zu-
gleich aber eine große Überzahl minderer und disharmonischer
Kombinationen, so ist die Rassenmischung in der Gesamtwir-
kung eben doch ganz überwiegend schädlich.
Bei Pflanzen und Tieren kommt sogenanntes „Luxuricren der Ba-
starde" vor; d. Ii. in manchen Fällen — keineswegs in allen — sind Art-
barstardc großer und öfter in gewisser Hinsicht auch leistungsfähiger als
die Elte rar ich. So wachsen die Bastarde der Feuerlilien viel üppiger al's die
reinen Arten. Auch bei Kreuzungen von Rassen derselben Art kommt ein
solches Luxuricren vor; ich habe es z. B. an Bastarden verschiedener
Rassen von Gartenbohnen beobachtet. Maultiere sind im Gebirge leistungs-
fähiger als Pferde und Esel. Vielleicht erklärt sich das Luxurieren zum
Teil daraus, daß die Bastarde Ernährungsmöglichkeiten verschiedener
Rassen in sich vereinigen. Das Luxurieren von Artbastarden beruht aber
auch zum Teil auf herabgesetzter oder aufgehobener Fruchtbarkeit. Stoff -
und Energiemengen, die sonst (ür die Fortpflanzung aufgewandt werden
würden, können bei unfruchtbaren Bastarden ein üppigeres Wachstum be-
wirken. So möchte ich das Luxurieren von mir gezogener Schmetterlings-
und Lilienbastarde wenigstens zum Teil deuten. Auch Maultiere sind ja in
der Regel unfruchtbar. Aus diesen Tatsachen folgt bereits, daß das Luxu-
ricren keineswegs in jeder Beziehung als günstig zu bewerten ist. Der Gärt-
ner braucht für seine Zwecke ein üppiges Blühen; und wenn die Blumen
unfruchtbar sind, so blühen sie um so länger. In der freien Natur aber
können sich solche Luxusblumen nicht halten. Entsprechende Gesichts-
punkte gelten für das Luxurieren beim Menschen. Es gibt ein Luxurieren
von Bastarden anscheinend auch in bezug auf geistige Eigenschaften. Das
„Genie" dürfte zum Teil auf diese Weise 7.ustandckommen. Daraus folgt
aber ganz und gar nicht, daß die Rassenkreuzung allgemein förderlich oder
auch nur unschädlich sei. Neben dem Luxuricren kommt bei Mischlingen
auch ein „Pauperieren" vor, wie es Eugen Fischer genannt hat; und
dieses scheint sogar zu überwiegen. Aber auch das Wort „Luxurieren" ent-
hält ja bereits ein negatives Werturteil. Luxus ist etwas Überflüssiges. Eine
Rasse aber muß vor allem dauerfähig sein.
v ) Kretschraer, E. Geniale Menschen. Berlin 1929.
RASSENMISCHUNG UND SEELE.
765
Man darf aber auch die „Rassenreinheit" nicht überschät-
zen 1 ). Der oft gehörten Behauptung, daß nur „reine" Rassen
große Kulturleistungen vollbringen könnten, widersprechen die
Tatsachen der Geschichte. Reinheit der Rasse als solche ver-
bürgt keine Kulturbegabung. Un vermischte Uraustralier kön-
nen sich europäische Kultur nicht einmal aneignen. Entschei-
dend für die Kulturfähigkeit ist die Begabung einer Rasse;
und eben darum wird eine hochbegabte Rasse wie die nordische
durch Mischung mit anderen in ihrer Kulturbegabung überwie-
gend geschädigt.
Eine völlig „reine" Rasse im Sinne völliger Erbgleichheit
aller ihrer Glieder würde starrer und einseitiger sein als eine
Bevölkerung, die verschiedene Erbanlagen in sich vereinigt.
Eine gewisse Mannigfaltigkeit der Begabungen ist der Arbeits-
teilung und damit dem Leben der Rasse förderlich; und wenn
Reinhaltung der Rasse gefordert wird, so ist damit ja nicht
Erbgleichheit im Sinne der Isogenie gemeint. Ein völlig iso-
genes Volk würde sich auch nicht durch Auslese an neue Le-
bensbedingungen anpassen können und leicht dem Aussterben
verfallen.
Unserm deutschen Volk fehlt es ganz gewiß nicht an erb-
bedingter Mannigfaltigkeit. Wir brauchen uns nur umzusehen :
da sehen wir sehr verschiedene Gestalten und Gesichter und
noch stärker verschiedene geistige Veranlagungen und Bega-
bungen. Diese Buntheit noch zu vermehren, wäre nur vom
Übel; ja schon die vorhandene ist größer, als gut ist. Es sind
viele disharmonische Kombinationen darunter. Was uns fehlt,,
ist also nicht etwa eine Vermehrung der Buntheit durch wei-
tere Rassenmischung, sondern ganz Im Gegenteil eine ge-
sunde Auslese.
Es ist verschiedentlich die Ansicht geäußert worden, daß durch Ras-
senmischung auch psychopathische Veranlagung entstehen könne. Eine
solche Möglichkeit halte auch ich für gegeben. Geistige Disharmonie und
Psychopathie ist ja beinahe dasselbe. Diese Ansicht steht nicht im Wider-
spruch zu der, daß auch Genies aus Rassenmischung hervorgehen können;
zeigen doch die allermeisten jener Menschen, die als „Genies" gelten,
psychopathische Züge. Daß durch Kreuzung verschiedener Hunderassen
ausgesprochen krankhafte Typen entstehen können, hat S t o c k a r d s ) ge-
zeigt. Und G o 1 d s c h m i d t hat gezeigt, daß durch Kreuzung verschie-
1 ) Die Worte „rein" und „unrein" werden oft nicht für klare Begriffe,
sondern in magischer Bedeutung gebraucht, z. B. in den altjüdischen Ri-
tualvorschriften.
2 ) Stockard, Ch, R. The physical basis of pcrsonality. New York
1931. (Deutsch: „Die körperliche Grundlage der Persönlichkeit." Jena 1932.)
766
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
dcner Rassen des Schwarams pinners Störungen der Geschlechtskonsiitution
und der geschlechtlichen Triebe entstehen können. Im übrigen ist daran zu
erinnern, daß die allermeisten krankhaften Veranlagungen nicht durch
Rassenkreuzung, sondern durch Mutation entstehen. Davon wurde ja indem
Kapitel über die Neucntstchung krankhafter Erbanlagen berichtet. Und
durch Ncuent stehimg' und Ausbreitung krankhafter Erbanlagen wird die
Reinheit einer Rasse nicht weniger gestört als durch Vermischung mit
fremden Rassen.
Unser deutsches Volk ist — oder wie man jetzt glück-
licherweise wohl sagen kann, war — hauptsächlich durch die
Mischung mit Juden bedroht. Durch die Mischung von Ger-
manen und Juden wird die Eigenart beider Gruppen gestört.
Immerhin sind aus christlich -jüdischen Mischehen eine Anzahl,
bedeutender Köpfe hervorgegangen, z. B. der französische
Philosoph Montaigne, der englische Astronom Tierschel, der
russische Chemiker Mendelejeff, der russische Biologe Meisch-
nikojf, der deutsche Chemiker v. Baeyer, der dänische Phy-
siker Bohr u. a., was natürlich nicht beweist,; daß diese Männer
ihre Begabung gerade der Rassenkreuzung verdanken. Viel-
leicht hätten ihre Eltern in nichtgemischten Ehen nicht weni-
ger bedeutende Nachkommen hervorgebracht. Jüdisch-christ-
liche Mischehen fanden in früheren Generationen fast nur
in intellektuellen Kreisen statt; kein Wunder, daß die Nach-
kommen aus solchen Verbindungen daher oft besonders intel-
ligent sind.
Ehen zwischen blonden und brünetten oder zwischen schlan-
ken und untersetzten Deutschen sind keine Rassenmischehen
in diesem Sinne. Hier handelt es sich nicht um abgesonderte
Populationen sondern nur um Unterschiede in einzelnen Erb-
anlagen, die als harmlos anzusehen sind.
Die Kulturbegabung der verschiedenen Rassen wird be-
sonders darum so viel erörtert und so leidenschaftlich umstrit-
ten, weil man meint, daß der Wert der Rassen davon, ab-
hängig sei. So sagt z. B. Grotjahn 1 ): „Objektiv gewertet
werden kann eine Rasse nur nach ihren kulturellen Leistungen,
wie die Geschichte sie überliefert hat. Dieser Maßstab läßt von
den jetzt noch lebenden drei Rassen oder besser .Rassenge-
mische von besonders hohem Werte erkennen : die jüdische, die
germanische und die romanische. Diese drei, allen voran die
jüdische, haben durch ihre Geschichte ihre hohe Kulturfähig-
keit bewiesen, ganz gleich, ob sie reine oder, was wohl sicher
ist, stark gemischte Rassen sind. Wie sie also sind, so sind sie
l ) Grotjahn, A. Soziale Pathologie. 3. Aufl. Berlin 1923. S. 481.
DIE FRAGE DES WERTES DER RASSEN.
767
gut und bewährt." Im Grunde ist dieser Maßstab indessen we-
der selbstverständlich noch eindeutig. Wenn man nämlich den
Wert der Rassen von der Kultur abhängig macht, so entsteht
die Frage nach dem Sinn und Wert der Kultur. Steht z, B. die
abendländische oder die chinesische höher ? Wie im zweiten
Bande ausführlich gezeigt wird, hat die abendländische Kultur
gegenwärtig eine Richtung, die daraufhinausläuft, ihre Schöp-
fer und Träger auszutilgen und damit sich selbst zu vernichten.
Man wird vielleicht geneigt sein, zu sagen, daß nur eine ge-
sunde Kultur zum Maßstabe des Rassenwertes gemacht wer-
den dürfe. Dann wäre die chinesische Kultur, die für ihre Trä-
ger ohne Zweifei erhaltungsgemäßer ist, also die höhere und
ihre Schöpfer die höchststehende Rasse?? Wir werden diese
Folgerung nicht ziehen mögen, und sie würde in der Tat nur
einen Zirkelschluß bedeuten. Denn wenn man den Wert einer
Kultur an. ihrer Wirkung auf die Rasse mißt, so kann man den
Wert der Rasse nicht wieder an ihrer Wirkung auf die Kultur
messen. Wenn man aber der Rasse als solcher Eigenwert zuer-
kennt, so kann eine Rasse weder „höher" noch „tiefer" als
eine andere stehen, weil alle solche Höhenbeziehungen die Gel-
tung eines anderweitigen Maßstabes voraussetzen würden. Die
Erde steht weder höher noch tiefer als etwa der Mars und auch
nicht gleich hoch, weil die Begriffe Hoch und Tief an der
Erde selber orientiert sind. Ebenso bei der Rasse. Wenn wir
unsere Rasse nicht um irgendeiner Kultur, einer Lehre oder
Moral willen, sondern um ihrer selbst willen lieben, so verträgt
sich diese Liebe nicht mit der Gleichschätzung irgend einer
anderen Rasse.
Selbstverständlich sind die erblichen Ras-
senanlagen nicht die alleinige Ursache der gro-
ßen Kultu rlci stungen. Alle Kultur, alle L eis tun g
entsteht vielmehraus dem Z u s a m m e n w i r k e 11 v o n
Rassen anläge und Umwelt. Die rassenbiologische Be-
trachtung muß sich hüten, in ähnliche Einseitigkeiten zu ver-
fallen wie gewisse ihr entgegenstehende verbreitete Lehren.
Die Frage, wie die Unterschiede der Menschen und die Unter-
schiede der Kultur Zustandekommen, hat seit je die Geister be-
wegt. Rousseau glaubte die entscheidende Ursache der Un-
terschiede im Privateigentum zu sehen. Diese Ansicht hat ihre
schärfste Ausprägung in der sogenannten „materialistischen"
(ökonomischen) Kulturauffassung von Marx und seinen Nach-
folgern gefunden, die auch heute noch zahlreiche Anhänger
768
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
hat 1 ). Danach sollen alle Unterschiede der Menschen durch die
wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt sein, ebenso die Unter-
schiede der Kultur und damit auch der Fortschritt der Kultur.
Im Gegensatz zu diesem „historischen Materiaiismus" glaubt
die sogenannte „idealistische" (spiritualis tische) Auffassung,
in den geistigen Leistungen und Idealen die primären treiben-
den Kräfte der Kultur zu sehen. Daß die Rasse eine wesent-
liche Bedeutung für die Kultur habe, wird von der „idealisti-
schen" Lehre ebenso wie von der „materialistischen" übersehen
oder direkt geleugnet. Der „Materialismus" und der „Idealis-
mus" bekämpfen sich zwar heftig; aber im Grunde sind sie
feindliche Brüder; ihr gemeinsamer Vater ist der Lamarckis-
mus, der Glaube an die Allmacht der Umwelt. Der „Materialis-
mus" fallt im wesentlichen mit jener Spielart des Lamarckis-
mus zusammen, die als „Mechanolamarckismus" bezeichnet
wird. Alle Unterschiede der Lebewesen, ihre Anpassung und
Entwicklung werden, als Folge einer „direkten Bewirkung"
durch die Umwelt angesehen. Der „Idealismus" dagegen fällt
weitgehend mit dem „Psychoiamarckismus" zusammen, der die
Gestaltung der Lebewesen auf seelische Kräfte zurückführen
möchte und verkündet : „Es ist der Geist, der sich den Körper
baut." Die „Materialisten" sehen in dem Unterschied zwischen
Besitzenden und Nichtbesitzenden den hauptsächlichen Unter-
schied der Menschen, die „Idealisten" in dem Unterschied zwi-
schen Gebildeten und Ungebildeten. In beiden Auffassungen
erscheinen die Unterschiede als überbrückbar und aus-
gleichbar. Die „Materialisten" (Marxisten) lehren, daß nach
Aufhebung des Privateigentums und damit der wirtschaftlichen
Unterschiede alle Menschen gut und edel werden würden; die
„Idealisten" träumen von einer allgemeinen Veredelung des
Menschengeschlechts durch die innere Aneignung geistiger
Ideale, speziell der idealistischen Lehre. Biologisch sind beide
Lehren unhaltbar. Die Ungleichheit der Menschen hat ihre
wesentlichste Lirsache in der Erbmasse; und diese kann weder
durch materielle noch durch geistige Einwirkungen einfach
umgestaltet werden, im Individuum überhaupt nicht, und in der
Rasse nur durch Auslese. Eine organische Kulturauffassung
darf zwar die von der „materialistischen" und der „idealisti-
schen" einseitig hervorgehobenen Bedingungen nicht über-
sehen; sie muß aber gegenüber jenen auf die Rasse oder all-
r ) Kautsky, K. Die materialistische Geschichtsauffassung. 2. Bde.
Berlin 1927. J.H.W. Dielz.
RASSE UND WELTANSCHAUUNG.
769
gemeiner auf die Erbanlage als die erste und unerläßliche Be-
dingung aller Kultur hinweisen.
Seit ich diese Sätze in der vorigen Auflage dieses Buches
geschrieben habe, ist mit dem Nationalsozialismus eine solche
organische Weltanschauung bei uns zum Siege gekommen. Der
nationalsozialistische Staat hat nach seinem Begründer Adolf
Hitler die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens
zu setzen 1 ). Die nationalsozialistische Weltanschauung wurzelt
im Glauben an die Rasse. Sie wurzelt nicht etwa in wissenschaft-
licher Erkenntnis des Wesens der Rasse und ihrer Lebensge-
setze. Das Erste ist vielmehr der Wille zur Selbstbehauptung
der eigenen Rasse; dieser Wille geht aller wissenschaftlichen
Erkenntnis voraus und ist ihr übergeordnet. Die Bedeutung
der rassenbiologischen Erkenntnis liegt darin, daß sie die Mit-
tel und Wege zur Erhaltung, Gesundung und Vervollkomm-
nung der Rasse an die Hand gibt.
Mancher Leser wird es vielleicht vermißt haben, daß ich
bei der Schilderung der geistigen Eigenart der Rassen nicht
näher auf die Unterschiede der Weltanschauung eingegangen
bin. Man hört und liest heute öfter von „arteigener Weltan-
schauung". Unter „arteigen" ist dabei etwas verstanden, was
nicht der ganzen menschlichen Art, sondern den verschiedenen
Rassen eigen, d. h. angeboren bzw. erbbedingt ist; und man
sucht diese „arteigene Weltanschauung" wohl durch Zurück-
gehen auf die Urzeit der Rasse, in der die Weltanschauung
noch durch keine fremden Einflüsse getrübt gewesen sei, zu
erfassen. Dabei schwebt eine Vorstellung ähnlich der Gobi-
neaus vor, daß die Rassen einmal in ursprünglicher Reinheit
als solche erschaffen worden seien. Sie sind aber allmählich
aus einer gemeinsamen Stammform des Menschengeschlechts
herausgezüchtet worden. Die Gegner einer rassischen Weltan-
schauung neigen demgemäß dazu, eine ursprüngliche gemein-
same Weltanschauung des Menschengeschlechts anzunehmen.
Tatsächlich wechseln die Weltanschauungen schneller als die
Rassen. Es gibt Zeiten ruhiger Entwicklung, Zeiten der Revo-
lution, Zeiten des Rückschritts und Zeiten des Stillstandes.
Eine Weltanschauung Ist, was ihren Inhalt betrifft, hauptsäch-
lich tradilions- und kulturbedingt, in bezug auf den einzelnen
Menschen also erworbene Modifikation. Der einzelne über-
nimmt sie durch Überlieferung und Lehre. Natürlich ist nicht
jede r Men sch für jede Lehre gleich empfänglich. Je nach der
*) Hitler, A. Mein Kampf. München, F. Eher Nachf. S. 446.
fiaur-Fisciiet-Lcu?, I. .m
770
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
erblichen Veranlagung findet eine gewisse Auslese statt. So hat
sich das lutherische Christentum hauptsächlich nur über Län-
der nordischer Rasse verbreitet. Daraus ergibt sich eine ge-
wisse Korrelation zwischen Weltanschauung und Rasse.
Außerdem wechselt der Charakter einer Weltanschauung
mit den sie tragenden Menschen trotz weitgehend gleichem
Inhalt. Das katholische Christentum eines Westfalen, eines Süd-
italieners und eines Negers hat zwar ungefähr den gleichen
Inhalt an Glaubensvorstellungen; seinem Charakter nach aber
ist es verschieden.
Es gibt gewisse Seiten des Christentums, die dem Instinkt einer Hcr-
renrasse gerade entgegengesetzt sind. „Ich aber sage euch, daß ihr nicht
widerstreben sollt dem übel; sondern so dir jemand einen Streich gibt auf
deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar" (Matth. 6. 39).
Auch die Lehre von der Erlösung durch das stellvertretende Leiden des
Gottessohnes ist aus dem Geist einer passiven Rasse bzw. einer friedlichen
Pflanzerrasse geboren. Der Instinkt der Herrenrasse sagt vielmehr: „Das
höchste Heil, das letzte liegt im Schwerte" (Körner). Hier stehen sich
zwei Anschauungen gegenüber, die Nietzsche in seiner übertreibenden
und gesucht verletzenden Art als „Hcrrenmoral" und „Sklavenmoral" einan-
der gegenüber gestellt hat. Dem christlichen Sakrament des Abendmahls.,
das den Gläubigen an der durch Leiden vollbrachten Erlösung teilhaben läßt,
steht das Sakrament des Zweikampfes gegenüber. Wenn jemand im Zwei-
kampf sein Leben einsetzt, so zeigt er damit, daß er Ehre hat. Kriegerische
Einsatzbereitschaft und Todesverachtung entscheiden für diese Auffassung
absolut über den Mannes wert, auch wenn der also Gerechtfertigte im
Unrecht war.
Im ganzen sind die Instinkte einer Rasse ihren Lebensbe-
dingungen angepaßt. Was für eine Rasse von Jägern crhal-
tungsgemäß ist, braucht es nicht für eine von Pflanzern zu sein ;
und was dem Händler frommt, frommt darum nicht auch dem
Bauern. Wenn wir das Wort „artgemäße Weltanschauung" im
Sinne von erhaltungsgemäß nehmen, so wird daher vieles, was
von fremden Völkern stammt, nicht erhaltungsgemäß sein. Vie-
les, keineswegs alles. Wenn die Japaner grundsätzlich alles
Fremde abgelehnt hätten, so wären sie heute eine europäische
Kolonie. Und was von Bestandteilen der technischen Kultur
gilt, kann auch von Bestandteilen einer Weltanschauung gelten.
Die Weltanschauungen sind, was immer sie sonst sein mögen,
biologisch gesehen, Mittel im Kampf ums Dasein und im
Kampf um die Macht.
Das Evangelium der Liebe und des Friedens ist dem Leben der nor-
dischen Rasse im ganzen doch wohl überwiegend nützlich gewesen. Es hat
die furchtbare gegenseitige Vernichtung der nordischen Stämme und Völker
immerhin eingeschränkt. „Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert
umkommen." Darin steckt eine rassenbiologische Wahrheit, von der im
RASSE UND WELTANSCHAUUNG.
771
zweiten Bande bei Besprechung der rassenbiologischen Wirkung des Krie-
ges ausführlicher die Rede ist. Es liegt eine tiefe Tragik darin, daß die krie-
gerischen Instinkte der heroischen Rasse an ihre gegenwärtige Umwelt
nicht angepaßt sind. Gerade sie bedarf daher der Lehre des Friedens zu
ihrer Erhaltung.
Es gibt allerdings auch christliche Lehren, die dem Leben der Rasse
nicht nützlich sind, so die Lehre von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit
aller Menschen (ihrer „Gleichheit vor Gott"), die geringe Bewertung der
Sippe gegenüber dem Individuum (dem „Hell der Seele") und der Glaubens-
gemeinschaft, die Geringschätzung alles Irdischen und damit auch der Rasse
und Rassenlüchtigkeit, die Ehelosigkeit der Priester, durch die ungezählte
überdurchschnittliche Begabungen von der Fortpflanzung ausgeschaltet
werden. Auf der positiven Seite sind außer der Lehre der Liebe und des
Friedens aber zu buchen: die Achtung vor dem individuellen Leben, die
Voranstcllung der gemeinnützigen vor die eigennützigen Interessen,' vor
allem aber die Verankerung der Moral objektiv in einem höchsten Willen,
der zugleich allwissend ist, und subjektiv im eigenen Gewissen. Auf wesent-
liche Seiten des Christentums sprach der Instinkt der nordischen Rasse
offenbar auch an. Der metaphysische Individualismus, die Lehre von der
Substantialität des Individuums (der „Unsterblichkeit der Seele") und
seinem absoluten Wert, sagten dem nordischen Persönlicbkeltsbewußtsein
zu. Ebenso die Lehre von der Selbstvcrantwortung vor dem eigenen Ge-
wissen und die direkte Beziehung des Individuums'" zu Gott.
Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade die indogermanischen Völker
und nicht die semitischen die eigentlichen Träger des Christentums gewor-
den sind; und alles in allem haben gerade auch die nordischen Völker in
ihrer christlichen Zeit ihre größte Kraft und höchste Kultur entfaltet, we-
nigstens bisher.
Während das Christentum auch wesentliche heroische Seiten hat, ist
der Buddhismus viel einseitiger aus dem Geist einer passiven Pflanzerrasse
geboren. Vegetarische Ernährung ist religiöse Vorschrift. Der konventio-
nelle Typus der Buddhastatuen atmet Ruhe und Beschaulichkeit. Hier ist
nichts von kämpferischer Haltung. Beleibtheit wird zum Ideal. Der Typus
hat etwas Unmännliches. Wenn diese Züge dem nordischen Instinkt nicht
hegen, so darf man doch den hohen geistigen (erkenntnismäßigen) Rang
der buddhistischen Lehre nicht verkennen.
Seit Paulus den „Heiden" eine natürliche Sittlichkeit zugebilligt
hat, hat insbesondere die katholische Kirche die Lehre von der „natürlichen
Sittlichkeit" ausgebaut und zum Teil sogar Sittengesetze als „Naturgesetze-
hingestellt. Naturgesetze handeln indessen von dem, was ist und geschieht
nicht von dem, was sein oder geschehen soll. Niemand kann gegen das
Gravitationsgesetz oder gegen das Mendelsche Gesetz verstoßen, niemand
kann diese Gesetze befolgen. Sittengesetze sind keine Naturgesetze Auch
ein Leben gemäß den natürlichen Trieben ist nicht darum sittlich weil es
„natürlich" ist. Gerade die katholische Kirche kennt ja eine , Übernatur"
die m der Überwindung des Triebhaften bestehen soll. Ebensowenig wie
eine Überwindung der natürlichen Triebe an sich sittlich ist, ebensowenig
^ f.^r 5 Ge & ent eü. Aus der Rassebedingtheit folgt mithin auch nicht die
Sittlichkeit eines Verhaltens. Wenn die Juden von Natur zu gewissen Ver-
fehlungen mehr neigen als die Germanen, so sind jene Verfehlungen darum
auch für die Juden nicht entschuldigt. Und wenn der Heroismus eine nor-
772
FRITZ LENZ, GEISTIGE EIGENSCHAFTEN.
dische Tugend ist, so ist der Alkoholismus darum, daß besonders nor-
dische Menschen dazu neigen, doch keine nordische Tugend, sondern ein
Laster. Die „Artgcmäßheit" entscheidet nicht über die Berechtigung einer
Moral und nicht über die Wahrheit einer Weitanschauung.
Gewiß, clie Welt sieht von jeder Rasse aus anders aus ;
aber eben darum können nicht alle diese Bilder richtig sein.
Der nordische Denker Antisthenes, der markanteste Ver-
treter der Rassenwertung im hellenischen Altertum, hat mit
dem Satz : „Jeder erkennt, was seiner Eigenart gemäß ist"
zwar die erbliche Veranlagung als Grundlage alles Geistes-
lebens, intuitiv erfaßt ; aber er hat, was man ihm als Bahn-
brecher zugute halten muß, einseitig übertrieben. Zu Ende ge-
dacht bedeutet jener Satz eine Relativierung aller Erkenntnis
und damit die Aufhebung des Begriffs der Wahrheit und der
Welt.
Gefährlicher als diese Einseitigkeit ist freilich die entgegen-
gesetzte, die in der Lehre gipfelt, daß die Übernahme eincr
Weltanschauung das Wesen eines Menschen von Grund aus
ändere. Schon Paulus hat bekanntlich gelehrt, daß der
Mensch, auch wenn er nicht der auserwählten Rasse angehöre,
durch die Gnade des rechten Glaubens eine völlige Wesens -
änderung (Metanoia), einen Umbruch des Charakters erlebe,
daß er auf diese Weise zu einem Nachkommen Abrahams im
Geiste werde und an dem den Kindern Abrahams verheißenen
Segen teilhabe. Diese Lehre der Rechtfertigung 'durch den
Glauben liegt für jede weltanschaulich begründete Bewegung
nahe, zumal in der gröberen Fassung, daß die Zugehörigkeit
zu der eigenen Weltanschauungsgemcinschaft die eigene Ge-
rechtigkeit verbürge. Selbst die Marxisten pflegen, unbescha-
det der Lehre von der wirtschaftlichen Bedingtheit der Welt-
anschauung, auch einen Nichtproletarier, der den Marxismus
als Weltanschauung annimmt, als gerechtfertigt anzusehen.
Eine neue Weltanschauung kann den Charakter eines Men-
schen wohl bis zu einem gewissen Grade modifizieren, nicht
aber ihn von Grund aus ändern. Vielmehr ist mit Kant zu be-
tonen, daß der ,, angeborene Charakter in der Blutmischung des
Menschen liegt und auch der erworbene und künstliche nur die
Folge davon ist" 1 ).
Diese Einsicht darf weder zum Optimismus noch zum Pes-
simismus führen. Das Bewußtsein, einer auserwählten Rasse
*) Kant, J. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Königsberg
1798. (In dem angeführten Satz liegt das Gewicht natürlich nicht in dem
Wort „Mischung", sondern in dem Wort Blut. D. h. der Charakter liegt im
wesentlichen in der Erbmasse, in der Rasse.)
RASSE UND WELTANSCHAUUNG.
773
anzugehören, wird für oberflächliche Geister leicht zu einem
Ruhekissen, auf dem man einschlummert, Ich möchte daher
die Ausführungen über die seelische Eigenart der Rassen nicht
schließen, ohne nachdrücklich zu betonen, daß auch das bio-
logische Ahnenerbe des Geistes nicht unverlierbar ist. Wenn
wir den Raubbau an unserem besten Erbgut so fortsetzen wie
in den letzten Jahrzehnten, so werden wir in wenigen Genera-
tionen den Mongolen ganz gewiß nicht mehr überlegen sehr
und mit Sicherheit von ihnen verdrängt werden.
Aber auch zu tatenlosem Pessimismus besteht kein Anlaß.
Zwar können Geist und Charakter in ihrer erbbedingten rassi-
schen Grundlage durch keine Lehre und Erziehung unmittel-
bar umgestaltet werden. Der einzige Weg zur Gesundung und
Höherführung der Rasse ist vielmehr der Königsweg der Aus-
lese. Für die Einleitung und Durchführung der rassenhygieni-
schen Auslese aber ist eine Erneuerung der Weltanschauung
nötig. Eine solche ist möglich, eben weil sie ihrem Inhaltenach
nicht entscheidend von der Rasse, sondern von Lehre und Er-
ziehung abhängt. Auch die Erneuerung der Weltanschauung-
ist nicht mit einem Schlage durchführbar. Es bedarf der Er-
ziehung von Generationen. Diese Erziehung zu einer organi-
schen Weltanschauung hat der Nationalsozialismus in Angriff
genommen; und es ist seine geschichtliche Aufgabe, die Bahn
frei zu machen für eine gesunde Auslese im Sinne der Reini-
gung, Ertüchtigung und Höherführung der Rasse. Was die
wissenschaftliche Rassenbiologie an Mitteln und Wegen zu die-
sem Ziel im einzelnen an die Hand gibt, wird im zweiten Bande
dargelegt.
Da dieses Buch kein erschöpfendes Handbuch sein will, verzichten, wir
auf eine vollständige Zusammenstellung des Schrifttums, die sehr umfang-
reich sein und das Buch unnötig verteuern würde. Wir haben uns vielmehr
auf die wichtigsten zusammenfassenden Schriften beschränkt. Auf das Son-
der Schrifttum ist in den Anmerkungen des Textes verwiesen.
Baar, £. Einführung in die experimentelle Vererbungs-
lehre. Völlig neubearb. Autl. (7. — 11. Tsd.) Berlin 1930. Bomtraeger.
Baar, E. und liarlniaiui, M. Handbuch der Vererbungswissen-
schaft. (Erscheint seit 1927, Berlin, Bomtraeger.) Lief. 1 — 19.
Gates, R. R, Hercdity in M a n. London 1 929.
Goldschmidt, R. Einführung i n d i e Vererbungswissenschaft.
5. Aufl. Berlin 1928. Springer.
Johannsen, W. Elemente der exakten Erblichkeitslehre.
3. Aufl. Jena 1926. Fischer.
Morgan, Tk. H. The theory of the g e n e. 2. Aufl. London 1932.
Newtnau, H. H. Readings in evolution, genetics and euge-
liics. 3. Aufl. Chicago 1933.
Piate, L, Vererbungslehre. 2 Bde. Jena 1932 u. 33. Fischer.
Zum zweiten Abschnitt:
Über Abstammung des Menschen s. Hinweise S. 252 und 254.
Über Bastardierung s. Verz. S. 289. — Dazu: Neuville, li, L'e s p e c e , 1 a
racc et lc metissage en Anthropologie. Aren, de l'inst.
pal. hum. Mein. 11. Paris 1933*)-
Lehrbücher:
Hause hild, M. W. Grundriß der Anthropologi c. Berlin 1 926.
Bomtraeger.
Martin, R. Lehrbuch der Anthropologie. 2. Aufl. Jena 1928. Fi-
scher. (Großes Lit.-Verz.)
Salier, K- Leitfaden der Anthropologie. Berlin 1930. Springer.
*) Dieses Werk ist mir erst nach Abschluß des Druckes bekannt gewor-
den, was ich außerordentlich bedauere — ich werde an anderer Stelle aus-
führlich darauf eingehen. F.
LITERATUR ZUM ERSTEN BÄNDE.
775
Scheldi, W. Allgemeine Rassenkunde. München 1925. Lehmann.
Schultz, B. /(. Erbkundc, Rassenkunde und R a 5 s e n p f 1 e g e
(Leitfaden). [3.— 14. Tausend. München 1936. Lehmann.
Rassenkunde:
Ai.ch.el, O. Der deutsche Mensch. (Prähist. Menschenreste aus Schles-
wig-Holstein usw.) Jena 1933. Fischer.
Brandt, B. und Grosser, O. Anthropologische Untersuchungen
in den S u d e t e n lä.nd e r 11. Prag 1931 (bisher Bd. 1 und 2).
Bryn, H. Der nordische Mensch. München 1929. Lehmann,
Denlker, I. Les races de la terrc. 2. Aufl. Paris 1926.
v. Elckstedt, F,., Erh. Rassen künde und Rassengeschichte
der Menschheit. Stuttgart 1933. Enke.
Fischer, E. Deutsche Rassenkunde, Bd. r — 14. Jena 1929—36
Fischer.
Günther, H. F. /(. Rassenkunde Europas. 3. Aufl. München 1929.
Lehmann.
— Rassenkunde des deutschen Volkes, 85.— 91. Tsd. Mün-
chen 1935. Lehmann.
— Kleine Rasscnkundc des deutschen Volkes. 146. bis
165. Tsd. München 1936. Lehmann.
— Ras s en künde des jüdischen Volkes. 2. Aufl. München
1930. Lehmann.
Kern, F. Stammbaum und A r t b i 1 d der Deutschen und ihrer
Verwandten. München 1927. Lehmann.
Landborg, H. Rassenkunde des schwedischen Volkes. Jena
1928. Fischer.
— und Linders, F. J. The racial characters of the swedisch
Nation. Uppsala 1926.
Menghin, O. Weltgeschichte der Steinzeit. Wien 1 93 i .
Montandon, G. L'Olo genese humaine. Paris 1928.
— La race — les races. Paris 1933.
— L'ethnie francaise. Paris 1935.
Reche, O. Rasse und Heimat der Ind ogermanen. München 1936.
Lehmann,
Ripley, W. Z. The races of Europe, 2. Aufl. London 1912.
Scheidl, W. und Wriede, li. D i e E 1 b i n s e 1 F i n k e n w ä r d e r. München
1927. Lehmann.
Scheidl, W. Lebens-gesetze des Volkstums. Insbesondere Heft
2, 3, 10. Hamburg 1936. Hermes.
Weinert, H. Die Rassen der Menschheit. Stuttgart 1935. Enke.
Über Zwillings Forschung s. Abschn. III und IV.
Zum dritten Abschnitt:
Cockayne, E. A. Inherited abnormalitics of the skin and
its appendages. London 1933. LI. Milford. (Literatur.)
Curtius, F. Die Erbkrankheiten des Nervensystems. Stutt-
gart 1935. Enke. (Literaturangaben.)
776
SCHRIFTTUM.
Diehl, K. und v. Verschuer, O. Z w i 1 1 i n g s t u b c r k u 1 o s c. Jena 1 933.
Fischer. (Literaturverzeichnis.)
Entres, L. Die Ursachen der Geisteskrankheiten. Bd. 1 des
Handbuchs der Geisteskrankheiten, herausgeg. von O. Bumke, Ber-
lin 1928. J. Springer.
Lange, A4. Erbbiologie der angeborenen Körperfehler.
Stuttgart 1935. Enke. (Mit Literaturverzeichnis.)
Naegeü, O. Allgemeine Konstitutionslehre. 2. Aufl. Berlin
1934. Springer.
Salier, /(. E r b 1 i c h k e i t s 1 e h r e und Eugenik. Berlin 1932. Sprin-
ger (Literaturhinweise.)
Siemens, PI. W. Einführung in die allgemeine Konstitu-
tions- und V c r c r b u n g s p a t h o 1 o g i e. 2. Aufl. Berlin 1923.
Springer.
The Trcasury of Human Inheritanc e. Herausgeber K. Pear-
son, Cambridge University Press. (Mit sehr vollständigen Literatur-
listcn.)
v. Verschuer, O., Erbpathologie. Dresden und Leipzig 1934. Stein-
kopf f. (Ausführliches Literaturverzeichnis.)
Waardenbwg, P. J. Das menschliche Auge und seine Erban-
lagen. s'Gravenhage 1932. M. Nijhoff. (Umfassendes Literaturver-
zeichnis.)
Zum vierten Abschnitt :
Flsker, R. Ä. Statistical methods f o r research workers.
London 1925. Oliver and Boyd.
Haecker, V. Methoden der Vererbung sforschung beim
Menschen. In Abderhaldens Handbuch der biologischen Ar-
beitsmethoden. Abt. IX. Teil 3. Heft 1. Berlin und Wien 1923. Urban
und Schwarzcnberg.
Just, G. Methoden der Vererbungslehre. In „Methodik der
wissenschaftlichen Biologie", herausgegeben von J. P e t e r f i , Bd. 2.
Berlin 1928. Fischer. (Mit Literaturverzeichnis.)
— Praktische Übungen zur Vererbungslehre. 2. Aufl.
Berlin 1935. Springer. (Mit Literaturverzeichnis.)
Pearl, R. Introduction to medical biometry and statisties.
Philadelphia und London 1923. Saunders.
Scheidt, W. Einführung in die naturwissenschaftliche
Familienkunde. München 1923. Lehmann.
— Die Zahl in der lebcnsgesctzlichcn Forschung. Ham-
burg 1934. Hermes.
Schulz, B. Methodik der medizinischen Erbforschung.
Leipzig 1936. Thieme.
Weber, Erna. Einführung in die Variation s- und Erblich-
keits-Statistik. München 1 93 5. Lehmann.
SCHRIFTTUM.
777
Zum fü
Clausz, l.f. Dienordische Seele. 2. Aufl. München 1932. Lehmann.
— Rasse und Seele. 3. Aufl. München 1933. Lehmann.
Darre, R, W. Das Bauerntum als Lebensquell der Nordi-
schen Rasse. München 1929. Lehmann.
v. Elckstedt, E. Grundlagen der Rasse 11 psychologie. Stutt-
gart 1936. Enke. (Literatur in Fußnoten.)
Galion, F. Hereditary Genius. London 1869. (Die unter dem Titel
,, Genie und Vererbung" erschienene deutsche Übersetzung (Leipzig
1910, A. Kröner) ist leider nicht ganz auf der Hohe).
Garih, Tli. R. Race p s y c h o 1 o g y. New York 193 1 . (Literaturverzeichn.)
Gerlach, I(. Begabung und Stammesherkunft im deutschen
Volke. München. 1929. Lehmann.
Günther, H. F. I(. Herkunft und Rassengeschichte der Ger-
manen. München 1935. Lehmann.
— DieNordischeRassebci den Indogermanen Asiens,
München 1934. Lehmann.
■ — Rassengeschichte des hellenischen und des römi-
schen Volkes. München 1929. Lehmann.
An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die schon unter dem Schrift-
tum zum zweiten Abschnitt genannten Bücher Günthers hingewiesen,
deren Kern ja in der Psychologie der Rassen besteht.
Holmes, S. /.The irend of therace. New York 1921. Harcourt, Bracc
and Co.
Just, G. und andere Mitarbeiter. Vererbung und Erziehung. Ber-
lin 1930. Springer.
Krelschrner, E. Körperbau und Charakter. 9. und 1 o. Auf] .
Berlin 1931. Springer.
Langa-Eichbaum, W. G e n i e - 1 r r s i 11 n und R u h m. 2. Aufl. Mün-
chen 1935. Reinhardt.
Peter mann, ß. Das Problem der Rassenseele. Leipzig 1935.
Barth. (Ausführliches Literaturverzeichnis.)
Peters, W. Die Vererbung geistiger Eigenschaften und
die psychische Konstitution. Jena 1 92 5. Fischer. (Litera-
turverzeichnis.)
Popenoe, P. and Johnson, R. H. Applied eugenics, 3. Aufl. New
York 1923.
Schallmayer, W. Vererbung und Auslese. 4. Aufl. Jena 1920.
Fischer. (Literaturverzeichnis.)
Scheidt, W. Die Träger der Kultur. Berlin 1934. Metzner.
Schemann, L. Die Rasse in den Geisteswissenschaften.
3 Bände. München 1928, 1930, 1931. Lehmann.
Schoitky, J . und andere Mitarbeiter. Die Persönlichkeit im Lichte
der E r b 1 c h r c. Leipzig und Berlin 1936. Teubncr.
778
LITERATUR ZUM ERSTEN BANDE.
Atmals of Eugenics. Herausgeber K. Pcarson und E. M. Elderton.
Cambridge Univcrsity Press.
Archiv der Julius-Rlaus-Stiftung. Zürich. Orell Füssli.
Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. Herausgeber A. Ploetz.
München. Lehmann. (Im Text abgekürzt als ARGB.)
Der Erbarzt. Beilage zum Deutschen Ärzteblatt. Herausgeber Deutscher
Ärzicvereinsbund und Verband der Ärzte Deutschlands (Hartmann-
bund). Leiter O. Frh. v. Vcrschuer.
Eugcnical News. Herausgegeben von der EugenicsResearch Asso-
ciation. Long Island, N. Y. Cold Spring Harbor.
Gcaetica. Herausgeber J. P. Lotsy. s'Gravenhagc. M. Nijhoff.
Qeneücs. Herausgeber G. PI. S h u 11. Brooklyn Botanical Gardens.
Hereditas. Herausgeber R. L a r s s o n. Lund.
Journal _ of Genetics. Herausgeber R. C. P u n n e 1 1. Cambridge Univcr-
sity Press.
Journal of Herediiy. Herausgegeben von der American G e n c t i c As-
sociation. Washington.
Rasse. Herausgegeben von R. v. Hoff. Leipzig und Berlin. Teubner.
Resumptio GeneÜca. Herausgeber J. P. Lotsy und H. N. Kooiman.
s'Gravenhagc. M. Nijhoff. (Ausschließlich Referate über die geneti-
sche Literatur In großer Vollständigkeit.)
Volk und Rasse. Schriftleiter B. K. Schultz. München. Lehmann.
Zeitschrift für induktive Abstämmlings- and Vererbungslehre. Herausgeber
A. Kühn und F. v. Wettstein. Berlin. Borntraegcr.
Zeilschrift für menschliche Vererbutigs- und Konstitutionslehre. Herausgeber
G. Just und K. H. Bauer. Berlin. Springer.
Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie. Herausgeber E.Fisch er.
Stuttgart. Schweizerbart.
Zeitschrift für Rassenkunde. Herausgeber E. Frh. von £ i c k s t e d t.
Stuttgart. Enke.
Zeitschrift für Rassenphysiologie. Herausgeber O. Reche. München.
Lehmann.
Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. Berlin. Springer.
(Sehr vollständige Referate über menschliche Erblehre.)
ien:
Bibliographia Genelica. Herausgeber J. P. Lotsy und W. A. G o d d i j n.
s'Gravcnhage, M. Nijhoff.
Holmes, S. J. A bibliography of eugenics. Berkeley, California 1924. [Jni-
versily of California Press. (Umfassende Sammlung des Schrifttums
bis 1923).
Das Schrifttum seit 1923 wird fortlaufend aufgeführt in den „Eugcnical
News" und in der „Zeitschrift für induktive Abstämmlings- und Vererbungs-
lehre."
A.
Abderhalden 456
Abel, O. (91, 252
Abel, W. 100, 101, 136,
147, 149, '53. 165,
166, 174, 179, 192,
193, 196, 197, 198,
200, 298
Adachi 226
Adler 474, 576, 751
Aichel 200, 201, 311 f.,
775
Albrecht 365—367, 370
—373, 476
Alikhan 524
Allenburg 447, 580
Amnion 297, 727
Amrain 389
Andersson 252
Argelandcr 693, 704
Aristoteles 732
Aschaffenburg 558, 754
Aschner 387, 391, 475,
601
Aschoff 324
Ash 335
Babcock 580
v. Baeycr 555
Balz 1 19, 222
Barrington 401, 41 1, 424,
426
Barrows 463
Bartel 419
Basier 171
Bateson 331, 368
Bauer 243
Bauer A. W. 386
Bauer, J. 324, 347, 372,
414, 419, 475. 49 2 >
569, 601, 624
Bauer, K. H. 400, 443,
497, 77S
Baumann 607, 608
Baur, E. 657, 774
Bavink 741
Bayerthal 702
Bean 159, 757
Beckerhaus 161
Beeton 448
Behr 356
v. Behr-Pinnow 667
Bell 365, 448
Bemiss 33 1
Bemmelen van, 159, 272
Benzc 485
Berckheimcr 254
Berglund 384
Bernstein i6i, 162, 241,
246, 410, 615, 624
Bertholet 573
Bettmann 136, [56
Bijlmer 159, 19S, 200,
239
Birk 436
Birkenfeld 407
Birnbaum 55S, 677
Biswas 147
Bittle 490, 498
Bleuler 532, 536, 555
Bluhm, A. 438, 481, 501,
503. 573, 574, 59 2 ,
593
Blumenbach 278
Boas 129, 132, 169, 176,
209, 213, 302, 713
Bodewig 619
Boehm 354
Boening 540
Boeters 521
Bogatsch 345
Bohomoletz 395
BÖker 190
Bolk 230, 243
Bonnevie 136, 137,138,
139, 143, 144, 145,
149, 153, 423, 424
Borak 569
Borchardt 418
Bouterwek 224, 654, 693
Boveri 496
Brandt 750, 775
La Brand 479
Brauns r 77
Bremer in, 522, 469
Breuil 253
Brimhall 671, 672
Broca 278
Brodmann 227
Brown 5 1 g
Brugger 528, 533
Brugsch 416, 421, 456,
487
Bryant 523
Bryn 122, 132,209, 398,
775
Buchanan 453
Bulloch 377, 402, 464
Bumke 543
Bunak 121, 132
Bunge 575
Busch 412, 697
Buschke 490
Buseinann 694, 69 5
Busse 224
C.
Caesar 410
C am er er 458
Carrierc i 5 1
Castellano 129, 159
Castle 582
Cattell 734
Chen 244
Classen 422, 5 1 5
Clausen 341, 343, 347.
348
Clauß 194, 707, 761,
777
Clouston 386
Coburn 697
Cockayne 373, 375, 379,
382, 383, 385- 386,
775
Cole 576
Collins 580
Conitzcr 126
Conrad 400
Correns 391
Crampton 480
Cranc 720
Crouzon 41 1
Crowder 463
Csörsz 379, 380
Cummins 136, 1 46, 1 47 ,
151
780
NAMEN-VERZEICHNIS.
Curtius J04, 1S6, 234,
245, 422, 504, 507,
512, 522, 560, 598,
599, 601, 775
Cuthbert 456
Czellitzer 339, 346, 355.,
620
Czemy 429, 484
Dahlberg 100, 101, 104,
166, 366
Danforlh 161, 226, 384
Darre 221, 739, 777
Darsie 723
Darwin 189
Davenport 104, 116, 132,
133, 1951., 214, 216,
287, 289, 303, 305,
308, 37h 375> 39 2 ,
400, 405, 406, 417,
427; 443. 5*6
Davidcnkow 505, 507,
508, 511
Dawson 697
De Candolle 734
Dekking 1 18
Delbrück 256, 580
Deneke 469
Deniker 280, 641, 775
Dicldnson 470
Dielil 100, 107, 12 1,
219, 486, 643, 776
Dietrich 409
Dinter 586
Doederlein 566
Dollken 464
Dornfeldt 169
Dresel 456
Dubois 350
v. Dungern 235
Dünn 116, 1 59, 160,
198, 199, 289
Ebstein 387, 397, 590
Ecker 280
v. Economo 537
Ehrenberg- 191
v. Eickstedt 1 59, 263,
279, 295, 775, 777,
778
Elderton 683, 687, 77S
Elster 584
Engelking 470
Engelmann 387, 391
Engerth 168
Entres 5 17, 776
Erb 509, 5 10
Esiabrook 523
Eugster 438
Evans 215, 703
F.
Fahlbusch 592
Farabee 392, 393
Faraday 98
Easold 382
l ? ay 365, 368, 369
Fehlingcr 292
Ferguson 717
Feischer 394, 395, 55t
Fibiger 490
Fick 670
Filon 627
Finkbeiner 369, 440
Finke 459
Fischer, A 324
Fischer.E. 109, 1 13, 1 15
116, 117, 1 59, 1 60.
162, 168, 170, 176
185, 186, 187, 200
209, 287, 289, 291.
329. 3%5, 593, 726:
762, 764, 775, 778
Fischer, M. 193
Fischer, W. 481
Fischer-Wascls 497
Fisher 776
Fleischer 339, 520
Fleischhacker 147, 149,
1 55
Florschütz 457
Forel 575
Frank-Kamcnetzki 352
Frede 185
Frets 166, 171, 172, 173,
410
Freud 752
Frey 520
Friedcnthal 147, 157
Friedjung 430
Frischeisen-Köhler 245,
691, 697
F ritsch 750, 755
Fuchs 334
Fukuoka 102, 213
Fürbringer 501
Fürst 407
G.
Gallon 135, goi, 642,
666, 667, 668, 669.,
670, 688, 712, 720,
777
Gänßlcn 450, 456, 462,
467, 476
Garth jyj
Gaßler 344, 558
Gates 1 17, 133, 176, 289,
774
Geipel 139, 141, 142,
143, 145, 146, 151,
237
Gelpke 560
Gerlach 777
Geyer 192, 207, 233
Gilford 426
Glatzel 233
Goddard 530 f,
Goddijn 125, 177, 289,
778
Godfrey 1 19
Goldberg 437
Goldbladt 410
Goldschmidt 289, 365,
403. 558, 765, 774
Goldsmith 518
Gorj anovic-Kramberger
2 54
Gossage 334, 384, 468
Gothlin 363, 364
Graebner 758
Graefe 352
Gram 460
Greulich 104
Grosser 1 10, 114, 775
Grote 377, 394, 427,
474. 49*
Groenouw 362
Grotjahn 766
Grüneberg 1 56
Grütz 383
Grzegorzewski 234
Günther, H. 1 69, 179
Günther, H. F. K.
193, 279, 2S3, 291,
295, 726, 727, 731,
755, 775, 777
Gusinde 129
Guthe 169
Gutmann 394, 422, 516,
551
Gütt-Rüdin-Ruttke 583
Gutzmann 524
Haecker 626, 667, 776
Hagedorn 479
Hagen 1 1 6
Haike 37 i
Hammer 37 '5
'NAMEN-VERZEICHNIS.
781
Hammer schlag 367
Hanhart 1 10, 331, 368,
369, 379, 393, 397,
424, 461, 472, 473,
513 f-, 537, 542, 5S4,
621
Hansemann 426, 496
Hansen 45g
Hanson, J. B. 580
Hara 146
Harc 385
Harman 400
Harris 124
Hartmann 774
Hauschild, R. 172
H auschild, W. 13g, 774
Hcindl 135
Heiner 383
lielder 732
Hell 694
Heller 386
Hellpach 194, 19g
Hemmes 3go
Henke 520
Henckel 147, 216
Heimeberg g22
Hensen 3 53
Herringham 508
Flerrmann 440, 483
Herskovits 289, 308
Hertwig, O 563
Hertz 7 12, 720
Herzenberg 401
Hesch 23 g, 238, 239
v. Heß 361
Heßberg 360, 361
Heuck 385
Heys 580
Hildebrandt 30g, 676
Hilden 207
Hilsinger 233
Hirszfeld (Hirschfeld)
235, 237, 238, 479,
4S3
Hitler 769
v. Hoff 778
Hoff mann 53g, 545^ 761
Hof milier 676
Hofstätter 499
Holmes' 117, 670, 762,
777, 778
Hooff 398
Hooton 19g, 196, 198
Howe 3 g 1
Hrdlicka 169, 308
Hübener 227
Hüchtemann 492
Fiuddy 466, 47 g
Huskins 408
Husler 441
Huth g3o
Ischikawa 489
Ickert 48g, 488
Iaigkeit 39g, 412, 413,
398, 399
J.
Jablonski 341, 342,343,
345
Jaensch 222, 223, 227
Jäger 170
Jankowsky 108
Jendrassik 524 f.
Jenny 378
Johannsen 171, 63g, 642,
774
Johnson 21 g
Jollos 578
Jüngling 492
Just 1 1 5, 446, 616, 625,
635, 776, 777, 77S
K.
Kahn 753
Kalinowsky 5 1 g
Kammerer 18, 7gg
Kant 729, 772
Karplus 228
Karve 132, 195
ten Kate 1 19
Kaup 418
Kautsky 768
Keers 127
Kehrer 436, 468, go4,
516, gi8, gg 4 , g 59
Keiter 201
Keith 761
KekulcvonStradonitz 594
v. Kemnitz 418
Kern 198, 744, 74g, 77g
Kienboeck 400
Kim 172
King g82
Kirchmair 147
Klaatsch 129
Kleiner 357
Klelwcg de Zwaan l 7 r
Klemm 7 58
Klopstock 41 1
Knudsen 292
Koby 334
Koch 522, gg2, 664, 66g
Kollier, W. 7 ] 6
Kohn 376
Köhn 691, 696, 710
Koller 235
Komai 102, 1 46, 213
Konstanlinu 540
Kooiman 77S
Korkhaus 177 f., 409
Körner 770
Kostakow 505
Köstlich 573, 577
Kraft 426
Kranz 127, 157, 160, 557
Kraepelin g32, ggg, g7g
Kraujis ggo, 554
Krctschmer 221,417, g3Ö,
543. 554, 5öi, 629,
675, 676, 677, 701,
703, 757, 764, 777
Kreyenberg 530
Kronfeld ggg
Krueger 707, 708
Kruse 194
Kühn 778
Kahne 113, 181 ff.
Kurella 664, 668
Kutzinski 751
L.
LamtSris 381, 382
Lämmerhirt 678, 679,
680
Landauer 110, 111, 112,
1 60, 1 62
Landsteincr 236, 241
Lang 438
Langbein 468
Lange, Gus. 501
Lange, Joh. 533, g37.
545, 55L 556, gg7,
688, 706
Lange, M. 776
Lange-Eichbaum 674,
676, 680, 682, 683,
777
Lapouge 726, 727
Larousse 720
Larsen 119
Larsson 778
Lassen 644, 696, 697
Lassila 138
Lebzelter t 17 , r 59, 19g,
289, 440 ■
Leclie 136
Leeden 200
Legras 535, 541, 557
782
NAMEN-VERZEICHNIS.
Lehmann 431, 436
Leichcr 165, 177,
197, 207, 291
Lenz 99, ioOj 104,
133, 210, 217,
229, 235, 243,
271, 2S7, 306,
3'7. 3'8, 35°.
406, 446, 447,
564, 608, 615,
621, 625, 651
Lesscr 402
Leven 380
Lcvine 241, 242
Levinsolm 343
Levy 426
Lewis 394, 486
Lewit 401
Lewy 3S7
Liebendürfer 458
Linders 775
Linne 726
Linzenmcier 384
Litzner 575
Loeb 576
Loeffler 586
Lokay 529
Lombroso 744
Long 453
Lorcntz 522
Lort 363
Loth 136, 225
Lotsy 125, 208,
778
Lottig 696
Löwenstein 244
Löwy 484
Lundborg 1 75, 1 76,
304, 365, 542,
v. Luschan 729
Luxenburger 488,
534, 54i, 544,
546, 554, 601,
626, 649
Lydtin 488
196,
128,
222,
246,
309,
39°,
449»
619,
289,
2S3.
775
503=
545:
622,
Mc. Batts 226
Mac Clure 136
Mc Dougall 7 r 1
Mac Dowcll 425
Mc Quillen 407
Madiener 443
Malkova 445
Mansfield 333
Marchesani 343, 344
Markuse 291
Maroske 121
Martin 179, 425, 774
Martius 567
Marx 767
MaUison 475
Mautner 378
Mayer-Groß 562
Mayer-List 227
Medow 550
Meggendorfer 543, 554
Mcirowsky 226, 374, 650
M en des de Costa 378
Menghin 775
Merzbacher 51 1
Meulengracht ■ 469
Meyer-Heydenhagen r 50,
151, 152, 153, 22s
Meyer-Riemsloh 354
Midlo 136
Mincr 518
Minkowski 506
Miyake 1 54
Mjöen, F. 664
— , H. 665
— J. A, 304, 664, 665
Möbius 668 ? 6S0
Mohr 393, 473, 682
Mollison 1 1 5
Montandon 775
Morel 419, 521
Morgan 416, 446, 490,
57L 579. 585» 665,
774-
Moszkowski 231
Muckermann 704
Mühlmann 170, 368, 723
Müller 230
Muller, H. J. 447, 564,
569, 57L 692
Muncey 5 16
Munter 485
Mygind 367
N.
Nachtsheim 120, 122,
123, 125, 129, 134
Naegcli 470, 486, 487,
776
Nagel 363
Nassauer 489
Natorp 755
Naunyn 456
Nehse 161 , 224
Nelson 392
Nettleship 329, 336, 337,
355. 356, 357, 358.
Neubauer 168
Neuhaus 127, 199
Neuville 774
Newman 146, 151, 655,
689, 692, 774
Niemann- Pick 1 14
Nilsson-Ehle 41
Nissen 519
Noble 755
Nodop 350
Noorden 453, 454
Nordenskiöld 200
Norrie 338
Nylander 389
Oberhummcr 724, 725
Ochsenius 1 19, 427
Odin 734
Ohly 475
Orel 219, 441, 620
Orth 368
Osborn 384
Österreicher 40t
Osthoff 528
Ostwald 673
Oswald 344
P.
Painter 590
Paß 423
Passow 334
Patellani 101
Patterson 564
Patzig 517
Paudler 744, 745
Pauli 230
Paulsen 373, 416, 421,
491, 761
Pawlow 7 1 1
Pearl 232, 448, 776
Pearson 308, 329, ^^ 1,
373, 385, 448, 630,
633, 637, 638, 639,
683, 697, 703, 776,
778
Pei 252
Peiper 410, 421, 577
Pel 460, 470
Peller 492
Peterfi 776
Petermann 777
Peters 348, 777
Petri 231, 470
Peyser 432
Pfanner 409
NAMEN-VERZEICHNIS.
783
v. Pfaundler 428, 429.
43°, 433, 439, 44 L
448, 477, 478, 628.
629
Pfitzner 393, 702
Philipps 463
Philip tschenko 175
pil tz 554, 559
Pinkus 156
Pittard 2 1 6
Plate 774
Piaton 678
Plehn 468
Ploetz 25 r, 448, 575,
583, 77%
Ploetz-Radmann t 55
Pöch 155, 156
Poll 136, 146, 388, 642,
699
Pölya 616
Popenoe 582, 691, 777
Posmykicwicz 226
Po tri 244
Praeyer 407, 409
Preiser 375
Pribram 484
Prinzing 546
Puccioni 1 59
Punnet 331, 368, 778
Quelprud 202, 203 ff.
Radosawljewitsch 725
Rath 558
Rautmann. 324
Reche 170, 775, 778
Rchsteiner 463
Reid 480
Reinöhl, F. 664
Reisch 517
Reiter 528
Rennert 576
Rensch 271
Retzius 1 63
Reuter 720
Reutlinger 620
Richter 192, 197, 226
Riffel 485
Ripley 775
Rischbieth 424, '426
Roberts 385
Roch 398
Rochat ^81
R Odenwald t 116, r 59.
j 95j j 96, 198, 214.
289, 303, 3°7, 593
Roemer 541
Roeßle 474
Rose 764, 702
Rohr 431
Rosenberg 180
Roth 168, 215
Rousseau 767
Routil 201, 239
Roux 157
Rowan 337
Rubbrecht 408
Rüdin 534, 535, 537,
54", 559
S.
Sabouraud 384
Saenger 5 1 5
Saile 451
Salaman 291, 396, 750
Salier 121, 1 23, 125,
i 26, 1 27, 160, 170,
417, 774, 776
Sanders 405, 406, 519
Sapper 483
Sarasin 1 18, 129, 1 57,
1 58, 249, 267
Schallmayer 777
Schaeuble 137, 138, 149
Schamburow 41 1
Schatz 219
Schaumann 469
Scheidt 165, 192, 196,
201, 209, 226, 292,
3o8, 595, 775, 776,
777
Schellong 127
Schemann 777
Scheuer 1 62
Schickedanz 753
Schiff 106, 235, 236,
238, 241, 242
Schinz 392, 490, 498
Schiötz 360
Schirmer 447
Schi aginhauf en 1 3 6,
L38.. 555
Schlatter 392
Schleicher 458
Schlesinger 422
Schloeßmann 434, 442
Schmidt, W. 704, 705
758
Schmidt-Kehl 370, 462
Schmitt 1 i, 687
Schneider 554
Schnitzler 245
Schofield 392
Scholz 423, 512
Schönlank 367
Schopenhauer 686
Schott 48 1
Schottky 538, 777
Schreiner 122, 169, 173,
174, 176, 231, 308
Schrijver 246
Schröder 243, 399, 407
Schrödinger 705
Schulte 541
Schultheiß 437
Schultz 775, 778
Schultz-Ewerth 721
Schultze 249
Schuld 440, 776
Schuster 683
Schuszik 468
Schwalbe 115, 207, 252
Schwalber 439
Schwarz 177
Schwarzberg 161
Schwert feg er 710
Scckel 456
Sccck 730
Secger 520
Seiser 575
Seile 426, 427
Seyder 524
Seyfarth 329
Shakespeare 730
Shull 778
v. Sicherer 349
Sidler 506
Siegert 435
Siemens 100, 146, 166,
168, 177, 227, 332,
365, 374, 375, 376
378, 380, 381, 383,
385, 410 412, 423,
427, 432, 438, 5L3,
595, 642, 644, 668,
776
Sigaud 758
Sittniann 437
Sjögren 517, 529, 539
Smith 425
Smith, j. Ch. 527
Sobolewa 121, 132
Sommer 391, 554, 596
Sorokin 726
Spcisser 2 10
Spemann 1 10
Spengler 345
784
NAMEN-VERZEICHNIS.
Spiegel 474
Spindler 620
Spranger 707
Standfuß 263
Stanton 665
Stark 490, 538
Stattmüller 519
Stauder 541
Stedman 331
Steggerda 148, 154, 195
196, 214, 289
Steiger 340, 473
Stein 330, 372, 484
Steiner 104, 135
Steinthal 508
Stieren 33S
Stilbans 41 1
Stiller 41 6, 485
S tockard 1 S 9, 757, 765
Stöcker 554
Stocks 234, 401, 41 1
Straßmann 219
Strauß 474
Strcbel 336, 473
Strohmayer 535
Strong 49 S
Sttibbe 569, 571
Study 461
Stublmann 129
Stumpf! 557, 558
Suk 239
Sverdrup 389
Swczy 590
v. Szily 352
T.
Tandler 2 17, 414
Tao 117, 157, 199, 289
Taruffi 426
Taylor 392
Terman 699
Terra 178
Tertsch 330
Theilhabcr 455, 755
Thiemich 436
Thomas 385, 407
Thompson 226
Thost 379
Timms 510, 512
Tülinghast 304
Timofecff-Ressovsky
256, 39 1 » 58o
Todd 180, 308
Toenniessen 1 13, 457
Triebe! 515
Troitzky 172
ü.
Ullmann 455
Umber 454
Ushcr 329, 335, 373
V.
Valentin 413, 514
van der Valk 378
Varelmann 357, 359
Vclhagen 376
v. Ver schuer 99, 104, 105,
106, I2J, 136, 137,
146, 153, 161, 166,
177, 2 10, 212, 213,
2 14, 2 1 9, 225, 227j
234, 339, 366, 436,
476, 486, 487, 643,
651, 689, 690, 776,
778
Virchow 162, 297
Vogel 392
Vogt, O. 227, A. 333,
336, 337, 347, 348,
36°. 363, 593
Voltz 667
de Vries 391, 673
W.
Waaler 364, 490
Waardenburg 776
Wachtel 494
Wagenseil 199, 225
Wagner 308
Wagner, G. A. 502
Wahlund 1 7 5
Walcher 1 7 1
Waldmann 396
Warde 443
Wardenburg 328, 334,
33S» 336, 340, 343,
344, 345, 348, 352,
353, 354, 358, 364,
421, 495
Warthin 493
Wassink 494
Wcbb 697
Weber, E. 615, 616, 776
Webster 480
Weil 456
Weinberg 101, 338, 583,
601, 61 i, 639
Weinberger 538
Weinert 1 1 5, 165, 241,
252, 255, 775
Weisenberg 51 1
Weismann 578, 708
Weißensieder 465
Weitz 177, 234, 372,
3%3, 384, 397, 400,
404, 409, 432, 436,
439, 45°, 45*, 469,
47 1, 473, 476, 497,
505, 506, 507, 521,
642
Weller 576
Wellisch 239
Weninger, J. 131, 132,
I 53, 165, 192, 202,
— M. 178
Wentworth 136
Werner 233 f., 244
v. Weitstem 778
Wetzel 415
Weve 42 1
Whipple 155
Whiting 446
Whltman 496
Wiede 77 g
Wicth-Knudsen 292
WÜbrand 515
Wilde, de 355
Wilder 136, 139, 141,
142, 143, 151, 154
Williams 289, 555, 556
Walser 726
Wilson 337, 495
v. Winckel 407
Wingfield 6S7, 688, 698
Woltmann 758
Woods 671, 672, 703,
■ 734
Worth 344
Wrledt 393, 682
Wright 486
Wulz 620
Würth 155, 156
Y.
Yamagiwa 489
Yerkes 696, 717, 735
Yoshioka 226
Z.
Zangenmeister 243
Zebrowski 226
Zeiger 177
Ziehen 626, 664, 667,
668, 702, 708
Ziesch 397, 422, 435
Zimmer 256, 580
Zipperlen 217, 227, 234
Zoepffel 440
Zoeppritz 576
A.
Abessinier 306
Achondroplasic 423
Achylie 469, 474
Adenoide Konstitution
43i, 432
Adrenalin 243, 244
Agglutinine 236
Ägypter 239
Ahnentafel 595, 596
Ähnlichkeitsdiagnose 64g
Aino 1 54, 157, 161, 239,
273, 275, 282
Akka 129
Akne 383
Akranie 41 1
Akromegalie 1 68, 427
Albinismus 46, 113, 118,
*34, 255, 329, 331,
373
— des Auges 332, 333
-—lokaler 129
Alkaptonurie 113, 457
Alkohol 70, 7 1, 526, 527,
572, 573, 574, 575
Allelenreihe 292
Allelie, multiple 58, 624
Allergien 114, 244, 460,
461, 462, 463
Alpine Rasse 261, 273,
282, 283, 296, 317,
726
Alter der Eltern 582
Altern 23 1
— einer Rasse 3 17
Amblyopie 356
Amaurotische Idiotie 539
Amelie 1 13
Amerika 736
Amerikaner 136, 147
Anämie, perniziöse 468,
469
Analogieschlüsse 589
Andamanen 272, 277
Angina 483
Angiome 374
Angorahaarigkeit r 57
Angora-Katze 256
— ■ -Ziege 256
Angstneurose 555
Baur-Fisclier-I,enz I.
Anidrosis 382
Aniridie 335
Anlagen, entwicklungsla-
bile 693
Anodontie 407
Anomalie 323
Anonychie 386
Anophthalmie 335
Anpassung 323, 325, 480
Anthropoide 161, 1 62,
25 1 f.
Anthropo-Biologie 99
Antikörperbildung 242,
478 f.
Antizipation 337, 338,
454, 520
Antlitz 192
Antrum Masioideum 165
Appendizitis 484
Araber 1 1 9
Arachnodaktylie 42 !
Arier 731, 732
Arisch-jüdisch 197
Arteriensystem 226
Arteriosklerose 232, 450,
451, 452
Arthritis deformans 400
— urica 459
Assorlative mating 640
Asthenie 22, 414, 415,
416, 487
Asthma 461, 465
Astigmatismus 34g
Asymmetrie 223 f.
Atavismus 163
Ataxie, Friedreichsche
spinale 514
— zerebcllare 5 i 5
Ateleiosis 426
Atherome 385, 3S6
Athetose 518
Äthiopiden 1 59
Athletisch 22 t
Atmung 232 f., 244
Atropin 244
Auge 199 f.
Augenfarbe 1 30, 1 33,
229, 639
Augenleiden 328 ff.
Augenlider 228
Augenspalte, Schiefstel-
lung der 201
Augenzittern 333, 349,
35o
Augweiß 134
Aurignac -Rasse 255, 285
Auslese 8i, 90, 479, 480
Ausmerzung 83
Auslralider Zweig 281,
285
Australier 116, [29, E30,
1 57, S61, 23S f., 267,
274, 285, 715
B.
Bach, Familie 663, 680
Backenknochen 292
Baden (Land). Haar-
farbe 297
Bart 161, 275
Bartform d. Wedda 265
Basedowsche Krankheit
436, 437
Bastard, südwestafrikani-
scher 302, 305
— (Europ.-HoU. Reho-
bother) 116, 128
Bastarde 24, 149, 762
■ — intermediäre 27
■-— Luxurieren der 764
Bastardatavismus 35
Bastardbevölkerung
—■Biologie d. 291 ff.
— Erscheinungsbild 293
Bastardvolk 3 1 1
Beckenform 502
— bei den Mulatten [80
Begabung 662, 670, 671,
683, 685, 689, 692,
695, 697, 735
— Geniale 672
— Mathemalische 667
— - Musikalische 663, 664,
665, 666, 730
Begabungszeichen 703
Behaarung 129
Belastung 406, 454, 596,
599, 609, 610
Belastungsstatistik 610
Berber 1 19
71
SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS,
BernouIIi, Familie 667
Bettnässen 522
Beugefurche 138, 1 55
Bevölkerungsdruek 266
Bewegungsrassen 7 58
Bildende Kunst 666
Bildung 710
Bimanuar ! 47
Binomialkurve 7
Blaslophthorie 5 63
Blei 575. 576
Bleichsucht 469
Blindarmentzündung 484
Blindheit 339, 352
Blondhaar 297
Blutmischung i/ 8 V16 V.12
301
Blutarmut 46S, 469
Blutbild 244
Blutdruck 234, 244
— krankheit 450, 45]
Bluteigenschaften M, N
und P 241
Bluterkrankheit 229,
441, 442, 443, 444
Blutfaktoren G u. H 242
Blutgefäße 227
Blutgruppen 106, 23 5 ff.,
237, 253, 624
— bei Affen 240 f.
Blutkörperchen 234
Blutkreislauf 113, 232
Blutsverwandtschaft 108,
352, 392, 601, 607,
619, 620, 62 r
Bogenmuster der Hand
139 f-
Bonin-Inscl 292
Brachydaktylie 98, 189,
392
Brachyzephale 1 6^
Brachyzcphaliefakloren
273, 282
Braunf'Icckung der Iris
334
Braunschweig 297
Brechungsfehler 340
Breitgesicht 163 f.
Breitschädel 1 63
Brokcnhiil, Fund v. 254
Bronchialkatarrh 476
Brüche 404
Brünn-Rasse 255
Brustdrüsenkrebs 494
Brustkorb, Form 217
Buddhismus 77 1
Bulgaren 133
Bullosis 377, 378
Buren-Hottentotten 291
Buschmann-Hottentotten
208, 272
Buschmänner 1 1 7, 1 59,
217, 239, 249, 265
— Ohr der 202
C.
Cabocle 290
Cafuso 290
Camlies 38 5
Cape People 208, 290
Caput obstipum 412
■ — quadratum 1 68
Carabellische Höcker-
chen 178
Charakter 560, 686, 696,
697, 757
— zeichen 703, 760
Chilene 119, 147
Chinesen 117, 119, 154,
1 60, 199, 225, 244,
722, 723, 724 "
— Hawai 199, 209
— - Malaien 303
Chlorose 469, 470
Cholo 290
Cbondrodystrophie 423,
424
Chorea 516, 517
Christentum 770, 77 1
Chromatophoren 7 4
Chromogcn 35
Chromomercn 52
Chromosome 51, 590
Colobom i 13
Combe Capelle 281
Cro-Magnon-Rasse 255,
282
Crossing over 69, J^>
Cubaner i 29
Cy stimme 1 13
Daktyloskopie 1 3 5
Dalische Rasse 744, 745
Dänen 132, 260
Darier sehe Krankheil
380
Darwin-Galton, Familie
669
Darwinsches Höckerchen
203
Dauermodifikal tonen
578, 70S, 709
Deckfalte 201
Deformierung 1 71
Degeneration 524
Degenerationszeichen
560, 561
Delaware-Indianer 308
Delta 140
Dementia amauroticans.
538 f-
— paranoides 532
— praecox 532
— simplex 532
— senilis 538
Dermoglyphen 1 3 5
Dcuteroni alaien 327
Dexter-Rind 47
Diabetes 114, 304, 452,.
453, 454
Diastema 407
Diathese, arthritische.460'
— ■ dystrophische 429 f.
— entzündliche 429
— exsudative 429
— hämolytische 466
— hämorrhagische 444,.
445
— hyperthyreotische 436
— lymphatische 43 1
— rachitische 434
— spasmophile 436
Diathesen 428 ff.
— kombinierte 433
Dinarische Rasse 261 ,.
273, 274, 295, 296,
731
Diphtherie 482
Diplegie 5 r i
Disharmonien 192, 304 f.
Disposition 477, 478, 482
Dolichozephale 1 63
Domestikation 256, 500..
579
Dominanter Erbgangöoi
Dominanz 27, 602, 604
— Wechsel 603
Doppcl ganger 108
Doppelmißbildungen
104, 225
Doppelwirbel am Kopf-
haar l 6 1
Dreifingerfurche 138, 1 50.
Drillinge 104
Drillingsgeburt 107
Drosophila 48, 51, 309,
591
-— experimente 61 5
Drüsen, endokrine 243
Dupuylrcnsche Kontrak-
tur 394
SCHLÄGWÖRTER-VERZEICHNIS.
Dysostosis cleidocrania-
lis 411
— craniofacialis 4 ) 1
Dystrophia adiposogeni-
talis 457
Dystrophie, myotonische
519, 520, 521
Eigenschaften, geistige
283, 659 ff.
— normale 327
— Vererbung erworbener
709, 710
Eihautbefund 64.3
— b. Zwillingen 1 03
ei neiig-iden tisch 1 03
Einkindsterilität 501
Eiweißumsatz 234
Eiszeit 254, 280
Ektopia lentis 336
Ektrodaktylie 394
Ekzem 378, 429, 461
Elsterneger 129, 373 f.
Emmetropie 344
Emphysem 476
Enchondrome 401
Endokarditis 472, 473
Engländer, Nordische
Rasse 304, 735
Entartung 339, 524, 581,
582, 583
Entartungsirresein 559
Entartungszeichen 4 1 9,
420, 560, 561
Entdecker 674
Entwicklung, Harmoni-
sche 1 13
Entwicklungslabile An-
lagen 693
Entwicklungslabilität
224, 390
Enuresis nocturna 522
Eosinophilie 465
Epheliden 375
Epidermispolster 139
Epidermolysis
bullosa 377
— dystrophica 378
Epikanthus 201, 349
Epilepsie 539—543. 554,
676
Epispadie 404
Erbänderungen 564, 565,
566, 570, 582
Erbanlagen, psychische
284, 661 ff.
— Verteilung der rassen-
mäßigen 269, 71 1
— unabhängig von-
einander 300, 759
Erbanlage u. Umwclt65t
Erbarzt 99
Erbbiologische Bestands-
aufnahme 600
Erbeinheit 657
Erbeinheiten, pathogene
525
Erbkraft 657
Erblehre, psychologische
661
Erblichkeitsbegriff 657
Erbfaktoren 37 ff.
Erbforschung, experi-
mentelle 589
Erbgang 46
— dominanter 602
— geschlechtsgebunde-
ne" 332, 35°, 351,
352, 353, 354, 362,
3(>3, 364, 3^1, 443,
447, 511, 603, 604,
686
■—rezessiver 606, 611,
612, 615, 618, 619,
621
erbgleich 103
Erblindung 35t
Erbmasse und Umwelt
657, 694, 695
Erbpathologie 326
Erbprognose 626
Erbziffer 634
Erfinder 668
Ergrauen 129, 231, 385
Erkrankungsalter 60 1
Erstgeborene, Minder-
wertigkeit 583
Erythema exsudativum
377
Erziehung 709, 7 10
Eskimo 127, 149, 154,
1 57, 158, 160, 161,
200, 26r, 263, 273,
286
Dänenmischlinge 1 54
Euphtalmin 244
Eurasier 290
Europäer 180
— -Chinesen 1 57
Eskimo 197, 200
- -Hawei 195, 198
— -Hottentotten 176, 195,
303
— -Indianer 176
— -Malaien 176
Neger 209
— -Neger-Mikronesier-
Japaner 292
— -Polynesier 199
Exostosen 401
Expressivität 391
F.
Fähigkeiten, seelische
66 r
Faktorenaustausch 69, 73
— koppelung 48 ff., 69,
625, 641
■ Fälische Rasse 198, 282,
283, 317, 744
Fallsucht 539
FarnÜienanamnesen 598
— forschung 595
Farbenblindheit 229,
359, 360
Farbige 718, 719
Fehler der kleinen Zahl
616, 617
Fehlgeburten 50:
Fettsteiß bei Hottentottin
217, 264
— bei Schaf 264
Fettstoffwechsel 234
Fettsucht 234, 457,458
F euer besitz 257
Feuerländer 136
Feuermäler 374
Fil-Fü 15S, 248, 265,
272
Filialgeneration 2 5
Fingerleisten 139 ff.
Finnen 132, 175, 176,
207
Flüchtige Modifikationen
708
Fortpflanzung
autogame 1 2
— geschlechtliche (sexu-
elle) 4, 22
— ungeschlechtliche
(vegetative) 4
— Untüchligkeit zur
499 ff-
Fossa pränasalis 165
Fovea centralis 228
Franzosen 3 14
Freiheit 706
Friedreichsche Ataxie
513, 5*4, 575
Friesland 246
SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS.
Fruchtbarkeit 229, 291
499 ff.
Frühreife 229
Fulla 288
Furunkulose 384
G.
Gallensteine 465, 466
Gallon 669 ff.
Gartenlöwenmaul 23
Gaumengewölbe 177
— leisten 226
— spalte 405 — 407
Gebärmutterkrcbs 493
Gebiß 177, 409
Geburt, Mortalität bei.
der 2 1 9
Geburtenrückgang 3 20
Geburtsdeformität 592
— - gewicht 167
— ■ Schwierigkeiten 502,
503
Gedächtnis 696
Gehirn 702
— gewicht 227
Geist 705, 714
Geisteskrankheiten 525ff.
Geistige Arbeit 581
— Fähigkeiten 690
Geistige Rassenunter-
schiede 71 1 ff., 7 14
Gelbfaktoren 274, 281
— sucht 466, 467
Gelenkrheumatismus
472, 484
Geltungstrieb 550
Gen 76, 657
Genealogie 594 f.
Genie 662, 672, 673,
68 1, 682
Genie und Psychopathie
674
Genomer, Veränderung
an 77
Germanen 732, 756
Geschlechtliche Anoma-
lien 558
G e sc hl echtsbc Stimmung
590
— Chromosomen 64, 229
59o
— reife 229
— trieb 558
— unterschiede 698
— Vererbung 228
— Verhältnis 70, 292
— zelle 4
Geschmacksinn 246
Geschwistermethode
61 1— 614
Geschwülste 489 — 498
Gesicht 192, 1 94
Gesichtsasymmetrien
224
— züge 1 92
Gestalt 760
Gesundheit 323 f., 325
Gibbon 181, 186, [89
241
Gicht 459—461, 466
Glabella 1 62
Glatzenbildung 384
Glaukom 351, 352
Gleicherbig 24
Glioma retinae 49 5
Glomerulonephritis 470
Glykosurie 455
Gnomi 138
Goethe 680
Gonorrhöe 501
Gorilla 186, 240, 252
Griechen 119, 730
Grimaldi-Rasse 255
Grönland 260
Grünblindheit 364
Grundumsatz 233, 458
Grützbeutel 385
Haar 1561.
Haar, krauses 1 58
Haararmut 385
Haardickc [62
Haarfarbe 120 f., 229
— bei Kaninchenrassen
1 20
Haarform 1 57, 292
Haarlosigkeit 1 13, 384
Habitus 413, 416, 561,
757
Habsburger Unterlippe
198, 408
Haiti 304
Halbblut, europäisch-in-
dianisches 302
Halbseitenzwitter 388
Hallux valgus 396
Halswirbel 181
Hamiten 285, 288
Hammerzehe 394
Hämoglobingehalt 234
Hämoglobinurie 470
Hämophilie 441
Hämorrhoiden 422
H and 227
— flächen 149
— furchen 155 ff.
Handleisten 1 54
Handlinienformeln 1 5 e
Händler 7 59
Hasenscharte 404, 407
Häufigkeit krankhafter
Zustände 622
Haussa 288
Hauterkrankungen r 17
Hautfarbe 1 16
Hautgefäße, Bläue d. 227
Hautleiden, erbl. 373 ff.
Hawaier t [9, 159, 160,
175
Hebephrenie 532
Helix 203
Hellenische Kultur 732
Hellenistische Kultur
73°
Hemeralopie 3 56
Heredodegeneration 524
Hernie 404
Herz 226, 472
■ — fehler 473
— klappenentzündung
484
— krankheiten 472
— schlag 450
Heterochromie 129, 134,
224, 334
Hcterogenie 605
Heterogenität d. Typus
308
Heterozygot 24, 68, 330
Heufieber 461, 463
Hirn, Furchen und Win-
dungen 227
— gewicht 227
— schädel 1 62
Hirsch Sprungs che
Krankheit 475
Hirtennomaden 753
Histamin 244
Hocken 1 80
Holland 172, 210, 230
Hologenese 270
Hominide 252
Homo heidelbergensis
163
Homogamie 640
Homosexualität 558
Homozygot 24, 330
SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS.
789
Hormon 1 68
— organe 416
Hornhauttrübung 339
Hottentotten 147, 148
r 49, *55> 158, 200
' 2 49, 263, 318
— bastarde 159, 762
— steiß 275
— -Buschmänner 179
Hufeisenniere 226
Hüftverrenkung 1 1 3,
397, 398, 399
Hunderassen 175, 763
Huntingtonsche Krank-
heit 516, 517
Hydroa ^77
Hydrokephalus 412
Hydrophthalmie 352
Hyperidrosis 382
Hyperopie 345
Hypertension 450
Hyperthelie 404
Hyperthyreose 437
Hypertonie 450
Hypophyse 243
Hypoplasie 419
Hypospadie 402
Hypothesen 590
Hysterie 547 f., 550 f.,
554, 677, 678
Hysterotelie 189
Ichthyosis 379, 380
Idealismus 768
Idiokinese 495, 496, 563,
564
Idioplasma 4 f.
Idiosynkrasien 244, 460
Idiotie 527
— amaurotische 538,539
— mongoloide 440, 441
Idiotypus 12
Idiovariationen 6, ^7 ff.
Ikterus 466
Imbezillität 527
Immunität 243, 477 bis
482
Imprägnation 585
Inder 119, 132, 136,
147, 195
Indexkarte 298
Indianer 130, 133, 1 36,
147, 154, 158, 161!
176, 209, 230, 239,
261, 286, 288, 290,
725
Indianer in Chile 200
— nordamerikanische 274
Indianer-Neger 197
Indianer-Weiße 124
Indien 307, 316
Individualhygiene 22
Individualpsychologie
552, 751
Indogermanen 739
Indogermanische Kul-
turen 715, 73 1
Induktoren der Entwick-
lungsmechanik 1 1 o
Infantilismus 418, 501
Infektionskrankheiten
476 ff.
Intelligenz 686—690,
692, 702, 707, 735
— prüfung an Zwillingen
653
Intermediäres Verhalten
602
Intersexualität 229, 403
Inzestzucht 92
Inzucht 91 f., 499, 500,
582
— gebiete 621
Irisflecken 132, 334
— struktur 131
Isoagglutinine 236, 242
Isolierte r Fälle 622
Italien 210, 299
J.
Jäger 758
Japaner 10t, 102, 1 18,
119, 136, 147, 154,
199, 210, 225, 723
Japanischer R.-Typ 274
Java 255, 290
Jod 576
Juden 149,
226, 239,
301, 352
538, 539,
'58,
291,
369.
55i,
216,
293,
374,
729,
736, 737, 746—756
— chinesische 1 99
— Nase 197
Jüdische Musiker 730
K.
Kahlköpfigkeit 384
Kallikak 531
Kamptodaktylie 393
Kanaken 199
Kaninchenrassen 1 7 5
Kapazität, vitale 234
Kapillaren 227
Karies 179, 409
Karl d. Große 596
Karzinom s. Krebs
Kasko 290
Kastration 71, 1 68
Katarrhe 483
Katarakt 336
Katatonie 532
Keimdrüsen 243
Keimschädigung 567,
569
Keratosis 379
Keratosis follicularis
381
Kiefer 177
■ — höhle 165
— spalten 404 ff.
Kinn 193
Kirgisen 274
Kisaresen 1 1 6, 196, 198
Kleinmutationen 8 1
Kleinwüchsige, neolithi-
sche 272
Klinodaktylie 393
Klon 6, 11, 13
Klumpfuß 394 ff.
Knabenfamilien 608
Kniescheibe, Fehlen
der 401
Knochenbrüchigkeit 400
Kohlehydratstoffwechsel
?34, 452
Koisan 249, 272
Kokain 244
Kolobom 336
Kombinationen 5, 22 ff.,
82
Kompensations- und Ex-
klusionsmethode 60 1
Komplexion 133
Kondition 217, 414
Konkordanz 646— 65 1
Konstitution 2 r 7 f., 413,
414
Konstitution und Rasse
221, 417, 757
Konstitutionsanomalien
4*3
Konstitutionstypen 220,
417
Kopf große 701
Kopfhaar, Grenzen d.
2 53
Koppelung 69, 624 f.,
641
— Absolute 69
790
SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS.
Koreaner 119, 1 54, 225
Korrelation 433, 624,
627 f., 639 ff., 650
Korrelationskoeffizient
630, 635
Korrelationsrcchnung
307, 627
Körper und Seele 705
— bau u. Charakter 417,
701, 757
Körperbautypen 2 l 7, 221,
413* 4'6f., 56E. 757
— form 208
— fülle 216
— große 208, 631, 632,
702
— haar 1 60
— bei Chinesen 222
— - bei Japanern 222
Krampfadern 422
Krämpfe 543
Kranioiogie 165
Krankheit 323 ff.
Kraushaar 294
Krebs 305, 376, 489 ff.
Kreta 162
Kretinismus 439, 440
Kreuzung, chinesisch-
englische 295
— chinesisch-jüdische
295
Krieg 739, 756
Kriminal biologische
Sammelstelle 600
Kriminalität 557, 753,
754
Kropf 437 ff-
Krüpcrhuhn 1 t o f .
Kryptorchismus 403
Kubaner [59, 304
Kultur, abendländische
— hellenische 732
— hellenistische 730
— indische 731
— kreise 758
— rassen 9 1
— und Rasse 312 f.,
766 f.
— Wert der 767
Kurzfingrigkeit 46, 392,
393
Kurzkopfrasse 255
Kurzsichtigkeit 340 ff.,
3 59, 36o
Kyklopic 41 :
L.
Lachen 194
La Chapelle 163
Längen-Brcitcn-Index
166, 172
Langgesicht 163 f.
Langschädel 163
Lamarekismus 572, 584,
711, 755, 768
Lappen 132, 175, 176,
272, 288, 304
Lateinamerika 318
Lateralsklerosc, amyotro-
phische 5 1 o
Lebensbewährung 69 1
Lebensdauer 231, 448,
449, 609, 610
Leberflecke 374
Leberzirrhose 468
Leisten, Entwicklung d.
137
Leistenbruch 403, 404
Leistungsfähigkeit durch
Züchtung 22
Letalfaktoren 4Öff., 110
— rezessive 76
Letale Mutationen 564
Leukämie 470, 495
Lidwinkel 202
Linie, reine 13
Linkshändigkeit 427
Linsenektopie 336
Liplap 290
Lippen 198
— form 292
— spalte 405
Littlesche Krankheit 510
Locken 272
Lungenblähung 476
— entzündung 483
— kapazilät 305
— tuberkulöse 48s, 487,
488
Luxationen 399
Luxalio coxae 397 f.
Luxurieren 209, 302,
764
Lymphatische Diathese
43 r £■
Lymphosarkom 494
Mädchenfamilien 608
Madelungsche Deformi-
tät 401
Magengeschwür 474, 475
— krebs 474, 491, 492
— leiden 473, 474
— saft 233, 244
Magerkeit 458
Malaien 117, r 18, [27,
159, 160, 171, 195,
198
Malaria 485
Mameluco 290
Mandelentzündung 483
Manie 543
Manife5tations Wahr-
scheinlichkeit 649
Manisch-depressives
Irresein 543
Manuar 1 47
Mariesche Krankheit. 5 1 5
Marmorknochenkrank-
heit 401
Marxismus 768
Masern 480 ff.
Massai 288
Mastdarmkrebs 492
Mastoidzcllen 165
Materialismus, histori-
scher 768
Mathematik 617
Mathematische Bega-
bung 667
Mauer, Kiefer von 254
Mediterrane Rasse 727,
728
Megalocornea 335
Melancholie 543
Melanesier 127, 158,26!
Melanismus 1 18, 130,
256
Menarche 230
M endein 76
Mendel sches Gesetz 74,
589
Menschenaffen 716
Mesozephalc 163
Meßfehler 652, 690,691
Mestizen 176, 209, 290,
303, 3'"
Methoden 590 f.
Metis 290 '
Migräne 464, 465
Mikrokephalie 410
Mikrophthalmie 335
Milchzähne 177
Milieukunde 695
— lehre 768
Müroysche Krankheit
377
Minderwertigkeit der
Erstgeborenen 583
SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS.
791
Mienenspiel 1 94
Mischehe, christl.-jüdi-
sche 291, 766
Mischlinge 287 f., 720,
761
Mißbildungen 73, 88,
387, 388
Mittelohreiterung 372
Mixovariationen 5, 22 ff.
Modifikation 5, 6 ff., 11,
708
Modifikationen, flüchtige
652, 690
— seelische 709
Modifikations-Kurve 17
— möglichkeiten 709
Mongolen 149, 180, 193,
200, 235, 263, 722,
723, 724
— falte 263, 275
— fleck 1 19
Mongolide 119, 148, 158,
255, 272, 274, 288^
314. 317, 722
Mongolider Zweig 286
Moniletrichosis 385
Moralischer Schwachsinn
556
Mortalität 219
Mulatten 1 16, 129, 149,
161, 163, 209, 290,
303, 304, 306, 30S,
718, 720, 721
Multiple Sklerose 512
Mund 193
Musikalische Begabung
228, 663 ff., 730
Musikerfamilien 665
Muskelatrophie 507, 508
Muskeldystrophie 504 ff.
Muskulatur 225
Mutation, gleichsinnige
16
— somatische 74, 495 ff.
Mutationen 6, 75 ff., 82,
255, 496, 497, 499,
564, 565, 567, 569,
57°, 57i, 579
— ■ häufigkeit 580, 581
Mutieren, Ursache 78,
563 ff-
Mutlermäler 374
Myelodysplasien 1 1 1
Myoklonusepilepsic 542
Myome 502
Myopie 340, 341, 344
Myotonie 518, 519, 521
Myotonische Dystrophie
519
Myxödem 440
N.
Nachdunkeln der Haare
128
— der Iris 134
Nachtblindheit 356, 357,
358
Nägel 386
Nase [93 f., 228, 703
Nasenform 273, 282,
298
Nationalsozialismus 769,
773
Naturforscher 67 1 , 673
Naevi 374, 65 j
Ncandertalmensch 163,
254, 271, 28g, 715
Neger i, 1 16 f., 129,
135 f., 149, 158, 161,
163, 1 69, 172, 180,
[98, 208 f., 216, 225,
230, 235, 239, 244,
262, 265, 272, 274,
288, 295, 306, 311,
318, 716—721.
— Hottentotten 177
— haar 295, 299
— haut 1 1 7
— mischlinge 195, 285,
718—720
— nase 197
— typus 154
Negride 119, 314
— Zweig 285 f.
Negritiden i 59, 3 i 7
Negrito 159, 285
Neolithisch 265, 280
Nephritis 470
Nervenleiden 503, 524
Nervenplcxus 1 8 5
Nervensystem, vegetati-
ves 113, 233, 244
Nervosität 552
Netzhaut 228
— ablösung 344
— gliom 495
— Verödung 354—356
Neukaledonier 129, 157,
158
Neukombinationen 75
Neurasthenie 552, 5 53,
554, 678
Neuritis 509
Neurofibromatose 375
Nierenentzündung 470,
471
— Insuffizienz 305
— Schrumpfung 47 1
— steine 460
Nietzsche 675, 676
Nikotin 576
Nobelpreisträger 7 5 1
Nomaden 758
Nordafrika 318
Nordeuropäer-Negcr-
Mischling 292
Nordische Rasse 276 f.,
731, 732, 737, 738,
74', 742, 744
— Umwelt 738, 739
Norm 184, 323 f.
Norweger 122, 145, 146,
r75, 176, 231. 308
■— -Lappen 209
Nystagmus 333, 349 f.
O.
O-Beine 396, 397
Obstipation 475
Ödem, chronisches 377
Oguchische Krankheit
358
Ohr, 177, 202
— läppchen, Angewach-
sensein d. 205
Ohrenleiden 365
Oktavon 290
Oldenburg 297
Oligophrenie 527, 529
Onychogryphosis 386
■Ophthalmoplegie 349
Orang 186, [89, 240,
252
Organisatoren der Eni-
wicklungsmcchanik
1 10
Organminderwertigkeit
449
Orientalische Rasse 276,
728, 729
Orthogenese 190, 572
Oslersche Krankheit 375
Ostasien 265
Ostbaltische Rasse 276,
296
Osteogenesis imperfecta
400
Osteopsathyrosis 400
Ostische Rasse 190, 726
Ostjuden 169, 754
792
SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS.
Otitis media 372
Olosklerosc 371, 3/2
Ozaena 476
P.
Papillarleisten 135
Papua 127, 273, 285
Papua-Melanesier 262,
272, 273
Paradentose 409
Parakinese 563
Paralysis agitans 5 1 6
Paramaeciumcaudatum 6
Paranoia 537
Paranoide Psychopathie
537
Paraphorie 430
Paraphrenie 532
Parapiegie 5 1 1
Paratypisch 1 7
Paravariaton 5, 6 ff . (s.
auch Modifikation)
Pärchenzwillinge 102,
645
Parentalgeneration 2 5
Parkinsonsche Krankheit
516
Patellarsehnenreflex 245
Pathogene Erbeinheiten
605
Pauperieren 209, 303,
304, 764
Peliza.cus-Mcrzba.cher-
sche Krankheit 5 1 1
Pemphigus heredharius
37%
Penetranz 390, 391
Penis 226
Peristase 1 1
Pcrsien 306
Perthes'sche Krankheit
399
Pfefferkornhaar 158
Pf]anzcrrasscn 758
Philippinen 119, 239
Phimose 404
Physiognomie 1 92, 294,
761
Physiognomik 1 65, 174
Pigment in Sklera und
Konjunktiva 134
Pigmentfaktoren 274, 292
Pilasterbildung 1 80
Pilocarpin 244
Pithccanthropus 163, 252
Plasmaschädigimg 579
Plattfuß 396
Platyknemie 1 So
Pleuragrenze 1 85
Pneumonie 483
Polen 133, 226
Pollcnallergie 460
Polsterungsfaktor 1 44
Polydaktylie 1 13, 388,
389
Polymerie 623
Polynesier 117, 239,282
— Europäer — Chinesen
291
Polyphä.n 332
Polyposis intestini 492
Polyzythämie 470
Porokeratosis 382
Portugiese 175
Prämolaren 1 78
Pränasalgrube 177
Präpotenz der Rasse 292
Prdmost 281
— form 285
Proband öi 4
Probandenmethode 61 2,
613, 649
Processus supracondy-
loideus 180
Prognathie 408
Prothetelie 1 89
Pseudohämophilie 444
Pseudosklerose 468
Psoriasis 382, 383
Psorospermosis vegetans
380
Psychasthenie 552, 678
Psychoanalyse 552, 751
Psychologie 706, 707
Psychologische Typen
707
Psychopathen, epileptoide
54 '.
— schizoide 533
— zykloide 544
Psychopathie 525 ff.,
545. 546, 554, 676
Ptosis 349
Puls 244
— frequenz 234
Pupillenreaktion 244
Puschkin 306
Pygmäen 129, 160, 198,
261, 262, 272, 273,
288, 297
Pygmäen-Faktor 272
— wuchs 248
pyknisch 221, 416, 417,
56), 757
Quarteron 290
Quinckesches Odem 463,
464
Quinteion 290
R.
Rachischisis 41 1
Rachitis 168, 2 1 9, 434.
43 5
Radium 499, 563, 571
Raraus 250
Rasse 40, 8 1 f ., 712
— alpine 261, 273, 282,
283, 296, 317, 726
— dalischc 744, 745
■ — ■ dinarische 261, 273,
274, 295, 731
— tausche 198, 282, 283,
3*7, 744
■ — geographische 417
— indide 282
--mediterrane 2S0, 283,
304, 727, 728
— mclanide 288
— mongolidc 722, 724
— nordische 268, 273,
275, 280, 282, 283,
715- 73h 732, 737.
73%, 741, 742, 744
— ■ orientalische 1 19, 274,
283, 318, 728
— ostbaitische 273, 282
— ostische 261, 283, 726
— polynesische 282
— reine 765
-— • sekundäre 267, 31 i
— und Volk 312, 747
- — vorderasiatische 261 ,
274, 288, 729, 730
— westische y^ (s. auch
mediterrane)
Rassen des deutschen
Volkes 727
Rassenanalyse 641
— anlagen 7 1 2
— begriff 246 ff.
— biologie 286 ff.
— chaos 3 1 8
■ — diagnose 193, 300
— einteilung 260 f., 7 1 4
■ — entstehung 25 1
— geruch 235
— geschichte 284
— - hygiene 2 2
— index, biochemischer
2^8
SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS.
793
— karten 296
— - kreuzung 2S7 f.
— merkmaie 760, 761
— mischehc 767
— mischung 398, 720,
761—765
— psychologie 714
— reinheit 765
— übersieht 278
— unterschiede, geistige
711 H., 714
— wert 767
Raynaudsche Krankheit
377
Räzelbildung 162
Reaktionsmöglichkeiten
571
— weise 14
Rec klinghausen sehe
Krankheit 375
Reduktionsteilung 72
Refraktionsanomalien
340
Regression 633, 634, 635
Rehobothcr Bastarde
200, 309 f., 762
Reihengräbertypus 280
Reinzucht, bewußte, be-
stimmter Rassen 93
Reizwirkungen 57 1
Retina 253
Retinitis pigmentosa 354
Rom 316, 31 8
Röntgenstrahlen 79,
490, 496, 498» 563 ff-,
56S, 570 f.
Rotblindheit 364
Rotgrünblindheit 67, 68,
113, 360—363
Rothaarigkeit 125, 248
Rousseau 73 1
Rückkreuzung 26 f., 294,
301
Rückmulalion yj, 570
Rundkopf rassen 283
Rundschädel 164
— Zunahme 168
Russen 132, 288, 725
Rußland 238
Rutilismus 256
S.
Sakralfleck 119, 275
Sambo 290
San-Blas-Indianer 1 24
Sarkom 4S9, 490
Säugetierversuche 592
Säuglingssterblichkeit
446, 447
Schädel, Gesamtform 1 66
— index 298
— Verrumlung des 169
Scharlach 471, 481
Scheckung 129, 373 f.
Scheinzwitter 402, 403
Schiefhals 412, 41 3
Schielen 346—349
Schimpanse 1 15, 1S6,
240, 252, 716
Schizoide Psychopathen
533, 535
Schizophrenie 488, 532,
533, 534, 536, 537,
67 5
Schizothyme Charaktere
56r
Schlaganfälle 450, 452
Schlichthaar 1 57
Schmetterling 188 f.
Schnupfen 4S3
Schotten 132, 169
Schreibdruck 245
Schulleistung 684, 691
Schulterblatt 180
Schuppenflechte3§2 T 383
Schwachsichtigkeit 356
Schwachsinn 527 — 532,
555
— moralischer 556
Schweden 132, 175, 207,
210
Schwein 172
Schweiß 244
Schwerhörigkeit 370 f.
Schwindsucht 4S5, 486,
487
Seborrhoe 384
Seelische Eigenschaften
704 f.
— Rassenunterschiede
712, 713
Sehnervverödung 3 53,
354_
Sekretion, innere 4 1 6,
584
Semang 1 59, 272
Serben 133
Sinanthropus 1 63, 252,
25S
Singstimme 246
Sippencharakter 1 6 f.
— geschichte 59 t
— tafel 595, 596
Sittlichkeit 771
Situs viscerum inversus
427
Sizilianer 119, 1 69
Sklerose, diffuse 5 1 2
— multiple 5 1 2
— - tuberöse 5 13
Skoliosen 421, 422
Slawen 170, 288
Slowenen 1 1 8
Somali 1 59
Sommersprossen : 1 8, 37 5
Sozialanthropologie 28 7
Spaltfuß 394
Spanier 169, 304
Speichel, Blutgruppen-
eigenschaften 242
— saft 244
Spermien 253
Spezifität 391
Spina bifida 395, 411,
522, 523
— - nasalis 165
Spinale Ataxie 5 13
Spinalparalysc, spasti-
sche 509, 510
Spleno-Hepato-Megalie
114, 468
„Sporadische" Fälle 622
Sport 739
— typen 223
Sprachgrenze 82
Stammbaum 595
Stammesentwicklung,
Grundlagen d. 8 1
S t and ar dabweic hung
308, 635
Star 336, 337, 339
Statistik 593
Status degenerativus 419
— dysraphicus 522
— - thynücolymphaticus
43 =
— varicosus 423
Steatopygie 2 1 7
Steinheim, Schädel von
254
Stcinertsche Krankheit
519
Sterilisierung 567
Sterilität 499, 500, 501,
564, 566
Stillen 217
794
SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS.
Slillunfähigkeit 503
Stirnhöhle 163
Stoffwechsel 1 [ 3
— krankheiten 452
— Störungen 305
Stottern 523
Strabismus 346
Straffhaar 157
Struma 437
Südafrika 307
Sudan 2S8
Summoprimatc 1 89
Sünde 317
Sünden der Väter 584
Supraorbitalleisten 162
Symphalangie 394
Syndaktylie 391
Syphilis 476, 477, 526,
577, 578
Syringomyeiie 521, 522
T.
Tabak 576
Tagblindheit 359, 361
Talent 662
— technisches 663, 668
Talgai-Funde 255
Tamil-Malaien- Misch-
linge 1 1 6
Tamilen 303
Tasmanier 285
Tastballen 135
Tastleisten 135
Taubstummheit 365, 366,
3&7, 369.. 370
Teleangiektasien 375
Telegonie 585, 586
Temperament 562, 757
Tempo 1 14, 245, 697
Terzeron 290
Thomsensche Krankheit
518, 519
Thrombopathie 444
Thrombose 452
Thymopathie 543
Thymus 243
Tibia, Retroversion d.
180
Tic -Krankheit 518
Tierversuche 592
Tigermädchen 129
Timor 198, 200
Torsionsdystonie 518
Totgeburten 229
Trema 178, 407
Tremor 518
Trichterbrust 42 1
Triradius 142, 1 50
Trommel schlägelfinger
3S6
Tropfenherz 226
Trophoneurose 52 [
Tuberculum impar 178
Tuberkulose 2 1, 304,
480, 485, 487, 488
Tuberöse Sklerose 375
Turkvölker 288
Turmschädcl 168, 16^,
410
U.
Übersichtigkeit
345, 347, 348
Übersterblichkeit d. Kna-
ben 445, 446
Überstreckbarkeit der
Finger 397
Übertragung, plasmati-
sche 438, 439
Ulcus ventriculi 474
Umwelt 5, 641
Umwelteinfluß 623, 642,
652, 655, 692, 693
— labilität 390, 647
Unfruchtbarkeit 299. 499,
500, 501, 566, 575
Ungleicher big 24
Unterernährung 583
Unterkiefer prognathie
408
Urrassen, primitive 7 16
Urschicht, Melanidc 288
Urticaria 461
V.
Vagotonie 465, 475
Variabilität 82, 307
— - meristische 648
Variationserscheinung 5
— koeffizienten 307
Varizen 422
Vaterschaftsbegutach-
tung 136
Veitstanz 516
Venensystem 226
Verbrecher 555, 556.,
557, 743. 744, 753
Verdauung 232 f.
Vereinigte Staaten 320
Vererbung im biologi-
schen Sinn 3, 657
348
— ■ erworbener Eigen-
schaften 15, 479, 589,
709, 710, 711, 755
■-- geschlechtsbegrcnzte
603
Vernegerung 3 18
Verrücktheit 537
, Versehen' der Schwan-
geren 584
Verstopfung 475
Verwachsenfingcrigkeit
39 1
Vcrwandtenehe 330, 340,
352, 354, 369. 376,
490, 529, 582, 600,
601, 607, 619, 620
621, 622
Vielfingerigkeit 388,
389, 39"
Vierlinge 101, 104
Virchowsche Schul kin-
deruntersuchung 297
Vitaminmangel i68, 434
Volk 81 f., 312 f., 747
Volkstum (Definition)
3!2. 747
Vorderasiatische Rasse.
729, 7Z°
Vorstellungen, Erbbe-
dingtheit 695
Wadjak-Fund 255
Waisenkinder 68 7
Wandern der Menschen
259
Wangenrötung 227
Washington, B. 306, 720
Wasserhaushalt 233
Wasserkopf 412
Wcdda 157, [61, 239,
272, 277, 285, 317
— bart 275
Weltanschauung 769,
770, 772, 773
Wert der Rassen 767
Wiener (Kaninchen) 156
Willensfreiheit 70 5
Wilsonsche Krankheit
468
Wirbelbildung am Kopf-
haar 1 6 i
— säule 180, 1S6
— Varietäten 181 £.
Wolfsrachen 113, 405
Wolhynier 1 56
SCHLAGWÖRTER-VERZEICHNIS.
795
Wollhaarigkeit [57
Wunschbestimmbarkeit
548, 549, 55'. ^77
X.
Xanthomatose 382
X-Beine 396, 397
X-Chromosom 447
Xeroderma pigmento-
sum 376, 495
Z.
Zabim 1 2 7
Zähne 177, 407 ff.
Zahnkaries 409
— Wechsel 177
Zentralasien 239
Zerebellare Ataxie 5 1 5
Zeugung im Rausch
575
Zittern 5 18
Zuchtwahl, künstliche 90
Zuckergehalt 244
— krankheit 114, 233,
304, 452 f.
— kurven 234
Zufallskurve 43 f.
Zulu 288
Zungenpapille 226
Zwangsneurose 554
Zweieiig 102
Zweig, australider 276
— europider 276, 279
— mongolider 273, 277
— negrider 272, 285
Zwergwuchs 1 10, 424.
425, 426, 427
Zwillinge [i f., 503,600,
688
— Entstehung 102
— Häufigkeit 101
— Inlelligen/.prüfung
653
— Unterschiede 655
Zwillingsbildung
bei Affen ioo
beim Menschen 100
— bei Haustieren io!
Zwillingsdiagnose
107 ff., 151, 644
— Forschung 557, 607
— geburten 608, 609
— methode 641, 688
Zykloid 543
Zyklophrenie 543, 544,
545. 6 75
Zyklothym 543
Zyklothyme Charaktere
562
Zwitter 229, 388. 403,
699
Zystenniere 1 12, 471
Der II. Band des Werkes ist ebenfalls in 4. Auflage (unveränderter Neu-
druck der 3. Auflage von 1931) lieferbar:
Nachträgliche Verbesserungen.
Seite 409, Zeile 10 statt Kerkhaus lies Korkhaus.
Seite 469, Zeile 15 von unten statt Botriokephalus lies Bothrio-
cephalus.
Seite 527, Zeile 4 von unten statt ir Paare lies 14 Paare.
Die Darstellung des geschlechtsgebundenen Erbgangs auf
S. 65 bis 67, wie sie bei Erwin Baurs Tode vorlag, ist un-
nötig kompliziert. Wir glaubten nichts daran ändern zu dürfen,
bemerken jedoch, daß Weißäugigkeit eines Drosophilamänn-
chens lediglich durch eine entsprechende Anlage im X-Chro-
mosom bedingt ist. Die Annahme, daß auch das Y-Chromosom
solcher Männchen eine entsprechende Anlage enthalte, ist un-
begründet. Entsprechendes gilt auch von der Rotgrünblindheit
beim Menschen. Das Y-Chromosom ist stammesgeschichtlich
als ein rudimentäres Geschlechtschromosom anzusehen, in dem
die geschlechtsgebundenen Erbanlagen nicht nur wirkungslos,
sondern vermutlich überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Mit
Koppelung hat der geschlechtsgebundene Erbgang als solcher
nichts zu tun; doch können geschlechtsgebundene Erbanlagen
mit anderen geschlechtsgebundenen natürlich mehr oder we-
niger eng gekoppelt sein (vgl. S. 625). Im übrigen verweisen
wir auf die Darstellung des geschlechtsgebundenen Erbgangs
auf S. 332 f. und S. 362 f.
Von Prof. Dr. Fritz Lenz
600 Seiten mit 12 Textabb. Gek. Mk. 13.50, Lwd. Mk. 15.30
I. Die Auslese beim Menschen. Fortpflanzungsauslese / Kiuderzahl / Geisteskrankheit
Ansteckende Krankheiten / Umsturz der Geschlechtssitten / Kindersterblichkeit / Alkohol
und andere Genußgifte / Auslesewirkung des Krieges / Gegenauslese der Begabten iru
Kriege / Bürgerkriege / Die Ausmerze in Rußland / Die soziale Auslese: Erbliche Ver-
anlagung und soziale Gliederung / Klasse, Herkunft und Begabung / Die Schule als Aus-
lesesieb / Sozialer Aufstieg / Gegenauslese der Charakterschwachen / Rasse und soziale
Gliederung / Rasse, Klasse und Charakter / Adelsauslese / Die soziale Stellung der Juden
Konfession, Rasse und Charakter / Zusammenhänge zwischen biologischer und
sozialer Auslese / Fruchtbarkeit und Geburtenüberschuß / Kmderzakl und soziale Lage
Ehelosigkeit /Das Pfarrhaus /Abtreibungund Geburtenverhütung /Der Geburtenrückgang/
Abwendung von alten Bindungen / Glaubensbekenntnis und Geburtenfrage / Geburteu-
krieg / Bildnngswahn / Die „unverbrauchte" Unterschicht / Industrialisierung Landflucht /
Ueberbe Völker nng / Die Auslese Wirkung der geistigen Frauenberufe / Farbige und Weiße.
II. Praktische Rassenhygiene. Eugenik oder Rassenhygiene? / Soziale Rassen-
hygiene / Eheverbote und Eheberatung / Unfruchtbarmachung Minderwertiger Außer-
ehelicher Geschlechtsverkehr / Private Rassenhygiene / Alkoholabstineuz ? / Seßhaf-
tigkeit oder Siedlung / Rasseuhygienische Eheberatung / Gattenwahl / Verwandtenehe
Vermögen und Diebe / Altersunterschied / Kameradschaftsehe / Mindestkinderzahl / Quan-
tität oder Qualität? / Kirche und Gebnrtenverhütung / Parnilienforsehung / Die junge
Generation / Wege rassenhygienischen Wirkens / Rassenhygiene und Weltanschauung
Individualismus und Humanität / Nationalismus / Sozialismus / Christentum.
Von Prof. Dr. Fritz Lenz
2. Auflage Mk. 1.35
„Die verworrenen Anschauungen, die selbst bei vielen Erziehungsfachleuteu über die
Beziehungen zwischen erblicher Veranlagung und Einwirkung der Erziehung herrschen,
machen eine weite Verbreitung des Büchleins zur dringenden Notwendigkeit."
Nordische Blätter
Zur Erneuerung der Ethik. Von Prof. Dr. Fritz Lenz
Geh. Mk. 1.20
Von Prof. Dr. Erwin Baur. 4.-5. Tausend. Mk. /.-
LAG/ MÜNCHEN 2S
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